Erinnerungen und Gedanken eines Schwerbehinderten - Klecks Verlag

Dritte ABM (zwei Jahre) und fast sechs Jahre Acht-. Stunden-Vertrag mit der .... Pfalz zur Welt. Ich war das dritte Kind meiner Mutter und das fünfte meines Vaters ...
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Christoph Thomas

Jede Stunde Mühe und Kampf Gedanken und Erinnerungen eines Schwerbehinderten Autobiografische Erzählung

Inhalt Vorwort .................................................................... 11 Vorab einige Daten ................................................... 13 Zum Berufs- und Privatleben...................................... 13 Mein Leben in Lauterecken/Pfalz ............................... 15 Schulzeit und Jugend ................................................. 34 1970 Umzug nach Bad-Heilbrunn .............................. 37 Die Jahre im Spastikerzentrum München .................... 50 Vorbereitung auf Berufsausbildung in Heidelberg ....... 57 Berufsbildungszentrum Heidelberg-Wieblingen .......... 59 Erste Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) Gemeindeverwaltung Bad-Heilbrunn (1978) .............. 68 Zweite ABM in der Schulverwaltung der Sonderschule Bad-Tölz (1979–1980) ............................................... 70 Dritte ABM (zwei Jahre) und fast sechs Jahre AchtStunden-Vertrag mit der Fachhochschule des Klosters Benediktbeuern (1980–1988) .................................... 72 Reisen allein oder mit Familie ..................................... 75 Familienzuwachs ....................................................... 77 1985 – Omas letztes Lebensjahr ................................ 81

Vierte (2 Jahre) Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (1988–1991).............................................................. 84 Neubeginn in der Pfennigparade ................................ 85 Reise nach Berlin und Rügen .................................... 101 Erkenntnisteil ........................................................... 115 Einleitung zum Gedanken- oder Erkenntnisteil....... 115 Vorgedanken ....................................................... 116 Version 1.............................................................. 117 Worterklärungen .................................................. 121 Zusatzerklärung .................................................... 123 Version 2.............................................................. 124 Version 3.............................................................. 125 Zusammenfassung der Erkenntnisse auf Grundlage der Logik .............................................................. 126 Zusätzliche Argumente für eine Allmacht (GOTT).. 129 Gedanken zum Leid .............................................. 131 Danksagung ............................................................ 132

Mein Buch soll der Wahrheit sowie dem Frieden dienen und allen, die im Leben zu leiden haben, eine Hoffnung und Stütze sein!

VORWORT

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er unmittelbare Anstoß für eine Autobiografie war eigentlich der Gedanke, dass der Erkenntnisteil, den ich schon immer gerne veröffentlichen wollte, einfach von der Quantität her viel zu gering war, um daraus auch nur ein kleines Taschenbuch machen zu können. Diesen nun mit meiner persönlichen Geschichte zu verbinden, erschien mir lohnenswert. Bei der Autobiografie habe ich darauf geachtet, mich nicht in unnötige Details zu verlieren. Auch unangenehme Erfahrungen habe ich bewusst nicht beschrieben, um niemanden zu verletzen oder bloßzustellen. Dennoch ist eine authentische, von mir selber am PC geschriebene interessante Autobiografie entstanden. Nun wünsche ich jeder Leserin und jedem Leser viel Freude und Anregung beim Eintauchen in meine Gedanken zum absoluten Grund des Daseins und des menschlichen Leides.

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VORAB EINIGE DATEN ZUM BERUFS- UND PRIVATLEBEN Stoffsammlung: Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, eine etwas reifere Phase. Vater, Mutter, Geschwister, Großvater, Großmutter, Tante, Neffen, Nichten, Großneffen, Großnichten Schulzeit, Ausbildung, Berufszeit und Privatzeit Lauterecken: 1954 bis 1970 Bad-Heilbrunn: 1970 bis 1973 München: 1973 bis 1976 Heidelberg: 1976 bis 1978 Bad-Heilbrunn: 1978 bis 1988 München: 1988 bis 2013 1978 Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) in der Gemeinde Bad-Heilbrunn, Kurverwaltung für 6 Monate. 1979–1980 ABM Schulverwaltung Sonderschule BadTölz. 1980–1988 (2 Jahre) ABM und fast 6 Jahre 8Stundenvertrag mit der Fachhochschule des Klosters 13

Benediktbeuern. 1988–1991 (2 Jahre) ABM Werkstatt für Körperbehinderte der Stiftung Pfennigparade in München und 10 Monate Arbeit in WKM auf privater Trägerschaft. Seitdem war und bin ich Erwerbsunfähigkeitsrentner und Privatier. Trotz aller Behinderungen erreichte ich finanzielle Unabhängigkeit ohne staatliche Sozialhilfe und wohne seit 1988 selbstständig in einer Sozialwohnung der Stiftung Pfennigparade mit überwiegender Hilfe des Pflegedienstes der Diakonie sowie privat organisierter Pflege. Grundbehinderung: Cerebralparese mit schwerer Gehund Sprachbehinderung und später aufgetretenen Begleit- und Zusatzerkrankungen. Akne Conglobata.

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MEIN LEBEN IN LAUTERECKEN/PFALZ

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aut Geburtsurkunde kam ich am Samstag, den 13.03.1954 um 18:30 Uhr im Krankenhaus St. Franziskastift in Bad Kreuznach an der Nahe in RheinlandPfalz zur Welt. Ich war das dritte Kind meiner Mutter und das fünfte meines Vaters, dieser hatte aus erster Ehe mit seiner schwedischen Frau schon zwei Töchter, meine Halbschwestern.

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Juli 1954.

Juli 1954.

Meine Geschwister sind ein älterer Bruder und eine ältere und eine jüngere Schwester. Durch eine nachlässige Hebamme kam es bei meiner Geburt zu einer schweren Cerebralparese mit schwerer Geh- und Sprachbehinderung, die den weiteren Lebensweg vorzeichnete. Die Hebamme hatte meiner Mutter eine Spritze gegeben, um die Wehen einzuleiten und ging dann zu den anderen Schwangeren. Zudem war offensichtlich um diese späte Uhrzeit auch kein Arzt anwesend und meine Mutter lag alleine in einem Raum, als dann doch prompt die Wehen einsetzten und das Schicksal seinen Lauf nahm. Theoretisch hätten meine Eltern, wie heute selbstverständlich, die Hebamme und das Krankenhaus verklagen können. Eine lebenslange Rente und Schmerzensgeld wären zu erwarten gewesen. Praktisch aber war ein sol-

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ches Vorgehen in den 50er Jahren nicht üblich oder vielleicht auch gar nicht möglich gewesen. Aber Gott sei Dank erfasst kein Mensch seine Geburt und die ersten Jahre bewusst, so traurig und dramatisch sie auch sein mögen. Die allererste Erinnerung war, so glaube ich, wie ich im Bettchen lag in einem Zimmer mit schrägem Dachfenster und mich das Wörtchen ›Reue‹ etliche Male selber sprechen hörte. Ich war damals vielleicht drei Jahre alt und wusste natürlich nicht, was das Wort bedeutete.

Juli 1954.

Mit vier Jahren soll ich mal meinen Opa, den Vater meiner Mutter, im Zimmer meines Bruders eingesperrt und mich daraufhin selbstständig gemacht haben. Ich rutschte Stufe um Stufe vorsichtig die Holztreppe hinunter. Dann ging ich zur Haustür hinaus und musste nur noch 17

eine zweistufige Steintreppe überwinden. Von dort schaffte ich mich zu der ungefähr 15 Meter entfernten Kellertreppe, wovor mich mein im ersten Stock im Zimmer eingesperrter Opa vom Fenster aus warnte, was ihm zum Glück gelang. Die gut 15-stufige harte Betontreppe hätte mir sonst doch zum Verhängnis werden können.

Sommer 1956.

Als ich drei Jahre alt war, wurde mein Opa mit 65 Jahren pensioniert. Dadurch hatte er viel Zeit, um mir das Laufen beizubringen, da ich immer noch krabbelte, mich also nur auf Händen und Knien fortbewegte, statt auf zwei Beinen zu stehen und zu gehen. Das Laufen zu lernen, daran erinnere ich mich noch dunkel, war ein langer und schwieriger Prozess für mich. Opa spannte sogar Seile auf, damit ich mich mit der 18

linken Hand daran festhalten konnte, um beim Laufen nicht immer gleich wieder umzukippen. Er zeigte dabei große Geduld mit mir und brachte mir schließlich das Gehen bei und nahm mich dann oft zu Spaziergängen auf der Cronenbergerstraße mit.

Juni 1957.

Da ging es bergauf in den Wald und wir gingen oft bis ganz auf die Höhe, wo man eine weite Sicht auf die Landschaft hatte und Äcker, Wälder und Fluren bestaunen konnte. Er nahm mich immer bei der linken Hand, da diese Seite relativ gut war. Nach der dritten Kurve kamen wir zu einer Sitzbank, wo ich zusätzlich einen bis zwei Schritte freihändig vor meinem auf der Bank sitzenden Großvater gehen musste. Ich tat dies aber nur widerwillig, weil ich mich sehr unsicher fühlte und ich immer Angst vor dem Hinfallen hatte. Aber ich übte 19

mich dennoch im Laufen, vor allem auch weil durch die lange Krabbelzeit meine Knie ganz rau und hornig geworden waren, woraufhin meine Mutti mal sagte, das würde nie mehr wieder weggehen. Auf dem Weg kamen wir am sogenannten ›Sechsfamilienhaus‹ vorbei, in dem viele freche Kinder wohnten. Immer wenn sie mich mit Opa oder Oma sahen, kamen sie und hänselten mich wegen meiner spastischen Körperbehinderung. So wurde ich mit der Zeit mehr und mehr unsicher, war gar sehr, sehr schüchtern geworden und verkrampfte mich noch stärker, was sich natürlich nicht positiv aufs Sprechen und Gehen auswirken konnte. Einmal auf einem dieser Spaziergänge auf der Cronenbergerstraße kamen abermals freche Kinder auf uns zu und wollten mich wieder hänseln, doch da sagte mein Opa zu mir: »Bleib mal kurz hier stehen«, und vertrieb mit seinem Spazierstock die böse Kinderschar. Ich stand einige Sekunden krampfhaft alleine da und hatte mal wieder große Angst davor, auf den harten Straßenasphalt zu stürzen. Auch die Lautertalstraße, die unterhalb der Häuser verlief, führte an dem Sechsfamilienhaus vorbei. Auf dieser Straße bin ich früher mit meiner Oma zu ihr nach Hause gelaufen und musste den gleichen Zirkus erleiden. Da sich das Ganze über viele lange Jahre hinzog, wurde dies für mich zunehmend zur psychischen Belastung.

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Sommer 1963.

Später, als ich 10 Jahre alt war, bekam ich von einem Mainzer Medizinprofessor Valium gegen die Spastik, das sich auch entspannend auf meine Psyche auswirkte. Ich fühlte mich damit körperlich und psychisch leichter und freier, bin aber abhängig geworden und nahm später hin

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und wieder mal aus dem Arzneischrank meines Vaters Librium und Valium zur Entspannung. Diese Medikamente machen auch sehr müde. Viele Jahre später wurde mir Musaril verschrieben, das ich bis heute nehme, aber nur noch eine halbe Tablette kurz vor dem Schlafengehen. Unsere Grundstücke an der Cronenbergerstraße 11b und 11a waren wirklich riesengroß. Das Haus auf dem Grundstück 11a und ein Teil des Grundstücks selbst waren vermietet. Die Gesamtfläche betrug über 3.000 Quadratmeter, die voller Obstbäume standen. Es war ein Hanggrundstück über drei Ebenen. Auf der obersten Ebene stand ein Gartenwohnhaus mit einem alten Hühnerstall und dem angrenzenden Grundstück 11a mit einer ehemaligen Schleiferei. Hier wohnten früher das Geschwisterpaar Herr St. und Frau Sch. mit ihrer schon alten Mutter. Neben diesem vermieteten Grundstück lag noch ein Stück Wiese von zirka 400 Quadratmetern, das uns auch noch gehörte, aber brach lag. An der Einfahrt zwischen 11b und 11a stand ein großer Hochspannungsmast. Direkt daneben befanden sich das schmiedeeiserne Autotor und eines für Fußgänger. An dem Tor links erstreckte sich noch ein etwa vier Meter langes und 50 Zentimeter hohes Mäuerchen, das den asphaltierten Torvorplatz von einem Feldweg, welcher an der Westgrenze des Grundstücks 11b entlang führte, abgrenzte. An der Nordgrenze floss ein kleines Bächlein namens Wiesborn, das auf der unteren Ebene unseres Grundstücks in ein unterirdisches Kanalsystem der Stadt 22

verschwand. An dieser Stelle stand eine große Trauerweide, an der wir eine Hängematte aufspannten, die uns zum Schaukeln und zur Entspannung diente. Da unser Elternhaus mit separater Autogarage und Arztpraxis auf der mittleren Ebene stand, musste ich immer vorsichtig Steintreppen überwinden. Dies fiel mir mit meiner Körperbehinderung nicht leicht. Von der Teppichstange an der Garage vorbei und rechts am Haus entlang bis zum Tor war früher ein Kiesweg, der aber später asphaltiert wurde. Dadurch konnte ich mit meinem Dreirad und meinem Go-Kart die zirka 80 Meter oft und viel befahren. Auf der oberen Ebene befanden sich ein Sandkasten und eine Schaukel, die wir in der Kinderzeit ausgiebig zum Spielen nutzten. Auch das alte Gartenhäuschen mit dem Hühnerstall war damals für uns Kinder ein einmaliges Kinderspielparadies. An der östlichen Grundstücksgrenze wohnte Familie E., die drei Kinder hatte und zudem einen Jagdhund und ein Weideschaf besaß. Die südliche Grundstücksgrenze wurde durch 11a und einen Zufahrtweg zur Cronenbergerstraße gebildet. Weil wir auf einer Anhöhe wohnten, konnten wir einen schönen Rundblick über die Stadt Lauterecken genießen. In so einem großen und vielgestaltigen Grundstück konnten wir Kinder uns natürlich leicht verstecken, was meine jüngere Schwester und ich zum Leidwesen unserer Großeltern ausgiebig taten, vor allem dann, wenn unsere Eltern außer Haus waren. Meine kleine Schwester war meistens meine Spielkameradin und schleppte mich 23

überall hin mit, während die beiden älteren, auch genannt die Großen, schon in die Schule gingen und sich in ihrer Freizeit mit ihren Schulfreunden trafen.

Sommer 1960.

Fiel ich mal hin, bückte sich meine kleine Schwester und ich stützte mich mit dem linken Arm auf ihren Rücken und stemmte mich so wieder auf meine Füße. Wir machten im Bett liegend Kissenschlachten, spielten Städte- und Länderraten und ganz viel draußen im Sandkasten, im Häuschen, auf der Schaukel. Wir spielten verstecken und veranstalteten Wettrennen mit unseren Fahrrädern oder sonstigen Fahrgeräten. Natürlich vertrieben wir uns auch mit Fort Laramie und Cowboy und Indianer die Zeit. Bei schlechtem Wetter waren Mau-Mau, Monopoly, Herzkarte, Mensch ärgere Dich nicht oder 24

andere Spiele mit Eva oft angesagt. Papi war beim Mühle spielen und Oma in Halma unschlagbar. Später war das königliche Spiel Schach mein Favorit, und darin war ich der absolute Champion. Als wir noch sehr klein waren, spielte unsere Mutter mit uns ›Der Teufel kommt aus der Hölle‹. Da mussten wir uns gut verstecken, damit uns der Teufel nicht fand. Und während wir unseren Spaß hatten, saß unser fleißiger Papi noch in Kusel in seiner Praxis bei der Arbeit. Seine zweite Praxis dann befand sich gleich neben unserem Elternhaus, nur wenige Meter entfernt und war durch eine Ligusterhecke davon abgegrenzt. Wegen der Größe des Gartens mussten meine Eltern immer Gärtner beschäftigen, zunächst Herrn Gr. und später Herrn Kr., denen ich gerne bei der Arbeit zusah. Hansi hieß mein Kanarienvogel, den ich, wenn ich mich recht erinnere, einmal von einem Vogelhändler aus dem Wälderbusch, wo meine Großeltern ihr Zuhause hatten, bekam. Mein Bruder hatte einen weißen und einen schwarzen Hasen. Eines schönen Tages floh des Nachts sein weißer Hase auf Nimmerwiedersehen und der arme schwarze wurde von unserem Gärtner für uns alle geschlachtet. Der erste Kanarienvogel wurde nach seinem Tod an einem Ostersonntagmorgen von Papi, meiner kleinen Schwester und mir in der Nähe der Trauerweide feierlich beerdigt. Sein Nachfolger starb, während ich in Heidelberg zur Berufsausbildung war. Von Frau K., einer Patientin von Papi, bekamen wir, wegen der Mäuse im Keller, eine Katze mit dem Namen Muschi und Oma und Opa einen Mohrle. Einmal beob25

achtete ich, wie Muschi eine Maus in die Waschküche trug und mit ihr zuerst ihr Spielchen trieb und sie danach auffraß. Da wir auch reichlich Haselnussbäume am Wiesborn stehen hatten und eine Speisekammer besaßen, konnten wir bis zum Verdruss Bekanntschaft mit den putzigen Eichhörnchen machen, vor allem, wenn es auf den Herbst zuging. Im Winter sahen wir manchmal im Schnee Spuren von Hasen, Rehen und anderen Wildtieren im Garten. An der zum Teil mit Glas überdachten Terrasse wuchsen Rebstöcke mit vielen Trauben. Jedes Jahr gab es auch ansonsten viele verschiedene Obstsorten wie Erdbeeren, Süß- und Sauerkirschen, Stachelbeeren, Himbeeren, Zwetschgen, Aprikosen, Mirabellen, Äpfel, Haselnüsse usw. Neben dem sofortigen Verzehr wurde aus den geernteten Früchten Gelee gekocht und in Einmachgläsern als Wintervorrat eingelagert. Das restliche Obst, vor allem Äpfel, wurde in Säcken mit dem Auto zu dem Getränkehersteller Springkämper in Lauterecken gebracht und dort zu köstlichen Säften verarbeitet. Im Frühjahr erfreute ich mich immer an der Tulpenpracht und anderen vielfältigen Frühblühern. Auch Oma und Opa mit ihrem etwa 500 Quadratmeter großen Garten hatten im Frühling einen wundervollen Blütenzauber um ihr Haus. Im Sommer nahm Mutti Eva und meine Tante mich auf die Schultern und stiegen mit uns durch das Gartentürchen bei der Trauerweide auf den Feldweg hoch auf den angrenzenden Wingertspfad, einen etwa 50 Meter 26

vom Wiesborn aufsteigenden, schätzungsweise 200 bis 300 Meter hohen Hügelrücken. Auf diesem Hügel wurde noch wenige Jahre vorher Wein angebaut, daher der Name. Einmal nahm mich meine ältere Schwester an die Hand und wir gingen auf den bei uns ansteigenden Wolkenberg und liefen die Cronenbergerstraße hinunter bis zum Wälderbusch. Sie lieferte mich dort bei unseren Großeltern zu Kaffee und Kuchen ab. Hin und wieder setzte mich Papi in seinen hellblauen Opel Kapitän und fuhr mit mir auf der Cronenbergerstraße bis zur Höhe und weiter zu den kleinen Weilern wie Sonnenhof, Windhof und dergleichen, um seine Patienten zu besuchen. Ebenso nahm er mich einmal in der Woche mit zum Müllabladeplatz. Auf der Terrasse beobachtete ich öfter Kämpfe zwischen roten und schwarzen Ameisen. Ich mischte mich ein und half mit meinem Gehstock aus Holz, der unten einen Gummistöpsel hatte, mal der einen oder anderen Seite. An der Gartenmauer am Hofweg entdeckte ich noch kleinere rote Insekten, weiß aber ihren korrekten zoologischen Namen nicht. Ihre Größe war etwa ein Drittel eines Stecknadelkopfes. Aus Unvorsichtigkeit griff ich mal mit der rechten Hand in die Unterseite einer Schnecke. Der ekelerregende Schleim auf meiner Hand ließ sich trotz Kernseife und Mutters Hilfe nur mühsam wieder entfernen. Passiert war dies, als meine kleine Schwester und ich zu unseren zwei kleinen Hausgärtchen unterhalb der Haselnusssträucher von der mittleren zur unteren Ebene über die 27

blanke Erde hinunterrutschen wollten – so wie wir es immer taten. Jeder von uns beiden hatte sich da unten direkt an einem Gartenmauerstück, dort wo der Wiesborn in unser Grundstück floss, einen ein Quadratmeter großen Garten angelegt, geschmückt mit jeweils einem schönem Gartenzwerg. Einmal hat mir mein Bruder, der mich ab und zu ärgerte, eine Ameise in die kurze Lederhose gesteckt. Die lief nun über meine Pobacken und verursachte dort einen brennenden Schmerz. Ein anderes Mal hatte er sich vor mir aufgebaut und spuckte mir einfach in den Mund, was ich besonders gemein und ekelig fand. Irgendwann, ich saß in einem Sessel im Esszimmer vor dem Fernseher, steckte er seinen Kopf zwischen meine Oberschenkel; sicher hatte er sich wieder eine Gemeinheit überlegt. Doch ich presste die Schenkel fest zusammen und umschloss mit meinen Armen den Oberkörper. Dies war eine ideale Körperlage für mich und äußerst unangenehm für den großen Bruder. Dies nutzte ich aus und behielt ihn bestimmt fünf Minuten im Schwitzkasten. Die Teppichstange hinter dem Haus diente uns dazu, unsere jeweilige Bizepskraft zu messen. Wir hielten uns mit beiden Händen an der Stange fest und hievten uns nur mit der Kraft unserer Arme hoch und derjenige, der seinen Körper am längsten oben halten konnte, hatte gewonnen. Bei diesem Wettbewerb konnte ich jedenfalls mithalten. Mein Bruder und ich machten vor dem Gartenhäuschen, hier war ein größeres, leicht abschüssiges Wiesenstück, Butterrollen. Dabei muss man fest umschlungen 28

sein und sich durch die Schwerkraft hinunterziehen lassen. Im Sommer planschten wir in einem aufblasbaren Becken und Opa passte auf, dass nichts passierte. Oma backte an jedem Wochenende Kuchen und der Opa brachte ihn dann zu Fuß aus dem Wälderbusch zu uns. Ebenso holte er immer für uns frische Kuhmilch vom Bauer S. in Überlauterecken. Mutti hatte immer viel Arbeit mit Hausputz, Gartenarbeit, Wäschewaschen, Bügeln, Kochen, Aufräumen und sie half die erste Zeit als Sprechstundenhilfe auch meinem Vater in seiner Praxis. Später kamen Helga und Uschi B. als Sprechstundenhilfen und sie halfen auch hin und wieder als Kindermädchen aus. Frau St. und Frau R. fungierten als Hauswirtschaftskräfte und wirkten mit als Kindermädchen, während Herr Gr. und Herr Kr. sich fleißig um den großen Garten kümmerten. Die jüngere Schwester von Mutti machte 1955/56 ein Hauswirtschaftspraktikum bei uns und begann mit 17 Jahren in Mainz eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester. Morgens, beim Aufstehen, musste ich immer um Hilfe rufen, damit man mir beim Anziehen und so weiter half, derweil die Familie schon eifrig beim Frühstück am Esstisch saß. Oft übte Mutti mit mir noch vorher im Bett und dehnte meine Adduktoren, welche meine Beine beim Gehen ständig x-förmig zusammenzogen, und lockerte meinen rechten Arm und die rechte Hand. Meine linke Seite war ja, wie schon erwähnt, dagegen verhältnismäßig gut, sodass ich ein Mindestmaß an Selbstständigkeit und Freiheit hatte und mir viele lange Jahre erhalten konnte. 29

1959 im August fuhren Papi, Mami, meine älteren Geschwister und ich von Lauterecken über die Schweiz nach Italien. Unser Ziel war das Meer, genauer gesagt Rimini an der Adria. Meine kleine zweijährige Schwester blieb bei Oma und Opa zu Hause.

Rimini 1959.

Der hellblaue Opel Kapitän war bis oben bepackt und mein Bauch kribbelte vor Reisefieber. Vor uns lag eine zirka 1.020 Kilometer lange Fahrtstrecke und es war sonnig und heiß. Da ich erst fünf Jahre alt war, kann ich mich an vieles nicht mehr erinnern, aber meine Mutter erzählte mir die Details Jahre später. Irgendwo unterwegs auf der ewig langen Strecke erkrankte ich plötzlich an Durchfall und Erbrechen. Es war die Ruhr, eine virusbedingte Magendarmerkrankung. Wir waren schon zu weit gefahren, um umzukehren. Als wir endlich am Gardasee ankamen, hat meine Mutter die ganze Sauerei in den See geworfen und das Auto, so 30

weit es in der Sommerhitze überhaupt möglich war, gelüftet. Wir haben dann irgendwo in einem Hotel übernachtet, allerdings mussten meine Eltern mich verstecken, da die Ruhr ansteckend ist und wir sonst eventuell keine Unterkunft bekommen hätten. Als wir in Rimini im Hotel ankamen, verlangte ich nach Angaben von Mami nur noch nach Wasser, der ganze Körper war wegen des ständigen Brechdurchfalls total ausgetrocknet. Ich musste mich wegen der Ansteckungsgefahr auch in diesem Hotel zunächst einmal im Hotelzimmer verbergen. Mein Papi ist dann allein in Rimini weit herumgelaufen und fand endlich eine Apotheke, welche ein gutes Medikament gegen diese furchtbare Ruhrkrankheit vorrätig hatte. Durch den großen Stress bekam mein fast 56-jähriger Papi eine Herzgeschichte, die er aber nach kurzer Zeit in den Griff bekam, schließlich war er Arzt. Für meine Mutter schien der Urlaub schon fast gelaufen zu sein, aber dank der Arznei von Papi gesundete die Familie doch recht schnell und die restliche Urlaubszeit entwickelte sich zum Glück zum Positiven. An viel kann ich mich nicht erinnern, aber ich weiß noch, dass ich immer wieder »Tschau, Tschau« zu einem Zimmermädchen gesagt habe. Auch sehe ich im Geiste noch vor mir, wie mein Papi mit mir auf seinen Schultern zum Strand ging. Heute noch kann ich die vielen schönen und farbigen Fotos von meinem ersten Urlaub mit Familie bestaunen und bewundern. Wir erholten uns im Laufe des dreiwöchigen Aufenthalts alle von den anfänglichen gesundheitlichen Schwierigkeiten und sind 31

gut und wohlbehalten sowie mit froher Laune wieder zu Hause in Lauterecken angekommen. Die Daheimgebliebenen begrüßten uns freudig.

Ferien in der Fränkischen Schweiz (1961).

1961 fuhren wir mit der ganzen Familie nach Eging im Bayerischen Wald, als unerwartet die Familie R. mit ihrem Sohn, einem Freund von meinem Bruder, vor unserem Auto auftauchte, die zufällig auch nach Eging fahren wollten. Dort sind wir auch auf den Dreisessel und auf den Großen Arber mit dem Berglift hochgefahren. Mit sieben Jahren, im Herbst 1961, kam ich in ein Behindertenheim der Diakonie nach Bad Kreuznach an der Nahe, um dort eingeschult zu werden. Die Trennung von der Familie kam für mich viel zu früh und ich hatte immer nur Heimweh, auch wenn ich jedes Wochenende

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Besuch bekam – mal von Opa, dann von Oma, mal von meiner Tante und schließlich auch von Mami, Papi und den drei Geschwistern. Ich wohnte in einem Zimmer mit drei anderen Kindern zusammen; Andreas (acht Jahre), Billy (12 Jahre) und Nino (fünf Jahre). Erinnern kann ich mich noch an Schwester H., an ein Fräulein H. und an die Oberin M., die Leiterin. Gleich neben dem Wohnheim lag die Schule. Das Mittagessen war leider oft fettig, das Personal bekam dagegen viel besseres Essen. Einmal wurde Nino ›gedachtelt‹, da er mich immer gerne anspuckte. Andreas war im Laufe dieses Jahres verstorben. Mit Billy verstand ich mich gut, er war sogar mal bei uns zu Hause auf Besuch. Weil ich noch nicht schulreif war und oft unter Heimweh litt, kam ich nicht wirklich gut zurecht. Zum Glück kam ich dadurch aber wieder nach Hause zu meiner Familie, worüber ich damals sehr erleichtert gewesen bin.

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SCHULZEIT UND JUGEND 1962 wurde ich dann von zwei Lehrern mit sehr viel Erfolg bis zum Jahre 1970 privat unterrichtet. Lehrer H., schon etwas älter, war hauptsächlich für Mathematik und Lehrer K., ein noch recht junger Mann, für Deutsch und andere Fächer zuständig. 1967 und 1968 durfte ich auf Betreiben von Lehrer K. auf die ganz normale Schule mit nichtbehinderten Kindern in Lauterecken gehen und schaffte auch hier mit gutem Erfolg die Klassenziele. Die Klassenlehrerin war Frau Th. 1968 war ich ein Vierteljahr in Münster/Westfalen wegen einer großen Operation an den Adduktoren und am rechten Spitzfuß. Dort begann meine zwei Jahre davor ausgebrochene Akne Conglobata so richtig aufzublühen und ein Pfleger sagte zu mir, dass ich sie nach weiteren zwei Jahren hinter mir hätte. Ich bekam auch Beschäftigungstherapie von einer Frau Sch. Bei ihr fertigte ich ein Sitzkissen, ein Körbchen und ein Tablett, worauf ich heute noch mit Stolz verweise. In dieser Zeit besuchten wir in dem heißen Sommer den Zoo von Münster oder waren auf dem naheliegenden schönen Aasee. Dann durfte ich nach einem dreiwöchigen Krankenhausaufenthalt mit Beckenspreizgips, 34

IMPRESSUM Christoph Thomas Jede Stunde Mühe und Kampf Gedanken und Erinnerungen eines Schwerbehinderten Autobiografische Erzählung 1. Auflage • April 2016 ISBN Buch: 978-3-95683-358-8 ISBN E-Book PDF: 978-3-95683-359-5 ISBN E-Book epub: 978-3-95683-360-1 Lektorat: Ulrike Rücker [email protected] Umschlaggestaltung: Ralf Böhm [email protected] • www.boehm-design.de © 2016 KLECKS-VERLAG Würzburger Straße 23 • D-63639 Flörsbachtal [email protected] • www.klecks-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung – auch auszugsweise – ist nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet. Alle Rechte, auch die der Übersetzung des Werkes, liegen beim KLECKSVERLAG. Zuwiderhandlung ist strafbar und verpflichtet zu Schadenersatz.

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Alle im Buch enthaltenen Angaben wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt und erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Der Verlag übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unstimmigkeiten. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Franz Anker Wo ist eigentlich oben? Autobiografische Erzählung Taschenbuch • 13 x 20 cm • 414 Seiten ISBN Buch: 978-3-942884-87-7 ISBN E-Book PDF: 978-3-942884-88-4 ISBN E-Book epub: 978-3-95683-109-6 »Wo ist eigentlich oben?«, fragte sich der Autor während seines bewegten Lebens immer wieder, weil ihn die Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit, Angst, Verzweiflung, Hunger und Heimatlosigkeit keinen Halt finden ließen. Die autobiographische Erzählung nimmt den Leser mit in diese und spätere Zeiten, und sie erzählt von seiner abenteuerlich erlebten Welt der Seefahrt, von Welten sich erfüllender Weissagungen und Träume, bringt den Leser in andere und ferne Länder und zurück nach Deutschland. Der Autor erzählt sprachgewaltig, einfühlsam, humoristisch und schonungslos ehrlich. Mit kritischem und vergleichendem Blick beleuchtet er das Erlebte und das brüchig erscheinende Hier und Jetzt, welches nicht nur von wirtschaftlichem Erfolg, sondern ebenso von der Ausgrenzung mancher Personengruppen bis hin zur Ent137

wicklung und Verfestigung von Parallelgesellschaften bestimmt wird, und dessen ungewissen Ausgang.

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Anneliese Axthelm Mein Hochzeitstag und das neue Leben eines Anderen Stammzellen gesucht! Erzählung Taschenbuch • 13 x 20 cm • 238 Seiten Eine junge Frau lässt sich typisieren, ohne zu wissen, was Jahre später auf sie zukommt, als sie für einen Leukämiepatienten zunächst für eine Bestätigungstypisierung angefordert wird. Eine Herausforderung für sie und ihre Familie. Zum gleichen Zeitpunkt erkrankt ein junger Mann an Leukämie. Eine Tragödie, wie nur der weiß, der so etwas in seinem Umfeld oder selber erlebte. Gedacht ist das Buch als Dankeschön an die vielen Spender, die zum Teil mehrfach für einen, ihnen unbekannten Leukämiepatienten gespendet haben, um diesem die Hoffnung auf Heilung und eine 2. Chance zum Leben geben. Den Leukämiepatienten gibt dieses Buch Kraft zum Durchhalten, denn sie gehen durch die Hölle.

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