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Kein kleines Kind mehr ................................................ 29. Schulanfang .... Dritter Umzug . ...... abenteuerlich erlebten Welt der Seefahrt, von Welten sich erfüllender ...
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Jutta Schneider

GESINE 1927–1948 Ihr Leben ist rund, spitz und eckig, aber lebenswert! Biografie

Inhalt Was heißt verloren? .................................................... 11 Gesine wünscht sich Geschwister ................................ 15 Umzug ........................................................................ 19 Das Radio ................................................................... 21 Straßenhändler ............................................................ 23 Das Kino ..................................................................... 25 Auf dem Weg zu den Großeltern ................................ 27 Kein kleines Kind mehr ................................................ 29 Schulanfang und neue Freundschaften ........................ 31 Die Schule hat viele Gesichter ..................................... 33 Der Zopf ..................................................................... 33 Die Gummistiefel ........................................................ 35 Das liebe Geld ............................................................. 38 Schulfreundinnen ........................................................ 40 Glück und Trauer ........................................................ 43 Das Weihnachtslied ..................................................... 45 Museumsbesuch ......................................................... 48 Verbotenes ................................................................. 50 Frisieren und Tanzen ................................................... 54 Lesen .......................................................................... 57 Das Vorbild ................................................................. 59 Urgroßmutter .............................................................. 63 Fisch ........................................................................... 65 Musik.......................................................................... 67 Hanna ......................................................................... 69 Sauberkeit ................................................................... 71 Die Erholung ............................................................... 74 Zweite Erholung .......................................................... 79

Gesine das Jungmädchen ............................................ 85 Alle Träume erfüllen sich nicht .................................... 89 Dritter Umzug ............................................................ 93 Angst .......................................................................... 96 Vater .......................................................................... 99 Im Bett ..................................................................... 103 Krieg ......................................................................... 105 Luftschutzkeller ........................................................ 107 Wieder eine neue Wohnung ..................................... 108 Helmas neue Mutter ................................................. 111 Engelchen ................................................................. 114 Theater ..................................................................... 116 Angina ...................................................................... 120 Kinderlandverschickung ............................................ 123 Neue Eindrücke ........................................................ 130 Eleda ........................................................................ 137 Das Lieblingskleid ..................................................... 147 20. April ................................................................... 150 Quarantäne .............................................................. 153 Wieder in Bremen ..................................................... 157 Fliegeralarm und Bomben ......................................... 161 Umräumen und Fronturlaub ..................................... 165 Glück im Unglück ..................................................... 169 Konfirmation ............................................................ 172 Fahrt aufs Land ......................................................... 175 Ferienarbeit .............................................................. 179 Vogtland .................................................................. 183 Pflegeeltern .............................................................. 186

Prag .......................................................................... 190 Plakate zeichnen ....................................................... 198 Theater spielen .......................................................... 200 Besuch der Mutter .................................................... 203 Gottfried ................................................................... 208 Der erste Kuss ........................................................... 213 Weihnachten zu Hause ............................................. 216 Kino in Schönheide ................................................... 218 Schwarze Nacht ........................................................ 223 Essen......................................................................... 225 Nichts begriffen ........................................................ 228 Ende der Schulzeit ..................................................... 230 Tegernsee ................................................................. 235 Umzug nach Abwinkl ................................................ 240 Alles verloren ............................................................ 247 Herbergssuche .......................................................... 254 Endkämpfe ................................................................ 257 Neuer Anfang ........................................................... 266 Kälte ......................................................................... 270 Beziehungen aufs Land ............................................. 273 Geld verdienen .......................................................... 277 Schlimme Nachricht .................................................. 287 Nachwort .................................................................. 292

WAS HEIßT VERLOREN?

Ganz unerwartet, von heut auf morgen, verlor Gesine ihren Vater. Nicht so, wie man seine Geldbörse verlieren kann, er war auch nicht plötzlich gestorben, nein, er war einfach weg.

Als er noch da war, war er auch oft weg, aber er kam immer wieder. Fast jeden Abend, um ihr »Gute Nacht« zu sagen. Eigentlich hatte sie nie so genau darauf geachtet, aber als er nicht wiederkam, bemerkte sie den Unterschied zu 11

früher. Sie war nun viel mit ihrer Mutti allein. Onkel Günther und Onkel Willy, die gar nicht ihre richtigen Onkel waren, die sie aber so nannte, kamen auch nicht mehr. Das waren nämlich Vaters Freunde und die verlor sie nun auch. Dafür war sie häufiger bei ihrer Großmutter oder deren Freundin. Die Großmutter war sehr streng. »Mit einem Kind ohne Vater, muss man sehr streng sein, was soll nur sonst draus werden? Die Mutter verhätschelt es viel zu sehr«, sagte die Großmutter. Wenn Großmutter keine Zeit hatte, wurde Gesine zu Großmutters Freundin gebracht. Die hieß genauso wie sie: ›Gesine‹. Aber alle nannten sie ›Sini‹. Tante Sini verhätschelte sie grad so wie die Mutti, aber das brauchte Großmutter nicht so genau wissen. Da war aber noch jemand, nämlich der Großvater. Er war auch immer weg, da er einen Beruf hatte. Aber Gesine hatte das Gefühl, dass er immer da war, denn für sie nahm er sich viel Zeit. So wurde der Großvater die wichtigste Person in ihrem Leben. Es gab auch noch eine Tante, Muttis Schwester. Wie konnte die schon heißen? Natürlich: ›Gesine‹. Da sie am Theater war, wo sie sang und tanzte, hieß sie ›Gesy‹ und Gesine durfte nicht ›Tante‹ zu ihr sagen. Gesy wollte sie eines Tages mit ins Schwimmbad nehmen. Ohne Badeanzug durfte Gesine nicht mit. Die Tante schämte sich, mit einem Nackedei gesehen zu werden.

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So einen kleinen Badeanzug gab es nicht zu kaufen. Da nähte die Mutti für sie einen aus Großmutters blauen Unterrock. Aber als sie aus dem Wasser kam, war sie blau wie ein Tintenfisch. Als Gesy die Wasserrutsche hinuntersauste, platzte ihr Badeanzug hinten am Po auf. So musste sie, zwischen all den Leuten, zu ihrem Platz

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gehen. Darüber konnte Gesine sich freuen. Denn wegen des blöden Badeanzugs hatte die Mutter sie ein paar Tage mit der Wurzelbürste abschrubben müssen.

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GESINE WÜNSCHT SICH GESCHWISTER

Gesines Freundinnen hatten alle Geschwister und sie verstand nicht, warum sie keine bekam. »Ohne Vater bekommt man keine Geschwister«, sagte die Mutter. Was war das für eine Ungerechtigkeit! Also musste ein Vater her.

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Am liebsten hätte es der Großvater sein sollen. Aber der machte aus Fensterkitt ein Männlein und sagte, dass eines Tages ein richtiger Vater draus würde, wenn sie es sich sehr wünsche. Gesine glaubte nicht so ganz, was der Großvater sagte, denn da wusste sie noch nicht, dass er klug und weise war und immer recht behalten würde. So zerbrach sie sich ihren kleinen Kopf, bis sie die Lösung gefunden hatte. »Mutti, du gehst einfach zum Bahnhof, stellst dich auf eine große Kiste und suchst dir einen Netten aus.« So, das war erledigt. Aber, es schien nicht zu klappen. Es dauerte und dauerte. Da würde sie ja selbst inzwischen groß werden und sich einen Mann aussuchen. Aber sie brauchte nicht erst zu suchen, denn sie hatte ja schon längst beschlossen, den Großvater zu heiraten. Er hatte ihr versprochen, jedes Jahr jünger zu werden, dafür musste sie jedes Jahr größer werden. Da sah Gesine gar keine Schwierigkeiten, denn aus dem blauen Kleidchen mit den Blümchen war sie schon lange herausgewachsen. Dummerweise klappte es mit dem Geschwisterchen auch nicht. Gesine betete jeden Abend: »Lieber Gott, lass meine Babypuppe lebendig werden.« Sie legte aufs Fensterbrett Würfelzucker, damit der Klapperstorch ihn sich holen konnte, um dafür ein Baby zu bringen. Sie hörte ihn sogar manchmal mit seinem langen Schnabel klappern, wenn er sich den Zucker holte. Aber nichts geschah. So legte sich Gesine auf die Lauer, und als sie ihn wieder klappern hörte, riss sie die Tür auf und sah, wie Muttis Freundin Hanna mit der Lockenschere am Fenster stand und damit klapperte. Da stand für sie fest, 16

dass Hanna den Klapperstorch verjagt hatte.

Nun machte Gesine noch einen anderen Versuch. Sie wollte bei jedem Spaziergang nur noch nach Warturm,

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denn dort gab es ein Storchennest. Es war ein langer Weg. Meist war es heiß und die Mücken ärgerten sie immer unterwegs. Aber sie wollte nichts unversucht lassen. Dort angekommen, brüllte Gesine so laut sie konnte: »Klapperstorch, du Guter, bring mir einen Bruder. Klapperstorch, du Bester, bring mir eine Schwester!« Zwei auf einmal wollte sie eigentlich nicht haben, aber: Doppelt hält besser, das wusste sie schon.

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UMZUG

Gesine und ihre Mutter zogen in eine neue Wohnung. Sie war in einem großen Haus, in welchem viele Kinder wohnten. Da vergaß sie eine Weile, dass sie Geschwister haben wollte. Ab und zu hätte sie einen großen Bruder gebrauchen können. Wenn die Kinder zu ihr gehässig waren, konnte sie leider nie mit ihm oder gar einem Vater drohen. Immer war sie es, die von den anderen in die schwarze Gartenerde eingegraben wurde, so, dass nur der Kopf herausschaute. Gleich neben ihrem Haus war eine große rote Kaserne. Rundherum war eine Mauer, die so hoch wie sie selber war. Darauf standen Säulen und dazwischen war ein Eisengitter, das wie aneinander gekettete Speere aussah. Gesine hatte den Verdacht, dass alles extra gemacht war, damit die Kinder nicht an die blanken Kastanien kommen konnten. Es stand sogar auf einem großen Schild, das die Mutti ihr vorgelesen hatte: ›Unbefugten ist das Betreten des Kasernengeländes verboten.‹ Gesine war die Zierlichste von allen Kindern, also musste sie sich durch das Gitter zwängen und die heißbegehrten Kastanien holen. Überflüssig zu erwähnen, dass sie am wenigsten davon behalten durfte. Genau hier fehlte wieder ein großer Bruder. Er hätte die anderen Kinder mal ordentlich verhauen oder gezielt anspu19

cken können, was Buben bekanntlich viel besser als Mädchen machen.

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DAS RADIO

Auf der ersten Etage wohnten Oma und Opa Brandt, wie sie von allen Kindern liebevoll genannt wurden. Sie besaßen das einzige Radio im Haus. Gesine und ihre Mutter hatten auch eins gehabt. Es war braun und hatte vorne eine Laubsägearbeit mit grünem Stoff dahinter. Aber das war mit dem Vati verloren gegangen. Eines Tages trafen sich bei Brandts alle Leute aus dem Haus. Gesines Mutter war auch dort. Weil Gesine neugierig war, ging sie mit.

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Oh, hätte sie nur gewusst, dass man sich nicht rühren und regen durfte. Da redete und redete ein Mann, der Hitler hieß, und nicht ein Wort davon war für Gesine interessant. Sie stand am Fenster und beobachtete die Straße, aber nichts und niemand rührte sich. Nur die Vögel flogen weiter in der Sonne und ein Kätzchen schlich am Zaun entlang. Als Gesine es ihrer Mutter sagen wollte, trafen sie gleich viele strafende Augenpaare. Endlich war die Rederei zu Ende, aber alle saßen freiwillig ganz stumm da. Dann war so ein Durcheinander von Stimmen, dass Gesine sich leise davonschlich, um draußen erst mal zu probieren, ob sie überhaupt noch reden konnte. Da ihr nicht so viele Worte wie dem Mann im Radio einfielen, machte sie ihre eigenen. Die klangen dann ohne Punkt und Komma ungefähr so: »Dari so luwo di ri wu, laklari klatschi rusel das kura wumm.« Aber als sie ihrer Mutti die lange Rede hielt, sagte diese: »Ich verstehe kein Wort.« Na, da kenn sich noch jemand mit den Erwachsenen aus.

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STRAßENHÄNDLER

Jede Woche kam die Fischluzie mit einem uralten Kinderwagen, welcher ganz hohe Räder hatte. Sie trug ein langes Kleid mit Spitzen und auf ihrem Kopf thronte ein großer Hut mit Federn und Schleier. Sie rief: »Schollen, frische Sprotten, frischer Schellfisch, Granaaaaat!« Alle Kinder zogen johlend hinter ihr her, aber Gesine hatte Mitleid mit der Alten und lief nie mit.

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Außerdem konnte man nie so genau wissen, ob sie nicht eine Hexe war oder gar verzaubert. Gesine kannte viel Märchen und wusste daher, was alles passieren kann. Oder es kam der Lumpenheini. Er hatte eine große Holzkarre und konnte genau so schreien wie die Fischluzie. Er aber rief: »Lumpen, Eisen, Knochen, Altpapiiiiier!« Vorm Lumpenheini hatte Gesine richtige Angst. Er roch so fürchterlich, wie alle schrecklichen Dinge zusammen nur riechen konnten. Fischluzie roch wenigstens nur nach Fisch. Außerdem roch oft das ganze Haus wie sie. Und davor brauchte man keine Angst zu haben.

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DAS KINO

Gesines Mutter hatte neue Freunde. Sie besaßen was viel Tolleres als ein Radio, sie hatten ein Kino. Ein richtiges großes Kino und praktischerweise war es gleich auf der anderen Straßenseite von Gesines Wohnung. Noch praktischer war, dass Gesine und ihre Mutter immer Freikarten bekamen. Aber Gesine durfte nur manchmal hingehen.

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Hoffentlich verlor die Mutti die Freunde nicht so schnell wie den Vati. Nun sah Gesine zum ersten Mal in ihrem Leben einen Film. Die Hauptperson war eine Mickymaus. Noch besser gefielen ihr Filme, in denen ein Mädchen mit wunderbaren blonden Locken mitspielte. Es war Shirley Temple und die war genau so alt wie sie. So beschloss Gesine, Shirley zu ihrer Freundin zu machen. Nach einer Vorstellung versteckte sich Gesine im Kino. Als alle draußen waren, wartete sie auf Shirley. Aber nur die Putzfrauen kamen. Als sie mit ihrer Arbeit fertig waren, gingen alle Lichter aus. Shirley erschien immer noch nicht. Überhaupt niemand erschien. Die Türen waren alle versperrt und da bekam Gesine es mit der Angst zu tun. Sie haute an die großen Glastüren und schrie so laut wie die Fischluzie und der Lumpenheini zusammen. Sie sah gegenüber ihr Zuhause, aber niemand sah sie. Als sie schon dachte, die ganze Nacht dort eingesperrt zu sein, kamen ihre Retter. Da beschloss Gesine, sich eine andere Freundin zu suchen.

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AUF DEM WEG ZU DEN GROßELTERN

Wenn Gesine mit ihrer Mutter die Großeltern besuchte, war sie ganz aufgeregt vor Freude. Als sie noch kleiner war, setzte die Mutti sie auf einen Stoffesel mit Rädern. So ritt sie durch die Stadt. Der Esel hatte auf dem Rücken einen Ring und wenn man daran zog, schrie er »IA«.

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Die Mutti zog sie besonders schön an, wenn es zu den Großeltern ging. Weiße Gamaschenhosen, hellblaues Mäntelchen und Mützchen. Die Straße hatte viele Gullydeckel. Da wollte der Esel nie rüber und bockte. Dann fiel Gesine auf die Nase. Wenn sie bei den Großeltern ankamen, war nichts mehr weiß oder hellblau an ihr. Als Gesine fünf Jahre alt war, durfte sie allein mit der Straßenbahn fahren. Die Mutti sagte: »Du darfst nicht über die Straße gehen, wenn du noch ein Auto siehst.« Dann setzte sie Gesine in die Bahn, stieg aber selbst am anderen Ende auch ein. Gesine stieg an der richtigen Haltestelle aus und ihre Mutter, unbemerkt von ihr, ebenfalls. Da stand Gesine nun an der Straßenecke und ging und ging nicht auf die andere Straßenseite. Kein Auto kam, aber sie ging immer noch nicht. Die Mutter dachte schon, dass Gesine sie falsch verstanden hätte und womöglich loslaufen würde, wenn gerade ein Auto käme. Nach einer Viertelstunde entschloss die Mutter sich, Gesine an die Hand zu nehmen, um sie sicher über die Straße zu bringen. Aber da marschierte ihr Töchterchen plötzlich los. Weit und breit war wirklich kein Auto zu sehen. Als Gesine bei den Großeltern war, kam etwas später auch die Mutter. Gesine strahlte über ihr ganzes Gesichtchen und sagte: »Es ist alles gut gegangen. Nur an der blöden Ecke konnte ich nicht rübergehen, weil da hinten in der Straße so lange ein Auto stand.« Da musste die Mutti leise lachen und war sehr beruhigt, dass Gesine so gut auf der Straße aufpasste.

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KEIN KLEINES KIND MEHR

Gesine wurde sechs Jahre alt. Ostern sollte sie in die Schule kommen. Als ihre Mutter eines Tages Besuch von einer Freundin bekam, durfte Gesine mit am Kaffeetisch sitzen.

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Später machten die Freundinnen es sich bequem. Die Mutti saß auf dem Sofa und Gesine kuschelte sich dicht daneben. Sie verhielt sich mucksmäuschenstill. Sie übte sozusagen schon für die Schule: still sein und zuhören. Aber in Wirklichkeit war sie neugierig und wollte nichts von der Unterhaltung versäumen. Langsam schliefen ihre Beinchen ein. Sie mochte sich gar nicht rühren, damit die Mutti nicht bemerkte, dass sie noch da war. Sie rieb Spucke in die Augen, damit sie ihr nicht zufielen. Es summte in ihrem Kopf. Nun hatte das Sandmännchen leichte Arbeit. Bald waren nicht nur die Beine, sondern das ganze Kind eingeschlafen. Ostern konnte kommen und die Schule beginnen. Gesine war nicht ins Bett geschickt worden, wie man das nur mit ganz kleinen Kindern macht. Nun gehörte sie zu den Großen.

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SCHULANFANG UND NEUE FREUNDSCHAFTEN

So viele Kinder auf einmal sah Gesine noch nie. Sie mussten sich alle einen Platz suchen und da fingen schon die Ersten an zu heulen. Gesine war es ganz egal, wo sie saß, sie wollte nur viel sehen und hören können. Fräulein Maas hieß ihre Lehrerin. Gesine mochte sie gleich gut leiden. Sie wäre am liebsten den ganzen Tag dort geblieben, um sie immer anschauen zu können. Viel zu schnell waren die Muttis mit den großen Schultüten da. Es gab viele Überraschungen und so ging der Rest des Tages schnell vorbei. Unter den neuen Mitschülern, war auch Gesines spätere allerallerbeste Freundin Helma. Gesines Mutter lernte Helma auf ungewöhnliche Art und Weise kennen. Helma fuhr mit ihrem Puppenwagen in den Grünanlagen spazieren. Gesine war mit ihrem unterwegs. So begegneten sie sich. Sie setzten sich auf eine Bank, versorgten ihre Puppen und tauschten Butterbrote aus. Nach dem guten Frühstück musste Helma unbedingt verschwinden. Nämlich auf ein gewisses Örtchen. Aber das gab es dort nicht. So fasste sie den Entschluss, ganz schnell nach Hause zu laufen. Es war zu spät. In Helmas Höschen, waren nicht nur die zwei kleinen Pobacken drin, sondern auch etwas, das fürchterlich stank. Fast so wie der Lumpenheini roch sie. Nach Hause traute Helma sich nicht. 31

So nahm Gesine sie mit zu ihrer Mutti. »Du musst ihr den Po waschen, sonst kriegt sie Haue«, sagte Gesine. Und da sie eine verständnisvolle Mutti war, wusch sie sogar Helmas Höschen aus. So begann also ihre Freundschaft.

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DIE SCHULE HAT VIELE GESICHTER DER ZOPF

Gesine lernte schreiben und lesen. Aus ihren blonden Locken waren zwei lange Zöpfe geworden. Eines Morgens hatte Gesines Mutter einen ganz dummen Einfall. Sie flocht ihr nur EINEN Zopf. Jawohl, nur einen einzigen Zopf. Als hätte sie nicht genug Haare für zwei Zöpfe. Außerdem saß der einzige Zopf hinten am Kopf. Noch nie hatte Gesine ein Kind mit nur einem Zopf gesehen.

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So wollte sie nicht in die Schule gehen. So sehr sie auch bettelte und weinte, der EINE Zopf blieb. »Ich hatte früher auch nur einen Zopf und das war sehr schick«, sagte die Mutter. Ja früher, das konnte Gesine gar nicht ausrechnen, wie lange das schon her war. Aber just in diesem Moment ging niemand nur mit EINEM Zopf. Es kam, wie es kommen musste. In der Pause sprangen die Kinder auf dem Schulhof um sie herum und belachten den EINEN Zopf. Gesine schlich nur noch mit dem Rücken zur Wand in die Klasse zurück. Da hasste sie die ganzen Kinder, sogar die ganze Schule.

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DIE GUMMISTIEFEL

Gesine bekam von ihrem verloren gegangenen Vater Gummistiefel geschenkt. Man nannte sie auch Galoschen. »Oh, wie entzückend, ganz reizend, wie apart, so modern und, sieh mal, aus Paris«, das sagten all die Großen, die sich Gesines Stiefel anguckten. Gesine dachte: ›Wie scheußlich, die haben ja einen Absatz; ih, die sind ja gelb, die gehen ja nur bis zum Knöchel und dann muss der Rand auch noch umgeschlagen werden. Was sollen die Druckknöpfe und der Zipfel auf der Seite?‹ Laut sagte sie: »Die will ich nicht anziehen.« Die Mutti meinte, dass sie undankbar sei, und: »Einem geschenktem Gaul guckt man nicht ins Maul.« Warum konnte der Vati nicht ganz normale Stiefel schenken? Was sollte sie mit Stiefeln aus Paris? Die sollten die Kinder aus Paris anziehen. Sie wollte Schuhe aus Bremen haben. So sehr Gesine auch protestierte, es nützte nichts. Der nächste Regen kam und Gesine musste die gelben Galoschen zur Schule anziehen. In der Schulklasse war eine lange Hakenleiste für die Mäntel und darunter mussten die Kinder ihre Gummistiefel stellen. Gesine stellte ihre Schuhe einfach unter einen fremden Mantel, damit niemand auf die Idee kommen konnte, dass ihr die Dinger gehören. Wieder kam ein Regentag. Fräulein Maas fragte, wer für sie etwas besorgen wolle. 35

Alle Kinder hielten ihren Finger in die Luft, denn Tafelwischen, in anderen Klassen etwas ausrichten oder sogar während des Unterrichts auf die Straße gehen zu dürfen, waren sehr gefragte Abwechslungen. Diesmal hatte Gesine das große Glück, ausgesucht zu werden. Als sie den Finger hob, dachte sie nicht an ihre Galoschen, die auf sie warteten. Zuerst wollte sie ganz fremde Stiefel anziehen. Aber das bemerkte die Besitzerin der Schuhe. Sie rief gleich ganz laut: »Da stehen deine Schuhe.« Jetzt guckten alle Kinder zu Gesine. Mit den Regentropfen

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zusammen kullerten ihr den ganzen Weg, hin und zurück, dicke Tränen die Bäckchen hinunter.

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DAS LIEBE GELD

»Ich bin doch kein Dukatenesel«, sagte Gesines Mutter, als die Lehrerin wieder Geld einsammeln wollte und jedes Kind welches mitbringen musste. Immer wurde für irgendetwas gesammelt. Mal für die Wohlfahrt, für das Winterhilfswerk oder fürs KdF, was ›Kraft durch Freude‹ hieß. Gesine verstand nicht viel von diesen Vereinen, aber man bekam für das Geld, das man in eine rote Büchse steckte, einen Anstecker, kleine Figuren zum Anhängen, winzig kleine Liederbücher, oder man konnte in ein großes Hakenkreuz weiße, rote oder schwarze Nägel einschlagen. Gesine hatte kein Taschengeld, weil sie den Vater verloren hatte. So musste sie immer wieder die Mutter anbetteln. Die wurde eines Tages ganz zornig und sagte: »Sag endlich deiner Lehrerin, dass deine Mutter kein Geld schieten kann.« Ui, war das ein schlimmes Wort! Es war Gesine sehr, sehr unangenehm, aber sie richtete alles aus, wie die Mutter es gesagt hatte. Fräulein Maas besuchte ein paar Tage später die Mutti. Der war das nun auch ganz unangenehm, denn die Großmutter hatte immer gesagt: »Halte den Kopf so hoch, als hättest du tausend Dukaten in der Tasche.« Gesine fand das einen doofen Spruch, denn bei tausend Dukaten in der Tasche, konnte man sicherlich nicht den 38

Impressum Jutta Schneider Gesine 1927 – 1948 Ihr Leben ist rund, spitz und eckig, aber lebenswert! Biografie 1. Auflage • August 2015 ISBN Buch: 978-3-95683-246-8 ISBN E-Book PDF: 978-3-95683-247-5 ISBN E-Book epub: 978-3-95683-248-2 Korrektorat: Ulrike Rücker [email protected] Umschlaggestaltung: Ralf Böhm [email protected] • www.boehm-design.de © 2013 KLECKS-VERLAG Würzburger Straße 23 • D-63639 Flörsbachtal [email protected] • www.klecks-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung – auch auszugsweise – ist nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet. Alle Rechte, auch die der Übersetzung des Werkes, liegen beim KLECKSVERLAG. Zuwiderhandlung ist strafbar und verpflichtet zu Schadenersatz.

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