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»Wag es nicht noch einmal, mit einem deiner Freunde bei mir zu erscheinen. ... Pflicht, sondern eine Notwendigkeit, um dem ›mächtigen Herrn des Katarakt‹ um.
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Ernstfried Protzmann

WENI Band 1

Gott im goldenen Krokodil Roman

Inhalt Prolog Weni, Sohn eines Jemand Kapitel 1

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Der Fluss Kapitel 2

123

Großes Land Abydos Kapitel 3

161

Im Haus der Seele des Ptah Kapitel 4

254

Domäne Freude des Unas Kapitel 5

298

Der Thronerbe Kapitel 6

343

Königsgeheimnis Kapitel 7

450

Nachwort

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PROLOG

D

er rotgoldene Schimmer des sinkenden Tages lag auf der heißen, graubraunen buckeligen, welligen westlichen Wüste. Der leichte Wind des brütend heißen Tages hatte nachgelassen. Eine tiefe Stille lag über dem respektablen, weiß gekalkten Gebäudekomplex, der aus einem Haupthaus und verschiedenen Nebengebäuden, kleinen Höfen mit wabenartigen Vorratsbehältern, einem Garten mit einem kleinen Teich bestand. Selbst die Laute, die gewöhnlich vom nahen Dorf herüber schallten, waren verstummt. Auf der Dachterrasse des Haupthauses, unter einem schlaffen weißen Sonnensegel aus feinstem Leinen, das auf vier roten Pfosten ruhte, saß auf einem niederen Lehnstuhl, der mit weißen Kissen ausgepolstert war, ein alter Mann. Er war von den Schultern bis zu den Füßen in fein gewebte weiße Leinentücher eingehüllt. Sein kahler Kopf wies kaum noch so viel pergamentartige Haut auf, dass die leicht geschwollenen Adern auf dem Schädel bedeckt waren. Selbst die Falten des Gesichts waren ausgezehrt, sodass der Kopf jener einer Mumie glich. Dazu passte auch die dunkelbraune Hautfarbe. Weiße und grünliche Schminke, die sorgfältig um die Augen herum aufgetragen war, verstärken noch den Eindruck eines Totenschädels. Dieser Eindruck wurde jedoch, wenn man in die glühenden Augen des Greises sah, schnell korrigiert. Sie lebten – und wie sie lebten. Ihnen entging nichts. Aus dem Gewirr der Tücher ragte eine braune, vertrocknet wirkende Hand hervor, die sich fest um einen langen Stock klammerte, auf dessen oberer Spitze eine sorgsam geschnitzte Elfenbeinkugel schimmerte. Der Greis starrte in den Sonnenuntergang. Obwohl nichts zu sehen war, schienen seine Augen dennoch etwas wahrzunehmen, was einem anderen Betrachter verborgen bleiben musste. Dies war deutlich an seinen Augen zu erkennen, die unruhig auf das Spektakel der sinkenden Sonne starten. Offensichtlich waren seine Gedanken in der Ferne, in der Vergangenheit. Als die Sonnenscheibe den Wüstenrand berührte, kam Bewegung in die Gestalt. Er hüstelte und ein feiner feuchter Speichelfaden lief aus seinem linken Mundwinkel. »Man bereite mir den Brei!« Seine Stimme klang überraschend kräftig, befehlend,

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keinen Widerspruch duldend. Aus dem Ausbau des Lüftungsschachtes, in dem auch die Treppe nach unten mündete, kamen leise Geräusche. »Sabis! – Komm zu mir!« Ein mit einem weißen Schurz bekleideter junger Mann kam in gebückter Haltung aus dem Lüftungsschacht und Treppenaufgang. Es war der Leibdiener des alten Mannes. Demütig kniete er vor dem Greis nieder und sah seinen Herrn erwartungsvoll an. »Bereitet man mir meinen Brei?« »Er wird bereitet, o würdiger Herr.« »So Eile, und lass genug Licht aufstellen, denn ich will den Schreibern Kanub und Nob diktieren.« Der Diener zog sich gebückt zurück, um gleich darauf mit einer Schüssel zurückzukommen. In gebückter Haltung löffelte er seinem Herrn mit einem elfenbeinernen Löffel den Brei in den Mund. Aber schon nach einem Dutzend Löffeln Brei, hatte sein Herr genug. »Es ist genug. Schau es an. Wenn du Glück hast, und die Götter es wollen, wirst auch du eines Tages keine Zähne mehr im Munde tragen, um in das saftige Fleisch eines Zickleins beißen zu können.« Der Diener verbeugte sich tief und beinahe wäre ihm der restliche Inhalt des Napfes auf die Erde gelaufen. Der Herr sah es wohl und ein leichtes Zucken um die Mundwinkel verriet seine Empfindungen; es war Hohn und Spott. »Eile nun und schafft Licht, denn ich will die Schreiber zu meinen Füßen sehen.« Sabis verschwand tief gebückt im Treppenschacht. Gerade als die letzten Sonnenstrahlen die Terrasse beleuchteten, erschienen acht Diener mit Ständern und Öllampen, die nun, als das letzte Licht des Himmels im Westen untergetaucht war, ein sanftes Licht um den alten Herrn verbreiteten. Alles geschah lautlos, eingespielt, ein Vorgang, wie er oft in diesem Hause vorkam. Kaum waren die, bis auf ein Schamtuch nackten Lampenträger wieder verschwunden, als zwei mit weißen Schurzen bekleidete Diener auftauchten, die jeder Schreibgerät und je eine Schriftrolle mit sich führten. Sie hockten sich stumm vor ihren Herrn nieder, glätteten ihre Schurze und breiteten darauf ihre Schriftrollen aus. Es dauerte eine Weile, bis sie auch den Farbpinsel und die Farbe bereitet hatten. Der Greis sah ihnen genau zu. Wehe ihnen, wenn sie bei der Vorbereitung auch nur einen Fehler gemacht hätten. »Es ist Zeit, mein ›Ewiges Haus‹ zu bereiten«, flüsterte er. Zur Bekräftigung klopfte er dreimal mit seinem Stock auf den Boden. Die beiden Schreiber zuckten zusammen.

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»Ré1, der große Gott in Jeton2, hat seine nächtliche Fahrt begonnen. Alles schwindet im ›Land des Westens‹. Mein Lebensweg führt unaufhaltsam dem imnetj3 zu, mein Ka4 sucht eine neue Herberge.« Er sprach gedankenvoll – zu sich selbst. Er schien die Schreiber fast vergessen zu haben. »Wohl weiß ich, mein Leben ist erfüllt. – Es wird Nacht. Schon sind die Diener meines ›Ewigen Hauses‹ bei der Arbeit. Mein Haus ist gut bestellt. Schon schaffen sie meinem Ach5 eine würdige Stätte. Meine Kinder werden keine Not leiden. Der Segen des ›Guten Gottes‹ ist über sie gebreitet wie sanfte Schwingen. Ich, Weni, bin sein erster semer-waati, sein ›Einziger Freund‹, sein im-ib-wer, sein ›Großer Vertrauter‹ und chori-scheta, großer ›Geheimer Rat‹. Noch bin ich ein semsu-hajot, ›Vorsteher des Palastes‹ und der hoch geehrte Bürgermeister von men-nefer-Ré6. Noch bin ich ein tat7 des schemau8 und ›Beschützer des Tores des Südens‹. Mein Blick ist scharf, denn ich bin ›Seher des Chenti Amentiu‹9 in abodju.« Er machte eine kleine Pause, hüstelte. »Die Wände meines ›Ewigen Hauses‹ sind mit Gips geglättet. In den Töpfen steht das Wachs bereit. Im Opferhaus des guten Gottes, des Usir Pepi10, ist mein Name verzeichnet. Er ist mein Mittler und Schützer auf dem Weg ins ›Land des Westens‹. Wie der Schatten seines göttlichen Ka11 auf meinen Namen fällt, wird seine Gnade auf meiner wandernden Seele liegen, denn ich werde ihm bei der großen Fahrt auf dem ›Westlichen Nil‹ dienen, wie und wo immer er will.« Mit scharfen Blick folgte er den flinken Pinselstrichen des Schreibers Kanub, denn dieser war es, der – im Wechsel mit seinem Kollegen – die Diktate ihres Herrn aufnahm. Dabei blieb ungewiss, ob bei der schlechten Beleuchtung und dem Abstand zu dem Schreiber der alte Herr wirklich überwachen konnte, was der Schreiber in seiner Papyrusrolle notierte. 1 2 3 4 5

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Sonnengott, Urgott. Sonnenscheibe, später auch als Gott Aton. Totenland; wörtl. Land des Westens. Seelenähnlicher Begriff. Geist des Toten-Verklärten, der in der Geister-/Unterwelt mit allen Bedürfnissen lebt (Totendienste notwendig). Pyramidenstadt des Pepi I. Wesir. Oberägypten. Totengott, Wegbereiter im Jenseits usw. Pepi = der tote, der ›verklärte‹ König als auferstandener Gott in den Sternen; hier Pepi II. gemeint. Seelenbegriff, ein sich selbst kopiertes Ich?

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Weni sah zu den Sternen auf. »Chonsu12 hat seinen dunklen Mantel umgelegt. Des Nachtwindes kühler Griff liegt auf meinen gewelkten Schultern«, flüsterte er leise, für die Schreiber unverständlich. Nachdenklich senkte sich er wieder seinen Blick den Schreibern zu. Sie waren seine Kreaturen. Er flüsterte, gab seinen Gedanken Ton. »Sie sind ein Nichts, sie sind niemand und dennoch für mich, ihren Herrn, nötig und wichtig wie Speise und Trank, Schlaf und Leben. Ihr nichtswürdiges Dasein gibt mir, dem mächtigen und erhabenem Weni die Würde. Was ist der Mächtige ohne den Dienenden, dem er seine Gewalt fühlen lassen kann? Der ihm erst gestattet, seinen Reichtum und seine Macht zu zeigen. Er ist ein schön geformter Fels im Strom, ein Hindernis für Treibgut. Die Fluten aber teilen und schließen sich und ziehen weiter, ohne dass der Fels sie zu halten vermag.« Er starrte auf die Schreiber hinab. Sie sahen ihn ergeben, mit ehrfurchtsvollen Augen an. Ekel stieg in ihm auf. Wie oft hatte er die menschliche Demut genossen, sich in ihr gebadet, gesonnt, doch sie war ihm im Laufe des Lebens peinlich geworden. Auch jetzt irritierten sie ihn, ließen den Fluss seiner Gedanken stocken. »Ihre Demut ist das Ruhekissen des Mächtigen. So will es die von den Göttern gewollte Ordnung; so soll es sein«, flüsterte er und fuhr mit scharfer schriller Stimme fort: »Starrt mich nicht so unverschämt an. Soll die Peitsche des Hofmeisters euch Ehrfurcht lehren?« Erschrocken senkten die Schreiber ihre Blicke. Ihre eben noch offenen Gedanken sterben, sinken in die Nacht, ins Nichts; lassen ihren Herrn in der Dunkelheit allein. Nur das glutende, rot-gelb aufzuckende Knistern und Sprühen der Lichter unterbricht Ruhe und Gelassenheit. Weni atmete tief durch. Seine Gedanken sprangen weit zurück, in die Tage seiner Kindheit seiner Jugend. »So will ich denn berichten, als sei alles erst heute geschehen. Dabei ist mir wichtig, die Erwartungen, Ängste und naiven Dummheiten so darzustellen, wie ich sie damals empfunden, wie sie mir heute – am Ende des großen Weges – erschütternd einfältig vorkommen, die aber dennoch, den Göttern, Sobek13 sei Dank, mich bis hierher getragen haben. So schreibt!«

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Mondgott; die Merkmale dieses Gottes sind im AR gewalttätig bis blutrünstig, im MR und NR gütig, mild. Krokodilgott mit einer Fülle ganz unterschiedlicher Eigenschaften wie: Stärke, Geburtshelfer, Vernichter des Bösen.

WENI, SOHN EINES JEMAND KAPITEL 1

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ie beiden hellbraunen, bis auf einen Leibstrick um den Bauch nackten Jungen – sie mussten wohl zehn bis zwölf achet14, Überschwemmungen, Jahre alt sein – bewarfen sich mit Sand und kleinen Kieselsteinen. Dabei tobten sie zwischen den großen rund geschliffenen Steinblöcken umher, zwischen denen das Wasser des mu bejen, des Katarakts wild hindurch strömte, sprudelte, lärmte und die vergnüglichen Lustschreie des Übermuts der Jungen verdeckten. Durch das Rauschen des Wassers klang plötzlich ein Ruf an ihre Ohren. Sie hielten in ihrem Spiel inne, duckten sich wasserseitig hinter die großen Geröllbrocken und spähten, tief an den Boden gedrückt, aus ihrer Deckung zu der hundert Schritte entfernten, hoch auf dem Plateau liegenden braungrauen Mauer empor. Dort waren, sich deutlich gegen das Blau des Himmels abhebend, drei Männer zu erkennen. Zwei von ihnen nackt, nur mit einem weißen Kopftuch gegen die Sonne geschützt, sie stützten sich auf Lanzen. Sie gehörten wohl zur Tempelwache. In ihrer Mitte stand ein Mann ohne Kopfbedeckung. Er trug einen Schurz, der sich mühsam unter seinem fülligen Bauch an den Hüften festzuhalten suchte. Es war Sapti, einer der einfachen Priester, der hier mit den Wachen des Tempels des Chnum, der dicht hinter den Befestigungsmauern lag, seinen ihm vorgeschriebenen Kontrollgang machte. Er war es, der den lauten Ruf ausgestoßen hatte. Es war ein Ruf des Ärgers, aber auch des Jagdtriebes, denn die beiden Jungen waren ihm und dem Tempel ein Ärgernis; sie waren Streuner, kleine Diebe ohne Eltern, die sich hier bei der Insel abu15, zwischen den anderen kleinen Inselchen und der der Insel gegenüber liegenden Stadt sewenu16, der ›Händler-Stadt‹, seit einiger Zeit herumtrieben. Wer sie waren, woher sie kamen – niemand wollte oder konnte 14

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Jahreszeit der Nilflut, Nilflut/Überschwemmung = hapi, Nil = hapi und göttlich = Hapi (Gott) genannt. Elephantine. Syene = Assuan.

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es sagen. Außerdem waren es nicht die einzigen unbeliebten Zuwanderer, denn hier, am ›Tor des Südens‹, der Grenze, versammelten sich stets Fremde aus dem Süden, um im Land des ›Guten Gottes‹ zu handeln, Nahrung und Arbeit zu finden. Doch diese Wanderung fand nicht nur vom Süden statt. Nicht selten kamen auch fremde Gestalten aus dem Norden, von denen man nicht sagen konnte, was sie dazu trieb, in das wilde Land im Süden zu ziehen. Waren es Menschen, die ihrem Dienstherrn entlaufen waren? Doch es gab auch solche, die – verurteilt – ihrer Strafe entgehen wollten. Strafgefangenen aus den nahen Steinbrüchen hingegen gelang indes die Flucht sehr selten, denn die Aufseher, Handwerker und deren Arbeitsgehilfen aus der Stadt, unterstützt von den Grenztruppen, die hier in größerer Zahl zum Schutz des Landes kemet17 stationiert waren, galten als streng, hart, und unerbittlich. Septi wies zu den Steinen hinunter. »Da sind sie wieder!« Der jüngere, der bei ihm stehenden Wächter rief aufgeregt: »Würdiger Septi, sollen wir sie dir einfangen?« »So soll es sein! Bringt mir diesen Unrat! Es sind Diebe, die es rechtzeitig zu vertilgen gilt, solange sie nicht ausgewachsene Räuber sind.« Die beiden Wächter verschwanden von der Mauer. Die hinter den Steinen versteckten Jungen erkannten sofort, was ihr Verschwinden bedeutete. Ohne weiter auf die Flüche des auf der Mauer noch immer wartenden Priesters zu achten, rannten sie zwischen den Felsen hindurch zur anderen Kataraktseite, die der Priester nicht einsehen konnte. Eilig, geschickt kletterten sie zwischen mannshohem Geröll bis zur Steilwand dicht unterhalb der Umfassungsmauer von abu, der Festung am ›Tor des Südens‹. Hier gab es einen ausgewaschenen Felsspalt, zwei Ellen breit, vier Ellen hoch. Er war weder von oben noch von unten einsehbar und somit ein ausgezeichnetes Versteck. Die beiden Jungens äugten wachsam zu dem schmalen Pfad hinunter, der direkt an der Wasserlinie entlang zu dem Platz führte, wo sie sich vorher vergnügt hatten. Sie brauchten nicht lange zu warten. Die beiden Wächter, dunkelbraune Krieger, huschten unter ihnen lautlos auf dem Pfad vorbei und verschwanden hinter der Ecke. Der kleinere der beiden Jungen, dürr und mager, mit einem großen Kopf und eingefallenem, knochigem Gesicht, aus dem eine viel zu lange Nase hervorragte, flüsterte geringschätzig: »Sie können lange suchen. Mich, Harchuf, kann keiner fangen. 17

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Land der Schwarzen Erde = Ägypten.

Sedjem-ib, meine Mutter, hat einen guten Sohn geboren.« »Chnum18 war aber deiner Mutter böse«, kicherte der andere Junge spöttisch. Allerdings war er der ganze Gegensatz seines Gefährten. Auch sein kindlicher Körper zeigte Ernährungsmängel, war aber sonst gut gebaut. Seine ebenmäßigen Gesichtszüge wurden von zwei klugen Augen dominiert. Er war eine handbreit größer als Harchuf, was die beiden natürlich schon ausgekämpft hatten, und somit auch der Stärkere. Harchuf sah seinen Partner wütend an. »Was bist du schon? Wo kommst du her? Du kannst nichts. Ohne mich wärest du schon lange tot.« »Das solltest du nicht sagen. War ich es nicht, der dich vor dem wütenden Bauern geschützt hat?« »Was war das schon?«, zischte Harchuf. Die seltsamen Laute kamen daher, weil ihm zwei Schneidezähne fehlten. Sein Kumpan grinste boshaft und versuchte ihm nachzumachen: »Es wäre lustig anzusehen gewesen, was der Bauer mit dir angestellt hätte.« »Halt dein spitzes Maulwerk, Sen-boni, sonst schlag ich dir auch die Zähne ein.« »Das wagst du nicht. Du weißt, dass du mich nicht bezwingen kannst.« Ihr Disput wurde unterbrochen. Die beiden Wächter kamen zurück und schauten zu der kleinen Klippe hinüber, die rissig und bizarr kaum einen Steinwurf weit hoch aus dem Wasser ragte. Der eine wies mit dem Speer zu ihr hinüber. »Sie können doch nicht verschwunden sein. Da drüben gibt es sicher gute Verstecke. Da sollten wir noch einmal suchen.« »Das ist unmöglich. Siehe, das Wasser ist nicht tief, aber sehr schnell.« »Jetzt, vor der achet kann man es wagen, von Stein zu Stein hinüber zu springen.« »Das Wasser ist zu stark, dass die beiden Elenden, sie sind noch zu jung und kraftlos, dies so schnell schaffen könnten.« »Ich würde es schaffen«, verharrte der Erste. »Du kannst es ja wagen. Aber du findest an den glatten Steinen keinen Halt. Ich bleibe hier. Der dicke Septi würde für mich auch kein Wagnis eingehen.« »Wie recht du hast. Soll er doch die Diebe selber suchen.« Die Gesuchten beobachteten nicht ohne Furcht, wie die beiden Wächter verharrt hatten. 18

Widdergott Chnum, hier: Kataraktgott, Gestalter der Lebenskraft/Körper auf der Töpferscheibe.

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»Sie denken, wir sind da drüben«, frohlockte Harchuf. »Ich weiß nicht, es sind gute Fährtenleser. Es verwundert, dass sie unsere Spur noch nicht gefunden haben.« »Pah! Wie wollen die auf dem glatten Stein unsere Spur finden? Nein, dieses mein Versteck finden die nie.« »Ich glaube auch, aber möglich ist alles. Wie hast du denn dieses Versteck gefunden?« »Ich hab es nicht gefunden. Ich hab es mir genommen.« »Was heißt das denn?« »Es hat dem alten Mafet-sedja gehört. Er hat es mir gezeigt, denn er fand Gefallen an mir.« »Und wo ist nun dieser Mafet-sedja?« Harchuf wies grinsend zum Wasser hinunter. Seine dicht beieinanderliegenden Augen funkelten herausfordernd, boshaft. »Er wollte mein Herr sein. Ich sollte ihm Essen und Trinken beschaffen. Nun, Essen hatte ich für das alte Gerippe nicht, aber zum Saufen habe ich ihm den ganzen Fluss gegeben.« Sen-boni hörte es, sah schaudernd die Klippe hinunter zum Wasser. Dieser Harchuf, fuhr es ihm durch den Sinn, war also ein kaltblütiger Mörder. Er nahm sich zusammen und fragte fast beiläufig: »Hat er dich gequält?« »Wieso gequält?« »Nun, er hat dir dieses Versteck gezeigt. Er hatte dich hier aufgenommen.« »Was kann ich dafür, dass er so dumm war. Er war ein alter Mann, der ohnehin bald verendet wäre. Du siehst doch, hier ist wenig Platz für zwei.« Sen-boni überlegte. Warum hatte Harchuf ihn mit in sein Versteck genommen? Hatte er Angst, allein zu sein? Sicher nicht. Aber er benötigte einen Gehilfen, mit dem er Beutezüge machen konnte. Er hatte sich ihn ausgesucht, weil er in der Stadt unerfahren, noch dumm war. Vermutlich würde er auch ihn ermorden, wegwerfen, wenn es zu seinem Nutzen war. Doch in den nächsten Tagen stand das große Lampenfest bevor. Da galt es nicht nur Essen und Trinken zu organisieren, sondern auch andere Beute zu machen. Dazu brauchte ihn Harchuf. So lange konnte er sich sicher sein, dass für ihn keine Gefahr bestand. Er nahm sich vor, besonders wachsam zu sein. Er, Sen-boni, hatte beobachtet, dass Harchuf oben in der Stadt, aber auch drüben am anderen Ufer, in der ›Stadt des Handels‹ mit Leuten gesprochen hatte, die sich, merkwürdigerweise, nicht wie die glücklichen Bürger von ihm bedrängt oder abgestoßen fühlten, wie zum Beispiel der Bauer. Schon kurz nachdem er ihn das

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erste Mal getroffen hatte, hatte er erwartungsvoll mit leuchtenden Augen vom Lampenfest geredet, als sei dies etwas ganz Besonderes. Offenbar hatte er einen Plan, in dem er, Sen-boni, eine Rolle spielen sollte. »Ich muss nach sewenu hinüber. Da kannst du nicht mitkommen«, ließ er sich plötzlich vernehmen. »Was soll das? Warum soll ich hier alleine bleiben?« »Drüben, in der Stadt, wohnen Verwandte von mir.« »Davon hast du mir noch gar nichts gesagt«, fuhr Sen-boni auf. Harchuf lachte leise, glucksend aus tiefer Kehle. »Du musst nicht alles wissen. Woher du kommst, will ich auch nicht wissen. Aber sicher warst du einer der dummen Hirten, die im Süden leben, denen das tägliche Brot mit einem Stock auf den Rücken verteilt wurde.« Sen-boni fuhr grimmig auf. »Ich werde dir nicht sagen, woher ich komme, wer mein Vater und meine Mutter gewesen sind. Doch merke dir, sie waren ehrliche Leute. Wenn du sie schmähst, werfe ich dich dorthin, wo du den alten Mann hingeworfen hast.« »Das wagst du nicht.« Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die Überlegenheit bedeuten sollte. Sen-boni sah ihn feindselig an. Obwohl sie beide schwiegen, war in beider Blicke Verachtung. Harchuf kratzte sich mit einem Stöckchen getrocknete Lehmkruste von den Füßen. Vorsichtig äugte er den schmalen Pfad hinunter. Es war niemand zu sehen. Geschmeidig erhob er sich, und ohne seinem Kumpan noch eines Blickes zu würdigen, kletterte er zum Pfad hinunter, entschwand kurz darauf den Blicken des zurückgelassenen Sen-boni. Dieser sah ihm kurz böse nach. Seine Eingeweide knurrten. Er spürte Harndrang und so verließ auch er das Versteck, denn eines hatte ihm Harchuf sofort klar gemacht: »Wenn du fegen (scheißen) musst, musst du weit von hier fort gehen, sonst ist unser Versteck schnell verraten.« Er schlich ein Stück auf dem schmalen Pfad entlang und kurz vor der Stelle, wo ein breiterer Weg zur Stadt hinauf führte, eine Stelle, die von oben nicht einsehbar war, entleerte er sich über die Klippe. Doch Schreck! Von unten, drei Ellen unter ihm, kam eine wütende, fluchende Stimme: »Mehesehes19! Mehesehes! Wer bist du, dass du mir dein hes (Scheiße) auf den Kopf machst!« 19

Scheißkerl.

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Sen-boni fuhr entsetzt zurück. Sein Entsetzen wurde noch größer, als er des bekleckerten Rufers ansichtig wurde. Es war einer jener Männer, die sowohl Fischer wie Fährleute waren, die den Verkehr zwischen der Stadt auf der Insel und der drüben im Osten aufrechterhielten. Was der Mann hier, an dieser Stelle, unter der Felsklippe gemacht hatte, konnte er nicht erkennen. Er flüchtete sofort auf den Pfad, zurück zu seinem Versteck. Natürlich konnte ihm der Fährmann nicht so schnell folgen, denn dieser musste zunächst den Weg hinauf kommen. Doch er hatte Sen-boni fortlaufen sehen und brüllte wütend, die Faust schwingend hinter ihm her, obwohl er ihn überhaupt nicht mehr sehen konnte. »Warte, du Schwein, du Dieb! Ich kenne dich! Du bist ein Gräuel für die Götter, eine Schande für die Menschen. Ich werde dich schon noch fassen! Bei allen Göttern!« Sen-boni, wieder in seinem Versteck, zitterte noch immer, denn der Schreck war ihm in die Glieder gefahren, zumal er wusste, dass er irgendwann mit dem Fährmann wieder zusammenkommen musste. Harchuf kam in dieser Nacht nicht wieder zum Versteck zurück. Die Sonnenstrahlen, das erste Tageslicht huschte, tiefe Schatten von der Mauer der Stadt nach Westen auf den Fluss werfend, über Sen-bonis Versteck. Als er über die Kante zum Pfad hinunter sah, entdeckte er einen alten Mann mit weißem Schurz und in der Rechten einen Stab haltend, mit dem er die Kante des Pfades zum Wasser hin sondierte, um nicht abzustürzen. Hinter ihm kamen mehrere junge Burschen. Ebenfalls mit weißem Schurz, was aussagte, dass sie aus wohlhabendem Hause stammen mussten. Sie alle trugen noch die Seitenlocke. Also waren diese Knaben noch nicht in die Welt der Erwachsenen aufgenommen. Sie waren wohl Schüler des Alten. Sen-boni hatte nie eine Seitenlocke getragen, denn armer Leute Kinder auf dem Lande stand dieser Kopfschmuck nicht zu. Sein Haar wucherte, wurde früher von seiner Mutter büschelweise abgeschnitten. Nun aber zeichnete es ihn als neneje, als Bummler, als cheweru, als Nichtswürdigen, aus, dem man am liebsten nicht begegnete. Er war ein cheru, ein Verächtlicher. Dennoch fiel er nicht unbedingt auf, denn hier, im großen Grenzgebiet um abu und sewenu war ein ständiges Kommen und Gehen von Menschen aus dem Süden, die gleich ihm zotteliges, langes Haar trugen. An der Klippe, fast unter seinem Versteck, blieben der alte Mann und die jungen Leute stehen. Der Alte wies mit seinem Stock auf das quirlende Wasser hinunter, wies dann auf die gegenüberliegende Klippe und erklärte den Jungen mit lauter Stimme etwas über die Wucht des Wassers an einer Enge. Obwohl die Entfernung keine zehn Ellen betrug, konnte Sen-boni wegen des

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Lärms des Wassers nur wenig verstehen. Immerhin begriff er, er wusste es vom Hörensagen, dass der Alte wohl ein Lehrer und die jungen Burschen seine Schüler waren. Die Erklärungen des Lehrers schienen indessen die jungen Schüler nur am Rande zu interessieren. Sie machten hinter ihm Grimassen, die daraufhin deuteten, dass sie seinen Erklärungen wenig Verständnis entgegengebrachten. Der Alte schien es erst nicht zu bemerken, drehte sich aber plötzlich um, und unglaublich schnell, man hätte es ihm wohl kaum zugetraut, fuhr sein Stock auf die erschrockenen Schüler nieder. Dann wies er mit dem Stock auf den Pfad zurück und eilig trabten, die Schüler voraus, Lehrer und Schüler davon. Sen-boni sah ihnen neidisch nach. »Denen geht es gut. Ihre Bäuche sind gefüllt.« Sein Magen knurrte gewaltig und ihm fiel ein, dass es gestern Mittag gewesen war, als er die alte Gurke und die zwei Stränge Lauch gegessen hatte. Vorsichtig hüpfte er über die Steine aus seinem Versteck bis zum quirlenden Wasser hinunter. Auf einem der glitschigen Steine hockend, schaufelte er sich mit den Händen Wasser in den Mund. Das Wasser linderte seinen Durst und linderte seinen Hunger. Vorsichtig kroch er wieder zum Pfad hinauf. Es sah alles friedlich aus. Eilig kletterte er wieder zum Versteck hinauf. Überraschung – in der Ecke hockte Harchuf und sah ihm mit bösem Grinsen entgegen. »Du siehst vollgefressen aus«, höhnte er. »Deine Augen sind eingefallen wie ein Totenkopf und dein Bauch hängt leer wie ein nasser Sack.« »Du warst die Nacht fort, dennoch siehst du nicht besser aus als ich.« Harchuf griff hinter sich. Er brachte zwei kleine Laibe pesen nedjem, süßes Brot, zum Vorschein. Grinsend reichte er Sen-boni einen Laib. »Du musst etwas fressen, sonst bist du für mich nichts wert.« Sen-boni wollte wütend auffahren, aber der Hunger zwang ihn zur Ruhe. Er riss seinem Kumpan das Brot aus der Hand und verschlang es gierig. Harchuf sah ihm geduldig zu, derweil er selber sein Brot langsam und genüsslich, wie jemand, der schon seinen Hunger gestillt hatte, verzehrte. »Das tekau, das Lichterfest, beginnt in acht Tagen«, begann Harchuf. »Es war nicht leicht, zur Stadt hinüberzukommen. Drüben in der Stadt sind viele Fremde.« »Das sind sie doch immer.« »Wo kommst du her, dass du nicht einmal weißt, dass zum Lichterfest viele Pilger kommen, um zu opfern und dem ›Guten Herrn‹ damit zu danken?«

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»Natürlich weiß ich das!«, protestierte Sen-boni, »Chnum ist es, der mit Setjat20 diesem Land und den Menschen Leben schenkt.« »Ha, ha! Reti sagt, nur Ré kann dem Land, den Menschen Leben schenken. Siehst du nicht, wie er am Morgen aufsteht und drüben, hinter den gelben Hügeln der Wüste verschwindet.« »Was soll deine Rede?« »Meine Rede? Hat er nicht recht? Siehst du es nicht Tag für Tag? Höre, Dummkopf. Reti ist ein kluger Mann. Er ist Steinmetz und macht die Bilder der Götter.« »Niemand kann die Bilder der Götter machen.« »Ha, ha! Da sieht man wieder einmal, wie dumm du bist. Nichts ist im Tempel, was nicht ein Handwerker gefertigt hätte.« »Das weiß ich nicht! Das kann ich nicht glauben!« »Es ist so, wie Reti es sagt. Er selber war es, der über uns, im Haus des Chnum, Figuren in den Stein geschlagen hat. Als er den Staub abgewischt hatte, kam der Vorleserpriester.« »Es ist doch ganz natürlich. Wer eine Arbeit bestellt, will auch sehen, ob sie gelungen ist.« »Das ist es ja gerade«, lachte Harchuf überlegen. »Wenn du einen Stock anspitzt, ist es dein spitzer Stock.« »Das ist es. Wenn ich einmal einen Stock angespitzt habe, stecke ich ihn dir in den Hintern.« »Das wagst du nicht. Aber ich will dir dennoch sagen, auch wenn du so dumm bist, was ich mit dem Stock sagen wollte. Wenn du also diesen Stock angespitzt hast und ein Priester kommt, und er nimmt ihn dir ab und sagt: ›Dieser Stock ist nun ein Gott‹, würdest du in deiner Dummheit umfallen, es glauben und ihn anbeten.« »Wie soll ich das wissen? Ich bin doch kein Priester. Wenn dieser aber sagt, in dem Stock ist ein Gott, dann wird er es wohl wissen. Priester sind heilige Männer, die den Göttern dienen. Es ist doch klar, jeder Diener erkennt seinen Herrn.« »Ha, ha!« Harchuf kicherte in sich hinein, rieb sich die Hände und machte eine Anbetungsgeste, wie Priester sie an Wegeschreinen vollführten. »Anbetung dir, Senboni, du bist ein Dummkopf«, zitierte er, wie es fromme Menschen mit den Göttern taten. Sen-boni fuhr erschrocken zusammen. »Wer die Götter lästert, ist des Todes.« 20

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Kataraktgöttin, Gemahlin des Chnum, Mutter der Anukis.

»Willst du Dummkopf sagen, du seist ein Gott?« »Das sage ich nicht! Aber du bist es, der Worte braucht, mit denen man nur zu einem Gott spricht. Es ist wie ein Fluch.« »Sei kein Narr. Es sind nur Worte. Ré ist, das habe ich dir gesagt, mächtig. Er ist der einzige Gott. Ihm ist es egal, ob ich mit den Armen zu ihm zeige. Reti sagt, man kann ihn nicht einmal beschwören, denn ihm sind die Menschen nur Sand unter den Füßen.« Sen-boni war von dem Gehörten entsetzt. Angst schnürte seine Kehle zu. Seine Eltern waren, wie alle Bewohner seines Dorfes, voller Ehrfurcht vor den Göttern, vor ihrer Kraft und nicht zuletzt vor ihren Strafen in ständig ängstlichem Zustand gewesen. Wie konnte es sein, dass dieser, sein Kumpan – und vor allem sein Onkel Reti – die Macht der Götter, sah man einmal von Ré21 ab, infrage stellten? Ihm schauderte. Harchuf sah mit Befriedigung, wie seine Worte auf Sen-boni gewirkt hatten. Er lachte meckernd. »Nur, wer die Scheiße seines Herrn fressen musste, der mit den Dämonen der Nacht tanzen gelernt hat, wird alles verstehen.« »Ich verstehe deine Rede nicht.« »Siehst du! Du bist ein dummer Kerl. Ich, ich habe den Worten der Verdammten, der Arbeiter in den Steinbrüchen gelauscht. Reti sagt, es sei manch einer dabei, der alles lesen und schreiben kann, was auf den Wänden der Tempel steht.« Sen-boni sprang entsetzt in die Höhe. »Sie werden dich verschlingen! Pa-jau22 wird dich strafen, Ibeka23 wird in deinen Därmen wühlen und sie verschlingen!« Entsetzt, voller Furcht kletterte er zum Pfad hinunter. Er rannte ein Stück den Pfad entlang. Als er an die Stelle kam, an der sie der Priester beim Spielen gesehen hatte, gewahrte er nur wenige Schritte abseits davon zwei ältere Frauen, die neben einem großen Stein im Sande knieten und mit über den Köpfen gefalteten Händen irgendetwas am Boden ansprachen. Offensichtlich beteten sie ein heiliges Tier an, was ihnen dort, bei einer Verrichtung, über den Weg gelaufen war. Sen-boni erstarrte. Der Anblick der Frauen erschreckte ihn nicht, sondern wirkte beruhigend. Er setzte sich hinter einen Stein, an das strudelnde Wasser. Langsam beruhigte er sich wieder. Er kniete nieder, um zu beten. Doch daraus wurde nichts. Just am Ende des Pfades, keine zehn Schritt von ihm entfernt, erschienen zwei bis auf einen kleinen Schamlappen unbekleidete Fischer, die offensichtlich nach den Frauen Ausschau hielten, die 21 22 23

Auch Ra genannt = Sonnengott, wichtigste Gottheit Ägyptens (Urgott). Eine Art Erddämon. Schwein/Sau.

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er beim Beten gesehen hatte. Die Männer riefen nach den Frauen und er musste sich tief hinter den dicken Stein ducken, um nicht gesehen zu werden. Die Frauen erschienen und redeten aufgeregt auf die beiden Männer ein. Sen-boni konnte nicht verstehen, was sie sagten, denn sie redeten in einer Sprache, die er nicht verstand. Was sollte er machen? In diesem Moment wurde ihm klar, wie abhängig er von Harchuf war. Auf sich selbst wütend, entschloss er sich, wieder zum Versteck zurückzukehren. Zu seinem Erstaunen fand er das Versteck leer. Harchuf war wohl zur Nahrungssuche – oder zu einem kleinen Raubzug – unterwegs. Sein Magen knurrte. Unter ihm, auf dem Pfad, kamen die beiden Fischer mit den Frauen laut, aufgeregt schnatternd vorbei. Der eine Fischer hatte einen großen Fisch in der Hand, den er in den Kiemen gefasst hielt. Sen-boni lief das Wasser im Munde zusammen. Früher, als seine Eltern noch lebten und er bei ihnen in Sicherheit aufwuchs, gab es häufig Fisch, denn sein Vater kannte allerlei Kniffe, um die Mahlzeit der Familie mit Fisch zu bereichern. Sehnsüchtig blickte er den Leuten nach, bis sie hinter dem Pfadknick verschwanden. Er musste was zu essen haben. »Ich werde was finden. Was Harchuf kann, kann ich allemal.« Abu bestand eigentlich aus zwei Inseln, der südlichen hohen, auf der die Tempel der Stadt errichtet waren, und der nördlichen, etwas flacheren, auf der eine kleine mer, eine Pyramide, in den Himmel ragte. Doch die Fluten hatten vor undenklicher Zeit beide Inseln durch Ablagerungen so miteinander verbunden, dass sie nun wie eine Insel erschienen. Doch an der Stelle, wo sie einst getrennt waren, war auf der östlichen Seite eine kleine Bucht, die als Hafen, als Anlegeplatz diente. Hier standen dicht gedrängt Lehmhäuser, die von Fischern und Fährleuten bewohnt wurden. Diese Häuser wurden fast regelmäßig bei der jährlichen Flut fortgespült und nach der Flut auf den Resten der alten Häuser wieder neu errichtet, was dazu geführt hatte, dass sie wie auf einem Hügel standen. Hier, an diesem Anleger, war am späten Nachmittag stets ein geschäftiges Treiben, denn viele Schiffe legten zwangsläufig nicht zuerst drüben an. Offiziell geschah das, um den beiden ›Großen der Insel‹, Chnum und der Satet, für eine geglückte Fahrt zu danken. Aber tatsächlich geschah es, weil der Herrscher dieses Landes, der hati-ó, der Gaufürst, es zur Kontrolle so wollte. So schickte er nicht selten seine Krieger aus, die mit flinken Booten, Einbäumen, die Frachtschiffe zur Kontrolle hier in den Hafen lenkten. Sen-boni mischte sich in das Gewimmel. Dort standen riesige Körbe mit Obst und

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Gemüse, große Tonkrüge, die mit Leder abgedeckt und mit Stricken mit Tonsiegeln verschlossen waren. In Holzgitterkästen, kleinen Käfigen schnatterten Enten, pfiffen oder zwitscherten einige andere Vögel. In einem großen Gitterkäfig fletschte eine Hyäne geifernd ihr Gebiss. Alles Leckereien, die wohl bereits zum Lichterfest hier angelandet wurden. Zwischen all den Herrlichkeiten stolzierten wohlgenährte, mit weißen Schurzen bekleidete Herren umher, die mit langen Stöcken die meist nackten Arbeiter beaufsichtigten oder anwiesen. Dazwischen tollten nackte Kinder jeglichen Alters und Geschlechts und gruppenweise standen Frauen, auch sie meist nur mit einem Schamtuch bekleidet, Wasserkrüge auf dem Köpfen oder Körbe in den Händen laut schwatzend, schreiend herum. Sen-boni fand es ideal. Die Mehrzahl der Kinder hatten wild wachsende Haarschöpfe wie er. So fiel er nicht auf. Scheinbar hinter den Kindern her tollend, gelang es ihm, eine Gurke und etwas Lauch zu stehlen. Er zog sich mit seiner Beute zum Wasser auf der anderen Seite zurück. Noch gierig diese verschlingend, sah er den Fährmann, dem er mit seiner Notdurft übel mitgespielt hatte. Dieser entdeckte ihn und dieses Mal war der Fährmann schneller als er. Der harte Griff in seinem Genick belehrte ihn, dass hier seine Flucht zu Ende war. »Hab ich dich!«, schrie der Fährmann laut und vernehmlich und lenkte damit die Aufmerksamkeit vieler auf sich und Sen-boni. »Diesen Widerlichen kenne ich auch!«, brüllte einer der Männer, der seinen Esel mit einem Korb voll frischen Brotes zum Eingangstor der Stadt zog. »Er ist ein Dieb! Bringt ihn dort zu der Wache am Tor!« Der Fährmann zerrte Sen-boni am Genick den kleinen Hang hinauf zu den Häusern. Sogleich sammelten sich dort eine Reihe Neugieriger. Sie alle begleiteten das Schauspiel mit wilden Flüchen und bösen Ratschlägen. »Odey! Ersäufe diesen Unrat!« »Er ist ein Nichtswürdiger! Lasst ihn uns steinigen!« So, und noch viel mehr Ratschläge, ja Forderungen kamen von der immer größeren Menge. Es war offensichtlich, sie wollten Blut sehen. Sen-boni starrte mit irren Augen auf die Menge, die sich vor seinen Blicken zu immer wilderen Fratzen verzerrte. Odey, der Fährmann, ließ sich jedoch nichts von der Menge sagen. »Was brüllt und schreit ihr! Sehe ich unter euch nicht so manch einen, der längst an der Mauer hätte trocknen sollen! Dieser hier gehört mir. Er hat mir Schaden zugefügt. Das soll er mir büßen!« Er schleppte Sen-boni zu einem der kleinen Häuser. Erst als er mit

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ihm in dem einzigen Raum dieses Hauses stand, schleuderte er ihn in die hintere Ecke des Raumes, wo er auf einen Haufen Netze fiel. »So, du kleiner Gauner. Sie alle nennen dich einen Dieb. Ich sollte dich, wie die Leute es riefen, zu der Wache bringen.« »Ich hab es nicht gewollt!«, schrie Sen-boni. »Ich habe dich nicht gesehen! Ich wollte dir kein Unrecht tun.« Der Fährmann lehnte sich an den wackeligen Türpfosten ohne Tür und betrachtete interessiert die magere Gestalt des Jungen. »Wahrlich, ich sollte dich den Wächtern des hati-ó übergeben. Doch ich denke, du kannst mir nützlicher sein.« Blitzschnell sprang er auf Sen-boni zu und ehe dieser noch reagieren konnte, drückte er ihn zu Boden, griff einen der herumliegenden Stricke und band Sen-boni die Arme geschickt auf den Rücken, was verriet, dass er im Fesseln von Menschen Übung hatte. »So, du kleiner widerlicher Stinker, damit du mir nicht verloren gehst.« Sen-boni wollte schreien, doch schon beim ersten Laut schlug ihn der Fährmann auf den Mund. Dann warf er ihn wie ein Bündel Netze auf den Bauch und in Windeseile band er ihm auch die Beine zusammen, sodass er sich kaum noch rühren konnte. Odey versetzte seinem Gefangenen einen leichten Fußtritt. »Wenn du lärmst, herumschreist bringe ich dich zu den Wächtern am Tor.« Er grinste böse und starrte mit Genugtuung auf das zitternde Bündel Mensch zu seinen Füßen. »Bleib also schön still!« Laut lachend verließ er seine dürftige Behausung. Sen-boni wälzte sich auf den Rücken und starrte zur Decke empor. Diese bestand jedoch nur aus ein paar Knüppeln, über die kreuzweise vertrocknete Palmwedel gelegt waren. So bot diese Decke, das Dach, eigentlich nur etwas Schatten. So lag er dort. Er hörte die lauten Stimmen der Menschen vor der Hütte. Er hoffte, dass jemand durch das offene Türloch mal hereinschaute, aber sein Hoffen war zunächst vergebens. Es schien schon später Nachmittag zu sein, als eine Gestalt blitzschnell in den Raum huschte und meckernd lachte. Sen-boni blickte überrascht auf Harchuf, der vor ihm seltsam vergnügte Luftsprünge vollführte. »Siehst du nun, du Dummkopf. Nichts kannst du. Ohne mich bist du nichts! Merke dir das.« »Wo kommst du her? Spring nicht herum. Mach mir diese verdammten Fesseln los.« »Warum sollte ich das? Du kannst doch alles besser.« »Hör schon auf, mach mich los!« »Nur, wenn du zugibst, dass ich besser bin als du.«

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»Nun, ich gebe es zu. Doch nun mach mich los, bevor der Fährmann zurückkommt und uns beide hier festsetzt.« »Odey ist ein gieriger Dummkopf. Eigentlich ist er noch dümmer als du.« Harchuf kicherte vergnügt in sich hinein. »Er prahlt am Anleger damit, dass er dich gefangen hat.« »Darum musst du mich schnell losmachen. Ich hab ihm auf den Kopf geschissen. Das wird er mir nie verzeihen.« »Hä-hä-hä! Das soll ich glauben! Wie soll das möglich gewesen sein? Er prahlte damit, dass er einen Dieb gefangen hat.« »Ist das wahr? Er lügt. Er saß unten am Fluss und ich habe ihm von oben, von den Steinen aus, auf den Kopf gemacht.« »Wer lügt, ist mir egal. Ich brauche dich beim Lampenfest.« Geschickt knüpfte er die Knoten der Stricke auf. Sen-boni wollte aufspringen, aber zu seiner Überraschung knickten seine Beine wieder ein. Nur mit Harchufs Hilfe gelang es ihm, wieder aufrecht zu stehen. Seine Beine kribbelten; sie waren eingeschlafen. Doch diesen Zustand überwand er sehr schnell, denn irgendwo erklangen draußen Stimmen, von denen eine dem Fährmann gehören konnte. Harchuf lugte aus dem Schatten des Raumes heraus durch das offene Türloch. »Suweti24 sollte ihm den Hals umdrehen«, flüsterte Harchuf. Er ergriff Sen-boni an der Schulter und stieß ihn in die Ecke neben der Tür. Seine flinken Augen huschten im Raum umher und blieben an einem Reusenkorb hängen. Schon hatte er ihn in der Hand und drückte sich seitlich neben die Tür. Odey hatte sein geschnitztes Paddel in der Hand und kam murmelnd, vergnügten Gedankens durch die Türöffnung. Seine vergnügliche Träumerei fand ein jähes Ende. Die Reuse flog ihm über den Kopf und wurde so nach unten gezerrt, dass sein Schädel zur Hälfte von den Reusenspitzen erfasst wurde. Sein Aufschrei wurde vom Korb verdeckt. Das Paddel hatte er vor Schreck fallen lassen, denn instinktiv hatten seine Hände nach dem Kopf gegriffen. Harchuf beförderte den überraschten Fährmann mit einem Stoß in den Raum. Gedankenschnell hob er das Paddel auf und schlug es dem Fährmann mit voller Wucht in die Kniekehlen. Dieser brach hintenüber zusammen. Harchuf schlug noch zweimal auf den auf dem Rücken liegenden Mann ein, dann ergriff er Sen-boni am Arm, zerrte ihn aus der Hütte. Dies geschah alles lautlos, schnell. Nur die gedämpf24

Gefährlicher Flussdämon, oft in Krokodilgestalt.

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ten Schreie des Fährmanns zeugten von dessen Qualen, denn nicht nur die brutalen Schläge verursachten ihm Schmerzen, sondern die Spitzen des Reusenkorbs bohrten sich in Hals und Nacken. Einmal zwischen den Häusern und Hütten, bewegten sich Harchuf und Sen-boni langsam, als sei nichts geschehen. Sie fielen nicht einmal auf, als sie am Anleger zu dem Einbaum Odeys gingen. Mit derselben Selbstverständlichkeit schob Harchuf den Einbaum ins Wasser. »Los, du Dummkopf. Wenn die anderen Fischer und Fährleute entdecken, dass wir hier am Boot sind, ergeht es uns schlimm. Fass an!« Sen-boni war von den Ereignissen geschockt. Mühsam, fast ängstlich versicherte er kleinlaut: »Ich schiebe ja schon.« Er drückte mit aller Kraft gegen das Heck des Einbaums und sprang hinter Harchuf in den Einbaum, der sogleich dem offenen Wasser zu und in den Strom hinaus glitt. Wieder zeigte sich, dass Harchuf nicht zum ersten Mal in einem Einbaum saß. Sen-boni bewunderte nun tatsächlich seinen Gefährten, wie er geschickt das Paddel zum Lenken und Antreiben des Einbaums bediente. »Das soll dir eine Lehre sein«, schimpfte dieser nach einer Weile. »Ich habe dir gesagt, dass du schon längst tot wärst, wenn du hier alleine leben müsstest.« Sen-boni hatte dem nichts hinzuzusetzen und er schwieg. Trotzdem, dass Harchuf das Boot gut zu handhaben wusste, wurden sie abgetrieben und landeten erst bei den nördlichsten Hütten von sewenu. Es war ihr Glück, dass bei ihrer Anlandung gerade die Nacht hereinbrach, denn in den Hütten wohnten viele Fischer, die bei näherem Hinsehen den Einbaum Odeys erkannt hätten. »Los, fass an«, schnaufte Harchuf atemlos, denn das Paddeln hatte ihn mächtig angestrengt. »Wir ziehen den Einbaum halb auf Land. Da mag sich Odey sein Boot wiederholen.« »Wir sollten es lieber in den Strom schieben«, wagte Sen-boni einzuwenden. »Dann sieht es aus, als sei es abgetrieben.« »Das wäre dumm«, erklärte Harchuf und fuhr fort: »Ich kenne alle Fischer und Fährleute bis hinauf zu den Steinbrüchen, den scheneu und bechen am ›Tor des Südens‹. Ich wäre verloren, wenn bekannt würde, dass ich dem Odey den Einbaum geklaut habe. Sie würden alle auf mich Jagt machen.« »Das machen sie doch sowieso.« »Nicht wirklich.« Zielsicher führte Harchuf Sen-boni durch die Dunkelheit den dichteren Häusern

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der Stadt zu. Er kicherte wieder in seiner unheimlichen Art und versicherte: »Dieser Odey ist nur ein dummer Fischer und Fährmann. Was denkst du, was er glaubt, wenn er die Reuse vom Kopf gezogen hat?« Er kicherte wieder. »Du warst es, der in seinem Haus gelegen hat. Du bist fort. Sein Einbaum ist fort. Er hat Schmerzen und – eine fürchterliche Wut im Bauch. Wehe, wenn er dich noch einmal erwischt.« »Darum meine ich, es wäre besser gewesen, wenn er glaubt, dass ich mit seinem Boot geflohen bin. So weiß er, dass ich noch immer hier bin.« »Nicht schlecht gedacht – für einen Dummkopf. Aber ein Fährmann ist ein armer Mann. In seinem Haus ist kein Platz für ein Weib. Du hast es gesehen. Wenn er seinen Einbaum nicht wiederbekäme, was sollte aus ihm werden?« »Willst du sagen, du hast Mitleid mit ihm?« »Mitleid? Nein, aber es ist immer klug, wenn man einem armen Mann einen Dienst tut, der ihn verpflichtet.« »Woher soll er wissen, dass du es warst, der seinen Einbaum hier ein Land gelegt hat.« »Von mir. Ich habe zufällig gesehen, wie ein kleiner Bursche wie du hier an Land gegangen ist.« »Was! Du willst mich an ihn verraten?« »Was heißt verraten! Du warst sein Gefangener und du bist ihm entwischt.« Er lachte vergnügt und zog Sen-boni, sie hatten gerade eine Gasse zwischen den Häusern erreicht, in diese hinein. »Komm! Ich weiß, wo wir heute Nacht schlafen können. Da findet uns niemand.« ∗∗∗ Reti sah Sen-boni böse an. Dieser hockte mit Harchuf in dem gerade mal vier Ellen messenden kleinen Raum, von dem eine Fußbreite Lehmtreppe zum Dachgeschoss hinauf führte, ein winziger Spalt neben dem Treppenaufgang führte in den größeren Wohnraum des Hauses. Reti hockte auf der zweiten Stufe. In seiner Hand wippte der unvermeidliche kleine Stock, der ihn als Hausherrn auszeichnete. »Du bist widerlich dumm«, grollte er aufgebracht. »Weißt du, was es mich kostet, den Odey wieder zufrieden zu stellen? Die ganze tematy der Fährleute wird auf euch warten. Dieser Fährmann Odey gehört zum ›Haus Anuket‹25, der ›Herrin des sprudelnden Wassers‹. 25

Göttin im Kataraktgebiet von Assuan, Tempel auf Insel Sehel, Tochter von Gott Chnum

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Die Diener der großen Herrin werden es als ihre Schande empfinden, was ihr mit dem Fährmann angestellt habt.« Wütend fuhr sein Stöckchen vor Sen-bonis Gesicht hin und her. »Reg dich nicht auf.« Harchuf nahm seinen Finger aus der Nase, in der er eingehend ein Luftloch gebohrt hatte. »Das mit dem dämlichen Fährmann bringe ich selber wieder ins Lot. Jedenfalls glaube ich das. Du musst ihm nur gut zureden, dass er es nicht weiter meldet.« »Was willst du dem Fährmann sagen?« »Sagen, sagen! Ich werde ihm einen Rat geben.« »Du und ihm raten! Er wird dich am Hals packen und zu den Wächtern schleifen.« »Ich denke nicht. Wenn er die Reuse allein vom Kopf gezogen hat, wird er seine Niederlage nicht einmal den anderen Fährleuten erzählt haben. Aber bedenke auch, man wird ihn auslachen, wenn er erzählt, dass Sen-boni, sein Gefangener, ein kleiner dummer Widerlicher und Dieb, sich nicht nur befreit, sondern ihm auch noch diesen bösen Streich gespielt hat.« »Ich habe ihm nicht den Korb über den Kopf gestülpt«, protestierte Sen-boni. »Natürlich warst du es. Jedenfalls wird er das denken.« »Das kann ich nicht glauben. Wenn er dich auch nicht gesehen hat, so kann er sich denken, dass mich jemand befreit hat.« »Hä-hä-hä, was denkst du von dem Fährmann! Sie haben alle starke Muskeln, aber sonst keinen Verstand.« »Das glaube nicht«, unterbrach ihn Reti schroff. »Odey weiß ganz genau, wer und wie er überlistet worden ist.« »Das wird sich zeigen. Ich werde mit ihm sprechen.« Reti tippte mit dem Stöckchen auf Sen-bonis Brust. »Den hier kannst du aber nicht mitnehmen.« »Hä-hä-hä«, lachte Harchuf, »den lasse ich bei dir.« »Das lasse ich nicht zu. Er mag sich in der Stadt ein Versteck suchen. Hier bei mir darf, kann er nicht bleiben. Du weißt warum.« Sen-boni erhob sich. »Mich fragt wohl keiner?« »Harchuf hat recht. Du bist ein Dummkopf. Dich fragt keiner.« Reti erhob sich abrupt und stand damit so dicht vor Sen-boni, dass dieser sich zwischen Wand und Reti eingequetscht fühlte. Sen-boni wollte sich an ihm vorbei drü-

und Göttin Satis.

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cken, aber die massige Gestalt des Steinmetzes, dem er nur bis an die Brust reichte, drückte ihn noch enger an die Wand. Der Steinmetz knurrte grimmig. »Ich sollte dich kleine Wanze hier und auf der Stelle zerquetschen. Ich sage dir, wenn du nur einem erzählt, dass du bei mir gewesen bist, dass du mich kennst, dann werde ich es tun.« Er gab Sen-boni den Weg soweit frei, dass dieser sich mühsam an ihm vorbei aus dem Raum schieben konnte. Im Rausgehen hörte er Reti, wie er nun Harchuf anfuhr: »Wag es nicht noch einmal, mit einem deiner Freunde bei mir zu erscheinen.« »Was wütest du? Es war eine Notlage. Ich brauche ihn beim Lichterfest. Danach ist er mir egal.« »Aber mir nicht. Er muss dann verschwinden.« Obwohl die beiden trotz der Heftigkeit nicht sehr laut gesprochen hatten, hatte Sen-boni das Gesagte noch verstanden. Er wusste, was das bedeutete. Er huschte durch den mit allerlei Gerät an gefüllten Raum hinaus auf die Gasse, die gerade mal so breit war, dass ein Esel mit Last hindurchgeführt werden konnte. Sie war nicht lang. Schon nach wenigen Schritten fand er sich auf einem kleinen Platz, in dessen Mitte eine alte Sykomore stand, in deren Schatten einiger Frauen miteinander stritten. Dabei wurden sie von einer Schar kleinerer Kinder beiderlei Geschlechts umlagert. Sen-boni drückte sich an ihnen vorbei und trottete in der nächsten Gasse hinter einem Mann her, der einen schweren Wasserkrug auf dem Rücken schleppte. Schon nach der nächsten breiteren Gasse wusste Sen-boni, wo er sich in der Stadt befand. Als er um die Ecke bog, fand er sich auf dem Vorplatz des hat-Chnum, dem Haus des Gottes Chnum, wieder. Der Vorplatz war von vielen Leuten mit allerlei Getier belebt, die ihre Opfertiere für das Lichterfest von dem imj-ra jechet, dem Opfervorsteher, der die Opfertiere für das Fest auf ihre Reinheit untersuchte, begutachten ließen. Er stand vor dem Tor und einige imj-chet hem-Nutjer, Priesteranwärter, griffen sich die zu begutachtenden Tiere, vom kleinen Zicklein bis zu allerlei Geflügel und prüften es genau, ob die Tiere die nötige Qualität und Reinheit für ein Opfer besaßen. Opfern wollten wohl alle Bewohner der Stadt, denn dies war nicht nur heilige Pflicht, sondern eine Notwendigkeit, um dem ›mächtigen Herrn des Katarakt‹ um den nötigen Beistand anzuflehen, diesen zu erbitten. Diese Opferbereitschaft war natürlich nicht für jeden Haushalt im erwünschten Maße möglich. Obwohl niemand Hunger leiden musste, waren die Handwerker und Händler, die vielen, die zu keinem

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Tempel oder Grundherrn gehörten, nicht immer reich genug, um den Anforderungen der Priester zu genügen. So war es selbstverständlich, dass es bei der Begutachtung der Opfertiere manches Geschrei zur Qualität des Opfertieres gab, wurden die größeren Tiere doch in der Regel mit einem Tonsiegel versehen, das die Reinheit bescheinigte. So gab es hitzige Debatten. Der imj-ra jechet blieb jedoch in den meisten Fällen hart und mancher Hausvater zog betrübt mit seinem Opfertier wieder ab. Doch es gab auch die Fälle, in denen man die Opfertiere so aufbereitet hatte, dass die Makel an ihnen nicht zu erkennen waren. Bei Entdeckung einer solchen Manipulation, eines solchen Täuschungsversuchs ergab sich für den Opferwilligen eine brenzlige Situation. Die Priesteranwärter fingen laut an zu schreien: »Er will den König, er will den Gott betrügen! Greift ihn, diesen Verbrecher, diesen Widerlichen!« Dann war es geraten, schnell die Flucht zu ergreifen, bevor die aufgebrachten Priesteranwärter, an der Spitze ihr Opfervorsteher, den Übeltäter ergreifen konnten. Es drohten schwere Strafen und in manchen Fällen gar die Todesstrafe. Sen-boni drückte sich an eine Hauswand und sah dem Treiben zu. So sehr er auch ausspähte, hier gab es nichts zu holen, mit dem man den Hunger stillen konnte. Plötzlich trat aus dem Tor ein Priester, den er nur zu gut kannte. Es war Septi, der Priester von drüben, von der Insel. Es war der reine Zufall, dass sich die Blicke zwischen der Menschenmenge hindurch trafen. Septi wies auf ihn und gab den noch eben mit Opfertieren beschäftigten Priesteranwärtern einen Befehl, den Sen-boni nicht verstand, dessen Sinn er aber erahnte. Er machte sich klein und verdrückte sich in die Nebengassen. Er fühlte sich wie in einer Falle. Der Weg zum Versteck war verbaut. Obwohl er Harchuf zutraute, dass dieser mit den Fährleuten wieder ein gutes Verhältnis herstellen konnte, wusste er doch nicht, wo dieser sich zurzeit aufhielt. Gleichzeitig musste er erkennen, dass er ohne den gerissenen Halunken wohl kaum lange überleben konnte. Er schlich zum Wasser hinunter, und – oh Wunder – niemand von den Fährleuten beachtete ihn. Er schmuggelte sich, zwischen Händler und ihre Waren gequetscht, in eines der größeren Boote und gelangte so wieder auf die Insel. Die Götter waren ihm gnädig. Es gelang ihm gar, bei der Überfahrt ein großes Brot zu stehlen. Einmal wieder auf der Insel, strebte er mit seiner Beute zurück zum Versteck. ∗∗∗ Am Morgen kam Harchuf. Er grinste höhnisch und wies auf den kümmerlichen Rest

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des Brotes, den Sen-boni noch ängstlich in seiner Faust hielt. »Sieh da, das ist alles, was du noch zu essen hast?« »Wo warst du? Ich habe auf dich gewartet.« »Das möchtest du wissen.« Er griff hinter sich und zog zwischen seinen Beinen einen Korb am Felsspalt hoch. »Wo ich war, geht dich nichts an. Doch nimm mal den Korb hoch.« Er schwang sich mit einem leichten Schwung über die Felskante in das Versteck. Er starrte Sen-boni grinsend an. »Greif zu, du Dummkopf. Sagte ich dir nicht, dass du schon längst verhungert wärst, wenn ich nicht für dich sorgen würde?« »Soll ich lachen! Siehst du nicht, dass ich auch ohne deine Hilfe etwas zu Essen gefunden habe.« »Ein Stück Brot – und nichts weiter.« »Es war wenig, aber ich bin nicht verhungert. Wie ich aber sehe, ist dein Korb gut gefüllt.« »Richtig, wenn du auch nichts dafür getan hast, darfst du heute in den Korb langen, als wärest du dabei gewesen.« Sen-boni knurrte verächtlich, doch er ließ sich nicht weiter nötigen. Zu seiner Überraschung lagen unter dem Lauchbündel und den Zwiebeln zwei gebratene Entenkeulen. Harchuf sah seine Überraschung und frohlockte: »Man muss schon ein Händchen haben, um auch gebratene Köstlichkeiten zu erhaschen. Ein Brot, du siehst hier mehrere kleine süße Brote – die sind doch lächerlich einfach zu bekommen.« Sen-boni überhörte die Reden Harchufs und begann eilig zu essen, bevor es sich Harchuf wieder anders überlegte. »Heute ist der Tag gekommen. Wie du schon gestern gesehen hast, sind alle froher Erwartung. Darum, Dummkopf, darfst du dich hier aus meinem Korb bedienen, fressen, bis dir der Bauch platzt. Wenn du fertig bist, gehen wir zum Anleger.« »Die Fährleute werden uns schnell entdecken.« »Von denen hast du nichts mehr zu befürchten. Jedenfalls jetzt nicht. Wenn das tekau26 vorbei ist, sieht alles wieder ganz anders aus.« »Warum?« »Frag nicht so dumm. Es ist so, wie ich es dir sage. Von heute an und über zwei Tage werden dir die Fährleute nichts tun. Sie sehen dich nicht einmal. Hä-hä-hä!« 26

Flamme = hier Licht anzünden, auch richtig: wepet renepot = Lampen‹ /Lichterfest.

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Sein hässliches Lachen klang Sen-boni warnend in den Ohren. Harchuf musste etwas mit den Fährleuten ausgehandelt haben, so, wie er es bei Reti angekündigt hatte. Doch Sen-boni begriff, dass für ihn nach dem Fest nicht nur wieder Gefahr bestand, sondern er auch damit rechnen musste, dass Harchuf ihn als Handelsware benutzt hatte. Er war sich sicher, Harchuf hatte ihn verraten. Doch dieser verhielt sich harmlos, ganz normal. Nachdem sich Sen-boni ausgiebig satt gegessen hatte, drängte er zum Aufbruch. Am Anleger war ein überaus reges Treiben, wie Sen-boni es noch nie dort erlebt hatte. Viel Volk ließ sich von drüben, von der Stadt, mit Opfergaben und reichlich Nahrung zur Insel herüber bringen, denn nur hier findet im Beisein des hati-ó27 das Hauptfest in den Häusern der Götter Chnum und Setjat28 statt. Auf dem Platz vor und an den Landungsstellen, die mit leichten Stegen aus Holz und Schilfgeflecht zum leichteren Anlegen versehen waren, bis zum Weg, der zur Stadt hinaufführte, drängten sich dichte Menschentrauben. Von sewenu, der Oststadt, der Stadt der Händler, kamen laufend beladene Einbäume der Fährleute und Barken von Händlern und reichen Leuten am Anleger an. Auffällig war, dass fast alle Männer mehr oder weniger lange Schurze und die meisten Frauen lange Trägerkleider trugen. Selbst die Masse der kleinen Kinder trug eine ähnliche Kleidung. Da war es eigentlich auffällig, dass zwischen den festlich gekleideten Menschen, auch wenn es Kinder waren, noch einige nackt herum sprangen. Die Leute sahen es, aber mehr als ein verachtender Blick fand es offensichtlich niemand wert. Selbst die Fischer, Vogelfänger und Landarbeiter hatten sich geschmückt und ihre Scham mit einem sedj, einer Schamschürze verdeckt. Die Handwerker hatten sich herausgeputzt und priesen mit lauten Rufen ihre Waren. Eigentlich wurde der Markt unter Aufsicht von Marktbeamten und Schreibern des hati-ó auf den Straßen und Plätzen der Stadt abgehalten, aber hier, am Anleger wurde zur Feier des Tages bereits genauso eifrig gehandelt. Vor allem der Handel mit dem heiligen Amulett, dem udja29 der Götter Chnum und Setjat, blühte. Obwohl drüben in der Stadt natürlich ebenfalls das Lichterfest gefeiert wurde, wollte doch ein großer Teil der Stadtbewohner von sewenu selber dabei sein, wenn

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Gaufürst, z.Zt. 6. Dyn. eher noch oberster Gaubeamter, meist aus königlichen Haus. Göttin Satis, Wächterin der südlichen Grenze, des Katarakts, der Nilflut, Frau des Chnum, somit Mutter der Anukis. Amulett.

das große Lampen‹ und Opferfest des hati-ó in abu, im hat-Nutjer-Chnum30, gefeiert wurde. Allein die Prozession zu den Tempeln, den ›Häusern der Götter‹, aber auch die Darbringung eigener Opfer an den Tempeln war neben der Neugier, dem Erleben der großen Prozession ein Grund, die Überfahrt zur Insel auf sich zu nehmen. Dies betraf besonders die Familien, die sich den Göttern und dem Landesherrn verpflichtet fühlten oder ihm nahe standen. Sie betrachteten es als ein Privileg, der Prozession beizuwohnen. Natürlich endete ihre Neugier vor den Toren der Tempel, denn nur die Priester, damit das Hauspersonal, hatte zum Tempel und seinen Ritualen Zugang. Selbst die Tempelwachen waren nur für die äußeren Anlagen zuständig, soweit sie nicht den Priesterstand angehörten. Harchuf versuchte mehrfach mit List und Tücke Körbe, Krüge oder gar eine Ziege irgendeinem Testteilnehmer abzunehmen, aber die Besucher passten zu sehr auf. Wer lässt sich auch schon gern die Festfreuden von solch trüben Gestalten wie Harchuf und Sen-boni verderben. Die beiden kleinen Gauner zogen sich nach einigen Fehlschlägen unter die alten Sykomoren, alte Maulbeerbäume, zurück, die zwischen den Anlegern und den Häusern der Fischer und Fährleute standen und von wo aus ein guter Überblick über das ganze Geschehen möglich war. Ihr Rückzug war jedoch nicht durch Einsicht geprägt, sondern der Aufmarsch der Krieger des Fürsten, die dieser zur Aufrechterhaltung der Ordnung aufbot, zwang zur Vorsicht. Soeben fuhr unten am Anleger eine sehr große Segelbarke mit einer zusätzlichen Reihe kräftiger Ruderer, die jedoch die Ruder bereits eingezogen hatten, ein. Dabei gingen am Landungssteg ein paar der dort festgemachten kleineren Boote zu Bruch, deren Besitzer ein lautes Geschrei anstimmten. Man schimpfte von Boot zu Boot und hinüber zum Lande, die Aufregung war groß und die Flüche und Reden flogen wie kleine bunte Vögel hin und her. Das Missgeschick der einen erheiterte natürlich die Unbeteiligten, denn was ist schon schöner, als ein bisschen Schadenfreude. So schrien die Zuschauer vor Vergnügen Beifall oder lachten die Redner aus, die sich in wilden Flüchen ergossen. Indessen waren die Passagiere des Bootes, zwei kostbar gekleidete ältere Damen und ein geradezu erhaben wirkender Herr von dem Vorfall keineswegs begeistert. Der Schiffsführer schwang sich auch sofort an Land und zwei der Ruderknechte schleppten zwei Tragstühle in aller Hast ans Ufer. Damit war jedoch das Unglück nicht behoben, denn die Trümmer der beschädigten Boote verhinderte ein vernünftiges Anlanden der Passagiere. 30

Tempel: Haus des Gottes Chnum.

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Der vornehme Herr im langen Schurz und bunten kostbaren Halskragen fuchtelte wild mit seinem langen herrschaftlichen Stab zunächst in der Luft herum, um ihn dann auf den Rücken der noch in den Bänken sitzenden einzelnen Ruderern tanzen zu lassen. Die Ruderer, soweit sie noch im Boot gesessen hatten, sprangen erschrocken bis zum Bauch ins Wasser und bemühten sich, sicherlich mit Furcht in den Beinen, die Herrschaften an Land zu tragen. Auch dies gelang nicht. Eine der Damen geriet mit ihrem bis auf die Fußknöchel reichenden Kleid bis zu den Knien ins Wasser. So leicht lädiert gewannen sie unter lautem Gezeter endlich die am Ufer stehenden Tragstühle. Die Würde des würdigen Herrn war beschädigt. Man konnte kaum erkennen, was flinker war – sein wütendes Mundwerk oder sein langer Stab der Würde. Merkwürdigerweise ließen die Zuschauer trotz des ihnen bekannten Amtes des Herrn keine Zurückhaltung erkennen. Lautes Gelächter und Spottrufe begleiteten den Abzug der Herrschaften zur Stadt. Dabei fungierte die Rudermannschaft nun als Träger der Tragstühle. In der Aufregung war einer der Damen die stolze, mit Bändern geschmückte Perücke verrutscht, was wiederum die Häme der vielen einfachen Frauen hervorrief. Dies blieb kein Einzelfall, denn der Anleger erwies sich zu klein und obwohl nicht alle ein gleiches Missgeschick traf, so gab es doch für die meisten Zuschauer sehr viel Erheiterung. Harchuf tanzte vor Vergnügen, als er die dramatischen Landungen betrachtete. »Siehst du, Sen-boni, sie bereiten uns unser Glück. Wir müssen nun nur noch dafür sorgen, dass in der Stadt, bei der Prozession, noch einigen mehr Ungeschicklichkeiten geschehen. Denn so ein umgestürzter Tragstuhl in den engen Gassen, zwischen den vielen Menschen gibt unzählige Gelegenheiten.« »Was willst du tun? Die Diener der Herrschaften werden es nicht zulassen, dass ihren Herrschaften etwas geschieht.« »Sie können es nicht verhindern. Ein leichter Stoß, ein gestellter Fuß – schon liegen sie alle im Staub.« »Es sind genug Wächter da. Man hätte uns schneller am Hals, als wir noch zugreifen könnten.« »Hä, hä, hä!«, lachte Harchuf, »dies ist nicht mein erstes Lichterfest. Es ist jedes Jahr das Gleiche. Sie sind zu vornehm, zu dumm. Siehst du nicht, welche Kostbarkeiten sie um den Hals hängen haben? Diese können leicht verloren gehen.« Sen-boni war bei dem Gedanken, einen oder mehrere Tragstühle umzuwerfen und in dem Getümmel Beute zu machen nicht sehr wohl. Er hatte Zweifel, doch er

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schwieg. Harchuf hatte ihm von den großzügigen Verteilungen von Essen und Trinken aus dem Umlauf der Opfer berichtet, von den gefährlichen Schandtaten, die er vorhatte, war bisher nicht die Rede gewesen. Die Masse der Menschen bewegte sich nun zur Stadt hin, wo die, die den Göttern opfern wollten, ihre Gaben am Tor der ›Häuser der Götter‹ den Priestern übergeben mussten. Also bewegten sich Harchuf und Sen-boni ebenfalls zwischen den Menschenmassen, an den Wachen vorbei, versteckt zu den Tempeln. Auch hier spielten sich interessante Szenen ab. Etliche Opfertiere entsprachen ganz und gar nicht den Anforderungen der Opferpriester. Sie wurden von diesen empört zurückgewiesen. Die so Abgewiesenen mussten von Glück sagen, ihren guten Willen nicht auch noch mit Strafe belegt zu bekommen, denn ein unreines Opfer bedeutete, den jeweiligen Gott zu betrügen, was wiederum die schwerste Strafe nach sich ziehen musste. Auf halbem Wege zum hat-Chnum31 mussten sie sich eilig an die braunen Lehmwände der Häuser drücken. »Platz für die Herrin! Platz für die Herrin!« Fünf große Kerle, bekleidet mit kurzen sedj, auf dem Kopf rote Filzkappen, schwangen Stöcke und der erste sogar eine kurze Peitsche. Hinter ihnen schleppen acht kräftige Diener, ebenfalls bekleidet mit quereneti, einen Tragstuhl, in dem thronte eine junge Frau in einem hauchdünnen, hautengen, bis unter die Brüste reichenden blütenweißen Leinenkleid. Um ihren schlanken Hals, die Brüste halb verdeckt, lag ein herrlicher breiter, funkelnder Kragen aus Goldplättchen, der mit eingelassenen Steinen aus Lapislazuli und Karneolen abwechselnd besetzt war. Ihr kleines, von einer großen, schweren schwarzhaarigen Perücke eingerahmtes Gesicht war auf den Wangen mit Hennasalbe eingerieben und die Augenlider mit dunkelgrünem wadj 32gefärbt. Die Haare der Perücke wurden durch einen breiten Goldreif mit eingelassenem Türkis in Form von beschützenden, glückbringenden Sonnenkäfer zusammengehalten. Um ihre Hüften schlang sich ein rotes Gürtelband, das zu beiden Seiten aus dem Tragstuhl heraushing und fast die Erde berührte. Sie schaute stolz geradeaus, als sei niemand auf der Gasse, als gehöre die Gasse ihr. Die auf der Gasse sich befindenden Leute wurden rabiat beiseite gedrückt. Wer nicht schnell genug Platz machte, bekam Peitsche oder Stock zu spüren. Harchuf und Sen-boni drückten sich tief an die Hauswand und schon stampfte die kleine Kolonne keuchend an ihnen vorbei. 31 32

Tempel des Chnum. Schminke für Augenbrauen – grüne, schwarze, blaue.

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»Die kommt alle Jahre zum Lampenfest aus einer Stadt, die weiter stromab liegt. Sie war die Frau eines großen Kriegers, der vor Jahren zu den nehasi33 gezogen und nicht wieder zurückgekommen ist. Sie opfert immer Chnum und schenkt alles, was vom Opfer über bleibt, den armen Leuten«, erklärte Harchuf mit bösem Grinsen, das gar nicht zu seinen Worten passte. »So ist sie sehr mildtätig und mitleidig?« »Du bist hoffnungslos dumm, Sen-boni! Reiche sind nie milde oder wohltätig gegen Arme. Wenn sie geben, dann nur mit Hintergedanken. Sie haben immer was dabei. Mal ist es die Angst vor dem Totengericht; wenn sie ins ›Land des Westens‹ kommen, wollen sie genug gute Taten für sich gewonnen haben, um alle Tore mühelos überwinden zu können. Sie brauchen eine Rechtfertigung für ihre Bosheit. Aber genug! Sie werden oben an dem kleinen Platz, an dem die drei Gassen abzweigen, halten. Wir müssen schnell machen, damit wir Sie einholen.« »Was hast du vor?« »Du wirst es sehen.« Sie drängten sich nun ihrerseits durch die stockende Menschenmasse, was nicht ohne Rempeleien vonstatten ging und mit empörten Schmähungen verbunden war. Harchuf hatte recht. Die schwitzenden Diener hatten den Tragstuhl ihrer Herrin abgesetzt. Diese ordnete noch einmal ihre Perücke. Der Peitschenträger stand gebeugt vor ihr und begutachtete das Wunderwerk, wobei er sich demütig in geradezu komischer Haltung vor seiner Herrin niederbeugte. Das ganze Geschehen wurde natürlich von vielen Neugierigen umlagert. Es fehlte auch nicht an Ausrufen der Bewunderung wie auch nicht an Spottrufen aus dem Hintergrund. Harchuf und Sen-boni drückten sich bis zu dem Ausgang des Platzes, wo zwei Gassen begannen, von der eine zum hat-Nutjer-Chnum führte. Harchuf nickte befriedigt. »Hier ist es richtig.« »Was hast du vor?« »Das verstehst du noch nicht. Du musst nur tun, was ich dir sage. Die werden gleich wieder aufbrechen, denn sie dürfen der Prozession des Fürsten folgen.« »Was soll ich tun?« »Pass auf! Sobald sie hier vorbei wollen, läufst du laut schreiend vor ihnen, vor den Mann mit der Peitsche durch. Du tust so, als hättest du vor ihm Angst.« Harchuf 33

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Nubier = nubisches Volk = Zusammenfassung vieler Stämme mit eigenen Namen.

grinste geringschätzig und klopfte seinem Kumpan Mut einflößend auf die Schulter. »Den Rest erledige ich selber. Sieh du nur zu, dass dich keiner von den Wächtern fassen kann.« »Schön, aber was willst du tun und wo treffen wir uns wieder?« »Das passt nicht in deinen Kopf. Ich treffe dich, wenn ich dich treffen will. Wenn du einen guten Tag haben willst, verkriechst du dich in den Gassen zwischen den Menschen. Ich habe dir oft genug gezeigt, wie man unbemerkt bleibt. Ich warne dich. Sei nicht neugierig und bleibe von den ›Häusern der Götter‹ fern.« Er klopfte Sen-boni noch einmal gönnerhaft auf die Schulter und drängte sich einige Schritte weiter zwischen die Neugierigen. In diesem Moment hoben die Träger den Tragstuhl auf, der Zug setzte sich mit dem Ruf: »Platz für die Herrin! Platz für die Herrin!« erneut in Bewegung. Es war auch höchste Zeit, denn hinter ihnen drängten sich noch mehrere gleiche Gruppen mit vornehmer Last. Sen-boni stürzte, fast von der Peitsche berührt, unter wildem Schreien und Kreischen von einer Seite der Gasse zur anderen und drängte sich rücksichtslos durch die dortigen Gaffer in die nächste Gasse. Der peitschenbewehrte Vormann und Rufer stockte in seinem eiligen Schritt. Die vier Männer mit den Stöcken hinter ihm prallten zusammen und die vier vorderen Träger des Tragstuhls, durch ihre Last gehemmt, stolperten. Sie knickten so nach vorne ein, und entließen ihre teure Last unsanft auf dem Boden. Die Umstehenden stießen schrille Schreie aus, einige vor Entsetzen, bei anderen schien es eher Schadenfreude zu sein. Allenthalben war nun ein großes Durcheinander. Neugierige drängten sich nach vorn; die Diener versuchten ihre Herrin wieder aus dem Staub zu ziehen; der oberste Diener mit der Peitsche schlug nun tatsächlich auf einige Neugierige ein, um seine Herrin zu retten, doch das vergrößerte den Tumult. Als dieser sich legte, die vornehme Dame ihren Tragstuhl wieder bestieg, stellten sie und ihre Diener fest, dass ihr kostbarer Halsschmuck, der Kragen verschwunden war. Wie war das nur möglich? Alles Suchen half nichts. Niemand hatte bemerkt, wie er abhandengekommen war. ∗∗∗ Die Leute schauten von den Dächern oder drängten sich in den Straßen und Gassen. Aus den mit Blumengewinden geschmückten Türöffnungen, über Hofmauern und aus allen Fenstern drangen die Gerüche von frischem Bier, Brot und Kuchen, ver-

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mischt mit der Würze alter Weine und Salböle. Sen-boni drängte sich in die Menge und kam sich in seiner Nacktheit und Armseligkeit verlassen und schäbig vor. Harchuf blieb verschwunden, so viel er auch nach ihm Ausschau hielt. Was hatte er getan, dass er nicht wissen sollte, dass ihm aber vermutlich großen Vorteil gebracht hatte? War er es, der den kostbaren Kragen gestohlen hatte? Eines wurde ihm jedoch sofort klar, er war von ihm als Werkzeug benutzt worden und nun stand er mit hungrigem Magen da. Wut stieg in ihm hoch. Warum hatte er gesagt, er solle sich nicht den Häusern der Götter nähern? Hatte auch das etwas mit seinem Plan zu tun? Er ging aus der Gasse zur Straße hinaus, die zum hat-Nutjer-Chnum führte. Hier drängten sich die Menschen entlang der Häuser. Der Tempel des Chnum ragte hoch aus dem Gewirr der anderen Häuser heraus. Ihm gegenüber, auf einem weniger hohen Niveau, stand das hat-Nutjeret-Setjat34. Sen-boni kauerte sich an die Ecke des Platzes, der zwischen den beiden Tempeln lag. Der Platz war offensichtlich für die hochgestellte Gesellschaft reserviert, denn bewaffnete Diener des Fürsten bewachten seine Zugänge. Für Sen-boni war kein Weiterkommen. Vielmehr musste er aufpassen, dass er möglichst den Blicken der Wächter entging. Dabei wusste er von Harchuf, dass es in solchen Situationen gar nicht falsch war, wenn man sich bescheiden, ja hilfesuchend, neben so einen Wächter niederließ. So war zwar nicht sein Hunger gestillt, aber die Neugier, was hier geschehen sollte, ließ ihn begierig ausharren. Die großen Holztore mit den geputzten, funkelnden Kupferbeschlägen blickten einladend, aber geheimnisvoll über den Tempelvorplatz zu ihm herüber. Das riesige Mauerwerk erregte eine gewisse Scheu und Ehrfurcht. Er und Harchuf waren den beiden göttlichen Häusern möglichst ausgewichen. Stets standen dort Wächter und die Tore waren geschlossen. Der Zutritt zu den heiligen Häusern war nur den wéb35, den Priestern, den Reinen und den Priesterinnen gestattet, was natürlich nicht ausschloss, dass Handwerker dort Arbeiten zu verrichten hatten, denn sie waren, wie alle berechtigten, registrierten Bürger in einer saw, in einer Phyle, in Arbeitsgemeinschaften eingeschrieben – so auch Reti, er war in der saw ne cheretju-Nutjer36, der Gemeinschaft der Steinmetze Gottes, was ihm im Rahmen seiner Arbeiten Zutritt verschaffte – allerdings wurde nach solchen profanen notwendigen Tätigkeiten der Tempel von den Reinen, den 34 35 36

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Satis-Tempel, wörtl. Haus der Göttin Satis. Priester, wörtl. Reiner. Arbeitsgruppe der Steinmetze Gottes = Steinmetze die Götter‹ und Heiligenbildwerke herstellten/Art Zunft.

wéb in aufwendiger Zeremonie gereinigt. Außer diesen hatte niemand, nicht einmal Harchuf, je einen Blick in die Tiefe der Tempel werfen dürfen. Doch Harchuf wusste von Reti, seinem Oheim, wie es hinter den Mauern aussah. Doch das wollte nichts heißen. Zudem waren eine große Anzahl der Bewohner der Stadt zeitweilig, im Monatsdienst, im Dienst der Götter tätig. Für diese Zeit wurden sie ebenfalls zu Dienern der Götter, zu unut37, im wébut38. Für einige war es gar ein festes Amt, was ihnen erlaubte, in den Vorhof des hat-Nutjer zu bestimmten heiligen Handlungen eintreten zu dürfen. Aber die sich hier in den Straßen drängenden Menschen gehörten nicht zu diesen, die sich den Göttlichen nähern konnten. Viele kamen zum Opfern, aber die Masse nur, um in frommer Furcht den Göttern nahe zu sein und mit ihnen dieses Opferfest, das Lichterfest zu feiern. Die Tore des Tempels waren weit geöffnet. Unter dem Tor des hat-Nutjer-Chnum standen in zwei Reihen weiß beschürzte, kahlköpfige Priester und stützten sich auf gewaltige Holzkeulen, indessen sich vor einem Haus in einer Seitengasse die Menschen drängten, um die mitgeführten Opferziegen und Gänse noch einmal beschauen und Siegeln zu lassen. Bei ihnen, auf der Erde, hockte ein Schreiber mit einem Stirnband, ein sechau, der die vorgeführten Opfer eifrig notierte. Nur wenige Schritte weiter standen mehrere wéb, die die Opfertiere in Empfang nahmen, nochmals ihre Siegel prüften und sie mit einer Blumengirlande um den Hals schmückten. Die so geschmückten Tiere wurden von einem weiteren Priester mit erhobenen Händen Gott Chnum oder der Göttin Sejat empfohlen und von anderen Priestern der Tempelwachen, der resu hat Nutjer39, in den jeweiligen Tempel geführt. Die Ziegen waren ausnahmslos Chnum zugedacht, während die Gänse und einige andere kleine Wasservögel wie Enten in das Haus der Göttin Setjat getragen wurden. Bei ihrem Anblick lief dem Wächter offenbar das Wasser im Munde zusammen. Er dachte an den Umlauf, wenn die Opfer den Göttlichen dargebracht und den Weltlichen zum Festschmaus übergeben wurden. Man war voller Vorhoffnung und wartete auf den Beginn des Festes. Entlang der Tempelmauern, die von der Krone bis zur Basis mit gewaltigen bunten Schriftzeichen und farbigen Darstellungen aus dem Leben und Wirken Gottes bedeckt waren, standen eine beträchtliche Menge Tragstühle mit und ohne Sonnen37 38 39

Arbeiterschaft. Priesterdienst. Tempelwache.

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dach, bunte und schlichte, gold- oder kupferbeschlagene, je nach Stellung und Besitzstand des Eigentümers oder der Eigentümerin, welche alle links neben dem Portal versammelt standen, um das Eintreffen der hemet-Nutjer, der ›Dienerin des Gottes‹ und des hati-ó zu erwarten. Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge. Vom nahen Haus des hati-ó klangen Flöten, Trommeln, Tamburine, Schellen und Sistren – und der Gesang vieler Menschen, die den Zug begleiteten oder sich diesem nach seinem Durchzug anschlossen. Sen-boni kniete an der Straßenecke. Von seinem Platz konnte er sowohl die beiden Tempel als auch die breitere Gasse hinüber zum Haus des hati-ó, des Herrn des ›Tor des Südens‹, übersehen. Dort nahte der feierliche Zug! Allen voran, den Weg durch Diener des hati-ó mit der Geißel freimachend, Schritt im Gleichmaß der Musikanten der ›Obertempelaufseher des Gottes Chnum‹. Er trug zu seinem langen weißen Schurz ein weißes Oberkleid aus feinem, dünnem Leinen. Ihm folgte ein Priester, von Speerträgern des hati-ó geleitet, mit dem Heilzeichen des tâ-sti40, des Bogenlandes. Dann kamen mehrere Reihen singender, trommelnder oder blasender Männer, mit bemalten Handtrommeln und bemalten Flöten aus langen Schilfhölzern, die mit bunten Bändern geschmückt waren. Ihnen folgten die nackten Tänzer des Tempels. Sie waren von Kopf bis Fuß mit roter Henna bestrichen, welches die bösen Geister und Dämonen bannen und vom Fest fernhalten sollte. Sie schwangen Arme und Beine mit gemessenen Bewegungen zum Klang der Rasseln, der Sistren, die von chebiajti, von Tempeltänzerinnen hinter der Tänzergruppe mit gleichen Bewegungen geschüttelt wurden. Die Tänzerinnen glänzten vom Balsam Öl und waren im Gegensatz zu den Tänzern mit gelber Farbe bestrichen, die einen starken Duft ausströmte. Um die Hüften hatten sie blütenweiße kurze Schurze gewunden. Ihre lang gewachsenen Haare trugen sie je in einem langen Zopf geflochten, welcher schwer vom Öl weit auf ihren Rücken herab hing und hin und her schwang. Ihnen folgte die mit Heilssymbolen aus Gold und eingelegten Kupferplättchen geschmückte Sänfte der chemet-Nutjer-Chnum. Ihr zur Seite schritten auf jeder Seite sechs wéb, Laienpriester, in knielangen Priesterschurzen. Die qeni, die Sänfte, wurde von acht nackten nehasi, dunkelbraunen kräftigen Männern aus dem Land hinter dem ›Tor des Südens‹, getragen, die mit goldenen Ohr- und Halsringen geschmückt prächtig anzuschauen waren. Neben der Sänfte schritt der ›Wedelträger der Gottesdienerin‹ mit einer langen Stange, auf der ein gewaltiger, kupfergefasster Straußenfedernwedel wippte. 40

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1. Oberägyptischer Gau (OG) = Bogenland.

Hinter ihm zottelte, flankiert und geleitet durch zwei Laienpriester, der makellose, gesiegelte Opferwidder, der dem Gott als Ruhekissen seines Ka dienen sollte. Den Zug beschlossen Tamburinschläger, die sich ähnlich wie die Tänzer bewegten und Gürtel mit bunten Bändern als besonderen Schmuck trugen, die den Bewegungen der im Tanzschritt schreitenden nachschwangen. So schritt und tanzte es an Sen-boni vorbei; bannte ihn mit seiner noch nie gebotenen Pracht. Der wunderbare Duft der Salböle umschmeichelte ihn noch, als der Zug längst das große Tor der Tempelumfriedung durchschritten hatte und die Klänge der Musik dort verhallten. Das Volk auf den Straßen und in den Gassen, die Menge auf dem Platz, sie alle hatten den Rhythmus des heiligen Liedes mitgesummt und dazu den Takt geklatscht. Durch die Reden der Umstehenden erfuhr Sen-boni, dass der hati-ó erst später, in einem eigenen Umzug komme, wie es sich für den Vertreter des ›Guten Gottes‹ verstand. Im Dorf, wo Sen-boni aufgewachsen war, hatte man auch gefeiert, doch was er hier erlebte, war so wunderbar, so unglaublich. Er fühlte sich wie ein Fremder. Wie weit war er doch von seinem Dorf, den dort einst üblichen Sitten und Gebräuchen entfernt. Im Dorf war alles einfach und leicht zu verstehen gewesen. Da gab es den würdigen Herrn Nefer, jedes Jahr den Steuereintreiber, ein paar Menschen, die ihn, seinen Vater, den Oberhirten und seine Mutter achteten und gern hatten, aber auch solche, mit denen man täglich im Streit lag. Sonst drehte sich das ganze Leben um das tägliche Brot, die täglichen Sorgen eines Bauern, die Früchte und die Arbeit. Jedes Jahr wurde bei Beginn der achet, die alle Jahre wiederkehrende Hochwasserflut des Stromes, das Neujahrsfest gefeiert, bei dem der würdige Gutsherr nach seinem Gutdünken bestimmte, was und wie gefeiert wurde. Wohl opferte man auch im Dorf und der Gutsherr, natürlich auch ein wéb, betupfte als Weihe jeden mit dem Blut des Opfers auf Stirn, Brust und Bauch. Es war verwirrend, was hier geschah. Hier war alles anders; man musste so viele Dinge gleichzeitig beachten und durfte sie nicht falsch machen, wollte man nicht anderen Schaden zufügen. Er dachte an seine Eltern. Sie hatten ihm Ehrfurcht vor den Göttern und Achtsamkeit auf alle Dämonen beigebracht. Er kannte viele Zaubersprüche, um die bösen Geister zu besänftigen. Doch hier! Harchuf hatte ihm, trotz aller heimlichen Feindschaft, oft geholfen, auch wenn es gegen seinen Willen war. Doch gerade jetzt, bei dieser ihm fremden Festlichkeit, hätte er ihn gut gebrauchen können. Wo war er überhaupt? Er hatte hier auf der Insel und in den Dörfern sowie drüben in der Stadt so viele Freunde. In der Oststadt, in sewenu, wohnten seine Mutter und sein Onkel, der Steinmetz. Er brauchte ihn nicht und er hatte sich

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eigentlich immer gewundert, warum er ein Leben wie ein Aussätziger führte. Erschrocken fuhr er zusammen, als der Wächter neben ihm, wohl mehr aus Versehen, auf seinen Kopf drückte. Er machte sich noch kleiner und lag nun wie ein kleiner Hund neben dem großen Mann. Die Menschen um ihn herum sangen auch jetzt noch, nachdem der Zug im Tempel die Musik eingestellt hatte: »Ho-o-o, la-hum, ho-o-o, la-hum, Nutjeri-Chnumu!« Plötzlich erschien auf der Mauerkrone über dem Tor der ›Tempelaufseher‹ und der ›Träger der Standarte‹. Die goldfunkelnde Standarte wurde in der Mitte über dem Tor in die Mauer gesteckt und vom ›Tempelvorsteher‹ mit bunten Bändern geschmückt. Die Menschen sangen immer lauter, warfen die Arme hoch und stampften gerade so, wie die Tänzer vorher, mit den Füßen auf den Boden, bis sich der ganze Platz in einer fast undurchsichtigen Staubwolke befand. Da setzten im Tempel auch wieder die Trommeln und Flöten ein, die vom Rasseln der sescheschetet, der Sistren, im Rhythmus gelenkt, begleitet wurden. Die Luft dröhnte; der Himmel verdunkelte sich mit Staub und machte das Atmen schwer. Klirrend brach sich der helle Klang eines Kupferbeckens an den Wänden des Tempels! Es war Stille. – Der Staub senkte sich. Vom Haus des hati-ó drang nun wie fernes Grollen, das dumpfe Dröhnen der großen Trommeln. Die Köpfe und Rücken der Menschen beugten sich vor dem Zug, der nun vom Haus des hati-ó heranwogte. In Fünferreihen, acht Glieder tief, stampften Schild und Speer an Schild und Speer die Diener des hati-ó heran. Über den mannslangen, schmalen braunen Lederschilden sah man nur die Köpfe der Diener mit ihren Lederkappen und rotweiß gestreiften Nackentüchern. Es waren alles nehasi mit wulstigen Lippen und wilden Gesichtern. Als sie an Sen-boni vorbeizogen, sah er, dass kupferne Ringe ihre Ohren schmückten und lange weiße Schurze aus Leinen ihre Blößen bedeckten. Hinter ihnen kam, auf den Schultern von zwölf Dienern ruhend, die Sänfte des Fürsten. Die Seiten des fürstlichen Tragstuhls waren aus bestem poliertem asch41 gefertigt und mit Figuren aus reinem nub42 ausgelegt. Vier weitere Diener trugen auf langen vergoldeten Stangen einen weißen Leinenhimmel mit gelben Fransen und Troddeln, der sich schützend und Schatten spendend über die edle Gestalt des Fürsten im linden Luftstrom des Nordwindes bauschte. Der Fürst, ein Mann in der Mitte des Lebens, hoheitsvoll und würdig, ruhte auf 41 42

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Zedernholz. Gold.

seinem Tragsitz. Mit gefaltetem knielangen Schurz, der an der Hüfte mit einem roten Gürtel gehalten wurde, und mit breitem prachtvollen Halskragen, der Brust und Rücken zur Hälfte bedeckte. Auf dem Kopf trug er die schwere schwarzhaarige Perücke mit dem kegelförmigen, hohen roten Prachthut, der mit weißen Straußenfedern hinten und dem als Agraffe geformten goldenen Widder vorn angetan war, so erschien er wie Chnum persönlich. Hinter ihm schritt der Wedelträger. Auch er im weißem langen Schurz und Goldkragen, der mit eingelegten Perlen aus blauen Glasfluss besetzt war. Ein rotes Stirnband mit goldener Agraffe hielt die Perückenpracht seines Kopfes zusammen. So kostbar gekleidet, schwang er an einer langen vergoldeten Stange einen riesigen Fächer aus makellosen Straußenfedern. Hinter ihm, im gebührenden Abstand, stampften wieder in Fünferreihen zwanzig bewaffnete Diener. Diese waren jedoch mit Pfeil und Bogen gerüstet. Doch waren sie sonst wie die Speerträger gekleidet. Einige hatten goldene Ketten um den Hals, als Zeichen besonderer Leistungen und großer Tapferkeit. Ihnen folgten drei weitere Tragsessel mit drei Söhnen des Fürsten. Sie waren ohne Schmuck und nur mit einfachen weißen Schurzen gekleidet. Alle drei trugen die sorgfältig frisierten Haarlocken auf der rechten Seite ihrer kleinen Köpfe und ließen die Gesichter winzig erscheinen, verliehen aber auch ihnen schon einen Hauch der zu erwartenden Würde. Ihre Sänften wurden von je acht nehasi-Dienern getragen, die wie die Träger der väterlichen Sänfte gekleidet waren. Nach einem kleinen, Würde gebietenden Abstand folgte die Sänfte der ›Großen Gemahlin‹ des Fürsten. Ihre Sänfte glich im Aussehen und in der Ausstattung der des Fürsten. Die Fürstin trug ein langes weißes Kleid mit eingestickten goldenen Figuren, die Sen-boni wegen der Entfernung nicht zu erkennen vermochte. Die linke Hälfte des Kleides, welche bis unter die Brüste reichte, wurde durch ein breites Trägerband verlängert und damit die linke Brust verdeckt, während die andere mit Henna gefärbt, wie ein kostbarer Edelstein schillerte und ihre Schönheit besonders herausstrich. Ihre große, schulterlange Perücke wurde durch einen Goldreif zusammengehalten, an dem wie Tränen eine Reihe funkelnder Kristalle blinkten. Ihrem Tragstuhl folgte eine Schar von Dienerinnen mit Opfergefäßen. Auch sie waren in lange, enge, bis zu den Brüsten reichende Kleider gehüllt. Die Fürstin musste eine sehr großzügige Frau sein, dass sie dies ihren Dienerinnen gestattete. In einer breiten Sänfte, von sechzehn Dienern getragenen, kamen die drei Nebenfrauen des Fürsten. Auch sie waren sehr schön und auf die gleiche Art, wie die ›Große Gemahlin‹ gekleidet, nur mussten sie sich in eine Trage quetschen und ihre Stirn-

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reifen hatten rote, blaue und grüne Steine statt der herrlichen Kristalle der ›Großen Gemahlin‹. Der Zug wurde durch einen bewaffneten Trupp Diener, der dem ersten Trupp in Aussehen und Bewaffnung glich, beschlossen. Die Menschen hatten sich beim Nahen des Zuges verbeugt und die Hände zum Gruß der Ehrerbietung gesenkt. Irgendwer rief laut und gebieterisch: »sâ-tâ, sâ-tâ!« Die Menschen nahmen den Ruf auf und riefen laut im Vorbeiziehen der Prozession ständig diese Worte, was Sen-boni eilig auch tat, denn er fühlte sich von dem großen Wächter neben sich beobachtet. Dabei schielte er natürlich vorsichtig auf den Zug, denn er wollte sich nichts entgehen lassen, aber dies, weil eigentlich unschicklich, taten die anderen Leute auch. Viele ließen dabei auch Rufe der Bewunderung hören oder unterhielten sich mit ihrem Nachbarn über das Aussehen des Herrn, den sie alle sehr zu lieben schienen. Dies verwunderte Sen-boni sehr, denn er, der Ausgestoßene, der Niemand, ein Mensch ohne Unterkunft, der Herumtreiber, hatte von den Dienern des hati-ó nicht sehr viele Freundlichkeiten erfahren. »Sehr schön, der Herr! Seht nur, wie ein Gott, unser Fürst! Wunderbar, wie herrlich ist er anzuschauen, unser Fürst! Welch ein Mann und diese Pracht! Er ist wie der Glanz der Sonne. Es gibt bestimmt keinen schöneren Fürsten, als den unseren. O, da naht Hôrchuf, der älteste Sohn unseres Fürsten! Er wird es sein, der seinem Vater folgt. Ist er nicht schon als Jüngling so schön wie sein Vater?« So klang es aus den Reihen der Zuschauer, die dabei ihr »sâ-tâ!« manchmal ganz zu vergessen schienen. Dieser Hôrchuf wirkte freilich sehr angenehm. Er strahlte schon so etwas wie Würde aus, wie Sen-boni es von dem würdigen Herrn in seinem Heimatdorf her kannte. Er ahnte nicht, wie bald er ihn näher kennenlernen sollte. Aber so ist es im Leben! Der Zug schritt auf das Tempeltor zu, das zu seinem Empfang weit geöffnet war. Die Diener und Krieger blieben jedoch vor dem Tempel und nahmen zu beiden Seiten des Tempeltors in mehreren Reihen Aufstellung. Nur die Sänften mit ihren Herrschaften schwankten durch die Toröffnung, in den halbdunklen Schlund des Eingangs. Dort wurden sie abgesetzt und ihre Insassen gingen, von Priestern geleitet, gefolgt von allen vor dem Tor wartenden Vornehmen und Reichen, in den Tempel. Das Volk drängte bis an den ersten Hof nach. Von dort konnte man durch ein zweites, weiter hinten liegendes Tor, welches durch eine geflügelte Sonne beschützt wurde, in den zweiten Hof schauen, in dem die Feiern und das Opfer vollzogen werden sollten.

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Auch Sen-boni hatte sich mit vorgedrängt und sehr bald so weit vorgearbeitet, dass er in der ersten Reihe stand und die ›Heiligen Handlungen‹, wenn auch aus einer gewissen Entfernung, sehen konnte. Im zweiten Hof begannen soeben die Sistren und Trommeln zu rasseln und zu rumpeln. Die Tänzer und Tänzerinnen schwangen, tanzten mit rhythmischen Schritten über den Hof. Dann trat die ›Dienerin des Gottes‹ zwischen die Tanzenden. Im feierlichen Tanz wurde sie von den Tänzern und Tänzerinnen zum Allerheiligsten, in die Kammer des Gottes geleitet. Die Priester stimmten sogleich eine Melodie an, die von der wartenden Menge begeistert aufgenommen wurde. Sie hatte aber nur wenige Worte. So konnte auch er mitsingen und ebenfalls die Macht der Worte beim Singen spüren. »Wo-ho, wo-ho, wo-ho«, und immer lauter »wo-ho, wo-ho, wo-ho, wo-ho«, bis die ›Dienerin des Gottes‹ im Dunkel der Toröffnung, in der Lotussäulengalerie verschwand und hinter ihr die schwere Tür zu fiel. »Wo-ho, wo-ho, wo-ho, wo-ho, nutjerimû, wo-ho, wo-ho, wo-ho, wo-ho, nutjerimû, wo-wo!«, dröhnte es jetzt über den Hofplatz und von draußen vor dem Tempel. Dann schwächte sich der Gesang ab, wurde mal lauter, mal wurde er leiser. Alle Blicke hingen an der Tür des Allerheiligsten, bis diese nach angemessener Zeit, in der Gott Chnum die Freude an seiner Dienerin genoss, sich wieder auftat und die gottgefällige Frau unter dem Wummern der Trommeln in den Hof hinaus schritt, um dort die feierliche Runde entlang der Säulen zu tanzen, unter denen in bunter Folge die hohen Gäste des Tempels und des Festes standen. Aus dem Eingang zum Allerheiligsten drang ein köstlicher Duft von Weihrauch und anderen kostbaren Räucherharzen sowie köstlicher Salbengeruch selbst bis zum Volk hinaus, der nun die ›Dienerin des Gottes‹ umwehte. Sie tanzte an den rot, gelb und blau geringelt bemalten und zusätzlich mit Schriftzeichen bedeckten Lotussäulen entlang. Ihre schlanke, biegsame Gestalt wirkte wunderschön; sie musste dem Gott gut gefallen haben, denn sonst, so hörte er die Leute sagen, hätte dieser sie nicht mit solch göttlichem Duft umschmeichelt. Der Geruch ließ die Menschen schaudern und am Akt zur Zeugung des neuen Jahres teilhaftig werden. Dröhnend klirrte der Schlag eines Metallbeckens im Innern der Tempelräume. Die Wartenden erzitterten. Alle Laute erstarben. Es war Stille! Der wéb er Chnum, der Oberste Reine Priester des Gottes Chnum erschien, feierlich schreitend in die Mitte des Hofes. Man führte ihm den makellosen Widder zu, dessen Hörner mit geweihter Siegelerde gesiegelt waren. Er sprach zu ihm: »Bist du Chnum oder bist du sein Geschöpf, dass ihn beglücken, dessen Fell ihn kleiden, dessen Hunger du stillen sollst?«

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Dieser antwortete – Sen-boni traute seinen Ohren nicht, denn er hatte noch nie einen Widder sprechen hören43: »Ich bin nicht Chnum! Ich bin dein Geschöpf, ein Opfer für deine Glückseligkeit. Mein Leib soll deinen Hunger stillen; mein Vlies soll deinen Leib wärmen und bekleiden. So nimm mich als Opfer für dich, meinen Gott, damit du deine Kraft für ein neues Jahr spenden kannst.« »So sei es!«, rief der Priester und goss dem jetzt nur noch »bö-ö-ö« sagenden Widder Wein über Kopf und Leib, der ihm von einem Laienpriester gereicht wurde. »O Chnum«, rief er dabei, »gib uns deinen Segen zu diesem Opfer, was wir dir anzubieten wagen, denn es ist rein! Dein Name ist heilig! Er ist der einzig wahre Name, den du trägst. Wir rufen dich an! Wir bitten dich um Fruchtbarkeit im Lande kemet! Lass die Wasser der achet fließen, drei Ellen und höher, wie der Stein des Wassers es zeigt44. Leih uns deine Gaben, lenke unser Geschick, denn wir sind deine Diener und du bist unser Herr! Schenke uns von deiner Hand Gestalt und Ka45! Sei uns ein guter Gott, denn siehe, wir bringen dir die köstlichsten Opfer, makellos und rein! O Gott, der du der Lenker der Fluten, der Schöpfer aller Kraft des Flusses bist, dein Wort ist Segen und Wohltat, dein Ärger ist Fluch, den zu erleiden du uns ersparen mögest, darum bitten wir dich!« Der wéb er Chnum brach das Siegel am gekrümmten Horn. Wieder schwang der Ton des Metallbeckens durch den Hof, durch Hallen und Gänge des Tempels. Es herrschte wieder ahnungsvolle Stille, obwohl so viele Menschen im Tempel waren, dass kaum Platz zum Stehen war. Der hati-ó trat feierlich zu dem Opfertier und rief: »hotep-dej-Nesut46!« Zwei Priester hielten jetzt den Bock; nun glitt die Klinge des Steinmessers 47 des heri-heb, des ›Obervorlesepriesters‹ und heri-udehu, der ›Opfertischpriester‹ des Tempels, durch den Hals des Opfers. Dieses zuckte und ruckte, indem sein Blut segnend den Tempelhof bespritzte und brach röchelnd zusammen. Der Widder wurde auf den Rücken geworfen, die Bauchdecke aufgeschlitzt. Der ›Obervorlesepriester‹ nahm die Bauchhöhle aus und legte die Innereien auf die Steine des Hofpflasters.

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Wie durch griechische, römische Augenzeugen der Zeit belegt, wurden seitens der Priester trickreich, vermutlich durch Bauchreden o.Ä. die Gläubigen manipuliert. Nilmesser (ist heute noch vorhanden). Das eigene Sein, Lebenskraft, Persönlichkeit, seelenverwandter Begriff. Wörtl.: Der König gibt ein Opfer; jedes Opfer wurde im Namen des Königs gebracht, hier durch den Fürsten. Als Kultgeräte wurden bis zum N.R. Steinmesser benutzt.

Zwei andere Priester zerlegten und sortierten sofort die dampfenden Eingeweide. Der Weissagepriester, der, der die Zukunft deutet, trat vor, nahm die Leber des Tieres und breitete sie auf dem Pflaster wie eine Matte aus. Sinnend sah er in das Aderwerk des Organs; dumpfe, unverständliche Worte murmelnd fuhr sein Zeigefinger auf der schimmernden Oberfläche der Leber umher. Erwartungsvoll folgten seinem Tun die Blicke der unter den Säulen stehenden Zuschauer. Sein Blick wurde starr und rückte in die Ferne, dann kam es stockend, bald jedoch flüssig, wie der Strahl des ewig jungen Wassers: »Es läuft das Wasser durch Felsen an Schwellen! Der Himmel mit göttlichen Gnaden behängt, lässt sprießen den Spelt, gedeihen das Vieh, gibt göttlichen Segen dem Großen (Fürsten). Nichts kann ihm drohen, sie (Götter) sind bei ihm, geben fruchtbaren Leib (Erde), aus der Kraft des Widders (Gottes) bezeugt. Dies sagt euch der Verklärte (Widder hier als Gott)! Seid frohen Mutes!« Mit langen schartigen Steinmessern trennten indessen zwei andere Priester das Fell vom Tierleib, ein weiterer entfernte vom abgehäuteten Opfer Steißbein, Schulterblatt und Halswirbel. Inzwischen waren die Innereien verlesen, und wurden – außer Leber, Herz und Milz – wieder in den Leib zurückgelegt. Da die Priester aber nicht sicher waren, ob sie das Ka des Widders beleidigt, weil sie Teile aus ihm entfernt hatten, murmelten sie schnell einen Schutzspruch: »Geh ins Dunkel, Geopferter. Schleich dich nicht ins Licht zurück, denn deine Aufgabe, dein Amt ist zu dienen. Geh mit zurückgewandtem Gesicht. Vergiss, wozu du gekommen, wie du gekommen, vergiss!« Mit leisem Summen brachten sechs Laienpriester Näpfe mit Honig, Brot, Rosinen, Feigen, Weihrauch und Myrrhen und gossen dies in die Bauchhöhle, bis sie prall und randvoll gefüllt war. Ein Tempelpriester trat mit brennender Fackel hinzu und brannte das Opfer an, andere gossen weiter Öl über den brennenden Leib, damit das Irdi-

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sche an der Speise verbrennen und für Gott nur reine Nahrung bleibe. Ein eigenartiger Geruch zog durch die Hallen und Höfe, und erweckte in Sen-boni Übelkeit. Derweilen das Feuer brannte, ging der ›Obervorlesepriester‹ mit dem Fell ins Allerheiligste, wo er mit diesem den Gott bekleidete. Da brachen die Menschen in wildem Entzücken los! Sie schlugen sich auf die Brust und lautes Klagen tiefster Trauer erfüllte den Tempel und Vorplatz. Alle jammerten, schrien und klagten und wollten vor Herzeleid um den herrlichen Bock schier vergehen. »Der heilige, der göttliche, der wohlriechende, der erhabene, der sorgende Widder!«, riefen alle durcheinander. Die Klage war groß! Die Frauen stießen hohe, spitze Klagetriller zum Himmel, die sich schaurig im Säulendickicht des Tempels brachen. Auch Sen-boni schrie mit, warf sich, wie die umstehenden Menschen, den Staub des Tempelvorplatzes auf den Kopf und rang die Hände, hatte der heilige Bruder, der glückliche, erhabene, heilige Widder sich doch für alle geopfert. Sein Edelmut musste begrüßt, sein Opfertod beklagt werden. Sen-boni, ein Bauern- und Hirtensohn, tat der Widder leid, aber als Hirte hatte man das Vieh aufgezogen, um es zu schlachten. Doch das waren keine göttlichen Tiere gewesen, obwohl er sie immer als seine tierischen Brüder und Schwestern betrachtet hatte, mussten sie doch ihren Zweck erfüllen und als Nahrung dienen. Hier nun, bei dem Widder war das ganz anders: Er war heilig! Ihn hatte der göttliche Strahl, die Gnade Chnums, getroffen. Er war kein Tier; er war göttlicher Besitz und Mittler zwischen den Lebenden, den Menschen und Tieren des Landes kemet und den Göttern. Ihm fiel sein Lagergenosse Harchuf ein. Er war gottlos! Ihm machte es nicht viel, was mit Menschen und Tieren oder gar heiligen Wesen geschah. Für ihn war alles nur zum Leben da. Was sich nicht dafür eignete oder was er nicht verstand, war für ihn unnütz. Inzwischen war das Feuer am Opfer verloschen. Der Priester, ›der die Zukunft deutet‹, der ein mächtiger Zauberer und Arzt war, trat vor und verkündete dem hatió, den Sen-boni nun nicht mehr sehen konnte, weil er an der Längsseite des Nebenhofes stand: »So höre denn, o Fürst, die Weisheit, die dir für das kommende Jahr durch mich aus dem Munde Gottes entgegenschallt. Du hörtest den Götterspruch durch meinen Mund, nun verstehe die Zeichen. Große Ernte, volle Speicher werden dich dieses Jahr beglücken. Keiner wird hungern. Dein Haus wird um eine Tochter reicher, die nicht deinem Sohn gehören, diesen aber später durch ihre Ehe reich machen wird. Großer Friede wird über deiner Familie liegen. Nur weise Entschlüsse

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werden dir entfliehen, sodass dein Land herrlich regiert und der ›Gute Gott‹, der ›Goldhoru‹, ›die Biene, die die Binse sucht und bindet‹48‹, dich, seinen treuen Diener nennt und mit Ehrungen und Wohlwollen überschüttet, wie du es schon lange nicht mehr gehabt, aber verdient hast. Mein Rat ist daher Wohltat gegen jedermann, Gerechtigkeit im Lande, Mäßigkeit gegen dich selbst.« »Ich habe den Spruch vernommen«, hörte Sen-boni hinter der Mauerecke die laute, wohlklingende Stimme eines Mannes, die wohl dem hati-ó gehörte. »Ich beginne den Lauf und bestätige den Göttern, ihnen zu Willen zu sein als guter Verwalter meines Amtes.« Unter atemloser Stille lief nun der hati-ó um den Hofe und rief: »Mâ-at49, sia50, hu51! Gott will es, ich will es im Namen des Herrn!« Der Lauf war beendet. Die Tempeltänzerinnen traten vor und bildeten einen Reigen um das Opfer und begannen mit kräftigen stampfenden Schritten, dabei mit den Sistren in den erhobenen Händen rasselnd und klappernd, einen Tanz, in dessen rhythmischen Gesang alle – Edle, Priester und Volk – einfielen. Dann gongte wieder das Erzbecken im Innern des Tempels. Die Priester trugen im feierlichen Geleit das Opfer in die hinteren Räume des Tempels. An der inneren Feier hatten die einfachen Leute vor dem Tempel und im ersten Hof keinen Anteil. Das Volk konnte nun, nachdem der hintere Tempel geschlossen war und alle Großen mit nach dort gegangen waren, selber zu ihrem Opferfest übergehen. Am Haupttor hatten sich zwischen den Dienern des hati-ó ein ›Vorlesepriester‹ und fünf Laienpriester des Tempels eingefunden. Sie nahmen nun der Reihe nach die Opfertiere, alles Ziegenböcke52, in Empfang und untersuchten sie, ob sie den Vorschriften entsprechend makellos waren. Jeder Bock wurde von den Priestern auf die Erde geworfen und von allen Seiten genau besehen. Hatten sie ein makellos reines Fell? Hatten sie keine Zeichen des Bösen?53 Einer zog den Tieren die Zunge heraus und besah sie von allen Seiten, ob sie nicht Zeichen der Götter oder böser Geister trugen. Jeder Fellzipfel wurde genau untersucht. Das geschah, obwohl die Opfertiere 48 49 50 51 52

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Beinamen des Königs. Gerechtigkeit, gleichzeitig Göttin der Gerechtigkeit. Erkenntnis. Machtvollkommenheit. Chnum war der Widder heilig, wollte man ihm opfern, mussten ihm wohlgefällige Opfer, d.h. Ziegenböcke, geopfert werden. Seth galt in dieser Zeit als der Böse/Teufel.

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bereits mehrfach begutachtet waren. Plötzlich entstand Geschrei! Ein kleiner krummer Mann hatte ein kleines Böckchen bei sich gehabt, das am Bauch an falscher Stelle ein paar schwarze Haare aufwies. »Willst du nutjeri-Chnumu mit so einer widerlichen Gabe beleidigen?«, herrschte der ›Vorlesepriester‹ den Krummen an. Dieser war erschrocken und konnte vor Angst kaum noch auf den Beinen stehen. Er wollte zurückweichen, wurde aber von den Dienern des hati-ó festgehalten. »Erbarmen! Erbarmen!«, winselte er, »ich habe die Haare nicht gesehen. Meine Augen sind schlecht. Dies Opfer ist vom Reti, dem Steinmetz. Er gab es mir als makellos für drei Maß Lotuskerne.« »Rede keinen Unsinn! Du wolltest Gott betrügen, du stinkendes Aas!«, drohte der Priester und das Volk hinter ihm schrie: »Er muss gestraft werden! Niemand kann Gott betrügen! Straft ihn! Straft ihn!« »Dich wird die Strafe sofort treffen!«, geiferte der Priester, der der Menge zu Willen sein und das Schauspiel einer Bestrafung nicht vorenthalten wollte, dem Männchen zu, das hilflos in den Fäusten der Diener hing, wie ein fauler Strohwisch. »Straft ihn! Straft ihn! Straft ihn!«, schallte es unentwegt. »Er wollte Gott betrügen!«, tobte die Menge. »Hängt ihn bis zum Abend an die Mauer! Wenn er dann noch lebt, hat ihm Gott vergeben«, entschied der ›Vorlesepriester, der das Siegel des Gottes verwahrte‹. Die bewaffneten Diener schleppten den kleinen Mann zum Hafentor davon. Viele Leute folgten, um das Schauspiel zu sehen, zu genießen. Diejenigen aber, die noch ein Opfertier vorzustellen gedachten, untersuchten noch einmal gründlich ihre Tiere, ehe sie es dem Priester vorstellten, denn es sollte ihnen nicht so wie dem Kleinen ergehen. Indessen hatte man im Hof neun Feuer angezündet, an denen nun die Ziegenböcke unter fürchterlichem Gemecker und Sträuben geopfert wurden. Diesen zog man nicht die Haut ab, sondern man schnitt ihnen die Köpfe ab, um auf diese alle Sünden der Familie zu schütten: »Fluch über dich! Schande über dich! Du gräuliches Untier! Nehme alle Sünden meiner Familie, die der Maket, die der Anet und der Sit auf dich. Ihre unreinen Tage sollen die deinen sein. Das reinigende Opfer sei dein Fluch, Scheußlicher! Hat einer wider die Götter gesündigt, so trage unsere Schuld, damit unsere Herzen rein und leicht sind, keine Last unser Leben hinfort begleitet.« So und in ähnlichen Reden wurden alle Schuld, alle Sünden, alles Ungemach der Familie auf die Häupter der Opfertiere herabgerufen. Dann rannten sie, den Kopf der Tiere mit ausgestreckten Armen vor sich hertragend, zum Seitenausgang des

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Vorhofes, von dem ein Pfad außerhalb der Stadtmauer hinunter zum Wasser, zum Fluss führte. Sen-boni folgt den Leuten neugierig, sich ebenfalls durch diese Tür schmuggelnd, und sah, wie sie die Köpfe unter wilden Flüchen ins Wasser schleuderten. Dann gingen sie gemessenen Schrittes zu einer seichten Uferstelle und tauchten zum reinigenden Bade ganz im Wasser unter, um sich von dem fluchbeladenen, sündentragenden Tierkopf zu reinigen. Sie kamen den gleichen Weg wieder herauf und es war ein ständiges Kommen und Gehen. Lustig sah es aus, wenn einer den Hang hinunter lief, den blutenden, tropfenden Ziegenkopf weit vor sich hinhaltend und beschimpfend und die anderen auf dem schmalen Weg zur gleichen Zeit hinauf wollten. Wollten die Rückkehrer sich nicht nochmals beschmutzen, mussten sie vor dem mit dem Kopf wieder den Hang hinunter rennen, was nicht unter grimmigen Flüchen abging. Einige rannten so drei, vier Mal den Hang wieder hinunter. Auch gegenüber vom Tempel der großen Herrin des Katarakts Setjat, kamen die Menschen zum Fluss herab. Auch dort wurde heute zum großen Lampenfest in ähnlicher Weise geopfert, obwohl dort viel weniger Leute hingingen, denn der Herr des ›Tors des Südens‹ ist Chnum und in seinem Haus muss darum das große Fest gefeiert werden. Vor dem Seiteneingang, durch den Sen-boni den Tempelhof verlassen hatte, hockten zwei Tempeldiener und schlugen sich mit den gebratenen Resten der Opfertiere den Bauch voll. Dazu gab es Bier, das sie in großen Krügen neben sich stehen hatten, denn das Lampenfest war auch für Tempeldiener, die hem-per, ein besonders schönes, vor allem aber den Bauch und Gaumen kitzelndes Fest. »Ist das nicht der kleine Dieb«, lachte einer der Wächter und hatte Sen-boni, ehe er entwischen konnte, beim Halse. »Komm, Bürschchen, heute sollst du nicht klauen. Heute sollst du, armer Hund, dich einmal richtig vollfressen. Hier, die Keule machst du leer und wage es nicht, vorher aufzustehen, sonst ist heute dein letzter Tag gewesen.« Dabei angelte er aus einem großen Korb ein Ziegenbein, drückte es Sen-boni in die Hand und schob ihn, damit er nicht davonlaufen konnte, in die Tornische und setzte sich, mit seiner breiten Gestalt Aussicht und Entkommen verwehrend, davor. Der Versuch auszureißen wäre aussichtslos gewesen und so versuchte er gar nicht erst zu protestieren, zumal er ungeheuren Hunger hatte. Außerdem konnte er von Glück sagen, dass sie ihn nicht, nachdem sie ihn erkannt, nicht sogleich umgebracht hatten. Aber am Tag des Lampenfestes wurden, so hatte Harchuf versichert, nur solche Leute bestraft, die Gott gelästert oder beleidigt hatten. Aber sicher

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hatte das mit dem freundlichen Verhalten der beiden Torwächter nichts zu tun, sie waren einfach bei gönnerhaft guter Laune, die sie mit jedem teilten. Allerdings war, wie Sen-boni bald merken sollte, nicht alles reiner Bienenhonig und selbst bei einer Wohltat hatten sie Heimtücke. Er aß und aß, nein, fraß wie ein ausgehungerter Schakal, der tagelang nichts gefressen hatte. So ein Ziegenbein kann auch für einen hungrigen Burschen recht viel sein. Aber damit nicht genug, denn plötzlich wandte sich sein Vorsitzer um und grollte: »Hier Bürschchen, du hast doch auch Durst! Hier! Sauf!«, lachte er und reichte ihm eine Schüssel voll herrlich reinem Bier, in dem kaum Satz schwamm und das würzig und blumig roch. Es war sehr gut. Er aß und trank, bis ihm bald der Bauch zu platzen drohte. Das Ziegenbein hatte aber mehr Fleisch, als er Hunger hatte und wie er glaubte, vertragen zu können. Er wollte den Rest den beiden Dienern zurückgeben, aber der, der vor ihm saß, schnaufte nur: »Friss dich voll, Dieb, aber wage es nicht, mir mein Gastmahl, das ich dir heute gebe, zu verschmähen.« Sen-boni würgte weiter, aber es wollte nicht alle werden, darum sann er auf eine List. Vorsichtig riss er mit den Zähnen das Fleisch von dem Knochen und verscharrte es zu seinen Füßen in der Mauerecke. Das ging besser, als er zunächst angenommen hatte, denn die Mauer setzte sich ohne Sockel im Boden fort. Den leeren Knochen hielt er seinen Wächtern wieder unter die Nase: »Hier, seht, da ist er blank, wie ihr ihn haben wolltet!«, röchelte er. »Hö-hö-ö-ö! Du bist ja ein marje, ein Held, aber einer der Fresslust. Du bist ja schlimmer wie ein Heuschreckenschwarm! Sieh nur«, rief er seinem Gegenüber lachend zu, »der Kerl hat für drei gefressen.« Er zeigte dem anderen Wächter seinen, mit den Zähnen säuberlich abgenagten Knochen. Auch der andere Hüter des Tempels war über seine Leistung außerordentlich erheitert und rief: »Wie lange hast du schon gehungert, Dieb?« »Acht Tage«, log er. »Das ist lange«, gestand er verblüfft ein. »So lange kann ich nicht einmal hungern. Das ist stark! Das ist gewaltig! Hö-hö-ö-ö!«, staunte und freute er sich, obwohl Sen-boni nicht begriff, warum das so erheiternd wirken konnte. »Dann hast du sicher noch Platz für dieses schöne Schwanzstück.« Er griff neben sich in den Korb und brachte einen Hammelschwanz zum Vorschein. Eigentlich hätte er sich wundern müssen, wo er hier, wo man nur Ziegen opferte, einen Hammelschwanz her hatte, aber er hatte es nicht gemerkt und viele Jahre später ist ihm, bei einer anderen Geschichte, dieser Umstand erst aufgefallen. Dennoch, er sollte es nie erfahren. Aber

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später, als ihm bei ähnlichen Gegebenheiten die Geschichte wieder einfiel, konnte er sich die Herkunft denken und das stimmte ihn über manche Sitten und Gebräuche nachdenklich, traurig. Er warf Sen-boni das fette Fleischstück zu. »Das musst du noch verschlingen, Dieb. Vorher lassen wir dich hier nicht wieder weg.« Ihm war nicht sehr wohl in seiner Haut, aber er konnte die beiden Wächter nur täuschen, wenn er sehr großartig tat. Also rief er: »Gebt mir nur noch den kleinen Schwanz her. Wer weiß, wann ich meine nächste Mahlzeit halten kann, und so ein schönes kleines Schwänzchen hat mich noch nie erschüttert.« Sein Vorsitzer schob ihm das fettglitschige Stück zwischen die Zähne. Das Fett und der Saft liefen ihm über Gesicht, Brust, Arme und Hände. Die Wächter lachten und schlugen sich vor Vergnügen auf die Schenkel, dass es laut klatschte. Er scharrte mit dem Fuß ein Loch, und ließ, nachdem sie sich wieder anderen Dingen zugewandt hatten, den Fleischbrocken darin verschwinden. Vorsichtig glättete er wieder die Stelle und wartete, bis die Beiden mit Trinken fertig waren. Trinken war eigentlich falsch! Sie soffen wie Leute, die tagelang zum Trocknen in der Wüste gelegen hatten. Dabei unterhielten sie sich über Mädchen und Frauen der Stadt. Vor allem über die Weiber der Oststadt sewenu, die dort am Fluss lebten und die man nicht zur Frau nahm. Dennoch, diese schienen ihr besonderes Wohlwollen zu genießen. Sen-boni kannte diese Frauen auch, denn Harchufs Mutter war eine von ihnen. Wenn der Hunger mal zu sehr gedrückt hatte, schmuggelten sie sich mit einem der Boote, die ständig über den Fluss verkehrten, hinüber, um die Mutter Harchufs um Essen und Trinken anzuhalten. Meist gab sie ihnen nach viel Gezeter, um was man sie angebettelt. Sie war keine gute Mutter. Als seine beiden Wohltäter in ihren Reden und Trinken eine Pause machten, rief er, indem er seinen Vorsitzer auf den breiten Rücken klopfte: »He du! Ich habe es aufgegessen und bin nun satt, wie Chnum selber!« »So, er ist satt wie ein Gott!«, lachten die beiden. Der breite Rücken drehte sich zu ihm herum und fragte: »Hast du schon einmal richtig gesoffen, Dieb?« »Nein, zu Hause hab ich nur Milch und Wasser getrunken und hier in der Stadt nur das, was der Tag mir schenkte oder vom guten Wasser des Flusses. Es schmeckte mir immer gut und ist sehr bekömmlich.« »So, meinst du? Na, das Bier hier ist auch nicht zu verachten und gar erst der gute Wein! Aber davon kannst du natürlich noch nichts wissen. Es wird höchste Zeit, dass

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dich jemand in die Geheimnisse guter Säfte einweiht. Wir werden dir heute diese Gunst zuteilwerden lassen. Du wirst jetzt, wie ein richtiger Kerl trinken lernen, bis du glaubst, du seiest Gott Chnum persönlich. Hö-hö-ö-ö!« Seine Reden lästerten Gott. Sen-boni erschauerte. Warum strafte Chnum diesen Diener nicht auf der Stelle? Die beiden Wächter amüsierten sich großartig. Überhaupt – sie benahmen sich seltsam. Er packte Sen-boni am Hals und setzte ihn zwischen seine gespreizten Beine. »So, nun wird getrunken«, verkündete er und goss aus dem großen Krug in die Schüssel, die er leer trinken musste. »Wir wollen doch einmal sehen, ob du auch mehr trinken kannst, als wir. Fressen kannst du auf jeden Fall mehr! Warum nicht auch mehr trinken?« »Ich kann nicht mehr«, jammerte Sen-boni aber bereits nach der ersten Schüssel, denn sein Bauch schien ihm bald zu platzen. »Du wirst doch nicht schon aufhören wollen, wo der Spaß doch erst beginnen soll? Nein, Dieb, das ist erst der Anfang«, versicherte er. Der grauenvolle Wohltäter schüttete mit der einen Hand die Schüssel neuerdings voll, während er ihn mit der anderen Hand fest an sich presste, damit er ihm nicht entwischte. »Wenn du nicht trinkst, machen wir dir den Mund mit Gewalt auf«, schnaufte er roh. »Ich muss Wasser lassen!«, jaulte Sen-boni schmerzlich. »Das ist nicht unsere Sache«, lachten die beiden Wächter vergnügt. »Du trinkst, so lange wie ich es für gut halte«, höhnte sein Peiniger. Es war offensichtlich, dass sie sich an seinen Qualen ergötzten. Der zweite Wächter starrte den Jungen böse an. »Er soll verrecken!« Doch der Spaß fand ein jähes Ende. Sen-bonis Leib entleerte sich im hohen Bogen und der Strahl fuhr seinem Peiniger ins Gesicht. Fluchend ließ dieser sein Opfer los. Der andere Kerl bog sich vor Lachen. Der Junge sprang auf und rannte durch die Tür in den Tempelvorhof. Die Diener kamen ihm wohlweislich nicht nach. Er konnte, als er durch die langen Gänge zum Tempeltor lief, ihr Lachen und Fluchen hören. Er war wieder frei. Voll wie eine Mastgans watschelte er aus dem Tor. Er lehnte sich an die Mauer, um auszuruhen. Aber schon bald sahen die Menschen so merkwürdig verschwommen aus. Einige hatten lustigerweise doppelte Köpfe und Bäuche. Wenn er genauer hinsah, wurden aus zwei Köpfen plötzlich drei oder waren wieder zu einem Kopf vereint. Alles tanzte auf und nieder. Alles erschien ihm plötzlich sehr lustig und er musste andauernd lachen. Die Menschen beschimpften ihn, aber es erschien ihm nicht besonders imponierend. Es belustigte ihn nur.

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Im hinteren, dem richtigen Tempel dröhnten jetzt wieder die Trommeln, rasselten die Sistren und gellten die Flöten. Dann schwang der Ton des Metallbeckens durch die Gänge, Hallen und Höfe. Die Feuer erloschen oder wurden eilig gelöscht. Ein aufreizender Brandgeruch hing in der Luft und kitzelte in der Nase. Die Besucher des Tempels drückten sich unter die Arkaden, zwischen die Schäfte der Lotussäulen. Unter gewaltigen Trommel- und Beckenschlägen wurde das Tor zum zweiten Hof geöffnet und durch die Türen drangen und quollen die Tänzer und Tänzerinnen hervor und tanzten und sangen zum Klang der nun einsetzenden Musik dem Ausgang zu. Dann trat aus dem zweiten Hof die Prozession mit Gott! Zuerst kamen die Priester des Tempels, angeführt vom ›Tempelaufseher‹ mit der Standarte Chnums. Ihm folgten, in doppelter Reihe und feierlichen Schrittes, die Priester mit den Keulen. Dann kam, von zwölf Priestern getragen, in einem goldenen djeba54 liegend, mit dem Fell des Opferwidders bekleidet, Gott Chnumu. Sen-boni sah ihn an. Er sah, so meinte er, ihn an. Sen-boni rief ihm in leisen Worten seine Verehrung und seinen Gruß zu. Er antwortete ihm, indem seine Augen sich wohlwollend auf ihn richteten. »O du ›Guter Gott‹, du ›Mächtiger Gott‹! Du ›Gott der wilden Katarakte‹, der Gott der Fluten, der hapi! Schütz mich in deiner Stadt, in deinem Haus vor allen Gefahren!« Die Leute fielen vor ihm auf die Knie und verbeugten sich mit ausgestreckten Armen, bis ihre Stirn den Staub des Hofes, das hat-Nutjer-Chnum, berührten. Sen-boni tat es ihnen nach. Dann war er vorbeigezogen. Hinter ihm schwankten jetzt die Sänften des hati-ó und seiner Familie, gefolgt von den vielen Vornehmen und Reichen, die bis zum Tempelvorplatz erst noch zu Fuß gehen mussten, bevor sie dort ihre Sänften besteigen konnten, um sich im Festzug tragen zu lassen. Das Volk quoll hinter den Sänften der Vornehmen; wie ein brodelnder Kessel quirlte, schob es sich durcheinander, bis sich alle zum Umgang hinter dem Gott formiert hatten. Der Tempel leerte sich. Vor dem Tempel fing man das Loblied auf Gott zu singen an: »O Chnum, bring uns Glück! Dein Name ist wahr an Liebe, wahr an Segen, wahr an Freude. Er ist rein wie Feuer! O ›Großer Gott‹, dessen Namen wir nicht nennen, 54

Griech. Naos = Schrein, ägypt. auch kar.

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Impressum Ernstfried Protzmann WENI/Band 1 Gott im goldenen Krokodil Roman 1. Auflage • September 2015 ISBN Buch: 978-3-95683-255-0 ISBN E-Book PDF: 978-3-95683-256-7 ISBN E-Book epub: 978-3-95683-257-4 Korrektorat: Ulrike Rücker [email protected] Umschlaggestaltung: Ralf Böhm [email protected] • www.boehm-design.de © 2015 KLECKS-VERLAG Würzburger Straße 23 • D-63639 Flörsbachtal [email protected] • www.klecks-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung – auch auszugsweise – ist nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet. Alle Rechte, auch die der Übersetzung des Werkes, liegen beim KLECKS-VERLAG. Zuwiderhandlung ist strafbar und verpflichtet zu Schadenersatz. Alle im Buch enthaltenen Angaben wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt und erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Der Verlag übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unstimmigkeiten. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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