Solothurn – Porträt einer Stadt

Wieder gingen reihenweise Falafel, Hallumi, Schisch-Kebab,. Betanjan oder Sabanech über die grün angestrichene Theke. Hun- derte Pittabrote hat Sami ...
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Christoph Neuenschwander Beatrice Kaufmann Christof Ramser

Solothurn Porträt einer Stadt

Christoph Neuenschwander Beatrice Kaufmann Christof Ramser

Solothurn Porträt einer Stadt

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© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0 [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2016 Lektorat: Isabell Michelberger Bildredaktion: Ricarda Dück Satz: Mirjam Hecht Bildbearbeitung / Umschlaggestaltung: Benjamin Arnold Kartendesign: Mirjam Hecht; © The World of Maps (123vectormaps.com) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany ISBN 978-3-8392-5231-4

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Solothurn ist meine Seele /// Sami Daher verwöhnt im Lokal Pittaria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Die andere Welt mitten in der Stadt /// Taucherin Pema Bannwart entrümpelt die Aare . . . . . . . . . . . . . . 17 Auch Kaffeetrinken gehört zum Job /// Peter Fedeli inoffiziell auf Streife im Restaurant Bistraito . . . . 21 Die Ambassadoren liessen Münzen regnen /// Der Ritter von Beauteville residierte im Ambassadorenhof .. . . 25 Die Sagensammlerin, die schreiben musste /// Elisabeth Pfluger reminisziert in der Confiserie Suteria . . . . . . 29 Die ersten Heiligen /// Urs und Viktor sind in der Dreibeinskreuz-Kapelle verewigt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Solothurn noch lebenswerter machen /// Architekten vom Verein Masterplan in der Hauptbahnhofstrasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Wie der Bildungsminister ins Museum kam /// Samad Qayumi restaurierte Harnische im Alten Zeughaus .. . . 41 »Meine Lust am Theater ist unbändig« /// Dieter Kaegi ist Direktor des Stadttheaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Eine Art Schatzsuche /// Chris von Rohr entspannt sich in der Verenaschlucht . . . . . . . . . 49 Der Stadtpräsident in der Patrizier-Beiz /// Kurt Fluri verbringt unzählige Stunden im Von-Roll-Zimmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Wo die Herkunft keine Rolle spielt /// Emebet Gebeyehu singt im Proberaum des Chors der Nationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Der Chef, der keiner ist /// Michael Wilhelm leitet die Genossenschaft Kreuz mit . . . . . . . . 59 Wo die Stadt noch ein wenig schöner ist /// Gadi Saiti und Jürg Maeder wachen über den St.-Ursen-Turm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

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Der Märetfescht-Präsi aus der Ostschweiz /// Chris van den Broeke mag die Brunnenbar auf dem Klosterplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Sie muss Leute und Material spüren /// Eva Gauch leitet das Kulturzentrum Altes Spital . . . . . . . . . . . . . . 75 »Man muss Bier und Menschen gern haben« /// Alex Künzle gründete die Öufi-Brauerei .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Das darf nur der Oberchessler! /// Reto Stampfli chesslet als Erster auf dem Friedhofplatz . . . . . . . 87 Der Lieblingsplatz der Hochzeitspaare /// Martin Geissbühler und die Blumenpracht der Chantier-Anlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Das wilde Mädchen vom Friedhofplatz /// Marguerite Mistelis Grossmutter führte die Weinstube . . . . . . . 95 Aalglatt sein? Ist nicht sein Ding. /// Wolfgang Wagmann spielte auf der Riedholzschanze . . . . . . . . . 99 Er kennt jeden Winkel der Stadt /// Kurt Käser putzt am liebsten den Verenaweg .. . . . . . . . . . . . . . . 103 »Hallo, hier ist der Araber« /// Thair Alsaadi fand sein Zuhause im Landsitz Glutzenhübeli .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Singknaben-Freundschaft hält ewig /// Andreas, Silas und Nourdin musizieren im Pfarreiheim . . . . 109 Die Solothurner Literaturtage /// Veronika Jaeggi leitete das Festival an der Buchrainstrasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 »Essen sollen sie die anderen« /// Michael Leuenberger bäckt an der Herbstmesse Berliner . . . . 121 Sie erhalten die »schönste Barockstadt« /// Mit Pius Flury und Martin Stebler auf der Jesuitenkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Am besten Flecken der Stadt /// Marzio Strazzini mittendrin auf dem Marktplatz .. . . . . . . . . . 127

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Zu Hause im »viereckigen Wasser« /// Carla Stampfli liebt den Chlorduft im Freibad an der Aare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wo Mami, Papi und Kids im Ausgang sind /// Pipo Kofmehl über den Erfolg der Kulturfabrik .. . . . . . . . . . . . Wo sich die Stadt nach oben öffnet /// Cellistin Barbara Gasser flaniert im Kunstmuseumspark . . . . »Man muss mit Stil durchs Leben gehen« /// Andy Zaugg kocht im Restaurant zum Alten Stephan . . . . . . Felix-Bier kommt beim Namensgeber gut an /// Mit Bischof Felix Gmür im Schloss Steinbrugg . . . . . . . . . . . . . . Der Industrie auf der Spur /// Silvano Cerutti erforscht die Geschichte der Firma Roamer .. . Im Rausch der grünen Fee /// Roger Liggenstorfer führt die einzige Absinthe-Bar im Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mythen um einen berühmten Solothurner /// Niklaus von Wengis »Heldentat« auf der Wengibrücke . . . . Der wohl grösste Solothurner Märetfahrer /// Niklaus Bolliger verkauft seit 30 Jahren in der Hauptgasse . . . Übersetzungsmarathons und Rauchpetarden /// Ueli Blaser erzählt im Landhaus vom Leben an den Filmtagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Balanceakt zwischen Seelsorge und Stille /// Schwester Benedikta war Eremitin der Einsiedelei St. Verena .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das letzte Original /// Fritz Beetschen musiziert auf dem Kreuzackerplatz . . . . . . . .

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Karte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Bildverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Quellenverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

»Es lit es Stedtli wunderhübsch am blauen Aarestrand, ’s isch immer so gsi, ’s isch immer so gsi.« Solothurner Lied, Carl Robert Enzmann

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So lo thurn ist mein e Seele Sami Daher verwöhnt im Lokal Pittaria

Kamele. Wo man hinblickt in der Pittaria, sie sind schon da. »Jedes Jahr kommt eines hinzu«, sagt Sami Daher. Mindestens. Seit 1997 betreibt er das orientalische Imbiss- und Teehaus. Für ihn sind die Höckertiere Ausdruck der Weisheit und des Wissens. Und ein Mittel gegen den Schmerz. Es werden noch viele hinzukommen müssen, um die seelische Pein zu überwinden, die den lebensfrohen Palästinenser nie ganz verlässt. Es ist Sonntagmorgen. Im Lokal an der Theatergasse ist nach einer geschäftigen Woche Ruhe eingekehrt. Nur vereinzelt schlendern vor dem grossen Schaufenster Passanten vorbei. Jeder Zweite wendet den Kopf und nickt. Der Mann mit dem glänzenden Kahlkopf, der auf der niedrigen Bank hinter der Scheibe sitzt, ruft ein herzliches »Ciao« hinterher. Fast alle nennt er beim Namen. Die Pittaria ist ein Magnet, selbst wenn sie geschlossen ist. Wieder gingen reihenweise Falafel, Hallumi, Schisch-Kebab, Betanjan oder Sabanech über die grün angestrichene Theke. Hunderte Pittabrote hat Sami Daher in der vergangenen Woche gebacken und die Feinschmecker mit 120  Kilo Chutney versorgt. Gastronomie-Fachleute überbieten sich mit Lob. Für manche gilt die Pittaria als bester Imbiss der Schweiz. Diverse Auszeichnungen dokumentieren den Erfolg. Für Sami Daher ist es eine Bestätigung seiner Arbeit. Als er eine Filiale in Bern eröffnete, priesen ihn die Hauptstädter wie einen Messias. Falafel als religiöser Fetisch. Manchmal geht die Vereinnahmung dem sensiblen Pittabäcker zu weit. Sie brachte ihn einst an den Rand der Überlastung. Er wollte sich zurückziehen, ging mit Scheuklappen durch die Gassen, haderte damit, ständig erkannt zu werden. Geboren wurde Sami Daher 1958  in Nazareth. Von acht Geschwistern war er der Zweitjüngste. »Wir lebten in ganz normaler Armut«, beginnt er seine Geschichte zu erzählen. Der Vater, ein einfacher Verdiener, betrieb am Basar in der Altstadt einen Krämerladen. In den Regalen standen Olivenöl, Reis, Zucker, Getränke, Spielzeug, 11

Haarspangen, Lippenstift. »Alles, was man für den Alltag braucht.« Einmal pro Woche kam Fleisch auf den Tisch. Für den kleinen Sami fiel neben zwölf hungrigen Mäulern bloss ein Stücklein ab. Die Familiengeschichte war geprägt von Daher el-Omar. Erzählt Sami Daher von ihm, beginnen seine Augen zu leuchten, als stünde der charismatische Vorfahre leibhaftig in der Pittaria. Über 40 Jahre herrschte er über einen grossen Teil Palästinas, unabhängig vom Osmanischen Reich. Er brachte wirtschaftlichen Aufschwung und Frieden. Händler aus aller Welt trieben ihre Geschäfte in der Region, Überfälle von Beduinen auf den Handelswegen blieben aus. Sami Daher identifiziert sich mit der glorreichen Familiengeschichte, Die Kamele sind ein Symbol für und sie macht ihn angesichts der heutigen Weisheit und Wissen Situation der Palästinenser traurig. »Ich bin zur Welt gekommen in eine zerstörte Kultur, durfte nicht in einer florierenden Gesellschaft aufwachsen. Weil uns dies durch Belagerung genommen wurde.« Die Risse des Nahost-Konflikts ziehen sich durch Sami Dahers Seele. Als Teenager übernahm er den Krämerladen vom kranken Vater. Er ergänzte das Sortiment, bildete sich weiter, schrieb Gedichte. Sein Leben in Palästina war vorgespurt. Bis Sonja auftauchte. Die Schweizerin arbeitete in Nazareth als Krankenschwester in einem christlichen Missionarsspital. Der Krämer vom orientalischen Basar verliebte sich. Es war die erste Liebe, und der junge Mann mochte sein Begehren nicht verstecken, lebte die Zuneigung gegen den Willen der Eltern öffentlich aus. »Das war in einer konservativen Gesellschaft mit klar verteilten Rollenbildern nicht einfach. Gegen diese Strukturen rebellierte 12

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Sami Daher verwöhnt im Lokal Pittaria

ich.« Sonja blieb ein Jahr, das Paar wuchs zusammen. Dann kehrte sie zurück, und er fiel in ein Loch. »Ich war wie ausgelöscht, habe zwei Monate nicht geschlafen.« 1980, als 22-Jähriger, brach er Hals über Kopf in die Schweiz auf. »Ich wollte nur eines: sie wiedersehen.« Der Stadt seiner Kindheit, seiner Jugend und seines grossen Clans kehrte er den Rücken. »Das war schwierig. Das Ankommen in der Schweiz war ein Sprung ins trübe Wasser. Ich hatte keine Sicht.« Aber er hatte Sonja wieder. Die beiden heirateten, bekamen drei Kinder: Janine, Karim und Selim. Er bildete sich in der psychiatrischen Klinik Rosegg in einer dreijährigen Lehre zum Psychiatriepfleger aus. Nicht bei allen Arbeitskollegen war der Einwanderer willkommen. Die ständigen Teamwechsel setzten ihm zu. Sein erster Pflegefall, eine alte Dame, fragte ihn nach seinem Pass. »Israelisch«, antwortete er. Da geriet die Frau ins Schwärmen über die fleissigen und intelligenten Israeli. Ganz anders die Palästinenser, behauptete sie, dies seien schmutzige, dumme und faule Leute. Der junge Pfleger brachte nicht über die Lippen, dass er Palästinenser mit israelischem Pass ist. Nach zwei Monaten rückte er mit der Wahrheit heraus. Und auf einmal beschimpfte die Frau die Juden als schlechte Menschen. »Geizig und blutsaugend.« Jetzt protestierte der Pfleger scharf gegen die Vorverurteilungen. Die Anekdote wühlt ihn noch heute auf. Er seufzt. »Es ist dieser mangelnde Respekt, diese Fragen zu Herkunft und Existenz, diese Einteilung in Schwarz und Weiss, die mich schmerzen lässt.« Aus Solidarität mit seiner Heimat engagierte er sich für die Gesellschaft Schweiz–Palästina. An vielen Anlässen bereitete er Falafel zu. Oft rief er seine Mutter in Nazareth an, fragte nach Rezepten. Bei Besuchen in der alten Heimat stand er in der Küche, beobachtete und lernte. Bald regnete es Komplimente für seine Gerichte. Sami Daher experimentierte, fügte aus den Küchen der Welt Noten hinzu und fand seinen eigenen Stil. Das indisch inspirierte Chutney entstand, heute eine unverzichtbare Zutat seiner Gerichte. Die würzige Sauce besteht aus Äpfeln, Ingwer, Knoblauch, Kürbis und getrockneten Aprikosen. 13

Der Duft der hausgemachten Pita-Brote erfüllt das Lokal

Manchmal spielt der Gastronom mit den Zutaten, »um die Leute zu überraschen«. Dazu kommt Tahini, eine proteinreiche Sesampaste, aufgelöst mit Zitronensaft und Wasser, gewürzt mit Knoblauch, Paprika, Koreander, Kreuzkümmel und Salz. »Einfach, aber einmalig und gesund.« Schliesslich ein kräftig gewürztes Relish aus Zwiebeln, Peperoni, Tomatenmark und Olivenöl. Es ist das Zusammenspiel dieser drei Saucen, das den Pittaria-Jüngern das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Das Lammfleisch für die Schisch-Kebab wird jede Woche frisch aus Irland geliefert, Poulet- und Rindfleisch bezieht die Pittaria aus der Schweiz. Für das Tierwohl nimmt Sami Daher eine tiefere Marge in Kauf. Mit dem Gastronomiebetrieb erwirtschaftet er nicht einfach den Lebensunterhalt für sich und seine Angestellten. In seinem Essen stecken Liebe, Leidenschaft und Selbstverwirklichung. Das sprach sich herum. Bald nach der Eröffnung wurde aus dem Insidertipp eine Institution. Zeitungsredaktoren wollten dem Geheimnis der Falafeln aus Solothurn auf die Spur kommen, das Lokal gewann den Swiss Gastro Award. Doch der Zauber der Pittaria wohnt nicht bloss zwischen den Fladenbroten. Er liegt in Sami Dahers Person, seinem Gesang, seiner 14