Tiefe Hirnstimulation als Ultima Ratio?

33. Kapitel 2 Was versteht man unter einer therapieresistenten Depression? ................ 35. 2.1. Depressive Episode: Epidemiologie und Definition nach ICD-10 .
1MB Größe 6 Downloads 306 Ansichten


Nachdem sich die tiefe Hirnstimulation in der Behandlung der Parkinsonkrankheit als sicher und effektiv erwiesen hat, wird aktuell verstärkt ver­ sucht, sie auch zur Behandlung von psychiatri­ schen Krankheitsbildern einzusetzen, welche auf herkömmliche Therapieformen nicht ansprechen. Während für Patienten und deren Angehörige der mit diesen Erkrankungen verbundene extreme Leidensdruck das Ergreifen aller verfügbaren Therapieoptionen nahelegt, bestehen in ethischer Hinsicht erhebliche Zweifel daran, ob es zulässig ist, durch Elektrostimulation gezielt das Fühlen, Denken und Handeln der Betroffenen zu verändern. Innerhalb dieses Buches wird am Beispiel der schweren therapieresistenten Depression der Frage nachgegangen, ob und unter welchen Bedingungen es gerechtfertigt ist, psychisch kranke Patienten mit tiefer Hirnstimulation zu behandeln. Während der erste Teil der Vermittlung von Grundlagen­wissen zur tiefen Hirnstimulation und ihrer psychiatri­ schen Anwendung dient, werden im zweiten Teil an die medizinische Praxis anschließbare Konzepte zu philosophischen Themen wie personaler Identität und Autonomie erarbeitet, um sich vor diesem Hintergrund kritisch mit aktuellen Forschungser­ gebnissen zur tiefen Hirnstimulation auseinander­ zusetzen.

Beeker_RZ.indd 1

Beeker · Tiefe Hirnstimulation als Ultima Ratio?

Timo Beeker

Tiefe Hirnstimulation als Ultima Ratio? Eine medizinethische Untersuchung am Beispiel der therapieresistenten Depression

04.09.14 13:39

Beeker · Tiefe Hirnstimulation als Ultima Ratio?

Timo Beeker

Tiefe Hirnstimulation als Ultima Ratio? Eine medizinethische Untersuchung am Beispiel der therapieresistenten Depression

mentis MÜNSTER

Einbandabbildung: Wenzel Nitsche

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier

© 2014 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anne Nitsche, Dülmen (www.junit-netzwerk.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-654-7 (Print) ISBN 978-3-89785-655-7 (E-Book)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

TEIL 1 Kapitel 1 Was ist tiefe Hirnstimulation? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Tiefe Hirnstimulation und Stereotaktische Neurochirurgie: Begriffsklärung und historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Wie funktioniert tiefe Hirnstimulation? . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Aus welchen Komponenten besteht ein System zur tiefen Hirnstimulation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Wie verläuft die Implantation eines Systems zur tiefen Hirnstimulation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Welche Wirkmechanismen werden für die tiefe Hirnstimulation angenommen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Für welche Indikationen wird die tiefe Hirnstimulation eingesetzt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 2 Was versteht man unter einer therapieresistenten Depression? . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Depressive Episode: Epidemiologie und Definition nach ICD-10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Depressives Erleben: Versuch einer Annäherung . . . . . . . 2.3 Therapieresistente Depression: Warum es so schwierig ist, eine genaue Definition zu finden . . . . . . . . 2.4 Therapieresistente Depression: Eine Arbeitsdefinition . . Kapitel 3 Tiefe Hirnstimulation bei therapieresistenten Depressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Operative Verfahren zur Behandlung affektiver Störungen: Ein historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Nicht-stereotaktische psychiatrische Chirurgie: Leukotomie und Lobotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Ablative stereotaktische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . .

21

21 25 26 28 30 33 35 35 37 40 43

.

47

.

48

. .

49 52

6

3.2

3.3

3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 Kapitel 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.3

4.3.1 4.3.2

4.3.3 4.3.4 4.4

Inhaltsverzeichnis

Elektrostimulationsverfahren: Elektrokrampftherapie, repetitive transkranielle Magnetstimulation, Vagusnervstimulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychiatrische Chirurgie, Elektrostimulationsverfahren und tiefe Hirnstimulation: Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . Tiefe Hirnstimulation bei therapieresistenten Depressionen: Modelle, Zielstrukturen, Erfahrungen . . . Von der Parkinson-Krankheit zur therapieresistenten Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologische und pathophysiologische Modelle der Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mögliche Zielstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bisherige Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine medizinische Risiko-Nutzen-Abwägung . . . . . . Risiken der tiefen Hirnstimulation . . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technische Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stimulationsbedingte Nebenwirkungen . . . . . . . . . . . . . Der Setzeffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensqualität unter tiefer Hirnstimulation . . . . . . . . . . Tiefe Hirnstimulation bei therapieresistenten Depressionen: Eine medizinische Risiko-NutzenAbwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie invasiv beziehungsweise wie reversibel wäre ein möglicher Eingriff? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Als wie experimentell wäre ein solcher Eingriff einzustufen und wie gut ließe er sich theoretisch begründen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welcher therapeutische Nutzen wäre von dem Eingriff zu erwarten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit welchen Risiken und Nebenwirkungen müsste man rechnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

57 59 59 61 68 74 79 79 80 81 82 83 84

86 87

87 88 89 90

Inhaltsverzeichnis

7

TEIL 2 Kapitel 5 Das psychophysische Problem und Gehirninterventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Das psychophysische Problem als explanatorische Lücke in neurowissenschaftlichen Theorien . . . . . . . . . . 5.2 In welcher Hinsicht ist das psychophysische Problem auch für den Einsatz der tiefen Hirnstimulation von Bedeutung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Auf welche Weise ist diese explanatorische Lücke zu berücksichtigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Der medizinische Pragmatismus als möglicher Umgang mit dem psychophysischen Problem . . . . . . . . . 5.5 Warum der medizinische Pragmatismus im vorliegenden Fall hinreichend ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 6 Auf dem Weg in den Operationssaal – Autonomie und Einwilligungsfähigkeit depressiver Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung zum allgemeinen Begründungsproblem 6.1 normativer Aussagen und Autonomie als Wert . . . . . . . . 6.2 Autonomie und Informed Consent: Grundlagen . . . . . . 6.3 Autonomie und Informed Consent in der modernen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Personale Autonomie oder Handlungsautonomie? . . . . . 6.3.2 Kriterien für Handlungsautonomie und für Informed Consent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Können Patienten mit einer schweren chronischen Depression als entscheidungskompetent bzw. einwilligungsfähig gelten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Wie kann in der medizinischen Praxis mit den sich ergebenden Problemen umgegangen werden? . . . . . . . . . Kapitel 7 Tiefe Hirnstimulation und personale Identität . . 7.1 Person, Identität, personale Identität – Begriffsbestimmung und normativer Gehalt der Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Der Unterschied zwischen »Person« und »Persönlichkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Bedingungen der Personalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95 96

99 100 102 103

105 107 109 112 113 116

120 122

.

125

.

126

. . .

130 131 134

8

7.2.3 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5 7.4 7.4.1 7.4.2 7.5 7.5.1 7.5.2 7.6

Inhaltsverzeichnis

In welchem Verhältnis stehen Personalität und Persönlichkeit zueinander? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identität der Person und Veränderungen der Identität . . Die Problematik der Anwendung des Begriffs Identität auf Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diachrone Identität und der Erhalt der Persönlichkeit . . Veränderungen der Personalität und Persönlichkeitsveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie lassen sich etwaige Veränderungen feststellen? . . . . . Wie sind Veränderungen von Personalität und Persönlichkeit zu bewerten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narrative Ansätze: Die Ich-Erzählung als Leitfaden für die Praxis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die narrative Verfasstheit von Welt-und Selbstbezug . . . Möglichkeiten und Grenzen narrativer Ansätze . . . . . . . Depression und tiefe Hirnstimulation: Mit welchen psychischen Veränderungen ist tatsächlich zu rechnen? . Veränderungen durch die Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . Mit welchen psychischen Veränderungen ist durch den Eingriff zu rechnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einschätzung des untersuchten Falles . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel 8 Autonomie und tiefe Hirnstimulation – ein Widerspruch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Theoretische Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Autonomie als reflexives Selbstverhältnis . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Das hierarchische Modell autonomen Handelns . . . . . . . 8.2.2 Personale Autonomie, Handlungsautonomie, Erhalt der Persönlichkeit – Zwei kritische Einwände zur Verwendung des hierarchischen Modells . . . . . . . . . . . . . 8.3 Autonomie unter tiefer Hirnstimulation . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Wie autonom ist ein Patient mit einer schweren chronischen Depression? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Wie autonom ist ein Patient unter tiefer Hirnstimulation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Fazit: Tiefe Hirnstimulation und Autonomie . . . . . . . . .

139 140 141 142 143 146 149 154 155 158 164 165 167 177 185 187 190 191

194 196 198 200 211

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis häufig verwendeter Abkürzungen . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227 236 237 238

. . . .

Vorwort

Das vorliegende Buch widmet sich der Bewertung der Methode der tiefen Hirnstimulation (engl. deep brain stimulation = DBS) zur Behandlung psychiatrischer Erkrankungen am Beispiel der therapieresistenten Depression. Hierbei fokussiert sich Timo Beeker exemplarisch auf eine Erkrankung. Im weitesten Sinne geht es jedoch um die Bewertung der neuen psychiatrischen Chirurgie anhand der Methode der DBS. Aus einer rein medizinischen Perspektive ist eine solche Bewertung nicht zu leisten, da hier die Perspektive des behandelnden Arztes – als Therapeut – gepaart mit dem Gefühl des technisch Machbaren und einer Weiterentwicklung bildgebender Methoden in den Neurowissenschaften zu einseitigen und vielleicht positiven Entscheidungen für die Anwendung solcher Verfahren führen könnten. Auf der anderen Seite ist die philosophisch-ethische Diskussion vermutlich auch nicht ausreichend. Sie neigt oftmals dazu, sich in den Betrachtungen von interessanten und extremen Einzelfällen zu verlieren, um dann von hier kommend zu generalisieren. Nicht zuletzt muss das Verfahren der DBS bei psychiatrischen Indikationen sich zudem immer mit der (alten) Psychochirurgie vergleichen lassen, aus der sie sich – über Umwege – entwickelt hat. Dies wird vielleicht in Zukunft eine breitere öffentliche Diskussion als derzeit zur Folge haben. Wünschenswert wäre es. Initial war tatsächlich die erkannte Notwendigkeit zur Weiterentwicklung der Psychochirurgie der Antrieb für die Entwicklung der stereotaktischen Methode, die in der konsequenten Folge zur Entwicklung der DBS führte. Der Neurologe Egaz Moniz hatte in den frühen 30er Jahren des letzten Jahrhunderts gemeinsam mit dem Neurochirurgen Pedro Almeida Lima die frontale Leukotomie entwickelt. Der Neurologe Walter Freeman entwickelte in der Folge die von ihm viel zu häufig angewandte und als komplikationsarm propagierte transorbitale Lobotomie. Infolge der zu jovialen Anwendung dieser einfach durchzuführenden, aber tatsächlich gefährlichen und komplikationsreichen Technik mit ihrer weitreichenden und unvorhersehbaren Beschädigung der Stirnlappen der Patienten sahen Wissenschaftler die Notwendigkeit zur selektiveren Ausschaltung spezifischer Hirnareale. Spiegel und Wycis entwickelten hierzu das erste am Menschen anwendbare stereotaktische Rahmensystem zur Durchführung der dorsomedialen Thalamotomie. Tatsächlich sind alle heutigen Operationsmethoden auf diese ersten Anwendungen in der psychiatrischen Chirurgie zurückzuführen

10

Vorwort

und auch die tiefe Hirnstimulation hat damit ihren Ursprung in der Psychochirurgie. Nach einer langen Periode der Läsionschirurgie für Depression, Zwangserkrankung und Bewegungsstörungen wie Morbus Parkinson und Tremor war die vermutlich erste Applikation der (dauerhaften) tiefen Hirnstimulation die Therapie des chronischen Schmerzes in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Damals existierten die heute fein abgestimmten und voll implantierbaren Systeme noch nicht und die Akzeptanz war trotz der nachweislichen Wirksamkeit des Verfahrens gering. So konnte sich die DBS bei Schmerz bis zum heutigen Tage als Therapie nicht durchsetzen, obschon sie an einer Reihe von Zentren (im Heilversuch) angewandt wird. Im Jahr 1986 entwickelte der Franzose Alim-Louis Benabid gemeinsam mit dem Neurologen Pierre Pollak die tiefe Hirnstimulation des Thalamus (Nucleus ventralis intermedius) für den Tremor, der die erste Indikation darstellte, für die es eine Zulassung gab. Es war ebenfalls Benabid, der 1993 die erste Stimulation im Nucleus subthalamicus durchführte. Für den Thalamus (bei Tremor) ist in Europa das Verfahren der DBS seit 1996 zugelassen, für den Nucleus subthalamicus (und damit vor allem für die Symptome Akinese und Rigor bei Morbus Parkinson) seit 1998. Somit schauen wir für die Bewegungsstörungen auf eine mehr als 25jährige Erfahrung mit der tiefen Hirnstimulation zurück. Beflügelt von diesen Erfolgen begann die Renaissance der Psychochirurgie als psychiatrische Chirurgie, aber diesmal mit der DBS. Wie steht es aber nun mit der Erfahrung mit der tiefen Hirnstimulation für psychiatrische Erkrankungen? Wo stehen wir in der Anwendung der DBS für Depression, aber auch für Sucht, Anorexie, Zwangserkrankung (= OCD) und Demenz? Wer sollte über die Anwendung bei diesen Indikationen entscheiden? Der Therapeut allein? Die Gesellschaft? Reicht ein interdisziplinäres Konzept aus, bei dem verschiedene Kliniker – wenn auch jeder für sich autark – allein entscheiden? Braucht es einen umfassenderen ethischen Diskurs, ja vielleicht eine philosophisch-ethische oder gar religiöse Instanz? Das vorliegende Buch entstand im Rahmen einer Promotionsarbeit an der Neurochirurgischen Universitätsklinik und am Institut für Wissenschaft und Ethik (IWE) in Bonn. Die Arbeit widmet sich der konkreten Fragestellung der medizinischen und philosophisch-ethischen Bewertung der tiefen Hirnstimulation zur Behandlung der therapieresistenten Major Depression. Hierbei überschreitet Timo Beeker als Mediziner und Philosoph die Grenzen einer rein klinischen Bewertung und versucht in einem interdisziplinären Ansatz eine Lösung für diese komplexen Probleme zu finden. Das Buch richtet sich gleichermaßen an Experten aus den Fachbereichen Psychiatrie und den übrigen Neurowissenschaften sowie an Philosophen, die sich mit

Vorwort

11

medizinethischen Fragestellungen befassen. Vielleicht kann es in Zukunft als exemplarisches Beispiel für die klinisch-ethisch-philosophische Bewertung interventioneller Verfahren zur Behandlung der Erkrankungen des Geistes herangezogen werden. Freiburg, im Frühjahr 2014 Professor Dr. med. Volker A. Coenen Stereotaktische und Funktionelle Neurochirurgie Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, i.Br.

Einleitung

Im Jahr 1929 erkrankte Naomi Ginsberg, eine US-amerikanische Grundschullehrerin russischer Herkunft, an einem schweren Nervenleiden, das sich rückblickend als paranoide Schizophrenie erkennen lässt. Für ihren 1926 geborenen Sohn Allen, der später zu Weltruhm als einer der angesehensten Lyriker der »Beat-Generation« gelangen sollte, wurde das Aufwachsen mit seiner psychisch kranken Mutter selbst zu einem psychischen Trauma, dessen Spuren weite Teile seines Werkes durchziehen. Allen Ginsberg erlebte die verschiedenen Phasen der Erkrankung seiner Mutter aus unmittelbarer Nähe mit, angefangen bei ihren ersten ungewöhnlichen Verhaltensweisen bis hin zur Ausprägung der von ihr zeitlebens beibehaltenen Wahnvorstellung, im Rahmen einer großangelegten Verschwörung habe man stromführende Metallstäbe in ihren Rücken implantiert, um sie damit zu kontrollieren. Als Teenager begleitete Ginsberg seine Mutter zu Arztterminen und Klinikeinweisungen. Er besuchte sie regelmäßig in verschiedenen Einrichtungen und wurde dabei zum Zeugen der Hilflosigkeit der noch in den Kinderschuhen steckenden psychiatrischen Disziplin im Umgang mit schwerer psychischer Krankheit. Elektroschocks, Insulintherapie, Krampfinduktion durch Metrazol: Keine dieser damals üblichen und teils äußerst schmerzhaften Behandlungen konnte ihren Zustand dauerhaft bessern. Die kommenden Jahre verbrachte Naomi Ginsberg zum größten Teil in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Im November 1948 erreichte den damals mit 21 Jahren gerade volljährigen Ginsberg ein Brief des Direktors des in New York gelegenen Pilgrim State Hospitals, in dem seine Mutter zu diesem Zeitpunkt untergebracht war. Man teilte ihm mit, dass Naomis paranoides Verhalten zunehmend selbstgefährdende Züge annahm, weshalb man sich die Zustimmung für eine frontale Lobotomie erbat. Durch die Scheidung seiner Eltern zum gesetzlichen Vormund für seine Mutter geworden, entschied sich Allen Ginsberg, einiger Vorbehalte zum Trotz, dem Rat der Ärzte zu vertrauen und gab seine Einwilligung zu der vielversprechenden neuartigen Behandlung. [Vgl. Schumacher 1999, S. 23ff., 34ff., 98ff.] Die Operation brachte nicht den erhofften Erfolg. Naomis Paranoia besserte sich nicht, so dass sie dauerhaft stationär untergebracht werden musste. Bei einem Besuch im Jahr 1953 erkannte sie ihren Sohn nicht mehr. Allen Ginsberg machte sich Zeit seines Lebens Vorwürfe, seine Zustimmung zu dem psychisch und körperlich entstellenden Eingriff erteilt zu haben. In seinem Gedicht »Black Shroud« verglich er seine Autorisierung des Eingrif-

14

Einleitung

fes mit der »messerartigen Axt« 1 sogar mit der eigenhändigen Enthauptung seiner Mutter: Some electric current flowing up her spine tortured her, foot to scalp unbearable, some professional advice required quick action, I took her wrists, and held her bound to the sink, beheading her silently with swift dispatch, one gesture, a stroke of the knife-like ax that cut thru her neck like soft thick gum, dead quick 2 Naomi Ginsberg starb 1956 an den Folgen eines Schlaganfalls. Während sie heute höchstens einer kleinen Zahl von Kennern der Beat-Generation bekannt sein dürfte, ist der an ihr vorgenommene Eingriff fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Die »Lobotomie-Ära«, innerhalb derer bis zum Ende der 1950er Jahre allein in den USA mehr als 50 000 psychisch kranke Menschen mittels einer gleichermaßen simplen wie brachialen Gehirnoperation dauerhaft »ruhig gestellt« wurden, stellt zweifelsohne eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der modernen Medizin dar. [Vgl. Bjarkam und Sørensen 2009, S. 2868 ff.] Das Entsetzen über diese Prozedur, die sich im Wesentlichen auf das Einführen eines eispickelähnlichen Werkzeuges durch das Dach der Augenhöhle und die anschließende mechanische Zerstörung von Teilen des Frontalhirns beschränkte, ist in dem stark negativ konnotierten Begriff Psychochirurgie bis heute erhalten geblieben. Alle neueren Versuche, psychische Krankheit operativ zu behandeln, müssen sich seitdem auch an diesem warnenden Beispiel messen lassen und aufzeigen, inwiefern sie sich von den katastrophalen Anfängen der psychiatrischen Chirurgie unterscheiden. Über 60 Jahre nach dem Ende der Lobotomie-Ära hat die Medizin in Theorie und Praxis in Folge der digitalen Revolution eine tiefgreifende Umstrukturierung erfahren. Insbesondere für Psychiatrie, Neurologie und Neurochirurgie haben dabei neue technische Errungenschaften bahnbrechende Fortschritte mit sich gebracht. Durch funktionelle bildgebende Verfahren wie der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) ist es nicht nur möglich geworden, die Anatomie des Gehirns in vivo zu untersuchen, sondern sogar Hirnaktivitäten 1

2

Der Ausdruck »knife-like ax« bezieht sich auf das transorbitale Leukotom und ist eine durchaus akkurate Beschreibung dieses bei der frontalen Lobotomie verwendeten Operationswerkzeuges (siehe Abschnitt 3.1.1). [Ginsberg 2007, S. 911]; »Irgendein elektrischer Strom, der ihr Rückgrat hinaufkroch, quälte sie, auf unerträgliche Weise von Kopf bis Fuß, ein ärztlicher Rat erforderte rasches Handeln, ich nahm ihre Handgelenke und hielt sie über den Ausguß, enthauptete sie schweigend mit rascher Hand, eine Geste, ein Streich mit der messerscharfen Axt, die ihr durch den Hals fuhr wie durch dicken Gummi, totschnell.« [Übersetzung nach: Schumacher 1999, S. 101]