Erinnerungen aus meiner Kriegsgefangenschaft 3. Heft

Hamburg) einig, daß uns die ganze Welt und Auffassung Nietsches gar nicht .... Architekt Martens – war zwar von von der Wasserkante [Lübeck?] und eine echt.
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Erinnerungen aus meiner Kriegsgefangenschaft 3. Heft

Hermann Petri

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Im Gefangenenlager Kansk (Fortsetzung) Winter 19/20

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Wieder unter bolschewistischer Herrschaft 16.Jan. 20

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Das kommunistische Dorf März

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Reise nach Krasnojarsk Ostern 1920

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Weihnachten 1919: S. 11-17.(19) Sylvester 1919 S. 19.-24. Fritz Lau S.11/12 Kopie der Seite 1

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Naumburg 21. Mai 22.1

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Das „Nachtasyl“ Ende 1919 war ein großes Ereignis. Zunächst schon deshalb, weil, wie ich glaube, dies Stück im Zarenrußland verboten war, und deshalb wohl auch im Koltschak -Sibirien, das alle üblen Eigenheiten des Zarenrußland übernommen hatte. Jedenfalls wurde die Vorstellung von den Russen der Stadt Kansk eifrig besucht, obgleich sie doch kein deutsch verstanden. Vor allem aber war es die Vorstellung, bei der das dilettantische am weitesten abgestreift wurde und andererseits der Vorzug, daß die Schauspieler alle gebildete Menschen waren, sehr das ganze Spiel hob. Die ganze Umgebung bis aufs letzte Kostüm richtig zu treffen, fiel unseren Schauspielern leicht und glückte wohl besser, als dies auf einer Berliner Bühne möglich wäre, da unsere Lebenshaltung sich dem „Nachtasylhaften“ bedenklich genähert hatte. Vor allem gibt das Stück aber ein ergreifendes und packendes Bild des russischen Lebens, ja sogar des allgemein Menschlichen, 2

das mir als unvergeßlicher Eindruck geblieben ist. Das Beste war Schlegels verkommener Schauspieler („Mein ganzer Organismus ist vom Alkohol durchseucht!“), aber auch die ganze übrige Gesellschaft von gescheiterten Existenzen, in denen doch wieder menschliches Leben sich regt, war – russisch und menschlich – überzeugend und ergreifend. Eine ganz diesen Niederungen russischen Lebens angepaßte Melodie zu dem Lied der Asylbewohner verfolgte uns im Lager Tag und Nacht. Nach dem „Nachtasyl“ verließen uns einige der tüchtigsten Künstler, so der ehemalige Berufsopernsänger Schlegel und der Violinspieler Weil, weil sie sich als DeutschBöhmen den Tschechen anschlossen und hofften, so aus Sibirien herauszukommen. Ihnen schloß sich auch der Bayer Graf Montgelos an, der als Schauspieler, Händler und Agent große Erfolge gehabt hatte, aber durch diesen Schritt - Anschluß an die Tschechen, 3

um nach Hause zu kommen, - sich von uns gänzlich löste. Verständlich war mir dieser Schritt bei den Deutsch-Böhmen, daß sie die Tschechen als die jetzt herrschende Regierung ihres Heimatlandes wohl oder übel anerkennen mußten. Widerwärtig war mir dagegen, daß einige Herren, die als halbe Elsässer Beziehungen zu Frankreich hatten, sich (schon im Sommer 1919) an den französischen Konsul wandten und durch ihn als französische Soldaten nach Hause gebracht wurden. Bei aller Nüchternheit weiß ich nicht, ob ich nicht lieber in Sibirien geblieben wäre, als daß ich die französischen Farben getragen hätte. Doch darum handelt es sich zunächst garnicht, sondern darum, daß die betreffenden eben vor der großen Masse, die doch auch nach Hause wollte und bestimmt auf eine Heimkehr rechnete, etwas voraus haben wollten. 4

Ich habe mich – 1920 im roten Rußland – nie als Kommunist, sondern stets als „parteilos“ ausgegeben (dies waren die beiden einzigen Möglichkeiten, eine 3. war ausgeschlossen), habe auch nie das tägliche Morgen-, Mittags- und Abendgebet, die 3. Internationale, mitgesungen, allerdings habe ich einmal durch Lippenbewegungen Singen markiert, als vor unserem Abmarsch zum Finnischen Bahnhof in Petersburg der uns verabschiedende Vertreter des deutschen Arbeiter- und Soldatenrates „Genosse“ Grünbaum, unmittelbar vor mir stand. November 1919 erfuhr unsere Gruppe, zu der außer Raadt, Hitzig und mir noch Dyck, Gimmighoffen und Mewes (M. wohnte damals wohl schon als Kassierer in der Küche V.) gehörten, eine Bereicherung dadurch, daß sich uns Wülfing anschloß. Er hatte bis dahin in einer anderen Baracke gelebt, sich dort wohl verkracht, zog zu uns und wurde, da er allein stand, von Anton aufgefordert, sich unserer Gruppe anzuschließen. Er war Pelzhändler (oder Fabrikant) aus Unna, hatte lange Zeit in Paris gelebt und sprach sehr 1 An diesem Tag wurde der Text geschrieben 2 Die Zahlen am rechten Rand sind die Seitennummerierungen des Originals

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gut und wohllautend französisch. Da er ein sehr gescheiter und weitgereister Mann war, war es immer interessant und anregend, mit ihm beisammen zu sein. Mir war er von vornherein unsympathisch, weil er als Verkrachter zu uns kam, und mein Gefühl wurde von Tag zu Tag mehr befestigt, da er sich als Egoist erwies, sehr materiell dachte, und in allen politischen und ähnl. Fragen eine radikale Schärfe entwickelte, die mir bei ihm ein Zeichen innerer Minderwertigkeit und Mangels an Bildung war. Doch das ist mehr das Ergebnis rückschauender Betrachtung, zunächst versuchten wir, wie das bei uns üblich war, kleine Eigenheiten zu übersehen und gut miteinander auszukommen. Gegenüber uns armen Schluckern (Anton war unbesoldeter Lagerbücherwart, der Prof. und ich damals NichtHeimarbeiter, Dyck (Lagerbank) und Mewes (Küche) schlecht besoldete Beamte in allgem. Dienst) war er glänzend gestellt, weil er als Lederfachmann eine feine Stelle in der größten und besten Firma der letzten Heimarbeitsepoche, 6

in der Lederfabrik, innehatte. Diese war von einem Wiener Kunsthändler(?) Töpfer-Pisko gegründet, der guten Geschmack mit raffinierter Geschäftstüchtigkeit verband, und stellte vor allem Geld- und Brieftaschen der anständigsten Art, später auch Oberleder für Damenschuhe her. Großzügig war vor allem auch die Organisation und der allmähliche Ausbau dieses Unternehmens, mit eigenem Fuhrwerk, Geschäftsführer, mit Gewinnbeteiligung, Entlöhnung in Gestalt von Lebensmitteln oder Tabak. Genannter Wülfing schloß sich nun - das ergab sich zwanglos - unserer engeren Gruppe an, damit auch unseren Sonntagsjausen, wo er sich sehr bald dadurch auszeichnete, daß er sich den Kaffee zwar gut schmecken ließ, aber nie trotz Zaunpfahl dazu zu bewegen war, selbst einmal Hand anzulegen und auch einmal die umständlichen Vorbereitungen zu übernehmen. War er aber schließlich durch deutlichen Hinweis 7

einmal so weit gebracht, dann stellte er sich so unbegabt an, daß immer noch ein 2. ihm helfen mußte, so daß man schließlich die Arbeit lieber alleine machte. 23.5.22

Diese recht kleinliche Breite läßt sich nur dadurch erklären, daß W., der es im Frühjahr 20 zu einer traurigen Berühmtheit brachte, von vornherein ins richtige Licht gestellt werden mußte. Für den Ausgang des Jahres 1919 ist nun vor allem die politische Lage wichtig. Schon im August und September hatten die Roten vom Ural her einen Vorstoß gemacht, bei dem sie etwa bis auf 300 km an Omsk herangekommen waren. Vorübergehend mußten sie zurück, aber als der Winter nahte, war kein Zweifel mehr möglich, daß sie unaufhaltsam längs der Eisenbahn nach Osten vordrangen. Im November fiel Omsk und von da an rechneten wir ständig, wann sie wohl die 1400 km, die uns von Omsk 8

trennten, zurückgelegt hätten. Es gingen die großartigsten Parolen, sie hätten überall bei ihrem Vorrücken die Kriegsgefangenen nach Hause geschickt – was sich später als falsch herausstellte – und wohl allgemein setzte man große Hoffnung auf ihr Kommen. Auch ich sagte mir, daß nach ihrem Eintreffen zum mindesten das grundsätzliche Hindernis – die Franzosen hatten erklärt, keine Kriegsgefangenen kommen aus Sibirien heraus, solange noch Tschechen da seien – beseitigt sei, und daß man mit Aussicht auf den Abtransport oder die Flucht hinarbeiten konnte. Als Zeitungsvorleser unserer Kompanie hatte ich in solch aufregenden Zeiten tüchtig zu tun. Natürlich gab es auch solche, die von den Roten garnichts erwarteten, sie - nicht ohne Berechtigung - für vollkommen unberechenbar und unzuverlässig hielten. Deren Ansicht wurde bestärkt, als ein schwedischer Roter Kreuz Mann, Graf Steenbock, im Dezember erschien und uns aufforderte, mi tallen Mitteln zu versuchen, 9

nach Osten abtransportiert zu werden, wo wir beim Ataman Semjonoff – dem Herrscher der Mandschurei und des Gebietes um Tschita – gut aufgenommen würden. Die Vertreter das 4

schwed. Roten Kreuzes hätten Weisung, sich überall vor den Roten zurückzuziehen. (Letztere Maßnahme war sehr verständig, denn überall, wo sie zurückblieben, wurden sie gemein von den Roten behandelt, denen es nicht paßte, daß es Leute gab, die unsere Interessen wahrnahmen). Elsa Brändström aber (damals in Krasnojarsk oder Barnaul) ließ uns bestellen, sie bliebe, und riete uns, zu bleiben. Nun war ein großes hin und her und ein Kampf der Meinungen, das Lager stand „unter dem Zeichen des Steinbocks oder dem, der Jungfrau“! Doch unter dem der Jungfrau stand die Mehrzahl. Vor allem, weil eben Hoffnung und Optimismus nicht tot zu kriegen waren. Ich war auch der Ansicht, daß wir, selbst wenn wir gewollt hätten, 1. gar keinen Zug bekommen hätten 2. auf der vollkommen verstopften 10

und überfüllten Bahn nicht durchgekommen, sondern womöglich irgendwo auf freier Strecke verhungert und erfroren wären. Die Tschechen hätten uns nie durchgelassen, denn sie kamen selber nicht vom Fleck. Allerdings glückte es etwa 30-50 Krasnojarsk Herren, die Steenbock loseiste, ehe er zu uns kam, und die man im Kr. Lager für furchtbar dumm hielt, nach Osten durchzukommen, und im Mai 1920 landeten sie in Deutschland, bei ihnen Hauptmann Herper vom IR 137. Wir blieben also, nachdem die rein theoretische Frage viel Unruhe verursacht hatte, in Kansk, und warteten. Nur 2 Herren, dem Feldprediger Wiese und seinem „Küster“ (Eisemann von der Thomasschule in Leipzig) glückte es, die Erlaubnis zu einer Predigtreise in den Kriegsgefangenenlagern westlich von uns zu bekommen, sich in Omsk von den Roten mit erobern zu lassen, dann im November etwa 14 Tage im Schlitten zurückzulegen, und im Mai von Tscheljabinsk (Ostabhang des Ural) 11

über Petersburg nach Deutschland zu kommen. Doch Wiese war vielleicht der gerissenste Mann im Lager und daher zu solchen Unternehmungen gut geeignet. Wir Kansker rüsteten also wiedermal ein Weihnachtsfest – mein 5. in Gefangenschaft. - Ich war beinahe abgebrannt, und sah den Vorbereitungen für Weihnachten, die als materielle Grundlage ein menschliches Essen und Tabak nötig machten, also viel Geld kosteten, mit Sorge entgegen, als ich wieder einmal, wie schon so oft in Sibirien, die Erfahrung machen konnte, daß in der höchsten Not unverhofft Hilfe nahe ist. Im Kriegsgefangenenlager Nikolsk-Ussurisk (dem Punkt, wo von der Bahn Charbin - Wladiwostok die Bahn nach Chabárowsk abzweigt) war ein Frankfurter Wandervogel, Fritz Lau, mit dem ich in meinem ersten Semester, Sommer 1909 in Darmstadt (Lackstr. 4) zusammen wohnte und aß. Wir hatten uns gut vertragen, wenn auch nicht näher gestanden. Er hatte nun auf einer 12

Liste unseres Lagers (die im Frühjahr 19 durch Herzberg nach dem Osten gebracht worden war, (vergleiche Heft II Seite 24/25) meinen Namen gelesen, mir gelegentlich einen Gruß geschickt, den ich erwiderte, und schickte mit jetzt unaufgefordert 500 Rubel, die mir sehr gelegen kamen und gerade ausreichten, um für Weihnachten 2 ℔Tabak und 40 Zigarren zu kaufen3. Lau konnte das Geld gut schicken, da das Lager Nikolsk-Ussurisk (oder Perwaja Rjetschka bei Wladiwostok?) unter japanischem Kommando stand und dort die Gefangenen sehr gut verpflegt und für ihre Arbeit in Yen gut bezahlt wurden, wofür sie große Mengen von Rubeln eintauschen und uns armen Schluckern große Freude machen konnten. Ich freute mich natürlich sehr über diese unverhoffte Spende und sah Weihnachten voll Dankbarkeit ruhig entgegen. Tabak – guten Zigarettentabak – gab es damals in großen Mengen zu kaufen. Die Tschechen hauten nämlich ab, und da die Amerikaner ihnen, ihren Söldnern, die sich für sie totschlagen ließen, doch auch mal was zukommen lassen wollten, 13

und viel Tabak geschickt hatten, viel mehr als sie in ihren Zügen lassen konnten, kaufte die Heimarbeitszentrale en gros bei ihnen Tabak ein, der recht gut war, jedenfalls wesentlich besser als der russische. Zigarren fertigte Schaub, ein sehr geschickter und rühriger badisch Feldwebelleutnant und alter Südwestafrikaner, sehr gut aus mandschurischem Blättertabak mit allerlei raffinierten Einlagen aus tschechischem und Amerikaner Tabak. 3 Im Anhang ein Brief von Fritz Lau

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Als Festraum für unser weihnachtliches Beisammensein diente wieder die bewährte Bücherei. [Mewes, der am meisten an der Gefangenenkrankheit litt, stand in folge unverdauten stunden-, tage-, monate- jahrelangen fortgesetzten Lesens erbaulicher Schriften auf dem Standpunkt, daß unser Aufenthalt in der Bücherei eine ungerechtfertigte Bevorzugung einzelner, und daher unsittlich sei, und war nicht zu bewegen, an unserem Beisammensein teilzunehmen. Nur zu den Mahlzeiten kam er, 14

brachte dann aber durch seine zur Schau getragenen Mißbilligung unseres unmoralischen Treibens nur ein Mißklang in unser Beisammensein. Auch sonst zeichnete er sich durch allerlei Schrullen aus, so verteidigte er mit Hartnäckigkeit die These, daß Diebstahl unter allen Umständen Sünde sei, und war nicht zu bewegen, sich an unseren Holzraubzügen zu beteiligen. Daß nachher die Baracke mit geklautem Holz erwärmt wurde, war ihm allerdings nicht unangenehm]. Mit einigen Bildern, Kiefernzweigen, einem Bettlaken, das zu diesem Zweck gepumpt, (von uns besaß keiner ein Laken) gewaschen und als Tischtuch aufgelegt wurde, einigen bunten Penschen verwandelte ich die Bücherei in einen behaglichen Raum, dann wurden sämtliche Lehnstühle usw. darin aufgebaut und das Fest konnte beginnen. Nachm. als es dunkel wurde, fand zunächst die Weihnachtsandacht 15

in der überfüllten Theaterbarake statt. Im Gegensatz zu andern Weihnachtsfeiern steht mir diese als durchaus gelungen und harmonisch in Erinnerung. Z.T. mag es daran liegen, daß die Jahrelang tagaus tagein gezeigte Dickfälligkeit und Rauhbeinigkeit, ein köstliches, im Kampf ums Dasein erworbenes Gut, doch etwas versagte, als man das 5. Weihnachten beging und anbetracht der Gesamtlage nicht stark genug war, auftauchende hoffnungsvolle Gedanken zu unterdrücken. Es war doch eine eigenartige Stimmung, in der diese große Versammlung z.T. recht eigenartiger Männer, die man tagaus tagein bei ganz anders gestimmter Tätigkeit und Lebensäußerung beobachtete, und mancher wurde wider Willen weich, als „Stille Nacht“ angestimmt wurde. Nicht wenig trug zum Gelingen der Andacht die kurze, aber inhaltsreiche und gebildete Weihnachtsansprache des Professors 16

Lade, eines hochgebildeten, sehr selbstlos und lauter gesinnten, wenn auch oft schrullenhaften Gymnasialprofessors und früheren Theologen bei, und die Leitung des musikalischen Teils durch Hitzig bei. H. hatte alte Geschmacklosigkeiten und Sentimentalitäten aus dem Programm entfernt und mit dem Männerchor eine feine, von ihm hierzu komponierte Motette „Vom Himmel hoch da komm ich her“ eingeübt. Dem Verlangen nach heimatlicher Weihnachtsstimmung war damit Genüge geleistet. Anschließend war ein gemeinsames Abendessen für Wohlhabende im „deutschen Hause“. Wir gehörten zwar nicht dazu, aber da unser neuer Tischgenosse Wülfing im Gelde schwamm, hätten wir es für Ziererei gehalten, wenn wir eine Einladung von ihm hierzu abgeschlagen hätten. So nahmen wir 4 an einer recht wohl gelungenen Abfütterung teil, wo es erfreulicherweise mal wieder Gerichte gab, die man mit Messer und Gabel essen konnte. 17

Nach dem Essen suchten wir dann noch die Bücherei auf, wo wir noch lange bei Kaffee, Tabak, Kerzenlicht unter bunten Schirmen in stets wechselnder Gesellschaft beisammensaßen. Meist war der mit H. befreundete und steinreiche Maler Mader unser Gast, auch Wilhelm Hartmann ließ sich häufig sehen. Doch auch als die andern schlafen gingen fand ich noch keine Ruhe, die Möglichkeit, daß dies vielleicht das letzte Weihnachten in Sibirien sei, und die unsichere politische Lage, die dazu verhelfen konnte, daß diese Möglichkeiten Wirklichkeit würde, hatten mich zu sehr aufgeregt, und ich bin noch stundenlang im Lager spazieren gegangen, es hatte mächtig geschneit, und war auch milder geworden, höchstens -10° R sodaß man keinerlei Beschwerden empfand. Anton leistete mir zeitweise Gesellschaft, von ähnlicher Unruhe getrieben. Und wie haben sich seine und meine 6

Hoffnungen erfüllt?! 18

In der Stadt Kansk war gerade „dicke Luft“. Die militärischen Behörden der Koltschak Regierung hatten eingesehen, daß sie nicht mehr viel halten konnten, daß alles reif zum Umschwung war. So waren die führenden Männer gerade zu unserem Weihnachten (die Russen feiern Weihnachten 3 Tage später) entschwunden. Und in der Stadt ging es ziemlich drunter und drüber. Diese Unruhe färbte natürlich auch auf uns ab, da von dem, was kommen sollte, auch unser Los abhing. So waren wir ordentlich erleichtert, als in der Nacht vom 25. zum 26. „Onkel Otto“, ein rühriger Agent aus unserer Baracke, der viel in der Stadt zu tun hatte und besonders mit den Männern, deren Zeit jetzt gekommen war, die Nachricht mitbrachte, es sei ein Ausschuß aus Vertretern der linken Parteien gebildet worden, der vorläufig - bis zum Eintreffen der roten Armeen - die ausübende Gewalt übernahm. Tatsächlich war ja nicht viel damit gewonnen, 19

denn irgend eine Macht hatte dieser Ausschuß nicht hinter sich, denn die Truppen, die über Nacht rote Binden angelegt hatten, waren natürlich alles andere als zuverlässig, aber es war doch wieder der Schein einer Behörde da, und man konnte so ungefähr sehen, welche Entwicklung die Dinge nehmen würden, und das trug wesentlich zur Beruhigung bei. Die Weihnachtstage verlebten wir nun recht gemütlich, plaudernd, lesend, rauchend, essend. Anton hatte seine Pflicht, für ein gutes Buch zu sorgen, zur Zufriedenheit erfüllt, mir war es eine besondere Freude als er mir H. Hesses „Gertrud“ zum Lesen gab, ein Buch, an dem ich 1913 oder 14 in Hannover schon viel Freude gehabt hatte. Das Weihnachtsfest mit seinen mancherlei Ausgaben hatte mein Vermögen gänzlich aufgezehrt, ich mußte mich also nach Arbeit umsehen. Eine feste Anstellung in einem Heimarbeitsbetrieb wollte ich nicht annehmen, auch für die Russen wollte 20

ich nicht arbeiten. So traf es sich günstig, daß die beiden deutschen Küchen eine Mannschaft zum Zersägen des Restes ihres Floßholzes suchten. Derartige Lagerarbeiten wurden zwar längst nicht so gut gezahlt wie Arbeiten bei den Russen, aber für die Russen arbeitete ich nur ungern. Unsere Mannschaft bestand aus Oberleut. Traut und mir (1. Säge), Hauptmann Bender und Förster (Forstassesor) Gresser (2. Säge) und Förster Bähnke als Holzspalter. Jeden Morgen wanderten wir, tüchtig warm angezogen zum Fluß, wo z.Z. unter Eis und Schnee, noch eine Menge Holz lag, das wir bis Ende Januar klein machten. Bei gutem Wetter ( bis – 15° ohne Wind) war es eine angenehme Arbeit, bei größerer Kälte ( bis – 28°) Windund Schneetreiben war es weniger schön. Besonders schön war der 31. Dezember, an dem die Sonne, im viel ersehnten Westen untergehend, die schneebedeckten Berge und den zugefrorenen Fluß in reinen, kräftigen Farben erglühen ließ. 21

(Ähnlich wie Anfang Februar 1915 beim Überschreiten der russischen Grenze) Wie würden wir Silvester 1920 begehen? [Ich war bei strömendem Regen in Bielefeld]. 28.5.22.

Abends im Lager gab's auch allerlei Silvesterfeiern. Zunächst war ich im Theater, wo (als Wiederholung aus der vorigen Spielzeit) auf allgemeinen Wunsch „Brüderlein fein“ gegeben wurde, ein altes Wiener Singspiel (einem Ehepaar, das den 40. Hochzeitstag begeht, wird im Traum 40 Jahre zurückversetzt und feiert noch einmal Hochzeit.) Alles, Text, Melodie, Spiel, Ausstattung war im besten Sinne wienerisch nett und reizend, daß ich die allgemeine Begeisterung des Lagers teilte, eine Begeisterung, die zeigte, daß auch im alten Gefangenen noch Verständnis für die zarten Seiten des Lebens schlummerte. 22

Eine so frische und nette Mädchengestalt wie die junge Frau Dreyler (von einem sympathischen jungen Österreicher, dem man im gewöhnlichen Leben gar nicht ansah, was in ihm steckte, gespielt.) habe ich auf der Bühne noch nie gesehen. Die Aufnahmefähigkeit der Zuschauer wurde natürlich sehr gesteigert durch die allgemeine hoffnungsvolle 7

Stimmung, wie sie sich in dem Motto der Sylvesterfeier im Theaterrestaurant „heuer fahr'n mir“ aussprach. Unser Kreis beteiligte sich an derartigen Festen - für die die Österreicher den Ausdruck „Ramasuri“ hatten und bei denen sie ihre ganze Lebhaftigkeit entfalten konnten nicht; wir saßen wie üblich in der Bücherei, und jeder war zum mindestens ¾ wo anders mit seinen Gedanken. Um 12 ergriff eine große innere und äußere Bewegung die ganze Baracke. 23

Die große fest zusammenhaltende Gruppe Dähn, die ebenso wie wir auf gemeinsames Verbringen solcher Tage hielt im Gegensatz zu dem sich immer mehr in Atome auflösenden Gros, sehe und höre ich noch immer, wie sie „Deutschland, Deutschland über alles“ anstimmten und mit großer Beteiligung und Bewegung sangen, sehe vor allem Oskar Janzen immer noch vor mir stehen. Er war einer der interessantesten, aufrechtesten und ehrlichsten Menschen, die ich kennen lernte, sehr knorrig, aber echt, ein Friese. Im Sommer 1920 starb er kurz nach seiner Ankunft auf esthischem Gebiet in Narwa am Flecktyphus. Ich sehe auch noch Wilhelm Hartmann, der seine besonderen Wünsche vom neuen Jahr hatte, die dann so schön in Erfüllung gingen, und sehe Köster, der auch die Heimkehr erlebte, aber nicht lange überlebte, da ein trauriges Schicksal ihn, einen der energischsten und leistungsfähigsten im ganzen Lager, erdrückte. 24

Und die Macht der Stunde sprach sich auch darin aus, daß aus dem großen Haufen der tagaus, tagein stumpfsinnig nebeneinanderher Lebenden, von denen jeder bemüht war, mit möglichst wenig Störung und Aufregung einen kümmerlichen Gefangenentag an den andern zu reihen, wie aus ihnen wenigstens für Sekunden Menschen wurden, die ein gemeinsames Erleben vereinte und über die graue Alltäglichkeit erhob, wie man sich mit jedem in der Baracke die Hände schüttelte, und sich mit voll Hoffnung glänzenden Augen ansah. Das Jahr 1920 brachte die politische Klarheit, auf die wir so hofften, nicht so schnell, wie wir das in unserer Ungeduld erwarteten. Bei Krasnojarsk fand - ich glaube zwischen Weihnachten und Neujahr - eine große Schlacht zwischen den Roten und den vereinigten 25

Russen und Polen statt, in der es den Roten glückte, die ganze polnische Legion, ein übles Volk, das in Sibirien – hauptsächlich längs der ihm anvertrauten Bahnlinie NovoNikolajewsk -Barnaul – schauderhaft gehaust hatten, gefangen zu nehmen. Die Gefangennahme ging als formelle Kapitulation vor sich, die Bedingungen wurden in der Zeitung veröffentlicht, was die Roten natürlich nicht hinderte, sich nachher nicht mehr daran zu halten, sondern den entwaffneten Polen sehr böse mitzuspielen. Der im Sommer als „Internationaler“ in der Roten Armee stehende Wülfing hat mir selbst erzählt, wie er einen von ihm nach Omsk gebrachten Transport polnischer Offiziere nur mit Mühe vor den Lynchversuchen der Menge hat retten können (und damit vielleicht garnicht im Sinne seiner roten Befehlshaber gehandelt hat?). Koltschak

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Diese Winterschlacht auf der Hochebene nördlich von Krasnojarsk, von der ich später an Ort und Stelle noch viel erzählen hörte, war der letzte Widerstandsversuch der sich auflösenden Koltschakarmee. Kälte, Hunger und Flecktyphus machten sie ganz kampfunfähig, die meisten wurden bei Krasnojarsk oder wenig weiter östlich gefangen genommen, d.h. sie kamen von allein und gaben ihre Gewehre ab. Irgendwelchen Widerstand hatte die rote Armee nicht zu überwinden, auch die Schlacht bei Krasnojarsk war mehr eine Komödie gewesen. Die Führer der Koltschakarmee hatten sich natürlich schon vorher in Sicherheit gebracht, weil sie meist nichts taugten, und auch wußten, daß sie von den Roten umgebracht werden würden, wenn sie ihnen in die Hände fielen. Nur einer ging soldatisch anständig aus dem Schlamassel hervor: ein General Kappel, der über 8–10000 Mann 27

gut disziplinierter Truppen verfügte, schlug sich zunächst bis Irkutsk (von Kr. etwa 1000 km ) 8

und von da weiter nach Tschita zum Kosakenataman Lemjanoff durch, ohne die Eisenbahn zu benutzen, und ohne daß es den zahlreiche Versuchen der Roten gelang, ihm den Weg zu versperren. Wo ihm rote Truppen in den Weg traten, wichen sie seinen energischen Angriffen sofort aus. Ich habe diese Leistung Kappels lediglich als Marsch immer aufs höchste bewundert, denn die Eisenbahn und das ihr zunächst liegende Gebiet mußte er vermeiden. Anständige Straßen gab es nicht, der Schnee lag hoch und die Kälte betrug mindesten – 15° R, häufig -40° R. Erklärlich ist sie mir nur dadurch, daß er und seine Unterführer vorzügliche Leute gewesen sein müssen, die das Vertrauen der Truppe hatten. Bei den Bauern machte er sich äußerst unbeliebt, da er immer neue Pferde und Schlitten 28

requirierte und seine abgetriebenen Schinder zurückließ. Kansk umging er, die mit großem Wesen ausgeschickten Fangabteilungen kehrten mit leeren Händen zurück. Die Tschechen verhielten sich neutral. Sie waren schon im Sommer 1919 aus der Front herausgezogen worden und hatten sich, ebenso wie die Rumänen, auf den Bahnschutz beschränkt. Solange sie noch in der Front waren, hatte Koltschak große Erfolge gehabt, sogar Kasan an der Wolga genommen, nachher ging es immer schneller rückwärts, was ja auch erklärlich war, da die Roten den sibirischen Truppen an Güte und Ausrüstung wohl gleich, an Zahl bedeutend überlegen waren. Die Tschechen hatten nun den verständlichen Wunsch, in dieser Auseinandersetzung neutral zu bleiben und möglichst ungeschoren nach Hause zu kommen. Und das war zu verstehen, 29

denn sie hatten zunächst als Böhmen in der österreichischem Armee gestanden, nach ihrer Gefangennahme (bzw. Überlaufen) und Bildung der tschechischen Division an den Karpathen und rumänischen Front keinerlei besonders freundliche Behandlung von Seiten der ihnen gegenüberstehenden Deutschen, Österreichern, Ungarn und Bulgaren erfahren. 1918 ließen sie sich von ihrem Deutschenhaß und französischer und amerikanischer Propaganda (und Geld?) zum Putsch gegen die Bolschewiken verleiten und haben in den Jahren Mai 1918 bis Sommer 1919 mächtig Haare gelassen, da es - vor allem mit den Internationalen, d.h. Ungarn - zu Kämpfen kam, die an Grausamkeit und Hartnäckigkeit viel schlimmer als die auf den europäischen Kriegsschauplätzen waren. Schließlich wurde es ihnen zu dumm, sich für Mr. Wilson, amerikanischen Tabak und die Demokratie totschießen zu lassen und sie strebten nach Hause. Ihre Lage war auch 30

dadurch so übel geworden, daß sie sich, genau wie uns Deutschen, auch den Russen gegenüber höchst grausam (z.B. beim Requirieren) benahmen, und es liebten, den Herren zu spielen. Doch war es ihnen schon im Herbat 1919 nicht geglückt, über Wladiwostok nach Hause zu kommen, wie man sagte aus Mangel an Schiffen und Lokomotiven, in Wirklichkeit wohl, weil die Herren vom Feindbund nicht wollten, so war es jetzt, wo auch das ganze russische Heer und die russische Bourgeoisie nach Osten flüchtete und infolgedessen ein heilloses Durcheinander auf der Bahn war, fast unmöglich. Darum verringerten die Tschechen zuerst ihr Gepäck – so bekamen wir im Dezember den vielen Lopato Tabak ins Lager – doch half das nicht weit. Nun in diesen kritischen Tagen Anfang Januar mußten die hochmütigen und deshalb bei den Russen recht verhaßten Tschechen sich immer enger legen, zuerst waren immer 8 in einer Tepluschka (Mannschaftstransportwagen mit kleinem Eisenofen)4 31

bald 24 und mehr. Schuhe und Kleidungsstücke gaben sie in Massen ab. Trotzdem ging es nicht schnell genug. In Krasnojarsk waren sie noch im Guten vor dem Eintreffen der Roten abgefahren, etwa 8 Tage später in Klukwinnaja (Mitte zwischen Kr. und Kansk) hatten die Roten schon einige Schreckschüsse abgegeben, in Kansk (am 15. oder 16. Januar) kam es zu einer Art Gefecht zwischen dem Vorhutspanzerzug der Roten und dem den Tschechischen Rückzug deckenden Tschechischem Panzerzug. Jedenfalls beschleunigten die auf dem 4 Siehe Beschreibung in Heft 2 Seite 2

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Bahnhof Kansk einschlagenden Granaten die Abfahrt der Tschechen außerordentlich, abds 7h rollte der letzte Zug über die Brücke. Im Weiteren Verlauf ist es dann stellenweise noch zu heftigen Kämpfen zwischen den Tschechen und den Roten gekommen, was wohl vor allem daher kam, daß die Russen den Tschechen die wie in Feindesland und vor allem mit ganz 32

unnötiger Grausamkeit gehaust hatten, nur zu gern noch Hiebe verpassen wollten. Vor allem aber, weil die Tschechen den russischen Goldvorrat (800 Millionen Rubel = rd. 600 Millionen Goldmark), den sie im Herbst 1919 in Kasan erbeutet hatten, bei sich führten. Ich fand es sehr bezeichnend für das Verhältnis zwischen Tschechen und der sibirischen Regierung, auch für die Einschätzung letzterer durch die Verbündeten, daß der russische Goldschatz bei den Tschechen verblieb. Ihn also wieder zu erbeuten, gelang den Roten jetzt, weil die Eisenbahn buchstäblich verstopft war, und damit brachten sie ein äußerst wertvollen Besitz an sich, und konnten u.a. auch der „Roten Fahne“ wieder neue Unterstützung zahlen. Ihre Niederträchtigkeit zeigten die Tschechen noch einmal sehr gründlich durch ihr Verhalten gegen den Admiral Koltschak, der seit 18 das Haupt der sibirischen zeitweiligen Regierung war, also der Regierung, für die die Tschechen kämpften. 33

hatte die Reise nach Osten nicht so voreilig angetreten, und war zu lange bei der Truppe geblieben. Jetzt kam er nicht mehr durch, und wurde auf einer Station zwischen Irkutsk und Kansk von den Tschechen gefangen gesetzt und den Roten überliefert, die ihn nach einer pro forma Gerichtsverhandlung umbrachten. Unbegreiflich war uns, daß er es so weit hatte kommen lassen, daß die Tschechen ihn hatten gefangen nehmen können, und auch, daß er sich lebend den Bolschewiken ausliefern ließ, denn was die mit ihm vornehmen würden, war doch ganz klar. Es war doch immer ihre Methode, daß sie Straffreiheit verkündigten, und nachher mit jesuitischer Tiftelei oder offener brutaler Nichtachtung diese Ankündigung umgingen. Koltschak hätten wir ein besseres Ende gegönnt, denn, wenn auch das Haupt einer uns feindlichen Regierung, genoß er doch bei uns als Persönlichkeit ein gewisses Ansehen, und war, soweit ich das beurteilen konnte, Koltschak

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ein energischer und wohlmeinender Mann, dem es nur zu seinem und Rußlands Verderben nicht gelang, andere mächtige Einflüsse und vor allem die Mißwirtschaft der Etappe, der Bestechlichkeit und der Kosakendespotie zu unterdrücken. Er sah gut aus, war noch sehr jung, und hatte (ich weiß nicht ob während des ganzen Krieges, jedenfalls seit der russischen Februarrevolution – März 1917) als Führer der Schwarzmeerflotte großes Ansehen genossen. Ich lernte mal einen intelligenten bolschewistischen Matrosen kennen, der voll Begeisterung von General Koltschak, seinem früheren Kommandeur, sprach. Doch durch diesen Bericht über den tschechischen Rückzug usw. bin ich den Ereignissen ein bißchen vorausgeeilt und kehre noch mal zu den ersten Januartagen zurück. Damals waren die Tschechen noch in Kansk, und wenn sie sich auch neutral verhielten, doch die einzigen, die eine reale Macht verkörperten. Sie lagen auf der Bahn, in der Stadt 35

waren die neuen demokratischen Organisationen, aber nur als Behörden, sie hatten keinerlei Macht hinter sich, denn die plötzlich zu den Roten übergetretene Garnison genoß kein Zutrauen und trug die roten Bänder nur aus Berechnung, nicht um etwa ihr Leben dafür einzusetzen. Und außerhalb der Stadt waren die sogenannten Freischaren, berittene Scharen von Bauern, Soldaten und Abenteurern, die ununterbrochen seit 1918 gegen die sibirische Regierung gefochten hatten, in ihren Dörfern und Wäldern weit von der Bahn für Strafexpeditionen vollständig unerreichbar waren und den sibirischen Truppen durch Überfälle sehr schwer zugesetzt hatten. Dieser Bürgerkrieg, bei dem die Dörfer von Hand zu Hand gingen - worauf jedes mal immer schärfere Strafgerichte folgten - und bei dem russischer Bauer gegen russischen Bauer focht, war eine der traurigsten Folgen des russischen Chaos. Wie oft haben mir russische Bauern gesagt: „Ich weiß nicht, warum ich auf meinen Bruder schießen muß, ich will in Frieden mein Land bestellen 10

und er das seine!“ Doch es ist wohl das Los der russischen Bauern, ob er „Ћоже, Ҷаря храии!“ - die feine Zarenhymne - oder, „Völker hört die Signale, auf zum letzten Gefecht!“ singt, er hat einen hinter sich mit der Knute stehen, der ihn für eine völlig und meist auch gleichgültige unverständliche Sache in den Tod jagt. Am Nachmittag des 15. (oder 16.) Januar kam dann die klärende Entscheidung. Mit Wohlgefallen hörten wir, als wir am Flusse unser Holz sägten, die den Tschechen zugedachten Kanonenschüsse, und sahen gleichlaufend mit der Bahn reguläre rote Truppen vorgehen. Zuerst kamen einige Abteilungen Reiterei, sogar gut ausgerüstet mit Pelzen, Filzstiefeln und Pelzmützen und breiten roten Bändern darüber. Sie ritten militärisch geordnet mit Führern, und schnitten gut ab vor unseren kritischen Augen. Sie, wie viele taten, mit Hurra zu begrüßen, brachte ich nicht über mich, denn vom ersten

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Augenblick an sah ich in ihnen Vertreter einer Macht, die zwar bei den eigenartigen Verwicklungen der Tschechen unsere Befreier werden konnten, die aber doch in Deutschland als Spartakus Partei auftrat, und wenn es mir schon ziemlich gleichgültig war, welche Partei in Rußland am Ruder war, so konnte ich meinen Widerwillen gegen diese Schar von Volksbeglückern, die in Deutschland auch den übelsten Bürgerkrieg entfachen wollten, nie überwinden, wenn ich vieles an ihnen auch verstand, oder zu verstehen mich bemühte. Nach der Reiterei kam Infantrie, in langen Filzstiefeln und Halbpelzen durch den hohen Schnee watend, was sie sichtlich warm machte. Auch sie war eine gut ausgebildete Truppe, was man an dem Vorgehen der Schützenlinie sehen konnte. In Kansk machten die Truppen halt und im Lager war große Aufregung. Die kühnsten Hoffnungen wurden geäußert, manche sahen sich schon innerhalb von 14 Tagen auf der Eisenbahn westwärts rollen. 31.Mai 22.

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Derartig greifbare Hoffnungen hatte ich nicht, hütete mich auch nach vielen Erfahrungen seit dem Sommer 1918 geflissentlich, mich - sei es auch nur in Gedanken - irgendwie festzulegen, denn es war ausnahmslos immer anders gekommen, als wir gedacht hatten. Aber trotzdem fühlte ich ein Gefühl riesiger Erleichterung, und mußte immer an das Märchen vom Froschkönig denken, dem der erste Reif vom Herzen sprang. Es war die Beobachtung, die ich schon immer gemacht hatte, es ist ein großes Glück, daß man nicht weiß, was einem noch bevorsteht, daß sogar der sogenannte Pessimist sich die Dinge immer noch etwas nach seinem Geschmack zurechtlegt, und so war es auch gut, daß wir damals nicht ahnten, was uns noch alles bevorstand. 39

Am Abend beschloß die Tischgruppe, in der Bücherei einen Festkaffee steigen zu lassen, und wir vereinten uns zu einem gemütlichen Beisammensein bei Licht, Kaffee und vielen unausgesprochenen Hoffnungen. Besonders in Erinnerung ist mir noch, daß der Professor und ich einigermaßen mit Wülfing aneinandergerieten, der, wenn es ihm in seinen Kram paßte, prompt auf alles hereinfiel, was die Engländer und Franzosen über Deutschland verbreiteten, und an dem Abend warm die Erzbergersche Friedenspolitik verteidigte, von der wir nicht so sehr erbaut waren. Der erste Erfolg des Eintreffens der Roten war, daß wir - ich weiß nicht, ob offiziell, jedenfalls aber tatsächlich - nicht mehr bewacht wurden. Wir konnten ohne „Propusk“ (Paß) in die Stadt gehen, was wir natürlich schleunigst besorgten. Vor allem sah man sich 40

den bisher streng verbotenen Bahnhof an mit mehreren Panzerzügen und einem großen Durcheinander und viel Schmutz. Die Tschechen hatten ihren Standort in einem greulichen Zustand hinterlassen. Ich glaube mich auch zu erinnern, es gäbe jetzt keinen Unterschied mehr, wir seien alle freie Bürger. Wollte man irgend etwas Bestimmtes über unser Los erfahren, so wurde man an den Stab der (5.?) Armee verwiesen, doch zog sich deren Kommen endlos in die Länge. Aus dem weiteren Verlauf der Dinge und den Äußerungen 11

einzelner Bolschewiken merkte man, daß an einen Transport nicht zu denken sei. Als Gründe hierfür wurden genannt die Unmöglichkeit jetzt zu fahren, weil 1.) die Brücken von den zurückgehenden Koltschaktruppen und Tschechen gesprengt seien, 2.) längs der ganzen Sibirischen Bahn Flecktyphus, 3.) Mangel an Holz und Lokomotiven herrsche. 41

Alle drei Gründe waren sicher zutreffend, doch war man mit Recht sehr skeptisch, denn es mehrten sich die Zeichen, daß auch die wichtigste Grundbedingung, der gute Wille fehlte. Besonders bei den Internationalen, die sofort nach dem Erscheinen der Bolschewiken wieder auftraten, und sich große Verdienste als russische Polizei und als Henker erwarben und außerdem ihre Hauptaufgabe darin sahen, jeden Kriegsgefangenen an der Heimkehr zu hindern. Die Bahnüberwachung war in ihren Händen, und schonungslos fischten sie jeden Kriegsgefangenen, der in einem ostwärts fahrenden Zug saß, heraus. Vorgeblich wollten sie dabei die Interessen des russischen Proletariats vertreten, in Wirklichkeit war es Haß gegen die, die sich nicht ihnen anschlossen. Die erste Zeit bis etwa Ende Januar sägten wir noch unser Holz, eine Arbeit, die sich immer länger hinzog als wir gedacht hatten, da sich unter dem Schnee 42

immer neue Stämme fanden; und vor allem, da man die z.Z. herrschende Unordnung - die alten Gewalthaber waren entflohen und die neuen überblickten noch nicht alles - benutzte, um den sehr zur Neige gehenden Holzvorrat zu ergänzen. Da stand etwa 5 Min. vom Lager entfernt noch das Sommerlager, und dieses wurde jetzt restlos beseitigt, soweit es aus Holz bestand. Es war zwar nicht sehr angenehm bei 10-20° und mehr ° Kälte ( R ) Baracken einzureißen, aber was tat man nicht alles, um zu Brennholz zu kommen. Ich entsinne mich auch noch eines morgens, als ich allein, (um nicht zu spät zu kommen, wartete ich nicht ab, bis der Kompanie-Stoßtrupp zusammengekommen war) einen alten Stall erklomm, und in schwerer Arbeit eine Bresche in das Bretterdach schlug, wobei mir immer wieder der Keil aus dem Beilstiel herausfiel, so daß ich – dick angezogen und mit klammen Pfoten 43

ab und auf klettern mußte. Doch war es ein großer Vorteil, daß man diesmal bei Tageslicht klauen konnte, und nicht, wie im Jahr vorher, die Nacht zu Hilfe nehmen mußte. Nach den Balken und Pfosten kamen Bretter dran, von denen wir schließlich einen so großen Vorrat hatten, daß wir sie im Frühjahr, als wir aufhörten zu heizen, mit Gewinn an die Russen verkaufen konnten. Schließlich wurde auch alles Flechtwerk - die niedrigen Wände der Zelte wurden aus Flechtwerk gebildet, das mit Erde ausgefüllt war - abgerissen und verbrannt. Das war ja alles ganz schön und gut und mußte auch sein, aber natürlich wurde es scheußlich ungemütlich in der Baracke. Überall lag Holz herum, ständig wurde gesägt und gespalten, und keine Minute war man sicher vor irgend einer Anstellung. Unsere Sägerei für die Küche hatte inzwischen aufgehört. Wenn es auch stumpfsinnig gewesen war, so war man doch mit Geld und Essen 44

wir Küchenarbeiter bekamen immer eine Wucht extra - für einige Zeit ohne Sorgen gewesen. Besonders schön war immer der Lohntag, bei dem je nach Anlage verschieden hoher Teil des Verdienstes sofort in Kaffee und Kuchen verwandelt wurden. Das ganze Jahr 1920, besonders die Zeit, die ich im Lager Kansk verlebte, war scheußlich ungemütlich, und läßt sich schwer beschreiben, da so viel durcheinander wirkte. Ende Januar wurden wir nach langer Zeit wieder einmal geimpft. Woher Dr. Bauer das Serum bekommen hatte, weiß ich nicht, jedenfalls war es gleich gegen mehrere Krankheiten – Cholera, Bauchtyphus und Paratyphus A und B – und auch schon Quantitativ ziemlich viel. Besonders die 2. Impfung, die gerade auf den 27.1.20 fiel, nahm uns alle recht mit, und ich erinnere mich noch, daß ich lange mit Wilhelm Hartmann, Moritz und 45

Herrn D. zusammensaß, und daß wir alle krampfhaft unser Unbehagen unterdrückten. Schließlich gegen 10 wurde es so schlimm, daß ich mir ein Thermometer besorgte - Dr. B. 12

War nicht vorhanden, sein Vertreter Korth war selbst krank - und bei allen möglichen Leuten so um die 40° Fieber feststellte. Bei mir selber zu messen, hatte ich glücklicherweise keine Zeit, da mein 2. Nachbar, ein türkischer Hauptmann, schwer litt, so daß ich ihm allerlei Samariterdienste leisten mußte, wobei sein dunkles fremdes Gesicht mit den vom Fieber glänzenden Augen einen ganz unheimlichen Eindruck machte. Dies war glücklicherweise die letzte von vielleicht 10 – 20 Impfungen, die immer weniger angenehm wurden, da die Nadeln immer stumpfer wurden; ob die Lymphe was taugte, weiß ich nicht, die Geschicklichkeit der Impfenden 46

– einmal war es ein Student der Tierheilkunde – ließ auch manchmal zu wünschen übrig. Das Schlimmste an dieser Zeit war wieder die große Ungewißheit. Im Jahre 1919 hatte man gewußt, was los war, und sich entsprechend eingerichtet, jetzt 1. Hälfte 1920 wagte kein einziger der zahllosen offiziellen und inoffiziellen russischen und internationalen Sendlinge, offen zu sagen, wir transportieren euch nicht ab, sondern jeder versprach alles Mögliche, jeder gab auch einen anderen Grund an. Immer mehr hörte man die Zumutung, wir sollten den russischen Proletariern, die ohne Schuld ins Unglück geraten seien und von Imperialisten, Kapitalisten und Burschuis verfolgt würden, helfen, ihr Land in Ordnung zu bringen (als Dank für die Befreiung!) und dann (wann?) heimkehren und den Segen der Diktatur des Proletariates verkünden. 47

Dabei stellte sich sehr bald heraus, daß die Freiheit, die sie uns gegeben hatten, bedeutete, daß sie keine Verpflegung mehr lieferten, und daß sie auch keine Verpflichtung anerkannten, für uns zu sorgen. Es gäbe keine Vorrechte mehr, wir sollten selber sehen, wie wir Arbeit fänden. Das war nun für die große Masse schlimm. Mit Mühe war es vermittels der Heimarbeit, die sich im Laufe von ¾ Jahr zu recht ansehnlichen Betrieben entwickelt hatte, gelungen, jedem der arbeiten und Geld verdienen wollte, dazu zu verhelfen. Nun kamen die Kommunisten, und brachten es in wenigen Wochen dahin, daß die Heimarbeit so gut wie ganz einschlief. Der Einkauf von Rohmaterial wurde verboten, Rohstoffe beschlagnahmt (um irgendwo zu verderben!) der Vertrieb der Fertigerzeugnisse ebenfalls erschwert oder ganz verboten. Denn im Verlauf von etwa ¼ Jahr waren sie glücklich 48

so weit, daß so gut wie jeder freie Handel verboten war, und man nur durch den mitunter sehr wirksamen Schleichhandel etwas ein- oder verkaufen konnte. Von Zeit zu Zeit wurden alle Betriebe und alles Werkzeug registriert, ein Vorbote der drohenden Nationalisierung. Nur ganz wenige Betriebe gingen weiter, manche wurden nationalisiert, d.h. Leiter, Angestellte und Arbeiter traten in den russischen Staatsdienst. Bekamen Wohnung, Werkstatt und Werkzeug in der Stadt, ein kümmerliches Gehalt und noch kümmerlicheres Essen. Der Erfolg war, daß sie sich Nebeneinnahmen verschafften durch Privatarbeit oder „Besorgen“ von Rohstoffen oder Werkzeug. All dies im Schleichhandel loszuwerden, war nicht immer leicht und ungefährlich, brachte aber sehr viel mehr ein, als die offizielle Arbeit. 49 7.Juni 1922

Unter solcher Ungewißheit und Schwierigkeit, Arbeit zu finden litt natürlich die große Masse (die Weltfremden, die Ehrlichen, die Dummen u.a.) am meisten. Die Not äußerte sich in dem immer schlechter werden der Verpflegung. War es 1919 durch Heimarbeit und Gemüsebau gelungen, die Ernährung bedeutend zu verbessern, so wurde sie jetzt schnell wieder schlechter. Die Russen lieferten von Woche zu Woche weniger, (schließlich wohl so gut wie garnichts), die Küche, die bis dahin durch geschicktes Wirtschaften die Kost sehr verbilligt hatte, mußte jetzt ihre eigene Schweinezucht aufgeben und konnte auch keinerlei Vorräte ansammeln, damit sie nicht eines Tages requiriert wurde. Ich entsinne mich, daß eines Tages ein Trupp ungarischer Kommunisten kommen wollte, um die Lagerküche zu revidieren. Man erfuhr rechtzeitig davon 50

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und verteilte eiserne Portionen, bei uns (Küche V) bekam jeder etwa 1½ ℔Dauerwurst. Als nach einigen Tagen die Wurst wieder eingezogen werden sollte, da die Gefahr vorüber war, stellte sich heraus, daß von der ausgegebenen Wurst nicht mehr viel vorhanden war. Im Herbst und Winter 19 konnten die Küchen auch durch geschicktes Einkaufen (bis zu 100 km von Kansk entfernt auf den Dörfern) preiswert Lebensmittel bekommen. Jetzt war das streng verboten, und ein ganz kümmerlicher Schleichhandel genügte nicht, um genügend herbeizuschaffen. So wurde dann die Ernährung von Tag zu Tag eintöniger und kümmerlicher. Buchweizen, Hirse, schwarzes Mehl und Kartoffeln ohne Fleisch, Fett und Gemüse waren die Hauptlebensmittel, und es war eine hervorragende Leistung, daß die für die Küche tätigem Herren immer wieder Wege fanden, die russischen Bestimmungen zu umgehen. (Überhaupt war ja das ganze kommunistische Wirtschaftssystem 51

nur dadurch durchführbar und etwa zu ertragen, daß alle Bestimmungen ausnahmslos überschritten und umgangen werden konnten. Und so fand sich immer wieder eine Möglichkeit, weiter zu wurschteln. Z.B. im Frühjahr kam durch ein Wunder eine Sendung „Amerikaner“schuhe vom schwedische Roten + in Irkutsk - kurz vor dessen Nationalisierung - zu uns. 650 Paar für 2 – 3000 Mann, das ging nicht auf. Außerdem sahen sie riesig solide und derb aus, taugten aber garnichts (amerikanische Kriegsgewinnler wollten auch leben, auch waren sie ja nur für die Dummen bestimmt, die sich für die Amerikaner totschlagen ließen). So beschloß man, sie gegen Fleisch an die Russische Oberverteilungsstelle, zu der wir sehr gute Beziehungen hatten, loszuschlagen, und machten ein gutes Geschäft dabei, denn wir bekamen Fleisch und viel Papiergeld. Später ließen sich die Küchen altes Schuhwerk, Wäsche, Kleidungsstücke usw. 52

geben und ihre aufopferungsvollen Mitarbeiter fanden immer wieder Wege, die russische Miliz und die Internationalen zu umgehen und uns Lebensmittel zu beschaffen. All das fing im Januar erst sachte an. Damals verdiente die Küche noch viel Geld durch Heimarbeit, d.h. Kuchenbacken und vor allem Schlachten. Das Wurst machen hatten unsere Köche mittlerweile gelernt, und da es durch die Heimarbeit noch Geld gab, wurden große Mengen abgesetzt. Die zunehmende Geldentwertung hatte uns auch schon gelehrt, alles Papier schnell in „Sachwerte“ um zusetzen. Es gab immer ein Freudengeschrei, wenn die Küchenvertreter abends, wenn alles versammelt war, mit langen Stangen, an denen lauter Würste baumelten, in die Baracke kamen, und die bestellten Würste gegen sofortige Bezahlung (in Schecks auf die Lagerbank) auslieferten. Ich konnte nie widerstehen und legte alles beim Holzsägen erworbene Geld immer gleich in Lebensmittel an. So erinnere ich mich eines Sonnabends 53

(Ende Januar oder Anfang Februar 1920), an dem eine Zungenwurst „wie ein Gedicht“ ausgeboten wurde. Ich konnte nicht widerstehen, obgleich dadurch mein Vermögen auf weit unter 100 Rubel sank - damals sehr wenig und obgleich Anton, der Burschui, der über 1000 Rubel besaß, aber sehr sorgfältig rechnete, mich ernsthaft verwarnte. Trotzdem machte ich mir einen guten Sonntag und am Montag tauchte ganz plötzlich das Gerücht auf das sibirische Geld sei annulliert worden, also das landesübliche Geld der zeitweiligen sibirischen Regierung (Koltschak). Es war amüsant zu beobachten, wie manche Gesichter bleich und bleicher, lang und länger wurden. Sehr bald hatte ein Interessierter eine Zeitung, in der der Erlaß stand, aufgetrieben, und ich machte mich garnicht beliebt, als ich ihn auf Verlangen immer wieder vorübersetzte, denn der Wortlaut ließ keinen Zweifel zu. Wir Leichtsinnigen, die wir die Lilien 54

auf dem Feld unser Vorbild nannten, hatten viel Freude an dem offenen oder versteckten Ärger der Eingeschnappten. Diese Maßregel der Räterepublik, sich einige Milliarden Papierrubel vom Halse zu schaffen, war m.E. äußerst ungerecht und unsozial. Denn sie traf tatsächlich nur den kleinen Mann und Arbeiter, der wenig Geld besaß und das nur in der 14

landesüblichen Koltschakwährung. Die Spekulanten und Juden verloren meist einige oder viele Millionen, aber denen machte es nichts aus, denn sie besaßen genug Naturalien, Wertgegenstände, und Geld in anderer noch gültiger Währung, daß sie nichts litten. Interessant war eine Feststellung in unserem Lager. Man wollte den Versuch machen, einen Ersatz zu verlangen, und stellte deshalb Listen auf, in die jeder seinen Verlust eintrug. In unserer Baracke ( 80-100 deutsche Offiziere) ergab das einen Gesamtbetrag von etwa 28000 Rubel. In einer Baracke, (8. oder 9.) in der Mannschaften 55

aller Nationalitäten lagen, die bei Koltschak oder den Tschechen gearbeitet hatten, Betrug der Gesamtbetrag 1 ½ Millionen Rubel. Mit diesem wertlosen Papier wurde allerhand Unfug getrieben, so in einer Mannschaftsbaracke die Öfen damit geheizt, u.a. nicht sehr Edles. Manchem gönnte man einen Reinfall. So hatte ein sehr begüterter Heimarbeiter, der schon Tausende von Rubeln besaß, aber den Rachen nicht voll genug kriegen konnte, (Feldwebelleutnant Kl in Bar. 27.) am Sonnabend in seiner Rachullrigkeit eine wertvolle gute Uhr (die noch dazu einen Erinnerungswert für ihn als Belohnung für gute Arbeit als Lehrling hatte) an einen der galizischen Trödler für einige Tausende verkauft und saß nun am Montag mit seinen Tausenden da. Darob allgemeine Schadenfreude. Anderes war bedauerlicher, so, daß einzelne, die nicht arbeiten konnten, ihre Spargroschen verloren, und vor allem, daß der große Fonds, den wir zu Weihnachten gesammelt hatten, 56

um das Lazarett zu unterhalten, für das die Russen nichts mehr taten, daß auch er eine Beute der weitsichtigen bolschewistischen Maßregel wurde. Nach dieser Annulierung wurde die Not aber recht fühlbar, und jeder suchte Arbeit. Das war aber nicht einfach, denn die Heimarbeit war am Einschlafen, und die Russen hatten Arbeiter genug, was sollte auch die kleine Stadt Kansk mit der großen Menge von Richtern, Lehrern, Beamten usw. machen, die meist kein russisch verstanden und meist keinerlei „produktive“ Tätigkeit ausüben konnten. Einzelne fanden bei einzelnen Russen (Privatleuten) Arbeit, sägten dort Holz, kalkten die Stuben, reinigten die Höfe u.a. und bekamen dafür Geld oder Essen oder beides. Die große Masse war darauf angewiesen, sich zu den Arbeiten zu melden, zu dem die Russen im Lager noch Arbeiter suchten. Das 1. war die Aufräumung und Säuberung des Bahnhofes Kansk. 57

Versprochen wurden 60 Rubel für den Tag. Da die Not sehr groß war, meldeten sich viele, zogen früh, ehe es Teewasser gab, im Dunkeln und bei großer Kälte zum etwa 1 Std. entfernten Bahnhof, arbeiteten dort den ganzen Tag, ohne etwas zu essen zu bekommen, und kehrten abends müde und hungrig ins Lager zurück und waren hier auf die dürftige Lagerkost angewiesen, da man ihnen kein Geld gab. Da die Not aber groß war, gingen sie immer wieder heraus, und nach mehrere Wochen bekamen sie endlich Geld, aber nur 30 Rubel für den Tag, d.h. etwa den 10. Teil dessen, was man ihnen versprochen hatte, denn die Entwertung des Geldes machte schreckliche Fortschritte, seit die Roten im Lande. Anfang April lernte ich zufällig einen Russen kennen, der beim Stationskommandanten von Kansk angestellt war, er erzählte mir harmlos, er habe noch nie in seinem Leben so viel Fleisch und Butter gegessen, wie im Februar und März 1920, 58

und das wollte bei einem Russen allerhand heißen. Man sah es ihm auch an. Dr. Schönhof bemühte sich damals, uns das marxistische Programm zu erklären. Meine Auffassungsgabe reichte nicht hin, um die Lehre vom Mehrwert und von der Ausbeutung zu verstehen, aber ein sehr anschauliches Bild der Ausbeutung hilfloser Arbeiter, das auch der Dümmste verstand, gab uns jener Bahnhofskommandant von Kansk, der Vertreter der „Diktatur des Proletariats“. Andere, spätere, auch mangelhaft, aber pünktlich bezahlte Arbeiten waren das Schneeschippen. Das Flechten von Strohmatten (woran sich Herr Günther mit dem Monokel im Auge auszeichnete) u.a. Dann gab es mal wieder etwas sehr Günstiges: Von Verwundeten, 15

Angefrorenen und Flecktyphuskranken waren alle Lazarette überfüllt. Irgendwelche Baracken und Kasernen sollten als Lazarette eingerichtet werden. 59

Dazu waren große Mengen an Bettstellen nötig. Da schleunigst etwas geschaffen werden mußte, verließ man sich nicht auf das kommunistische System, sondern vergab das Ganze gegen einem Einheitssatz pro Bett an einen Kriegsgefangenen (einen ganz jungen aktiven Leutnant) als Unternehmer. Der löste die Aufgabe glänzend durch Einführung der Akkordarbeit. Nicht ganz ungeschickte Arbeiter kamen ohne weiteres auf 100 Rubel täglich, - zu einer Zeit, wo der Arbeiter in staatlichen Betrieben 30 – 60 Rubel verdiente geschickte leicht auf mehr, gelernte Tischler auf 300 R. Dazu gab es einen geeigneten Raum als Werkstatt, Werkzeug mußte allerdings jeder selbst mitbringen. Vor allem gab es aber täglich warme Lazarettverpflegung, und die war fett und gut und reichlich. So kamen die Russen schnell (und billig!) zu Betten und der Gefangene zu Essen und Geld und allen war geholfen, allerdings durch Anwendung des kapitalistischen Systems. Hierzu wollte auch ich mich melden, kam aber nicht mehr an. 60 17. Juni 22.

Das Leben in der Baracke und im Lager überhaupt in jenen ersten Monaten 1920 wurde von Tag zu Tag übler und trug sehr dazu bei, daß eine große Flucht hinaus in die Stadt und auf die Dörfer stattfand. Die mancherlei Übelstände des Gefangenenlebens hatten einen Höhepunkt erreicht, der kaum zu übertreffen war, und wenn ich im Sommer 1920 als unerschütterlichen Leitsatz bei allem Denken und Handeln nur den Gedanken hatte: „Heraus auf jeden Preis, auf jede Gefahr hin“, so war das eine Folge dieses Winters, wie ich mir keinen zweiten zuzumuten wagte. Besonders schlimm wurde die Zeit dadurch, daß sie eine Übergangszeit war, und das ist ja immer - nicht nur in der Gefangenschaft - schwer, eine neue Lebensart, neuen Verhältnissen angepaßt, zu finden. Damals nun ging endgültig unter die Lebensform, die die längste Zeit der Gefangenschaft beherrscht hatte, bis sie 1919 sehr erschwert und 1920 unmöglich wurde, daß man nämlich unter materiell kümmerlichen, 61

aber doch erträglichen, Verhältnissen seine Zeit auf angemessene Weise totschlug, so wie das in unserem Gefängnis möglich war, also durch Privatarbeit, Lehren und Lernen, Pflege von allerlei Sport, Fertigkeiten und Künsten, und Regelung des gemeinsamen Lebens durch Selbstverwaltung und ehrenamtliche Tätigkeit im Dienste der Gemeinheit. Natürlich trug ein derartiges Leben den Keim des Verderbens in sich. Darin bestand ja eben das Unmenschliche der Gefangenschaft - weil eben, abgesehen von den mancherlei Schönheiten und Verzierungen, die das Leben in Deutschland, und überhaupt jedes gesunde, normale natürliche Leben bieten kann, jede Wirkung, jede Verantwortung und alles Schaffen fehlte. Daß nun dieses Zerrbild von Leben - vergl. auch Dostojewski „Memoiren aus 62

einem Totenhause“ - aufhörte, war nur ein Gewinn, und ich habe manchmal gedacht, es wäre uns allen besser gewesen, wenn man uns gleich nach der Gefangenennahme auf irgend eine Arbeit geschickt hätte. Doch das ist ja nun müßig, herausgekommen wäre auch dabei nichts, denn man hätte sich verpflichtet gefühlt, die - damals gegen Deutschland im Felde stehenden - Russen nach Möglichkeit zu schädigen. Außerdem wäre die Mehrzahl an Hunger, Seuchen, Kälte und Entbehrungen gestorben. Man kann das Kriegsgefangenenleben betrachten wie man will, Ersprießliches kommt nie heraus dabei; da eine Asbest- oder Kautschuk- oder Granit-Seele noch nicht erfunden ist, kann man einen Menschen auch nicht 5 Jahre aus natürlichen Lebensbedingungen herausreißen, ohne daß er Schaden nimmt. Der Anfang des Jahres 1920 brachte nun zwei neue Momente in unser Leben, 63

die grundsätzliche nicht durchweg die tatsächliche Beendigung der Kriegsgefangenschaft, was sich zunächst und überwiegend in der Hoffnung, nun bald nach Hause zu kommen äußerte, sodaß man sich bemühte, alles andere zu vergessen und hintanzustellen. Als es aber 16

mit der baldigen Heimkehr nichts wurde, galt es sich unter den neuen Lebensbedingungen zurechtzufinden, und eine erträgliche Daseinsform zu schaffen. Doch das waren alles Erkenntnisse, die erst im Frühjahr und Sommer sich durchbrachen, zunächst beherrschte unser Leben die stets betrogene Hoffnung auf baldigen Abtransport, und dieses Ungewisse war das Schlimmste in den ersten Monaten des Jahres 1920, auf die ich nun nach dieser Abschweifung im Einzelnen zurückkomme. 19.Juni1922.

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Zunächst das Essen, es wurde immer eintöniger und schlechter, da die Russen, die seit Sommer 1919 die Lebensmittel lieferten, immer weniger herausrückten. Jede Woche wurden neue Bestimmungen (bis ins Einzelste durchgeführt) bekannt gegeben, über die Mengen, die uns zustanden; maßgebend waren die Listen nicht, und nur der Geschicklichkeit unserer Vertreter gelang es, hier und da den russischen Magazinverwaltern etwas abzugewinnen. Die 2. Quelle unserer Verpflegung – Zuschüsse durch Heimarbeit der Küche, hauptsächlich Schweinezucht, Wursterzeugung und Kuchenbäckerei, versiegte auch gänzlich, da die drohende Nationalisierung, d.h. Enteignung ohne jede Entschädigung, und das Verbot jedes Privatgewerbes ihr Weiterbestehen unmöglich machte. Und ebenso war es mit der 3. Quelle, dem Aufkaufen von Lebensmitteln in den Dörfern, oft über 100 km entfernt. Schon im Dezember waren 2 unserer Einkäufer im Verdacht Tschechen zu sein, 65

von roten Freischaren festgesetzt, und hatten 5 – 6 Wochen voll furchtbaren Erlebnissen in einem Gefängnis erlebt. - Was sie erzählten von dem Leben der festgesetzten Russen und Russinnen, von denen täglich mehrere oder viele zur Hinrichtung herausgeholt wurden, von ihrem Verhalten bis zur letzten Minute, das war in seiner grauenhaften unverständlichen Mischung von Apathie und Rohheit auch ein Beitrag zum Studium der mir ewig rätselhaften russischen „Psyche“. --Jetzt, wo überall rote Miliz herumstreifte und requirierte, wurde es sehr bald unmöglich, daß unsere Einkäufer Lebensmittel erhandelten oder eintauschten. Das in der Lagerbäckerei hergestellte Brot war oft gerade zu grauenhaft, und nur zu genießen, wenn man es röstete. Kurz, wir waren an der Grenze des Erträglichen angelangt, und nur die Findigkeit der Gefangenen im Entdecken immer neuer Möglichkeiten half uns weiter, und das verhältnismäßig gute Leben im Jahre 1919 kam uns, 66

die wir etwas für unsere „Gesundheit“ getan hatten, zu Gute. Eine weitere „Annehmlichkeit“ war, daß die hauswirtschaftliche Beschäftigungen immer mehr Zeit in Anspruch nahmen. Burschen gab es allmählich gar keine mehr, man mußte Essen holen, aufwaschen, Wasser holen, Schmutzwasser wegbringen, Brot holen, Teewasser holen, Saal fegen, Schuhe putzen u.a. Man mußte Wäsche waschen und flicken, letzteres ein ganz finsteres Kapitel, da alles in seine Bestandteile zerfiel, und irgendetwas als Ersatz, oder auch Zwirn und Stopfwolle, kaum aufzutreiben war. Bei den Hemden unterschied man, je nach Größe und Zahl der Löcher, Schrapnell- und Granathemden. Häufig war es kalt und feucht in der Baracke, ständig trübe, abends endlos lange dunkel. Unsere Gruppe war verhältnismäßig gut dran, denn erstens hatte Anton von Krämer, der 2. Hälfte 1919 in Irkutsk als Ingenieur bei einem russischen 67

Ingenieurobersten war und für ihn ein Motorboot auf der Angara fuhr, ein ganz unbezahlbares Geschenk bekommen: 5 ℔(oder l) Petroleum, die ganz sparsam verbrannt wurden. 2.) Anton als sehr gewissenhafter Hausvater und meist gut bei Kasse, hatte, als wir unser Geld verfutterten und vertranken, große Mengen Stearinkerzen eingekauft. Auch ich hatte mir gelegentlich im August 10 – 12 Stück gekauft. Später wurden sie bald unbezahlbar und verschwanden dann bald gänzlich. Der Professor, der seine Sache stets auf Nichts gestellt hatte, hatte keinerlei Vorräte, die die Motten und der Rost fressen konnten. Um 5 war es im Winter nun schon dunkel; ½ 6 (oder ¾6) gab es Abendessen. Dazu hatte ich einen Sparbrenner (nach Vorbild von Wilh. Hartmann) gebaut. In eine kleine 17

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Insektenpulverdose (Geschenk des schwed. Roten+) wurde seitlich eine Öffnung geschnitten und ein Lichtstumpf hineingestellt. Auf den vertieften Deckel legte man Stearinreste, schmolz sie durch kurzes Brennenlassen des Lichtstumpfes, und dann brannte das geschmolzene Stearin an einem breiten niedrigen Docht, der mit einem Blechgestell kunstvoll in der flüssigen Masse eingetaucht war. Um ein schnelles Erkalten und Hartwerden des flüssigen Stearins zu vermeiden, stülpte man über die ganze Blechdose eine Flasche, von der der Boden abgeschnitten war. Das ganze auf einem Untersatz und dann ein (Lam) Pensch- (irm) darüber! Das war also die Tafelbeleuchtung für die ganze Tischgruppe. Zum Aufwaschen mußte eine Kerze bewilligt werden. Dann wurde alles dunkel, denn zum Lesen wurde nur 1½ Stunden Licht bewilligt, die wohl überlegt in die Mitte der dunklen Zeit gelegt 69

wurde, etwa von ½ 8 - 9. So lange saßen wir in der Bücherei, lasen fleißig, sprachen nichts. Dann bis zum Schlafengehen wieder Dunkelheit, nur beim Schlafengehen gabs wieder Licht, sogar noch für ein paar Minuten zum Lesen, bis „Nachtruhe“ angesagt wurde, d.h. „Licht aus!“ Was macht man nun in den Perioden des Finsternis? Da gab es viele Möglichkeiten: Theater, Vortragsbaracke und die beiden Kaffeehäuser hatten - sehr unzuverlässiges elektrisches Licht, und wenn es versagte, Kerzenbeleuchtung. So waren die genannten Räume immer brechend voll. Zumal ins deutsche oder österreichische Kaffeehaus gingen wir gern – meist war W. Hartmann der Verführer, der mich abholte - , denn dort war Wärme, Licht, Menschen, Leben, allerdings auch Rauch und Spektakel. Aber in der Baracke war's fürchterlich. Dort saßen die Finsterlinge und Stumpfböcke, teils bei kümmerlichster 70

Beleuchtung, teils im Dunkeln. Ein besonders gefährlicher Punkt war unser Kompanieofen in der Mitte der Baracke. Um ihn scharte sich jeden Abend ein großer Klub. Man sah nichts von den Männern, höchstens mal das Aufschimmern einer Pfeife, man hörte wenig von ihnen, denn die Gesprächsthemen reichten meist nur 1 - 1½ Stunden, da es immer die selben waren - Wann fahren wir nach Hause? Die bösen Bolschewiken! Die schlechten Zeiten im allgemeinen, die teuren Preise im besonderen, und dann kam der Lagerklatsch, auf den ich hier nicht weiter eingehen will. Brauste man nun im Dunkeln durch die Baracke, so rannte man i.d. Gegend des Mittelofens totsicher auf einen Lehnstuhl oder Schemel, wurde entsetzlich beschimpft, dann versank wieder alles in dumpfes Brüten, bis einer nach dem andern die Pfeife ausklopfte und ins Bett ging. Diese Form der Mittelofenkonferenz war noch erträglich, sie war harmlos und man konnte ihr aus dem Wege gehen. 71

Schlimmer war der Mittelofenständerling, der vom Vormittag bis zum Abend von Fall zu Fall zusammentrat und sich unangenehm bemerkbar machte. Da hatten wir ein paar Superkluge, einen jüdischen Bankbeamten aus Erfurt, einen aufgeklärten Lehrer aus Oberschlesien und einen (verhetzten oder verbitterten?) ehemaligen Kürassiermeister, vor dem Kriege Stallmeister beim Herzog von Kumberland. Alle 3 nicht dumm, aber alle drei kleinlich und leicht auf die Füße getreten, alle 3 mit lauter unangenehmer Stimme und dem Bedürfnis, sie recht vernehmbar erschallen zu lassen. Die unruhige Zeit bot Anlaß genug, so kamen sie zu jeder Zeit ob Arbeitsruhe war oder nicht, (sie arbeiteten ja nicht ) zusammen und besprachen alles, was im Lager, in Kansk, in Rußland und in Deutschland vor sich ging, sehr klug, aufgeklärt, weise, von oben herab, in demokratischer Beleuchtung, 72

so beinahe Berliner Tageblatt. Es war eine Qual, man wollte lesen, oder arbeiten oder Ruhe haben, ganz gleich, diese unglückseligen Menschen mußten irgend etwas quatschen, was keiner wissen wollte. Irgendwie sie zu unterdrücken war vollkommen unmöglich, da es eine militärische Befehlsgewalt nicht mehr gab, auch unser - an sich sehr liebenswürdiger, selbstloser und anständiger - Barackenältester Oberlt.Traut (ein elsässischer Jurist vom Gagenauer Feldart.Regt.37) garnicht die geeignete Persönlichkeit war, sich durchzusetzen. Und da nun nach Beseitigung des Militarismus unser Lagerleben ganz auf demokratischer 18

Selbstbestimmung aufgebaut war, hatte man in unserer Kompanie mit einer Mehrheit von 23 Stimmen die Einführung oder vielmehr Beibehaltung einer Arbeitsruhe (von 10 – 12) abgelehnt. Die Krakeler und die Leute, die lieber quatschten, anstatt sich ruhig zu verhalten, 73

hatten gesiegt, denn sie waren in der Mehrheit. „Übers Niederträchtige niemand sich beklage! Denn es ist das Mächtige was man Dir auch sage!“ hat sich mir in der Gefangenschaft sehr eindringlich eingeprägt. Vorstehende Schilderung einiger Annehmlichkeiten des Lagerlebens Anfang 1920 wird verständlich erscheinen lassen, daß fast alle unternehmungslustigen Leute sich verdrückten, möglichst weit weg vom Lager, möglichst weit weg vom Bolschewismus. Sehr viele gingen weit über Land und arbeiteten bei Bauern als Knechte, wo sie es selten gut trafen, aber doch nichts vom Lager sahen und hörten. Daß es aus dem Abtransport vorläufig nichts werden würde, hatte man allmählich gemerkt. Zu den mir äußerst unsympathischen Erscheinungen gehörte die immer stärker einsetzende bolschewistische Propaganda. Fast täglich kamen deutsch, ungarisch oder russisch sprechende Agitatoren und 74

hielten Versammlungen ab. Ich ging nie hin, weil mir's von vornherein zuwider war. Was gesagt wurde, wußte ich ohnehin, da ich noch das zeitraubende Amt eines Zeitungsvorlesers hatte und so Gelegenheit genug hatte, mich vollkommen in die bolschewistische Psychologie einzuarbeiten. Außerdem war ein Teil der Agitatoren als trübe Ehrenmänner bekannt. Und wozu sollte ich mir das Getöne anhören, ich wollte nach Hause, weiter nichts, und das versprachen sie zwar immer, aber der Glaube fehlte. Doch der Abglanz, die Besprechung des Gehörten durch die aufgeregt in die Baracke zurück Kehrenden, machte mir gerade genug zu schaffen, einmal als Lärm, der mich störte, dann als seichtes Geschwätz, das mich ärgerte. Die meisten fielen nämlich immer wieder auf die schönen Sprüche herein, fast niemand (unter den lautsprechenden) hatte Kritik, und fragte mal nach tatsächlichen 75

Leistungen und Früchten. Eine besondere Nahrung fanden diese politischen Debattem durch die nach längerer Pause wieder aufgenommenen Vorträge des Dr. Schönhof. 20.Juni 1922.

Eine der Leistungen der Bolschewiken war auch gewesen, daß sie die von uns in schwerer Arbeit hergerichtete Turn- Lern-Lesebaracke (Nr.1) belegten (und eine Wache darin einrichteten?). So blieb für Vorträge – die jetzt sowieso seltener wurde, nur die Theaterbaracke (Nr. 10) übrig. Hier begann nun Schönhof Anfang des Jahres, vielseitig getreten, Vorträge zu halten. Mit seinem geschichtlichen Abriß war er bei seinem immer breiter werden, nicht fertig geworden. So kündigte er diesmal eine Reihe von Einzelgebieten an, um etwas Geschlossenes bieten zu können. Doch bald zeigte sich, daß er schon das 1. Thema so in die Länge zog, daß er ni edamit zu Ende kam. 76

Es lautete „das Erfurter Programm“. Die Vorträge waren natürlich bei einem derart zeitgemäßen Thema gerappelt voll, und nach dem Vortrag war noch stundenlange Besprechung in der Baracke. Was er sagte, war sehr interessant, hatte nur den Fehler, daß er zu viel brachte, sodaß der Durchschnitt den Stoff nicht bewältigte. Z.B. bei der Marxschen Ausbeutungstheorie holte er derart weit aus, daß ich nicht mehr folgen konnte. Vielleicht lag das aber auch an der Sache, denn ich erinnere mich, daß ich die Marxsche Mehrwerttheorie auch in Hannover im W.S. 13/14 bei Professor Gehrig nicht verstand. - Ich hatte an den Vorträgen wieder 2 erlei auszusetzen, zunächst seine Art der Kritik, die oft die wissenschaftliche Methode verließ und mit Vorliebe so eingekleidet war, daß er auf reichen Beifall seiner Zuhörer rechnen konnte. Und wenn er als Österreicher mit Vorliebe auf Preußen herumhackte, so fand ich das sehr unfein, es mochte sich vielleicht 77

bei manchen Ausführungen unmittelbar nicht entgehen lassen, im Grunde und von einer 19

höheren Warte aus gesehen hatte er Unrecht; wenigstens sagte mir meine innere Überzeugung, daß im Preußentum, d.h. vor allem in der Praxis, unendlich viel mehr und echter Sozialismus steckte, als im Wienertum, das sympathisch nur war, wenn man es von der Seite des heiteren Lebensgenusses und künstlerischer Durchbildung betrachtete. Z.B. waren die preußischen Offiziere oft entsetzt, wie unwürdig das Verhältnis der österreichischen Offiziere zu ihren Burschen und Mannschaften war. Äußerlich fanden sie allerdings leichtere und gewinnendere Formen des Umgang, als Mensch gewürdigt wurde der Bursche ganz anders nach den preußischen Vorschriften und Gewohnheiten. Bei den Österreichern war es ein Verhältnis wie Herr zu Diener, bei uns im Grunde kameradschaftlich, allerdings bei uns in rauher militärischer Form, bei den 78

Österreichern in täuschender Liebenswürdigkeit. Einzelheiten würden zu weit führen. Und schon 1915 hatte ich gestaunt, wie wenig Staatsgefühl und Dienstauffassung die Österreicher - immer natürlich vom Durchschnitt gesprochen - hatten. Aber geschimpft wurde natürlich nur über den preußischen Militarismus. Und dann mißfiel mir eins sehr an Schönhof, er beleuchtete alle Fragen sehr vielseitig, neigte ganz offensichtlich zu der sozialistischen Auffassung, nahm aber nie klar Stellung. Und das wäre m.E. seine Pflicht gewesen. Denn „objektiv“ läßt sich eine derart eingreifende Angelegenheit nicht betrachten. Natürlich wurde S. eifrig von den kommunistischen Agitatoren umlagert und verehrt, und sie bemühten sich eifrig, ihn in ihr Lager zu ziehen. Im Laufe des März hörten die Vorträge auf, Schönhof wurde geistesgestört, und zwar wie es schien, mit infolge des Gefühls, durch Nicht-Parteiergreifen feig gehandelt zu haben. Im Mai gelang es, ihn nach Hause 79

zu schicken, er soll wieder ganz hergestellt und in Wien (als Rechtsanwalt?) tätig sein. Der Heimtransport machte bei ihm keine Schwierigkeiten, zumal er 1.) Österreicher 2.) Jude war und 3.) mit dem Kommunismus kokettiert hatte. Als 2 Monate später der Professor nach Hause gebracht werden sollte, weil er ganz schlimm zusammengebrochen war, ging das nicht, weil bei ihm keiner der 3 genannten Gründe wirkte. Mehr als die Schönhoffschen Vorträge - die ich natürlich regelmäßig besuchte lagen mir einige kleinere Veranstaltungen, die sich an den Namen Oskar Jansen knüpften. Zunächst die von ihm 1919 begründete „Wissenschaftliche Gesellschaft“, in der einige recht feine und anregende Vorträge gehalten wurden. Sogleich der 1. im neuen Jahr im Theater vor einem weiten Zuhörerkreis von Hitzig über den „Aufbau eines Streichquartetts“. Am Beispiel eines von ihm komponierten Quartetts, 80

von dem er immer Einzelnes vorspielten ließ, erläuterte er sehr verständlich, was sich bei der Komposition eines musikalischen Kunstwerkes erläutern läßt. Mir ist diese Sitzung besonders eindrucksvoll gewesen. J. sprach einige einleitende Worte und begrüßte es als gutes Zeichen, daß die erste Veranstaltung des neuen Jahrzehnts der Kunst geweiht sei. Und beiden J.und H. brachte das Jahr 20 ein so trauriges Schicksal. - Auch andere Vorträge der „Wissenschaftlichen Gesellschaft“ die im März aus den vielen Nöten einging, die alles ertöteten, was über den Erwerb des Lebensunterhaltes hinausging, sind mir in Erinnerung, so 2 architektonische über Siedlungs- und Wohnungsfragen und über Städtebau, und ein sehr leidenschaftlicher über Nietsches „Wille zur Macht“, in dem sich die überwiegende Mehrheit zu meiner Überraschung sehr für Nietsches Auffassung begeisterte, 81

nicht im Einzelnen, aber vor allem für den Willen zur Wahrheit und Ehrlichkeit bei ihm, und auffallenderweise auch für seine Stellung zum Christentum. Am meisten wunderte mich dies bei einigen sehr ernsthaften Männern wie (ich glaube auch Scherling?) Lade, dem früheren Pastor und jetzigen Religionslehrer, der wohl einer der ernstesten und echtesten Christen ist, die ich kennen lernte, sowohl seiner Anschauung nach, als vor allem der praktischen Durchführung nach, denn er war obwohl einer der ältesten im Lager, wohl der einzige, der nie über schlechte Zeiten und Zustände klagte, sondern immer tatkräftig mit jeder neuen 20

Bescherung fertig wurde. Ich war mir an jenem lebhaften Abend mit Köster (+ 1921 in Hamburg) einig, daß uns die ganze Welt und Auffassung Nietsches gar nicht mehr lag, und daß uns, namentlich nach den Erlebnissen der letzten Jahre, die sozialistische 82

- natürlich nicht im parteipolitischen Sinne - Auffassung viel mehr lag. Oskar Jansen übrigens der eifrigste Bekämpfer Nietsches an jenem Abend - war damals von einer großen Regsamkeit und Fruchtbarkeit und da er mir so in Erinnerung geblieben ist, will ich noch näher auf all das, was sich mit ihm verbindet, eingehen. 7.7.22.

Über Oskar Jansen zu schreiben, ist keine leichte Aufgabe, hier fällt es mir ganz besonders schwer, durch karge schriftliche Mitteilungen ein Stück unseres so ganz eigenartigen und andersartigen Lebens auferstehen zu lassen. J. war ein ganz eigenartiger, knorriger Mensch. Er stammte aus einer Bauernfamilie aus dem Danziger Werder, der Gegend, die wohl über die reichste Bauernkultur verfügte, die ich kennen gelernt habe. Seine Familie war - mit anderen - schon vor Jahrhunderten aus Friesland eingewandert. 83

Er war Mathematiker an einer Danziger Schule. Schon seit 1915 war ich mit ihm im selben Lager, doch wußte ich nicht viel mehr von ihm, als daß er ein hervorragender und trockener Mathematiker sei. Unsere gebildeten Ingenieure - Krämer, La Baume, Gilmeier u.a. - trieben mit ihm Mathematik in ihren neuesten und tiefsten Zweigen und Auffassungen, und waren ganz erfüllt von Jansens Gedanken, Gesichtspunkten und überhaupt Leistungen in seinem Fache. Er gehörte zu der Gruppe Liegener, später Dähn - vorwiegend Danziger, in die auch Wilhelm Hartmann 17 eintrat, und so sah ich ihn häufiger. Aber im Frühjahr 1919 trat er mehr hervor, zunächst durch einen Vortrag über den „Falschen Ichbegriff“ in dem er auf allen Gebieten - Religion, Kunst Schule u.a. - darlegte, daß die Auffassung des 84

Menschen als eines losgelösten Individuums verkehrt sei, daß man die richtige Stellung nur habe, wenn man sich eng verwachsen als einen Teil seiner Umwelt fühlt. Philosophisch soll manches anfechtbar gewesen sein, der menschliche Gehalt war schön und nachhaltig wirksam. Leider habe ich den Vortrag nicht gehört, mir graute vor dem Mathematiker. Aber alle waren sehr angetan davon. Dann gründete er die schon genannte „Wissenschaftliche Gesellschaft“, wo er sich meist von seiner trockenen, pedantischen Seite zeigte, auch oft recht unwissenschaftlich. Er war der richtige Friese, schon in seinem Äußeren, sehr stattlich und breit, blonder Spitzbart, blaue Augen, aufrechter Gang und Blick. Auch hatte er sehr seine knorrigen Eigenheiten, konnte aufregend dickköpfig sein, und machte sich über alles, auch über alle Dinge des praktischen Lebens, seine eigenen Gedanken und ließ sich 85

nicht belehren. Mit ihm zusammen Teller aufzuwaschen, soll nicht leicht gewesen sein, seine Bekleidungs- und Einrichtungsstücke waren Sehenswürdigkeiten, besonders eine Hose, die er sich ohne jede Hilfe in ganz eigenartiger Methode aus seinem Mantelfutter angefertigt hatte. Besonders nahmen mich immer seine Prinzipienlosigkeit und seine lautere Gesinnung ein. Er was stets hilfsbereit (und das wollte sehr viel heißen) und konnte nicht begreifen, wie man sich so allgemein vor der Arbeit in allgemeinem Interesse drückte, und er war nie lieblos und hart, ich wüßte nur ganz wenige Menschen, die allem, ausnahmslos allem was ihnen in den Weg kam, gegenüber so gütig und verständnisvoll waren, auch wenn sie es ablehnten und bekämpften. Das von Hause ererbte Christentum - er gehörte zur Sekte der Mennoniten - war ihm eine mächtige, stets wirksame Lebenskraft geworden, 86

die Liebe zur ganzen Umwelt durchdrang ihn ganz und gar, und machte nirgends halt. So hat es mir großen Eindruck gemacht, als er schon damals 1919 nachdrücklich darauf hinwies, wir müßten uns mit den Franzosen versöhnen, wir dürften keine keine Rachegedanken gegen sie hegen, eine Auffassung, die ich mir bis jetzt nicht habe zu eigen machen können und die auch wohl sehr vereinzelt dasteht. Aber bei ihm war sie echt. Dabei hing er mit großer 21

Begeisterung an seinem Vaterland - er lebte in meiner Erinnerung, wie er Sylvester 19/20 aufrecht „Deutschland, Deutschland über alles“ anstimmte, und die vergrämten alten Gefangenen mit sich fortriß - und ganz besonders dem echten Preußen, an dem das treue Pflichterfüllung und immer Kolonisation bedeutet, und Arbeit, ohne große Worte darum zu machen. 87

Nichts haßte er so, wie Demokratie, und nichts bekämpfte er so wie die Sozialdemokratie, die das traurige Prinzip der Gerechtigkeit zur Grundlage das menschlichen Gemeinlebens machen wolle und dadurch das Leben ertötete, anstatt der Liebe, die allein Menschen einen könne, den Klassenhaß predige. All das war ihm lebendig, und von Karl Marx, dem theoretischen Grübler, wollte er nichts wissen. Bodenreformerische Gedankengänge verfolgte er mit Vorliebe. Eine Eigenheit war sein sehr weitgehendes Verständnis für den Katholizismus, wohl erwachsen aus der Duldsamkeit, die die polnischen Könige seinen prostestantischen Vorfahren allezeit erwiesen hatten. Und so bekämpfte er nächst der Demokratie nichts so wie den Evangelischen Bund, der den konfessionellen Frieden und das gegenseitige Verständnis störe. 88

Jedem einzelnen hilfreich und freundlich gegenüber, war er auch allzeit fröhlich, ließ nie den Kopf hängen, und freute sich an allem, was es so für uns zu erleben gab. Auch bei einzelnen Zechereien in Chabarowsk war er tüchtig beteiligt. Doch das Feinste war seine „Weltfremdheit“. Er ging seinen Weg, den er für richtig hielt, sagte immer offen seine Meinung, und das schaffte ihm natürlich viele Gegner. Besonders als er es wagte, dem Lagerabgott Schönhof entgegen zu treten - zugegeben manchmal in ungeschickter Form machte er sich unbeliebt. Der nämlich als jüdischer Rechtsanwalt, und kokettierend mit dem Zeitgeschmack, (damals der Sozialismus) mit Vorliebe das bringend, was die Zuhörer hören wollten, wickelte natürlich Jansen dialektisch ein, und war nie unbequem wie J. Doch ich schätze mehr die in Deutschland ja oft vertretenen Unpraktischen, 89

von den mittelalterlichen Rittern, die ins Morgenland zogen, von den mittelalterlichen Kaisern, die nach Italien zogen und sich von Päpsten, Mönchen und Italienern betrügen ließen, die ihre rheinische Kirchen - Mainz, Speier - und dem veralteten, von den Franzosen überholten Baustil bauten, von Hutten und Luther, von Hölderlin und Stauffen Bern? , von all den vielen, die sich auf dem ganzen Erdball in fremde Händeln für anderer Leute Geldbeutel (siehe Nordamerika u.a.) totschlagen ließen, bis zu den Helden Wilhelm Raabes, bis zu unseren Studenten und anderen Weltfremden. Sie stehen mir näher, als die Leute die in die Welt passen, als die russischen Volkskomissare, die so gut für sich zu sorgen verstehen, oder die Bekämpfer des Kapitalismus, die im Erwerb von Gütern dieser Welt oft eine so große Geschicklichkeit haben. 90

Anfang 1920 hörten die Kurse, Vorträge usw. immer mehr auf, weil die Bolschewiken die äußeren Bedingungen dazu unmöglich machten, nur noch gelegentlich wurde die Theaterbaracke zu einem Vortrag notdürftig geheizt. Damals nun trat Oskar Jansen oft hervor, nicht immer glücklich, immer von Kraft und Eigenart. Einmal hielt er eine große Ansprache: „Matth.XXIII. und die Deutschen.“, eine große Anklage gegen Gedanken- und Lieblosigkeit in der Kirche, Schule, Familie, Staat, öffentliches und privates Leben, Heuchelei und Unaufrichtigkeit. Nicht alles neu und überzeugend aber alles erlebt und aufrüttelnd. Dann ist mir noch ein Vortragsabend in Erinnerung, den er über seinen Lieblingsdichter, Konr. Ferd. Mayer hielt, ein Abend der rein und erhebend war. Vorher hatte der schon erwähnte Dr. Rollat über denselben gesprochen, oft gut und interessant und anregend, aber manchmal, 91

und so bei den Gedichten, in philologischem Kleinkram untergehend. Und nun trat Oskar Jansen auf. Zunächst schon äußerlich ein feiner Anblick, eine volle, warme, gewinnende 22

Stimme. Er las, nach kurzen, in die Stimmung einführenden Worten, einzelne Gedichte vor, nicht stimmgewandt, aber hinreißend, weil man den Mann dahinter spürte. Noch höre ich z.B. das feinste „Die Narde“. Oder „Heinrich von Navarra“. Mitte März verschwand er. Daß er bei erster Gelegenheit mit allen Mitteln versuchen wollte, allein aufzubrechen, war uns in kleinem Kreis bekannt. Er ging zunächst zu einem russischen Bauern, der ihm dann weiterhelfen sollte. Geradlinig ging er auf sein Ziel, wie immer. Nur zu früh, noch herrschte Flecktyphus in Sibirien. Schwer krank kam er in Narwa an, um hier auf esthischem Boden zu sterben. 8.Juli 1922.

92

Das kommunistische Dorf

Ҡоммунитаческая геревя. Vom Jahre 1920 ein verständliches Bild zu geben, erscheint mir immer schwieriger, weil dem Leser nur schwer verständliche persönliche Erlebnisse und Eindrücke, Zustände im Lager, in der Stadt und im ganzen russischen Reich unauflösbar mit einander verknüpft sind. Ich will nun ein Stückchen von meinen eigenen Erlebnissen weiter erzählen, um von da aus, soweit nötig, auch das andere, weiter berichten. Die unerquickliche, weil gänzlich unbestimmte Zeit des Wartens auf den immer wieder versprochenen Abtransport endete für mich Ende Februar 20. Die rote Armee war mittlerweile bis Irkutsk und weiter nach 93

Osten vorgedrungen, da tauchte bei irgend einem maßgebenden Manne das Schlagwort „Wiederaufbau“ auf. Der Gedankengang der in der Presse vertreten wurde, war etwa folgender: Im Bürgerkrieg sind hunderte von Dörfern vernichtet, besonders im Jenisseigouvernement (Єнисеӥская дубернія) - das war das unsrige, mit der Hauptstadt Krasnojarsk, es zerfiel in 5 (?) Kreise, einer davon war Kansk, vielleicht so groß wie Bayern, vielleicht auch sehr viel größer - Da wir den heimatlos gewordenen Bauern neue Unterkünfte schaffen wollen, und da das Leben durch die kommunistische Neuordnung ganz anders gestaltet ist, wollen wir, unter Mitarbeit aller, nicht das Alte wieder aufbauen, sondern, an anderer Stelle, etwas ganz Neues schaffen. Da der Kreis Kansk mit am meisten in Mitleidenschaft gezogen war, bekam sein Revkom 94

(Revolutionäres Komitet, die oberste Behörde, wohlgemerkt von oben ernannt, nicht etwa gewählt) vom Rat der Volkskommission den Auftrag, Entwürfe einzureichen. Die Sache war sehr eilig und dringend. Man wußte sich nicht anders zu helfen, als daß man sich an das Kriegsgefangenenlager wandte, und Architekten anforderte. Mit dem Beginn der warmen Jahreszeit sollte angefangen werden zu bauen. Die Lagerverwaltung übertrug einem älteren deutschen Herrn, Regierungsbaumeister Rauten (jetzt Baurat in Öls), die weiteren Verhandlungen. Es stellte sich heraus, daß nur 7 deutsche Herren in Frage kamen, da der einzige österreichische Architekt (Geppert) nicht wollte. 1.) Reuter 2.) Dipl. Ing. Martini, (Studienrat an der Baugewerkenschule Weimar) 3.) Architekt Paul Müller-Stettin, (war lange Zeit bei Ludwig Hoffmann, Stadtbaurat von 95

Berlin beschäftigt gewesen und hatte Hervorragendes gelernt, arbeitete glänzend. 4.) Dipl. Ing. Kaperniak – Berlin 5.) Architekt Paul Arno Müller - Dresden 6.) Architekt Martens – war zwar von von der Wasserkante [Lübeck?] und eine echt friesische Erscheinung. Im übrigen aber durch und durch kleiner Mann, der nicht über die Baugewerbeschule hinausgekommen war, obgleich er es zum Stadtbaumeister in einem posenschen Städtchen gebracht hatte. Er paßte nicht so recht zu uns. 7.) ich Überraschend schnell führten die Verhandlungen zu einem Ziel, man hatte in wenigen Tagen, zum 1. März, einem Montag, einen Raum bereit, desgl. für das allernotwendigste 23

Zeichenmaterial gesorgt. Was fehlte, brachten wir aus dem Lager mit. 96

Auch betr. unserer Besoldung waren Abmachungen getroffen, an die sich die Russen natürlich später nicht hielten, waren wir doch 1.) Kriegsgefangene, 2.) Offiziere 3.) Intelligenz und Bourgeoisie, 3 Eigenschaften, von denen eine genügt hätte, jede Abmachung ungültig zu machen. Was wir nun eigentlich machen sollten, wußte niemand, da man auch nur ganz allgemeine Anweisungen aus Moskau bekommen hatte und auch nicht mehr wußte, als den oben angeführten Gedankengang aus der Zeitung. Über die Gegebenheiten des Bauplatzes - flach oder bergig, Wasser, wo liegen die Felder, Weide, Wald usw. Verkehrswege - die der deutsche Architekt seiner Arbeit zu Grunde legt, war nichts bekannt, wir erfuhren nur, daß wir Unterkunft für etwa 800 Einwohner schaffen sollten, und daß außer den Familienwohnhäusern eine große Anzahl gemeinsam zu benutzenden Bauten 97

zu entwerfen waren, wie Haus des Dorfsowjets (Sowjet = Rat in allen seinen Bedeutungen), Volkshaus, Bad, Viehhöfe für die verschiedenen Gattungen, Krankenhaus, Feuerwehr, Verteilungsstelle usw. Da beschlossen wir dann, uns die Sache möglichst genau zu überlegen in gemeinsamer Besprechung, und zu versuchen, eine sinngemäße Lösung zu finden. Leider war es nicht möglich, über das Wichtigste, nämlich wie weit die Gemeinsamkeit des Lebens gehen sollte und wie weit man Privatwirtschaft festhalten wollte, Auskunft zu erhalten. Wir einigten uns dahin, daß wir 4 Gesamtpläne nach irgendwie angenommenen örtlichen Bedingungen aufstellen, eine Reihe von Typenhäuser für größere und 98

kleinere Familien und 2 – 3 Möglichkeiten für alle die gemeinsamen Anlagen entwerfen wollten. Sehr kam mir zu statten, daß ich im Jahre 1919 viele russische Bauernhäuser kennengelernt hatte und durch die Abbrucharbeiten bei der Flößerei auch etwas von den landesüblichen Konstruktionen gesehen hatte. So haben wir in 4 Wochen sehr fleißiger Arbeit eine ganz anständige Arbeit geleistet, die hier in Deutschland zu veröffentlichen recht interessant wäre. Bezeichnend war auch das Verhalten der Russen: Anfangs drängelten sie mächtig, alles war furchtbar wichtig und eilig, alle möglichen Bonzen kamen und sahen uns zu. Dann, als sie sahen, daß wir mit ganz unrussischem avec herangingen und schnell etwas schafften, beruhigten sie uns, so eilig wäre es nicht, wir sollten uns nicht überstürzen - wer das Niveau hebt, macht sich überall unbeliebt, am meisten in Rußland - dann Ende 99

März hieß es plötzlich, die Sachen müßten sofort nach Moskau zum Rat der Volkskommissare, wir sollten sie schleunigst fertig machen und brauchten dann nicht wiederzukommen. Natürlich lagen die Zeichnungen noch nach mehreren Wochen in Kansk. Ob sie je in Moskau angekommen sind, haben wir nie erfahren. Doch der Monat März wurde zu der angenehmsten Zeit in der Gefangenschaft. Morgens - nicht unmenschlich früh im Dunkeln wie alle als Arbeiter in der Stadt beschäftigten Gefangenen - wanderte man durch den klaren und kalten Wintermorgen ½ St. bis zu unserm Hause, am Rande der Stadt, wo wir gegen 9h unsere Arbeit in einem meist erträglich warmen und genügend großem Zimmer begannen. Das gemeinsame Arbeiten war fein, wir verstanden uns im Ganzen recht gut, und jeder atmete auf, daß er sich beruflich betätigen konnte. Muntere Reden 100

manchmal auch scharfe Auseinandersetzungen begleiteten die Arbeit. Es war nämlich die Zeit, in der außer vielen österreichischen, ungarischen und deutschen Mannschaften auch 2 deutsche Offiziere in die Rote Armee eintraten, was natürlich, wie überhaupt jedes einzelnen Stellung zum Bolschewismus, viel Anlaß zu Auseinandersetzungen gab. Der 3. deutsche Offizier, von dem man damals den Eintritt in die Rote Armee erwartet hatte, und der auch, wie er mir selber später erzählte, damals unmittelbar davor stand, und ständig mit den Internationalen verkehrte, war unser Mitarbeiter Paul Arno Müller. Erst Juli 17 gefangen und lange in heimischen Werkstätten - Dresden - beschäftigt, hatte er den uns meist 24

unbekannten Begriff Etappe gründlich kennengelernt und war wohl überhaupt eine Natur, die leicht verletzt und verärgert, und vor allem sehr durch Erlebnisse wie eben die Etappe bestimmbar war. 101

Dazu kam , daß er sich sehr eng an einen expressionistischen Maler Esser, angeschlossen hatte, und mit dem Extravaganten und Niedagewesenen mehr kokettierte, als seiner etwas philisterhaften Art eigentlich lag. - Wohlgemerkt, er war Sachse und sprach auch echt sächsisch, womit für mich, solange nicht das Gegenteil bewiesen wird, der Begriff der Spießbürgerlichkeit gegeben ist, einer Spießbürgerlichkeit, die durch revolutionäre Gesten durchaus nicht zu verwischen ist. Mit ihm geriet namentlich ich oft aneinander, weil ich einmal den ganzen kommunistischen Wortschatz und Ideenkreis als Zeitungsvorleser in meiner Baracke ziemlich beherrschte, dann dem diesmaligen Auftreten des Bolschewismus mit unverhohlener Abneigung gegenüberstand, einer Abneigung die damals besonders stark war, weil ich stark unter dem Einfluß von Rathenaus „Kritik der Zeit“ stand, deren 102

oft in monumentaler Form vorgetragenen Gedankengängen meinen Anschauungen sehr entgegenkam. Doch das beeinträchtigte in keiner Weise unsere Zusammenarbeit, weil alle Aussprachen ruhig und nur als Begleitung der uns ganz belebenden gemeinsamen Arbeit vor sich ging. Es liegt eine gewisse Ironie darin, heute darauf hinweisen zu können, daß meine von Rathenau ausgehende Anschauung z.B. über das Königtum und über die Schichtung des Volkes, bei allen als unglaublich reaktionär und unverständlich und unzeitgemäß galten, heute, wo unter dem Deckmantel Rathenau die Linksparteien anfangen, überzuschnappen. 8.Juli 22. * [Im Juli 1920 zog ich mit Paul Arno Müller nach Krasnojarsk und verbrachte 3 Wochen mit ihm zusammen; damals war er schon ein grimmiger Feind des Bolschewismus geworden, dem er viel verständnisloser gegenüberstand, als ich Anfang 103

und Mitte 1920 und auch heute noch. Nur noch ein kleines Plätzchen hatte er in seinem Herzen reserviert für einen unirdischen, lediglich ausgeklügelten Kommunismus.] Mittags zogen wir immer in 2 Raten zum Mittagstisch, wo man damals gerade (bis zum 31. März) noch ohne Karte, einfach gegen die niedrige Bezahlung von 10 R essen konnte. Der Mittagstisch ( die стоговая) war in der ehemaligen собраиіе, auf deutsch Kasino, oder Erholung, oder Rassouria, dem Gebäude, in dem die Bürgerschaft von Kansk früher ihre Feste gefeiert hatten, worauf sich die Russen glänzend verstanden. Jetzt aß hier alles, was in der Stadt beschäftigt war und keinen eigenen Hausstand hatte, eine Menge Russen und Russinnen, auch durchreisende Kommandanten, und auch viele Kriegsgefangene. So gab's immer viel zu sehen und zu hören. Köche und Bedienung waren russisch, dementsprechend Tische, Geschirr und Speisen nicht immer erstklassig sauber. 104

Ich ging sehr bald dazu über, mir mein eigenes Besteck und einen feuchten Lappen zum Abwischen der Teller mitzubringen. Davon abgesehen, war das Essen nicht schlecht, und vor allem eine famose Abwechslung gegen die damals immer fader werdende Lagerbeköstigung. Es gab doch jeden 2. Tag Fleisch, und irgendwelches Gemüse, überhaupt außer Suppe noch ein Gericht, das man mit Messer und Gabel essen konnte, während man im Lager meist aus einem Napf mit dem Löffel irgendeinen zähen und faden Brei aß. Durch Ausdauer und geschickte Behandlung der Bedienung konnte man erreichen, daß einem viel Brot hingestellt wurde, und das war damals schon ein seltener Genuß, denn im Lager wurde es knapp. Nach dem Essen wurde dann weiter gearbeitet, bis man gegen 5 den Rückzug antrat, in kleinen Gruppen, ich meist mit Reuter und Martini. Im Lager kam man gerade rechtzeitig, um sich 105

das zurückgestellte Mittagessen aufzuwärmen, es zu verzehren und dann gleich das Abendessen anzuschließen, was mir nie schwer fiel. Denn die Portionen waren nicht mehr 25

sehr groß. So hatte die Arbeit noch den angenehmen Vorteil, daß man verhältnismäßig billig, gut satt wurde und sich nichts mehr hinzuzukaufen brauchte. Doch das, was mich ordentlich aufleben machte, war, daß ich wieder eine vernünftige Arbeit hatte, an der man mit innerer Anteilnahme arbeitete. Dazu kam, daß man am Tage aus der verhaßten Lagerumgebung herauskam, und nicht immer das selbe sehen und hören mußte, sondern mal neue Eindrücke hatte. Das Zusammensein mit den Kameraden, besonders denen von der Gruppe, gewann auch sehr dadurch, daß man sich den Tag über nicht sah, und nun abds, nachdem man allerhand erlebt hatte, an dem sie nicht teilgenommen 106

hatten, allerlei zu besprechen und auszutauschen hatte. Das kann sich ja in Deutschland kein Mensch vorstellen, was das heißt, 5 Jahre lang täglich 24 Stunden mit denselben Menschen ohne äußere Erlebnisse besonderer Art zusammen verbringen müssen, wo doch bei uns selbst Eheleute den Tag über getrennt sind und durch verschiedene Berufsarbeit andersartige Erlebnisse und Inhalte haben. So waren wir 7 wohl alle recht wenig erbaut, als es Ende März hieß: „ihr braucht nicht mehr zu kommen!“. Doch ehe ich auf die Folgezeit eingehe, will ich noch einiges berichten, was sich inzwischen begeben hatte. 9. Juli 22.

Im Februar erkrankten auch verschiedene aus unserem bis dahin verschonten Lager an dem damals in ganz Sibirien schrecklich wütenden Flecktyphus, vor allem die Ärzte, die flecktyphuskranke Russen behandelten, so Dr. Bauer (unser Lagerarzt), 107

sein Gehilfe Korth, Dr. Grünbaum u.a. (auch Forstmann Grasser, der Leiter unsere Flößerei und Mitarbeiter unserer Sägegenossenschaft). Der Flecktyphus trat diesmal nicht so gefährlich auf, wie sonst, die Mehrzahl der Kranken überstand ihn, von den genannten starb Dr. Bauer, und zwar nach dem Bericht seiner Leidensgenossen mit an der großen Angst, die er hatte, eine Eigenschaft, die ihm immer viel zu schaffen gemacht hatte. Im übrigen war er kein schlechter Mensch, für den ihn viele hielten, sondern er hat als Arzt viel Gutes getan, auch ich kam persönlich sehr gut mit ihm aus, nachdem ich einmal eine deutliche Aussprache mit ihm gehabt hatte. In den ersten Märztagen wurde er unter sehr großer Beteiligung auf dem Kriegsgefangenen Friedhof beerdigt. - Jede sibirische Stadt hatte einen Kriegsgefangenen Friedhof, meist mit tausenden von Gräbern. 108

Nach ihm wurde der sehr tüchtige Dr. Heiß Lagerarzt, der einzige Arzt, der noch im Lager verblieben war. Er war sehr grob und deutlich, doch das war sicher nötig, und unbedingt zuverlässig und hilfsbereit. Dr. Friedländer war schon 1919 nach Omsk in ein Flecktyphus Lazarett gegangen, andere waren in russische oder tschechische Dienste getreten. Ein anderes Ereignis, das viel von sich reden machte, war der Eintritt zweier deutscher Offiziere in die Rote Armee. In Krasnojarsk stand eine ganze Brigade Internationaler. Österreicher und Ungarn, auch Offiziere hatte man genug, gar zu gern wollte man auch ein paar deutsche Offiziere haben. In Kr. selber hatten die Bemühungen keinen Erfolg, umso mehr arbeitete man in Kansk, dem größten Lager deutscher Offiziere, darauf hin. Deutsche Mannschaften meldeten sich in großer Zahl, war es doch zu verlockend, sich ein Schlachtschwert an die Seite zu hängen, gut zu essen zu bekommen, und eine 109

militärische Rolle zu spielen. Auch zog das Schlagwort von der „Diktatur des arbeitenden Volkes“. Doch sehr überrascht waren wir alle, als sich eines Tages 2 deutsche Offiziere meldeten. Der eine, den ich persönlich nicht kannte, Hochheim, soll nach übereinstimmenden Berichten ein recht minderwertiger Vertreter gewesen sein. Ostpreußischer Landwirt und Kavallerist, später Fliegeroffizier, wußte man von ihm doch nur, daß er immer großen Wert auf gutes Essen und Trinken gelegt hatte, irgendwelche geistigen Interessen hatte er nicht verraten. Unangenehm fiel er dadurch auf, daß er 26

Mannschaften, hauptsächlich die gut gestellten Handwerker, um recht beträchtliche Beträge anpumpte, ein Verfahren, das sowohl offiziell als auch durch Brauch und Sitte streng verpönt war, auch ist mir nur noch ein 2. derartiger Fall von Mißbrauch eines allerdings stark verblaßten Vorgesetztenverhältnisses bekannt geworden, der vom Lagerkommandanten 110

an den Pranger gestellt und allgemein scharf verurteilt wurde. Bei Hochheims Eintritt in die Rote Armee habe ich nicht den geringsten Versuch gehört, diese Handlung anders als durch die Sucht nach besserem Leben, d.h. hauptsächlich Essen und Trinken und freiem Umgang, zu verklären. H. kam als Führer einer Kavallerieabteilung nach Krasnojarsk, und hatte dort zeitweilig den angenehmen Auftrag, ausreißende Kriegsgefangene einzufangen; der Lagerwitz behauptete, er habe sich hierzu gemeldet, um zu verhindern, daß seine zahlreichen Gläubiger nach Hause kamen. Anders lag die Sache bei Wülfing. Er hatte immer sehr radikale Äußerungen, aber mehr in der kritischen Art etwa des „Berliner Tageblattes“, als in der des doch theoretisch von einem positiven Programm ausgehenden Kommunismus. Und bei der roten Propagandaversammlung hatte er, als wirtschaftlich erfahrener und 111

weitblickender Mann, scharfe Kritik an dem Vorgebrachten geübt, d.h. nur bei der Besprechung im kleinen Kreise. Immerhin war zu erkennen, daß ihn große Sympathie zum Bolschewismus zog. Er litt unter den materiellen Nöten viel mehr als wir, weil er einen besonders hohen Wert auf gutes Essen und Trinken legte, und als die Annullierung des sibirischen Geldes ihm große Verluste brachte, und vor allem seine Geldquelle, die Lederfabrik, lahm legte, war er ganz unglücklich. Er war dadurch zwar nur auf die Lebensstufe gedrückt, auf der wir schon lange weilten, und auch das noch nicht ganz, weil er immer noch Nachzahlungen aus der sich auflösenden Lederfabrik erhielt. Doch diese wandte er nicht wie wir an, um gemeinsame Unternehmungen (Die Barackenkasse, aus der Zeitungen gekauft und der Barackenausfeger u.a. bezahlt wurden) aufrecht zu erhalten sondern ging spornstreichs in ein Kaffeehaus und setzte es dort, 112

wo jetzt nur noch Schieber und Rotarmisten verkehrten, in Kaffee und Kuchen um. Und so hatte er, als er Anfang März unserem Gruppenältesten Anton Mitteilung von seinem erfolgten Eintritt in die Rote Armee machte und sich verabschiedete, als Grund dafür nicht etwa seine Überzeugung angeführt, sondern nur, daß er das Leben im Lager nicht mehr aushalten könnte. Und das begriffen wir wohl, daß es ihm unerträglich war, so zu leben, wie die große Masse auch, er mußte eben bessere Lebensbedingungen haben. Bezeichnend war auch, daß er nicht bedingungslos in die Rote Armee eintrat, in der die militärischen Ränge der „imperialistischen“ Herrn geflissentlich nicht anerkannt wurde, sondern - unter Vorlegung seines Besoldungsbuches und Hinweis auf seine Tätigkeit als preußischer Offizier und Kompanieführer, - verlangt hatte, daß man ihm in der roten Armee eine entsprechende 113

Führerstelle gebe. Da den Roten nun sehr daran lag, einen preußischen Offizier zu bekommen, gingen sie ausnahmsweise auf diese Bedingung ein. Ich vermied es, ihm noch einmal zu begegnen, schon einige Tage vorher, als wir noch nichts ahnten, waren der Professor und ich recht deutlich mit ihm aneinandergeraten, weil wir den Eintritt von Kriegsgefangenen in die rote Armee - ich stellte mir immer das Spiegelbild; „Russen“ als Volksbeglücker in Deutschland, vor - scharf verurteilten. Es war uns lieb, zu wissen, daß er unsern Standpunkt kennen mußte. Er kam bald nach Krasnojarsk, wo ich im Juli1920 wieder mit ihm zusammentraf. 10.7.

Noch ein 3. Deutscher Offizier ist hier zu nennen, der früher (1915-18) mit uns zusammen war, dann in das Gefangenenlager Barnaul (3silbig!) (am Oberlauf des Ob?) verschlagen wurde, von dort aus in die Rote Armee eintrat, und da er eine besonders 114

wertvolle Erwerbung war, später nach Moskau in irgend eine führende Stelle kam. Es war 27

Dr. jur. Walter Molt, Rechtsanwalt aus Stuttgart. Er stammte aus Kreisen, die alles andere als kommunistisch waren, sein Vater und seine Brüder hatten sehr gute kaufmännische Stellungen, sein Vater war, wie ich mich zu erinnern glaube, Direktor einer Versicherungsgesellschaft, der ganze Lebenszuschnitt seiner Familie war sehr wohlhabend, auch legte er großen Wert darauf, daß er Reserveoffizier in Königin Olga Grenadierregiment war. Er war ein riesig gescheiter und viel belesener Mensch, seine volkswirtschaftlichen Vorträge in Chabarowsk waren (vor allem inhaltlich, weniger in der Form) sehr gut, m.E. sehr viel gediegener als die mehr verblüffenden von Schönhof in Kansk. In diesen Vorträgen 1917 bekannte er sich offen zur privatwirtschaftlichen Ordnung und verwarf den Sozialismus 115

durchaus. Ich war nie näher mit ihm in Berührung gekommen, weil er in Tomsk von vorneherein zu meinem Stubengenossen Günther in ein freundliches Verhältnis geriet. Und vor allem mißfiel mir, daß er etwas furchtbar unfehlbares in allen seinen Äußerungen hatte, was den Umgang mit ihm nicht leicht machte. Was ihn veranlaßte, zu den Kommunisten zu gehen, weiß ich nicht, da er ja damals nicht mehr mit uns zusammen war, nehme aber an, daß sein maßloser Ehrgeiz eine große Rolle dabei spielte, dazu die schwäbische (?) Verbohrtheit in theoretischen Klügeleien. Rein materielle Gründe, wie Freude am guten Essen und Trinken, waren bei ihm auf keinen Fall wirksam, dazu war er doch ein zu gebildeter Mensch. Im Herbst 1920 kehrte er übrigens nach Deutschland zurück. 116

Im Frühjahr 1920 machte unser Lager und seine Zusammensetzung auch allerlei Veränderungen durch. 11.7.22.

Mit dem Verschwinden der Koltschaktruppen und der Tschechen kehrten all die Kriegsgefangenen, die als Pferdeknechte, Handwerker, Köche, Burschen usw. bei ihnen gewesen waren, wohl ausgerüstet mit Geld, Tabak und Kleidungsstücken ins Lager zurück. Viele versuchten mit irgendwelchen Zügen nach Westen auszureißen, doch unsere tüchtigen Landsleute bei der Roten Armee, die „Internationalen“, übten eine so scharfe und gründliche Kontrolle, daß sie alle herausholten und ins Lager steckten. So bekamen wir starken Zuzug. Andererseits war auch ein ständiges Abströmen. Je übler die Verhältnisse wurden, desto mehr gingen weit weg, aufs Land, zu den Bauern als Knechte, nur um nichts von der roten Propaganda und ihren faulen Versprechungen zu hören. 117

So wechselte die Zusammensetzung des Lagers ständig, doch da im Ganzen der Zuzug Mannschaften brachte, so mußten wir Offiziere uns enger zusammenlegen, und so gab es wieder einmal - nach aufgeregter Abstimmung und Verhandlungen, einen Umzug, bei richtigem Tauwetter. Am 12.März, es war gerade der Jahrestag der russischen Februarrevolution und infolgedessen großer Feiertag i.d. Stadt, mußten wir in großer Eile unsere Baracke 25 räumen und nach 29 umziehen. Mit viel Geschrei, Hämmern, Sägen, Klopfen und allerlei freundlichen Auseinandersetzungen richtete man sich in dem neuen recht engen Quartier ein. Diesmal stand mein Bett unmittelbar an der Fensterwand. Platz für meine Sachen hatte ich so gut wie garnicht, und auch einen Arbeitsplatz hatte man nicht. Doch die Zeit ruhiger Arbeit war ja sowieso vorbei. 118

Mit den Ureinwohnern der Baracke und auch den neuen Nachbarn richtete man sich einigermaßen ein, d.h. jeder rechnete damit, daß es nicht mehr allzulange dauern würde. Und jeder vermied nach Möglichkeit einen längeren Aufenthalt in der Baracke. Der drohende und der dann stattfindende Umzug, im Verein mit der „Neuordnung“ der Verwaltung, war für viele ein Anlaß, das Lager zu verlassen. Einzelne rissen aus, und hatten z.T. Dusel, so mein Lazarettgenosse, der Matrose Boomgaarden, der mir schon Mitte Mai Grüße aus Petersburg schickte. Auch Hauptmann Bender, der zeitweilig in unserer Nähe lag, schloß sich einer Gruppe gerissener Mannschaften seines Bataillons an, die ihn gut mit durchschleiften. Andere, wie Oskar Jansen, (und aus Barnaul Hauptmann Fröhlich, der 16-18 in unserm Lager 28

gewesen war) erlagen dem noch sehr blühenden Flecktyphus. 119

Zahlreicher als die Fluchtversuche waren die Versuche, auf dem Lande Unterkunft zu finden. Einzelne kehrten zurück, weil sie zu üble oder zu schmutzige Brotherren gefunden hatten, die Mehrzahl blieb draußen 100 und mehr km zum Lager, bei irgendeinem Bauern, wo es scheußlich viel Arbeit, äußerst primitive Unterkunft, aber viel zu essen gab. So zog damals Wilhelm Hartmann mit einer ganzen Anzahl - Herman Dähn, Linth, Graf Eulenburg, Brümmer, Schlüter - los, und arbeitete als Tischler auf einem Dorfe (Nikolajewka), die anderen als Knechte bei einem Bauern. Unsere Lagerverwaltung, die 1919 immer mehr von dem Lagerkommando in die Hände eines gewählten Lagerausschusses übergegangen war, wurde jetzt (März 20) so gut wie außer Kraft gesetzt. Jede Baracke wählte einen Vertrauensmann, diese zusammen wieder einen Lagervertrauensmann - den sehr ordentlichen und zuverlässigen österreichischen 120

Feldwebel Berger, der famos mit Russen, Internationalen und Lagerangehörigen umgehen konnte. Doch diese Vertrauensleute waren nichts anderes als Befehlsempfänger des Unsinns, den täglich ein von den Russen (oder Internationalen?) eingesetzter Lagerkommandant von sich gab. Der 1. war ein ehemaliger österreichischer Einjähriger, Fischer, ein gutmütiger Idealist, der infolgedessen auch sehr bald verhaftet wurde und damit aus unserem Gesichtskreis entschwand. Der 2. war ein deutscher Einjähriger, der im vorhergehenden Herbst sich einen Namen gemacht hatte dadurch, daß er im Kaffeehaus immer Kaffee und Kuchen genossen hatte, ohne zu bezahlen; als er dabei erwischt wurde, sagte er, er sei Kommunist, wenn andere den Kaffee und Kuchen hätten, sähe er nicht ein, warum ihm nicht dasselbe zukomme. 121

Als Lagerkommandant spielte er eine ziemlich kümmerliche Rolle. Ich hatte einmal bei ihm zu tun, als er noch neu im Amte war. Er wußte entschieden nicht, wie er mich anreden sollte, das genossenschaftliche „Du“ schien ich ihm wohl nicht würdig zu sein, „Sie“ war wieder ein zu großes Zugeständnis an bouguoise Gewohnheiten, so wählte er das friederizianische „Er“, vermied es aber mir ins Gesicht zu sehen, und das war mir lieb, denn ich mußte mächtig lachen. Viel von ihm weiß ich nicht, habe aber erfahren, daß er wieder nach Deutschland zurückgekehrt ist und als kleiner Bankangestellter in Breslau wieder im Getriebe einer kapitalistischen Großbank untergekommen ist, und von seiner Führertätigkeit in der „Russischen Sozialistischen Bundes Räte Republik“ keinen Gebrauch weiter gemacht hat. Zu der Säuberung und Neuregelung der Lagerverwaltung gehörte auch, daß eines 122

Tages der Vorsitzende des bisherigen Lagerausschusses, der österreichische Oberstleutnant Hoffmann, und sein Adjudant, Oberleutnant Götz, verhaftet wurden. H. war ein außerordentlich tüchtiger Offizier, der es famos verstand mit den Russen jeder Schattierung umzugehen, und der dadurch (besonders im Jahre 1919) sehr viele Vorteile für uns durchgesetzt hatte. Bei gewissen Verschärfungen für die Kriegsgefangenen war im russischen Befehl ausgesprochen worden, daß das unter dem Kommando des Oberstl. Hoffmann stehende Lager Kansk davon befreit sei. Jetzt im März 20 beging er m.E. eine große Dummheit, nämlich in irgendeiner Versammlung schmierte er den Bolschewiken mächtig Honig ums Maul. Mir gefiel das garnicht, denn daß sie ihm das nicht glauben würden, war mir gleich klar. Bald darauf wurden beide verhaftet und nach Krasnojarsk gebracht, wo sie beide infolge säuischer Unterbringung schwer erkrankten und später 123

da man ihm nichts nachweisen konnte, wieder entlassen wurden. Doch das Verhaften war den Bolschewiken eine liebe Angewohnheit geworden, und gehörte ja mit zu den Mitteln, mit denen sie ihre Autorität wahren, wie viel Leute dabei unschuldig verhaftet, aus Versehen umgebracht werden, oder sich üble Krankheiten holen, spielt ja keine Rolle. All das spielte 29

sich ab, während wir in der Stadt am kommunistischen Dorfe arbeiteten, März 1920. 12.7.22.

Kurz vor Ende März trieb uns unser russischer unmittelbar Vorgesetzter, ein Architekt von der Bauabteilung (отдплъ государственныаъ сооруженйн) Potapow, mal wieder sehr zur Eile an; er erschien mittags und sagte, abends müßte er die Entwürfe haben da er damit nach Krasnojarsk zur Gouvernementsbehörde müsse. 124

Wir machten die Sachen notdürftig fertig, und bekamen nun kleinere Aufgaben. Als P. dann wiederkam, eröffnete er uns, wir könnten nun aufhören zu arbeiten, die Sachen sollten nach Moskau zum Rat der Volkskommissare. Er habe aber in Krasnojarsk erfahren, daß dort Architekten gesucht würden, und für einen von uns Papiere besorgt, damit er hinfahre und sich nach näherem erkundige. Nun galt es - es war der 31. März - schnell einen Entschluß zu fassen. Reuter und Martini verzichteten von vorneherein auf diese Stellen, ebenso Paul Müller. Wir anderen 4 hatten aber noch Unternehmungslust genug, die Sache wenigstens mal zu untersuchen. D.h. für diese Reise kam, da Paul Müller xxxxxx, eigentlich nur ich in Frage, und ich entschloß mich auch nun sehr schnell, gab meinen Namen für die Reisepapiere an, und Fahrt nach Krasnojarsk Ostern 1920

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versuchte in den noch verbleibenden Tagesstunden des 31.III, in denen wir unseren Entwürfen den letzten Glanz gaben, vor allem die russische Beschriftung, alle Vorbereitungen zu treffen. Die nötigen Papiere (1. einen Personalausweis - удоствереніе 2. die Kommandierung nach außerhalb ҡоматтдаровка und 3. Die Anweisung an die Bahn, mich nach Ҡрасноярск und zurück zu befördern) besorgte die Bauabteilung. Dann ging ich auf den Bahnhof, um zu fragen, wann der Zug ging - in jeder Richtung verkehrte täglich nur 1 Zug - und erfuhr: zwischen 11 und 4 Uhr nachts. Dann ging ich ins Lager, wo ein österreichischer Herr war, der gerade erst aus Krasnojarsk zurückgekommen war. Er war ein ganz famoser, älterer Herr, dessen Name ich leider vergessen habe, der als begeisterter Kommunist sich sofort den Roten zur Verfügung gestellt hatte, 126

und von ihnen den Auftrag erhalten hatte, landwirtschaftliche Kommunen einzurichten. Als er nun, wie verlangt nach Krasnojarsk kam, war dort nichts vorbereitet, er war 14 Tage von einer Behörde zur anderen gezogen, ohne das geringste zu erreichen, war glaube ich, auch mal verhaftet worden, und schließlich gänzlich unverrichteter Sache nach Kansk zurückgekehrt. Ihm verdanke ich den wertvollen Hinweis, daß viel schlimmer als die russischen Kontrollen die der Internationalen seien, und daß ich unbedingt außer den Papieren der Russen auch Papiere von den Internationalen haben müsse. Ich besorgte mir also 4.) eine Bescheinigung vom internationalen Lagerkommandanten. 5.) ein Papier vom „Kommandeur“ des Kansker Batallions der Internationalen, dem Genossen Lavereng, einem der großen Agitatoren, einer großen martialischen 127

Erscheinung, die aber sehr durch unverfälschten Hallenser Dialekt verlor. Abends packte ich dann meine Sachen, d.h. ich nahm nur das notwendigste, Seife, Handtuch, Tee, Teekanne, Brot und Wurst, mit und ging zur Bahn. Wäre nicht alles so überraschend gekommen, und hätte ich Zeit zur Vorbereitung gehabt, so hätte ich mir die notwendigen Kleidungsstücke besorgen und mich dann versuchsweise auf die Heimreise begeben können. So hatte ich gar keine Zeit zum Überlegen - es war Mittwoch vor Ostern und ich wollte Ostern wieder zurück sein – und mußte, noch mit allerlei Aufträgen betraut, losziehen, mit allerlei Uniformstücken, die den deutschen Kriegsgefangenen verrieten. Da noch Belagerungszustand herrschte, mußte ich schon vor 10 Uhr auf dem Bahnhof sein. Auf dem Bahnhof sah es wüst aus. In der Bahnhofshalle und allen Gängen lagen dicht gedrängt 128

Russen, hauptsächlich Soldaten. Ich drückte mich nach längerem Suchen in den früheren Wartesaal I. und II. Klasse, der jetzt so eine Art Nachtlokal war, und fand auch einen Stuhl, 30

von dem mich keiner Vertrieb. An Schlafen war natürlich garnicht zu denken, einmal war es unbequem, und dann machten die Russen großen Lärm. Von Zeit zu Zeit kamen Russen oder Internationale, die die Papiere prüften. Mit großer Ungeduld wartete ich, ob der Zug wohl käme, aber er kam nicht. Nach Mitternacht mußte ich, so wie ich mich erinnere, das Lokal räumen, jedenfalls brachte ich den 2. Teil der Nacht in der Bahnhofshalle zu, wo man sich kaum rühren konnte. Mich auf den Boden zu legen, dazu fehlte mir es doch an der nötigen Unbefangenheit und den nötigen Kleidungsstücken. Die Russen hatten alle Pelze und Filzstiefel an und konnten sich so ruhig auf den Steinboden legen. Auch hatte ich keine 129

Lust, mir Läuse zu holen, denn der Flecktyphus war zwar schwächer geworden, aber immer noch heftig genug im Schwange. So drückte ich mich von einer Ecke in die andere und war froh, wenn ich mich mal anlehnen konnte. Von Zeit zu Zeit ging ich draußen spazieren, wurde aber von Kälte und Wind immer schnell wieder ins Haus getrieben. Es wurde hell, und der Zug kam nicht, auch konnte mir niemand vernünftig Auskunft geben. Gegen 10 Uhr vorm. war ich nach 12 Stunden Herumstehens so weit mürbe, daß ich beschloß, ins Lager zurückzukehren, trotz dem zu erwartenden Hohngelächter. Auf einmal hieß es, der Zug ist von Hansk - der nächsten Station ostwärts, einer Eisenbahnwerkstätte mitten im Walde, angemeldet. Und nach einer ¾ Stunde kam er tatsächlich an, bestehend aus lauter Tepluschken - Mannschaftstransportwagen mit 2 geschossigen Pritschen 130

und einem kleinen Ofen in der Mitte. Nun war es garnicht leicht Platz zu finden. Ich entdeckte einen Wagen, in dem oben mehrere Plätze frei waren - ich habe immer versucht, Plätze oben zu bekommen, viele Russen und auch von unseren Leuten lagen lieber unten, was mir unbegreiflich war, da von oben gelegentlich feste Gegenstände, ständig Staub, Brotkrumen, Asche und Läuse herunter rieselten. - Ich fragte höflich die Mitreisenden, ob die Plätze frei seien, und bekam die Antwort, ja, ich solle mich legen. Das tat ich und war sofort am Einschlafen. Doch nicht lange, dann erschienen 2 von der roten Armee und machten ein Mordsspektakel, ich solle machen, daß ich wegkäme. Ich sagte ihnen ruhig, davon könne keine Rede sein usw. Ich merkte nämlich bald, daß ich die andern Russen des Wagens auf meiner Seite hatte, und daß 131

sie ziemlich aneinander gerieten, wobei sie sich zunächst „Genossen“ nachher aber „Hunde“ nannten. Doch bald wandten sie sich wieder mir zu, holten den Stationsvorsteher und verlangten, daß er mich auswiese. Ich sagte dann nun, ich wäre im dienstlichen Interesse kommandiert usw. und dächte garnicht daran, meinen Platz zu räumen. Schließlich fand der Stationsvorsteher, dem der Streit ziemlich peinlich war, der es aber mit den Rotarmisten nicht verderben wollte, einen Ausweg, und verschaffte mir einen anderen Platz. Und da hatte ich großen Dusel. Einmal, daß ich aus dem vollen Wagen herauskam, sich die Stimmung der Russen doch auch einmal vereint gegen mich richten konnte - und richtig erzählte mir einer der darin fahrenden Soldaten in Krasnojarsk, sie hätten eine ganz üble Fahrt gehabt, da es ständig Krach und Streit gegeben hätte. Und dann war der Wagen, 132

in dem ich untergebracht wurde, ein Dienstwagen, in ihm fuhr ein hoher Eisenbahnangestellter, und ein Eisenbahner vom Zugpersonal mit seiner Schwester und nur ich wurde als 4. dazu gelassen. So machte ich es mir sofort bequem, d.h. streckte mich aus und holte den versäumten Nachtschlaf nach. Auf den Stationen wurde mit vereinten Kräften Holz geklaut, so konnte man ständig gut heizen und von Zeit zu Zeit Tee kochen. Der Zug fuhr gut, die 220 km von Kansk bis Krasnojarsk legte er in 13 Stunden (von 11h vorm . - 12h nachts) zurück. Nachm. in Klakwemaja (mitten zwischen Ka. und Kr.) stiegen noch einige zu uns, doch behielt ich meinen Platz allein auf der einen Pritsche neben dem Eisenbahnbeamten ungestört. Unter den Zugestiegenen war einer, der die englische Uniform noch mit englischen Wappenknöpfen! 133

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der Koltschakarmee trug. Er sah intelligent aus, und ich kam bald in ein Gespräch mit ihm, d.h. ich glaube, er fing an, mich gebrochen deutsch anzureden. Er stammte aus Orenburg, war der Sohn eines dortigen Kaufmann, hatte in Petersburg auf der Handelsschule studiert, war vor dem Bürgerkrieg weißgardistischer Offizier gewesen, gefangen genommen, und bekleidete jetzt ein Pöstchen im bolschewistischen Staat, wobei es ihm nicht schlecht ging, denn er sah dick und rund aus, und als ich ihn zu Tee und trockenem Brot einlud, rückte er Butter in größerer Menge heraus, die ich mir nicht schlecht schmecken ließ. So und in russischen und deutschen Gesprächen verging die Zeit gut, gegen Abend legte man sich noch einmal schlafen und ich wurde erst wieder wach, als wir auf dem Bahnhof Krasnojarsk einliefen. Hier wurde der Zug gleich von Internationalen (Ungarn) umstellt, die sich 134

mit großem Geschrei und notfalls mit Kolbenstößen verständlich machten, Es war mir eine gewisse Genugtuung, daß der Eisenbahnbeamte - wie mir der deutsch sprechende Russe nachher sagte, ein hoher Genosse von der Kansker Eisenbahndirektion - mit den Ungarn ziemlich heftig aneinander geriet, und daß er am eigenen Leibe verspürte, welch übles Pack sie sich als Polizei in den Pelz gesetzt hatten. Sehr schnell stürzten sie sich dann auf mich 13.7.22.

los, da sie mich natürlich gleich als Kriegsgefangenen erkannten, führten mich ans Licht und prüften meine Papiere nach allen Regeln der Kunst, und obgleich sie mehr als genügend waren, hatten sie an einem - meinem Auftrag in Krasnojarsk an das dortige Bauamt, das ich irgendwelche Schriftstücke zu überbringen hatte - auszusetzen, daß ein Stempel fehlte, 135

und kaum konnte ich sie hindern, das verschlossene Paket zu öffnen; wer weiß ob sie mich nicht doch noch festgenommen hätten, wenn ich nicht das Papier vom „Genossen“ Lavereng gehabt hätte. So ließen sie mich wohl oder übel und knurrend wieder frei, d.h. eröffneten mir, daß ich vor Tagesanbruch den Bahnhof nicht verlassen dürfe, und beobachteten mich ständig. Mein russischer Begleiter hatte gehört, wie sie ständig nach mir ausschauten und sich gegenseitig auf mich aufmerksam machten. Mir kam die ganze Sache furchtbar lächerlich vor, denn wenn ich hätte ausreißen wollen, so wäre ich bestimmt nicht mit einer Kriegsgefangenen(Watte) Mütze, österreichischen Wickelgamaschen und einem feldgrauen Offiziersrock gefahren. Nun mußte ich also eine 2. Nacht auf einem russischem 136

Bahnhof verbringen und hier bot sich das selbe Bild wie in Kansk, nur in größerem Maßstab, die ganze Halle war dicht besät mit schlafenden Gestalten in Pelz und Filzstiefeln, bei grellem Bogenlicht ein ganz unheimlicher Anblick. Ich konnte mich auch hier nicht zum Hinlegen in dieser gefährlichen Umgebung entschließen, und wanderte meist - allein oder mit irgendwelchen Russen - durch das schlafende Heer oder auch auf der Stadtseite am Gebäude auf und ab. Von Zeit zu Zeit ruhte ich mich etwas aus auf einem zerbrochenen Gepäckwagen. Endlich kam der Morgen. Mein findiger Reisebegleiter nahm mich mit in ein großes Übernachtungsgebäude für Eisenbahner, wo man sich großartig waschen und dadurch erfrischen konnte. Dann zog ich in die Stadt, um zunächst meine Besorgung zu erledigen. Da ich gar nicht Bescheid wußte, fragte ich mich zuerst zu Herrn Cibis durch, einem Schwager (oder Vetter?) von meinem Barackenkameraden Jerch, der als Unteroffizier früh gefangen, 137

- schon lange in der Stadt Krasnojarsk lebte und dort in einer Lederfabrik als kaufmännischer Angestellter beschäftigt war. Er war mit einer Deutsch-Russin verheiratet, und hatte eine sehr anständige kleine Wohnung bei einem reichen Juden, in dessen Hause seine Frau lange als Erzieherin gewesen war. An ihn hatte ich Briefe und allerlei Aufträge, und suchte zunächst ihn auf, um mich bei ihm zu unterrichten. Er war schon fort zur Arbeit, aber seine Frau brachte mich zu seinem in der Nähe gelegenen Büro. Er wußte viel Interessantes von Krasnojarsk, dem dortigen Leben, den Kriegsgefangenen usw. zu erzählen. Wo die Behörde lag, zu der ich sollte, konnte er mir allerdings auch nicht sagen, gab mir aber einige wertvolle Hinweise, und mit deren Hilfe gelang es mir nach längerem Suchen, das 32

Bauamt zu finden. 138

Auch das war bezeichnend für das Ratsrußland, es gab eine Unzahl von Behörden, und kein Mensch fand dadurch und konnte einem Auskunft geben, wo die einzelnen zu finden waren. Auf dem Bauamt erfuhr ich nun, daß dort 2 Techniker für Entwurfsarbeiten gesucht wurden. Gezahlt wurden 1800 R im Monat; in Kansk wo wir bei freiem Wohnen und billigem Essen im Lager dieselbe Summe bekamen, war es nach dem derzeitigen Geldwert eine gute Bezahlung, in Krasnojarsk hätte sie, nach allem, was ich erfuhr, gerade hingereicht, um außer der Verpflegungskarte das zum Sattessen notwendige Brot zu kaufen. Außerdem erfuhr ich, daß es sehr schwer war, Wohnung zu finden, noch schwieriger, die notwendigen Lebensmittel im Schleichhandel zu ergattern. So war ich schon entschlossen, den Posten nicht anzunehmen, und verdrückte mich bald wieder, nachdem ich noch etwas mit 2 dort beschäftigten Kriegsgefangenen, einen Ungarn und einem Südslawen, gesprochen hatte. Dann besah ich mir die Hauptstraße, sah auch einige deutsche Kriegsgefangene aus dem Lager und tauschte mit ihnen Grüße aus, aß ganz kümmerlich in einem öffentlichen 139

Mittagstisch, und suchte dann wieder die Familie Cibis auf, wo es, an weiß gedecktem Tisch, allerlei Genüsse gab, Tee mit Zucker, prachtvolles Gebäck, Butter, ein Sofa u.a. auch sehr guten Tabak. Hier wurden mir die Eindrücke, die ich gewonnen hatte, bestätigt, vor allem, daß es für einen unbekannten Kriegsgefangenen ohne Beziehungen fast unmöglich war, durchzukommen. Unter Mitnahme eines Paketes für Herrn J. entschwand ich dann wieder zum Bahnhof, wo, wie man mir morgens mitgeteilt hatte, daß um 3h ein Zug nach Kansk abgehen sollte, und wo ich um ½ 3 eintraf. Nach längerem Warten fragte ich mal wieder nach, bekam lauter erstaunte Gesichter zu sehen, ob meiner Frage, und die Antwort, der Zug ist schon um 12 gefahren, der nächste geht erst morgen, als ob das die selbstverständlichste Sache der Welt sei. Nun entschloß ich mich schnell, zu versuchen, im Gefangenenlager für die Nacht Unterkunft zu finden, nachdem ich mir hatte sagen lassen, der nächste Zug gehe erst 140

morgen (Sonnabend) um 4h nachm. Kriegsgefangene, die ich traf, sagten mir, im Lager sei Platz genug, es liege etwa 2 Stunden vom Bahnhof. So wanderte ich dann forsch, zunächst durch die langgestreckte Stadt, dann hinauf auf die Höhe und auf der Hochebene weiter, auf der das Riesengroße Lager lag, die ehemalige „Militärstadt Krasnojarsk“ (воснный городоҡ). Diese riesigen Gebäudemassen im landfremden Ziegelrohbau machen einen schweren Eindruck, wie richtige Zwingburgen, die sie auch immer gewesen sind, ganz gleichgültig, welche Partei gerade am Ruder war. Als ich glücklich den Lagereingang erreicht hatte, hatte ich wohl noch ¼ Stunde zu gehen, bis ich am Ende der Steinkaserne angekommen war, wo die deutschen Offiziere lagen. Ich fragte nach dem Ältesten, wurde kurz und freundlich begrüßt, erfuhr aber, daß er mich - a) Enge, b.) Seuchengefahr - nicht aufnehmen dürfe, und ging in die Quarantainebaracke, eine übel verwahrloste 141

Holzbaracke, mit lauter Durchgangsbewohnern, von denen keiner etwas für Ordnung, Sauberkeit und Instandhaltung tat. Groß war meine Freude, als ich erfuhr, der Kommandant der Quarantaine sei ein deutscher Offizier, der früher einmal in Kansk gewesen sei, suchte ihn in seinem Zimmerchen auf, und fand zu meiner großen Überraschung den Lt. z. See Glüer vor. Er war im Jahre 1919 ebenso wie Krämer nach Irkutsk als Mechaniker zur Koltschakarmee kommandiert, im Frühjahr 20 mit Kr. entflohen, aber nur allein bis Krasnojarsk gekommen, wo ihn die Internationalen aus dem Zug gefischt und ins Lager gesteckt hatten. Hier hatte er sich in der Quar. Baracke häuslich eingerichtet, das vorteilhafte Amt des Barackenältesten übernommen, bekam mehr zu essen und brauchte nicht auf Arbeit zu gehen. Geschickt wie er als Mechaniker und als Handwerker war, hatte er sofort 142

wieder wie in Kansk angefangen, Uhren auszubessern und damit zu handeln. So wartete er 33

ab, bis sich eine günstige Gelegenheit bot, weiterzureisen, und verschaffte sich gleichzeitig das für die Flucht erforderliche Kapital, wozu Uhrmachergerät und Uhren besonders geeignet waren, da sie wertvoll waren und keinen Platz wegnahmen. Mir wurde ein Bettgestell in der Baracke angewiesen, dann ging ich in Glüers Bude, wo wir gemütlich Tee und Brot verzehrten. Aus der Kaserne bestellte ich mir noch meinen Regtskameraden Leunig, mit dem ich von Anfang August bis Mitte Sept.1914 zusammen gewesen war. So erfuhr ich allerlei über die Zustände in Krasnojarsk, die wesentlich übler waren als die in Kansk. August 1919 hatten sie sehr unter der Verfolgung der Tschechen zu leiden gehabt, die etwa 18 Ungarn, meist Offiziere, ziemlich grundlos umgebracht hatten. Im Winter - um Neujahr herum, war dann in unmittelbarer Nähe des Lagers eine große Schlacht 143

gewesen, in der die Reste der Koltschakarmeen und der polnischen Legion mächtig Keile bezogen hatten. Zehntausende von russischen und polnischen Gefangenen wurden im Lager festgesetzt, es sollen gegen 60000 (mit den Kriegsgefangenen) dort gewesen sein. Eine Folge des Hungers und der schlechten Lebensbedingungen war dann eine entsetzliche Flecktyphusepedemie im Lager und in der Stadt, der im Lager allein etwa 25000 zum Opfer gefallen sein sollten. Einzelbeschreibungen waren grauenhaft. Bei dieser Seuche waren auch von 40 gegen Flecktyphus Geimpften 39 gestorben, darunter 8 oder 12 Ärzte. Im Lager interniert war auch nach fast vollständiger Ausraubung durch die Internationalen Schwester Elsa Brändström. Den Internationalen paßte nicht, daß Ausländer mannhaft für uns eintraten, sie wollten uns uneingeschränkt in ihrer Hand haben, sich nicht in die Karten gucken 144

oder gar unangenehme Wahrheiten sagen lassen. Elsa Brändströms Tatendrang war nicht zu brechen, sofort übernahm sie die lebensgefährliche Pflege der Flecktyphuskranken. Da sie sehr beschäftigt war, wollte ich sie nicht aufsuchen; es war sehr schade, daß ich vor meiner Reise in Kansk nicht die Zeit gefunden hatte, mich von Hauptmann Klein zu verabschieden, ich hätte dann schön das vom deutschen Lager Kansk für E.B. bestimmte Geschenk, eine prachtvolle Tasche von Seehundsleder, mitnehmen und überbringen können. So hat sie sie wohl überhaupt nicht mehr bekommen, da sich später keine Verbindung herstellen ließ. Das Leben im Lager war sehr übel, mangelhafte Verpflegung, schlechte Arbeitsgelegenheit, da die Stadt ziemlich entfernt war, große Teuerung und Lebensmittelnot. So war auch hier große Flucht aus dem Lager, die noch dadurch gefördert wurde, daß sich in Stadt und Lager Krasnojarsk eine besondere Blütenlese von Internationalen angesammelt hatte. 145

Vor allem aber unterhielt man sich über die Aussichten zu entfliehen. Die Ansichten, ob nach Osten oder Westen, waren sehr geteilt, ich erfuhr aber allerlei über die Handhabung der Bahnkontrollen in und bei Kr. was ich aus eigener Beobachtung ergänzen konnte. Spät suchte ich mein Lager auf, ein Brettergestell. Als Unterlage hatte ich nichts, zum Zudecken meinen Mantel. Da es in der Baracke scheußlich kalt war, habe ich nicht viel geschlafen, sondern meist wach gelegen und gefroren. Morgens stand ich daher früh auf, wusch mich und suchte bald die Glüersche Stube auf, wo wenigstens etwas geheizt wurde, und es einen warmen Tee gab. Nachher mußte ich mich dann bald mit H. auf den Weg machen, er begleitete mich in die Stadt und nahm mich noch mit zum Oberstleutnant Hoffmann. H. und sein Adjutant hatten zunächst einige Zeit in der „Turma“ dem großen Gefängnis, das in keiner russischen Stadt fehlte, unter ganz scheußlich engen und schmutzigen Verhältnissen gelebt. Was man ihnen zum Vorwurf machte, erfuhren sie nicht; 146

aber da sich nichts beweisen ließ, ließ man sie nach einigen Wochen heraus und brachte sie in die Kaserne der Internationalen Brigade, wo sie mitten unter den Leuten auf Pritschen an dunkler Stelle in recht lauter Umgebung lagen, aber doch anständig behandelt wurden und satt zu essen bekamen. Ihre Freilassung sollte bald erfolgen. Beide waren noch recht mitgenommen, freuten sich aber sehr, von Kansk zu hören. Sie führten ihre Verhaftung darauf 34

zurück, daß sie, als eifrige Vertreter unserer Interessen, den Internationalen unbequem waren, und damit stimmte überein, daß Oberstleutnant Hoffmann nicht wieder nach Kansk zurück ohne Angabe von Gründen! - sondern in Kr. ins Lager gehen sollte. Mit herzlichen Grüßen beladen ging ich dann zur Bahn. Oberlt. Götz ging es schon während meines Besuches dreckig, ¼ St nachher etwa wurde er flecktyphuskrank ins Lagerlazarett gebracht, eine Folge des Aufenthaltes im Gefängnis, Oberstleutnant H. erkrankte auch sehr bald und auch recht ernstlich an irgendeinem inneren Leiden, Götz kam nach 4-6 Wochen nach Kansk 147

zurück und lag auch dort noch sehr lange im Lazarett, weil vom ausgeheilten Flecktyphus eine Erkrankung (Lähmung) des Oberschenkels zurückgeblieben war. Seine ärztliche Behandlung im Lazarett hat darin bestanden, daß jeden Morgen ein Sanitäter kam und Fieber maß. Eines morgens hatte der verheißungsvoll gesagt: „сегоди криис будетг“ („heute ist die Krisis“), und war dann bis zum nächsten Morgen wieder verschwunden. Da man mir gesagt hatte, um 4h gehe ein Zug, war ich vorsichtshalber schon um 12 auf dem Bahnhof. Es war schön sonnig und milder geworden, sodaß man es auf dem Bahnsteig schon aushalten konnte. Unter den Wartenden fand ich auch bald Gesellschaft: eine Gruppe von 3 Kriegsgefangenen, die sich mit meiner Hilfe allerlei Auskünfte holten, schloß sich mir an; sie wollten aus dem schlimmen Krasnojarsk heraus und bei Klukwennaja (zwischen Krasnojarsk und Kansk) auf Arbeit gehen. 2 waren von der bayrisch-tiroler 148

Grenze, der 3. sprach wenig, aber als er einige Worte gesagt hatte, sagte ich ihm gleich: „Sie sind doch nicht weit von Lippe zu Haus!“ worauf er gestand, er sei Ziegler aus Lage. Er hatte 11/13 bei der 6. Komp. in Bielefeld gedient, und wir hatten im Handumdrehen eine Menge Beziehungen und gemeinsamer Erinnerungen. Es war doch ein riesig wohltuendes Gefühl, unter den Tausend Asiaten auch einige Landsleute zu finden. Das Warten zog sich recht in die Länge, und es war mir recht schmerzlich, mir klar machen zu müssen, daß ich den Ostersonntagmorgen, auf den ich mich schon lange gefreut hatte, jedenfalls nicht nach überstandener Reise in Kansk in der Bücherei bei Kaffee und Kuchen verbringen würde. Es wurde Abend, und ich gab die Hoffnung auf, den Sonntagsmittagsschweinebraten verzehren zu können, auf den hin man schon viele Wochen sich gefreut und kümmerlich 149

gegessen hatte, um diesen Luxus zu ermöglichen. Als gegen Abend immer noch keine Aussicht auf den Personenzug war, verließ mich die Geduld. Unter den wartenden Russen hatte ich eine Reisebekanntschaft von der Hinreise getroffen, einen jungen Feldscher, der für sein Militärlazarett (in Kansk) Medikamente aus Krasnojarsk geholt hatte. An ihn machte ich mich heran, ihm war von der Bahnverwaltung ein leerer Güterwagen in einem Güterzug, der abends nach Osten abgehen sollte, zur Verfügung gestellt worden. Mit vereinten Kräften schafften wir seine Sachen darein und wurden von ihm auch darin aufgenommen, d.h. außer allerlei Russen mancherlei Art auch ich mit meinen 3 neuen Bekannten. Dann wurde der Wagen zugemacht und niemand hereingelassen. Wenn draußen jemand klopfte, wurde zunächst überhaupt nicht geantwortet; wurde der draußen deutlicher, so hieß es: hier sind Lasten für die rote Armee, und hier darf keiner herein. Schreckte auch das nicht ab, 150

so hieß es, hier liegen lauter Flecktyphuskranke, und das half dann. Ich konnte mir daraus eine Vorstellung machen, wie schwierig es für allein reisende Kriegsgefangene, womöglich ohne Reiseerlaubnis, war, im Dunkeln, Platz zu finden, und war froh, daß ich untergekommen war. Um das Holzklauen und Heizen brauchte man sich nicht weiter zu sorgen, das besorgten die Russen. Die noch viel weniger gerne frieren als wir, bereitwillig und geschickter als wir. Endlich, um 10 oder 11 fuhr der Zug ab, über die Jennisseibrücke und weiter. Doch schon auf der 1. Haltestelle, etwa 20 Km hinter Kr. wurde ich wach, da der Zug eine ganze Weile hielt. Während wir warteten, hörten wir den (den ganzen Tag über) so sehnlich erwarteten fahrplanmäßigen Zug ein und auch bald wieder weiterfahren. In meiner Müdigkeit und auch abgeschreckt durch die oben geschilderten Schwierigkeiten, so nachts 35

bei kurzem Halt in den geschlossenen Wagen unterzukommen, blieb ich lieber in unserem Zug, hoffte auch, daß wir bald hinterherfuhren. Doch unsere Reise entwickelte sich immer 151

mehr zu einer aufreibenden Geduldsprobe. Wir brauchten 42 Stunden, anstatt 13 auf der Hinfahrt, für die 220 Km von Krasnojarsk nach Kansk. Morgens am 1. Ostertag wachte ich früh auf, da der Zug wieder hielt , „besorgte“ erst Holz und heizte dann tüchtig ein, und vertrat mir dann etwas die Beine. Ich konnte nun, da es hell wurde, feststellen, daß unser Güterzug lauter Wagen enthielt, die auf den einzelnen Haltestellen stehen bleiben sollten, und zwar alle ungeordnet durcheinander. Da ich wußte in welchem Tempo die russischen Rangierlokomotiven arbeiten, war das ja eine heitere Aussicht, und ich habe diese auf die Nerven gehenden Aufenthalte dann auch gründlich durchgekostet, und sah im Geiste einen Teil des Osterprogramms nach dem andern durch die Lappen gehen. Am frühen Morgen kamen wir in Klukwennaja an. (Mitte zwischen Kr. und Ka.) Auch hier wieder ein typisches Bild für unsere Reise: die Lokomotive und das Zugpersonal verschwinden, wir stehen 152

stundenlang da, ohne daß sich irgendjemand um uns bekümmert. Dann erst erscheint die Rangierlokomotive und mährt weitere Stunden; als es schon lange dunkel war, fahren wir glücklich weiter. In Kl. war übrigens großer Betrieb, uns begegnete dort ein großer Transport aus Irkutsk, lauter Kriegsgefangene, die nach Westen auf Arbeit sollten, und in ihrer Harmlosigkeit glaubten, das sei die Einleitung zum Abtransport. Es war der 1. der sogenannten „Spezialistentransporte“ die später auch in Kansk eine große Rolle spielten. Sie waren nicht wenig erstaunt, als ihnen in Omsk ein recht unfreundlicher Empfang bereitet wurde. In Kl. mußte ich auch für teures Geld Brot kaufen, das allerdings recht gut war. Die Irkutsker Gefangenen erzählten auch von dem Leben in I. Bei der Größe der Stadt und der verhältnismäßig sehr wenig bebauten Umgebung waren Lebensmittel noch schwieriger zu haben als in Krasnojarsk. Für einen russischen Militärmantel gab es 3 Brote. In Krasnojarsk 153

war bei meinem Aufenthalt dort noch Markt, aber nicht mehr lange, dann wurde der freie Handel mit Lebensmitteln verboten, ebenso in Kansk. Meine Weiterfahrt Klukwennaja bis Kansk war weiter aufreibend langsam, ich sah nacheinander den Ostersonntagabend, den 2. Feiertagskaffee und das Mittagessen mir entschwinden. Am 2. Feiertag vormittags lagen wir lange in Philomonowo, einer großen Mühle etwa 15 Werst westlich von Kansk. Wäre nicht gerade Schneeschmelze gewesen, die die Steppe gänzlich unwegsam machte, so wäre ich zu Fuß losgegangen. Über eine Stunde standen wir und warteten, niemand wußte worauf. Dann erst hieß es, die Lokomotive hat kein Holz mehr. Sie fuhr vor an einen riesigen Stapel Brennholz, und wurde unter allgemeiner Beteiligung neu beladen. Etwa um 1 Uhr führen wir dann an dem 3 km westlich der Stadt liegendem Lager 154

vorbei. Als dann der Zug anfing, langsamer zu fahren konnte ich meine Ungeduld nicht mehr länger bezähmen, sprang aus dem Zug, und ließ meine Tasche hinterher werfen. Nach einem anstrengendem Marsch durch Schnee und Pfützen, teilweise auf einem Bauernschlitten fahrend, landete ich glücklich im Lager, als dort gerade allgemeine Mittagsund Verdauungsruhe war.

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Kopie der letzten Seite

Brief von Fritz Lau (siehe Seite 12)

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