Erinnerungen aus meiner Kriegsgefangenschaft 6. Heft

Werckshagen hatte ich einen sehr weltgewandten (und begüterten) Berliner Kaufmann (aus .... Leute, die nur im Büro zu gebrauchen waren, gingen.
10MB Größe 5 Downloads 356 Ansichten
Erinnerungen aus meiner Kriegsgefangenschaft 6. Heft

Hermann Petri

1

Abfahrt aus Omsk Tjumen Jekaterinenburg Perm Wiatka Wologda Petersburg

Finnland Ostsee Stettin

1 6 24 30 52 59 65

101 114 122

Kopie der 1. Seite

2

24.11.22.1

1

„Einwaggonierung“ in Omsk am 29. August 1920. Zu unserem Transport gehörten 1200 Mann, Deutsche, Österreicher und Ungarn aller Schattierungen, Kriegs- und Zivilgefangene, Männer, Frauen und Kinder bunt durcheinander. Auf der Militär Verladestation nahe unserem Lager stand ein Zug mit 40 Tapluschken. (Tapluschke = der russische Mannschaftstransportwagen mit kleinem eisernen Ofen. Siehe auch Band 2 Seite 2) Bei der Einteilung hatte ich wieder mal Glück. Durch Werckshagen hatte ich einen sehr weltgewandten (und begüterten) Berliner Kaufmann (aus Inowiazlaw) kennen gelernt, der immer sehr auf seinen Vorteil und möglichst angenehmes Reisen bedacht, mit Geschick eine Gruppe bildete, indem er sich und seine Bekannten an eine österreichische Kapelle von etwa 8 Mann anschloß. Ich persönlich überließ hier wie auch sonst vorher und nachher die Initiative anderen, um möglichst wenig aufzufallen. Die Bildung unserer Gruppe erwies sich als sehr vorteilhaft, denn die österreichischen Musiker waren recht ordentliche und saubere Leute, sodaß es in unserem Wagen nie so wüst zuging wie in den anderen; außerdem wurden 2

wir nicht so eng zusammengelegt, da die Musikanten, die unterwegs viel musizieren sollten, etwas mehr Platz und Bewegungsfreiheit (schon wegen der Instrumente) zugebilligt bekamen. Dann hatte ich noch besonders Glück, da ich den Platz an der Außenwand auf der oberen Pritschenreihe erwischte, der auf Offizierstransporten immer ganz besonders geschätzt war, da man niemand über und nur einen neben sich hatte, auf dem aber keiner von den Mannschaften wollte, vermutlich, weil die Plätze oben unbequemer zu erreichen waren, und weil man unmittelbar an der Klappe lag, in der natürlich kein Fenster war, und durch die es „zog“. Wagenkommandant wurde der österreichische Kapellmeister, der seine Sache auch recht gut machte. Mein Nachbar war der ??hensche Berliner, namens Jelonek, ein gescheiter und gewandter, aber mir durchaus fremdartiger Mann. Dann kam ein Bekannter von ihm, ein sehr ordentlicher, sauber und stiller ostpreußischer Schuster. Werckshagen, der wie immer, so auch hier nicht pünktlich zur Stelle war, mußte sich mit 3

einem recht üblen Platz unten im Wagen abfinden. Ein Eigenartiges Zusammentreffen war, daß wir beiden deutschen Offiziere in Wagen 21 kamen, unmittelbar neben dem Kommandowagen, Nr. 20, in dem der Transportführer, „Genosse“ Grünwald und ein Häuflein recht trüber Kommunisten lagen, und daß im nächsten Wagen auf der anderen Seite, Nr. 19, wieder 2 deutsche Offiziere waren, Haas und Schlüter. Über 3 Wochen waren wir nun unterwegs, aber keiner von den Parteiangehörigen erkannte uns, wie wir uns später in Deutschland von einem aus ihrem Wagen erzählen ließen. Mit der Abreise war es natürlich, wie stets in Rußland, nicht sehr eilig. 25.11.22. So konnte ich am Montag (30.8.) früh noch einmal in die Stadt auf den Markt gehen, wo ich mein letztes überzähliges Wäschestück, eine noch nicht getragene Unterhose (vom Roten +) verkaufte. Da sie mir von vornherein sehr dünn und wenig haltbar vorkam, hatte ich sie nie angezogen und von vornherein zum Verkauf oder Tausch bestimmt ehe sie durch Tragen 4

ihren Glanz und Chik verlor. Für den Erlös (2500,- R) kaufte ich mir 3 Brote, um meinen stark angeknabberten Vorrat von geröstetem Brot etwas zu ergänzen. Den Nachmittag benutzte ich zu einem Abschiedsbaden im Irtisch mit großer eingehender Durchsuchung meiner Wäsche, wobei ich zu meiner großen Freude feststellen konnte, daß ich dank meinem täglichen stundenlangen Kampf keine Laus mehr fand, „nur“ noch einige Flöhe. Am Abend setzte sich dann der Zug in Bewegung und fuhr bis zum Hauptbahnhof. Am 31.8.20 wachten wir am selben Ort bei strömenden Regen auf. Doch dauerte es nicht lange, dann zog die Lokomotive an, und in flottem Tempo ging es (bei geschlossenen Türen 1 Links das Datum, an dem der Text geschrieben wurde, rechts die Seitenzahl des Originals

3

und Fenstern) über den Irtisch. Als wir auf dem jenseitigen Ufer auf der wegen ihrer Kontrollen gefürchteten Station ? nur kurz hielten und dann munter weiter fuhren, da war für mich auch die finstere Etappe Omsk erledigt, und mit gutem Mute ging es nach Westen zu. Mit großer Spannung wurde das Vorwärtskommen mit Hilfe unserer 5

Stationsverzeichnisse verfolgt. Vom Omsk bis Petersburg sind etwa 2800 km, und wir sagten uns, wenn alles gut geht, können wir in einer Woche in Petersburg sein. (der Personenzug legte die Strecke in 4-5 Tagen zurück.) Der 1. Tag brachte nichts besonderes, wir fuhren – meist bei Regen – durch Steppen. Das Tempo war sehr gut, nirgends hatten wir längeren Aufenthalt. Auf den Stationen gab es überall noch gute Lebensmittel zu kaufen, meist billiger als in Omsk. Am 1.9. früh wachten wir auf einem einsamen Haltepunkt 400 km westl. Omsk auf und stellten mit Schrecken fest, daß wir keine Lokomotive mehr am Zuge hatten: Maschinendefekt. Das war ja heiter. Die durch das schnelle Tempo des Tages vorher geweckten Hoffnungen schwanden kläglich zusammen. Der Aufenthalt war recht übel. Meist regnete es etwas, in den wenigen Häusern bei der Station gab es garnichts zu kaufen. Ein Wartesaal oder sonst ein Unterkunftsraum war nicht vorhanden, so daß einem nichts anderes übrig blieb, als voller Ungeduld auf dem riesigen Bahnsteig auf und ab zu rennen 6

und auf die Lokomotive zu warten. Gegen Abend kam sie glücklich, und schnell ging es weiter, sodaß die Lebensgeister wieder munterer wurden, und wir noch Mitternacht in Tjumen ankamen, der ersten Gouvernementsstadt westlich von Omsk (etwa 530 km). War ein derart bedeutendes Ziel erreicht, dann wurde in derselben Nacht natürlich nicht weiter gefahren, sondern die Russen ruhten zunächst erst mal auf ihren Leistungen (130 km ohne längere Pausen!) aus. Erlebnisse von der Weiterfahrt lassen es allerdings wahrscheinlich erscheinen, daß zu diesen langen Aufenthalten in allen größeren Städten unser Transportführer wesentlich beitrug, da er Wert darauf legte, sich bei allen Ortsbehörden stolz vorzustellen, und die Herrlichkeit seines Amtes möglichst zu zeigen und auszukosten. Es war ein junges Bürschchen von höchstens 25 Jahren, wie man erzählte, Schreiber bei der Eisenbahndirektion Hannover. Er hieß Genosse „Grünwald“ und hatte das richtige impertinente Judengesicht. Bei seinen Lagergenossen – er war mit einem großem Trupp aus Semipalatinsk am Oberlauf des Irtisch2 gekommen – war er nicht sehr beliebt, 7

weil er sich dort im Lager mit großem Geschick vor der Arbeit gedrückt hatte. Er war ein ausgemachtes Mistvieh, der gut lebte – der Kommunistenwagen Nr. 20 hatte reichliche Vorräte mit – viel Unsinn schwatzte und wenig oder garnichts tat, um den ihm anvertrauten Transport voran zu bringen. Offen wagte ihm selten einer etwas zu sagen, aber Freunde hatte er bestimmt nicht viele unter allen 1200. In Tjumen erreichte uns dann das nächste Mißgeschick. Froh, so weit zu sein (noch nicht ganz 1/5 des Weges) warteten wir am 2. Sept. früh auf die Weiterfahrt. Da erschien plötzlich der Genosse X., begrüßte uns im Namen der ungarischen Sektion der kommunistischen Partei und und eröffnete uns nach einigen einleitenden Worten über die Solidarität der Proletarier aller Länder, es seien keine Lokomotiven in Tjumen weil alle für die Front gebraucht würden, und vor 8 Tagen wäre es unmöglich, weiter zu fahren. Wenn wir uns aber verpflichteten, freiwillig einen „Subbotnik“ einzuschieben und dadurch 8

unseren Willen zu bekunden, dem russischen Proletariat beim Aufbau seiner zerstörten Wirtschaft zu helfen, so wolle er dahin wirken, daß wir schon nach 4 Tagen eine Lokomotive zur Weiterfahrt bekämen. Natürlich brüllten sofort einige Beifall, was vielleicht taktisch das Beste war, obgleich ich nicht einsehen konnte, warum Lokomotiven, die aus 2 Irtysch, russisch: Иртыш , Nebenfluß des Ob, 4200 km lang

4

militärischen Gründen nicht zu haben waren, plötzlich vorhanden sein sollten, wenn wir einen Subbotnik machten. Das Ganze war natürlich ein ganz trüber Gimpelfang, ein Ausnutzung unserer Machtlosigkeit und unseres Willens, unter allen Umständen nach Hause zu kommen. Denn Lokomotiven waren genug da. Z.B. in Jekaterinenburg, wo ein ähnliches Unternehmen an uns vorgenommen wurde, zählten wir 30 unversehrte Lokomotiven, die nichts taten, ein großer Teil davon war unter Dampf. Natürlich reizte es den Ehrgeiz der lokalen Genossen, mit billigen Mitteln (d.h. unserer Arbeitskraft.) sich als die Wohltäter des russischen Proletariats aufzuspielen. Ein „Subbotnik“ war auch eine der Errungenschaften der russischen Revolution, 9

die in der Theorie etwas begeisterndes für sich hatte. cyddo'ma = Subbo'ta heißt Sonnabend, und unter Subbotnik verstand man ursprünglich die Einrichtung, daß am Sonnabend alle Betriebe und Behörden geschlossen wurden, und dafür jedermann antrat, Männer und Frauen, Alte und Junge, um irgend eine drängende Arbeit von allgemeinem Interesse, die mit den regelmäßig zur Verfügung stehenden Arbeitskräften nicht bewältigt werden konnte, zu vollenden. Z.B. abladen von Eisenbahnwagen oder Schiffen, oder Aufräumen von Bahnhöfen, oder Kleinmachen von Holz, usw. Dann wurde das Wort Subbotnik auch für dieselbe Arbeit an anderen Wochentagen und in „freiwilligen“ Überstunden nach der offiziellen Arbeitszeit verwendet. Ich hatte mich bis dahin mit Erfolg von allen Subbotniks ferngehalten, da ich bei der schlechten Behandlung und Ernährung meine spärlichen Kräfte nicht für die Russen verschwenden wollte, auch Kleidung und Schuhe schonen mußte. Sehr gut gefiel mir, daß die Russen z.B. am 2. Mai anstatt zu feiern einen Subbotnik 10

veranstalteten, der allerdings mehr eine Art Volksfest war. Mit Musik und roten Fahnen und Reden und Ansprachen marschierte alles Volk zum Bahnhof Kansk, wurde auf einen Güterzug verladen, fuhr sehr vergnügt nach dem 15 km entfernten Filimonowo, schichtete dort eine Weile Brennholz auf, soweit man nicht zusah und sich amüsierte, und fuhr sehr bald wieder zurück. Bei einem anderen Subbotnik in Kansk war alles was Beine hatte, auf dem Bahnhof beschäftigt (mit Aufräumen oder dergleichen) da brach in einer Tischlerei in der Stadt, in der keiner zurück geblieben war, ein Brand aus, der bei der Bauweise – ein Holzhaus neben dem anderen, sicher sehr schnell eine riesenhafte Ausdehnung angenommen hätte, wenn nicht einige in der Nähe wohnenden Kriegsgefangene (darunter Lohrberg - Knopffabrik -), die sich vom Subbotnik gedrückt hatten, den Brand gemerkt, das Feuer gelöscht und das unbezahlbare Werkzeug gerettet hätten. Als die Russen auf dem Bahnhof davon erfuhren, warfen die meisten ihr Arbeitszeug beiseite und eilten mit Besorgnis oder Neugierde in 11

die Stadt zurück. Die Folge war, daß große Mengen von Spaten, Äxten usw. gestohlen wurden, eine mehrmalige Aufforderung in der Zeitung, die „mitgenommenen“ Werkzeuge wieder abzuliefern, blieb erfolglos. Weniger harmlos als diese während der Arbeitszeit stattfindenden Subbotniki waren die für einzelne Betriebe angesetzten nach Feierabend. Ich erinnere mich, daß z.B. die Kansker cotog Angestellten (des früheren Konsumvereins, der jetzigen Warensammel- und verteilungsstelle), darunter Franz Spade und andere Abends nach angestrengter Arbeit noch etwa 4 Stunden schwere körperliche Arbeit verrichten mußten, was namentlich die sehr schlecht ernährten Kriegsgefangenen sehr mitnahm. Ich fand dieses in der Theorie ausgeklügelte Verfahren sehr unwirtschaftlich. Wirkliche Arbeit wird doch nur geleistet, wenn jeder dort arbeitet, wo er hingehört, aber dort auch wirklich arbeitet. Jedenfalls in unserem europäischen Wirtschaftsleben mit seiner Arbeitsteilung ist diese Methode sinnlos. Ich sah z.B. in Krasnojarsk einmal einen großen 5

12

Haufen junger Mädchen ein Floß mit Brennholz abladen. Für die zahllosen Zuschauer war das natürlich amüsant, und besonders erregte es immer große Freude, wenn eins der Mädchen daneben in den Fluß trat. Bei ihrer unsachgemäßen Kleidung (Stöckelschuhe, weiße Kleider, durchbrochene Strümpfe) und ihrer törichten Methode (anstatt Ketten zu bilden und sich in nicht ermüdenden Bewegungen das Holz zu zu schwingen, wie wir Plennis es glänzend heraus hatten, bückten sie sich bei jedem einzelnen Stück, warfen es ein Stückchen dem Lande zu, usw.) kam bei dem ganzen Spiel natürlich nicht annähernd soviel heraus, wie sie wirklich etwas hätten leisten können, an ihren Tipp und Nähmaschinen usw. Überhaupt das ganze Kapitel der Holzbeschaffung. Im kapitalistischen Rußland hatte sich das ganz von allein geregelt. Die Bauern, die in den 6 Wintermonaten wenig zu tun hatten, fuhren von Zeit zu Zeit in den Wald, fällten und zersägten einige Bäume, und 13

hatten überreichlich und billig Holz für ihren eigenen Bedarf, für die Städter und für die Eisenbahn (die fast in ganz Sibirien mit Holz geheizt wird). Das bolschewistische Wirtschaftssystem hatte es verstanden, die Bauern sehr schnell dahin zu bringen, daß sie nur immer so viel Holz schlugen, als sie unbedingt in den nächsten Wochen brauchten, da ihnen alles übrige wegrequiriert wurde. Nun mußte sich die Städter selber helfen, und das geschah natürlich ganz unsachgemäß. Leute, die nur im Büro zu gebrauchen waren, gingen 1. mangelhaft ernährt (ohne Fettigkeiten) 2. mangelhaft ausgerüstet und bekleidet 3. zur verkehrten Jahreszeit (Sommer, Moskitos!) in den Wald, versäumten so wichtige Zeit in ihrem Betrieb und schafften doch nichts Vernünftiges im Wald, denn was z.B. unsere Kollegen vom Bauamt Krasnojarsk in 3 Juliwochen geschlagen hatten, reichte noch lange nicht für den ganzen Winter. Und was sollten alle die machen, die nicht mit in den Wald gegangen waren, wegen Krankheit 14

oder anderer Arbeit? Gewisse Reize schienen die Subbotniki der kommunistischen Partei in Krasnojarsk an jedem Sonnabend Nachmittag zu haben, ich sah die Parteizugehörigen öfter zur Arbeit abmarschieren, und jeder 2. oder 3. trug einen Riesenlaib Brot unter dem Arm. Dafür lohnte es freilich, zu arbeiten. Also für Freitag den 3. Sept. 1920 wurde für uns in Tjumen ein Subbotnik angesagt. Vorher den Donnerstag benutzte ich noch, um mich in der Stadt umzusehen. 27.11.22. Am Vormittag war ich auf dem zwischen Bahnhof und Stadt gelegenen Markt, wo es eine Menge Lebensmittel zu kaufen gab. Einzelne Sachen wie frisches Gemüse und vor allem Zwiebeln, waren sehr begehrt. Sowie ein Bauernwagen kam, stürzten sich die Russinnen wie besessen auf ihn, und es entspann sich ein heißer Kampf um die Zwiebeln. Mir war das unverständlich, denn eigentlich jedes einzelne Haus lag im Grünen; aber der Gedanke, sich selbst das nötigste Gemüse zu ziehen, kam ihnen nicht. 15

Nachmittags war ich mit Werckshagen in der Stadt selber. Tjumen war im Vergleich mit den Kolonialstädten des XIX Jahrhunderts, die ich bis dahin gesehen hatte, eine Stadt mit alter Kultur. Sie lag auf einer Anhöhe eines kleinen Flusses, Tura, auf dem viele Flöße und Schiffe waren, und der weiter nordwärts in den Tobol mündet, einen größeren Nebenfluß des Irtisch. Sehr schön waren einzelne Gehöfte am Rand des hohen Ufers, mit freiem Blick über den Fluß und das flache jenseitige Ufer. Hinter der Stadt senkte sich das Gelände wieder, um dann noch einmal zu einer Höhe anzusteigen, auf der außer einem großen öffentlichen Gebäude ein altes Kloster lag, das namentlich von unten gesehen, den steil aufsteigenden Hügel sehr wirksam krönte und abschloß. Auch von nahem gesehen waren die Gebäude und der Hof mit einer Lindenallee sehr hübsch und malerisch. Diese alte 6

russische Baukunst war wesentlich interessanter und besser, als die aufgedonnerten Kathedralen in Krasnojarsk und anderswo. 16

Gern hätte ich Tjumen und die anderen großen Städte, die wir auf der Weiterreise berührten, eingehender studiert, doch fehlte es mir dazu an der nötigen Ruhe und Frische, wenn man vom Bahnhof gerade weg war, zog es einen wieder dorthin zurück. Zu zeichnen war mir schlecht möglich, da ich kein Material mehr besaß und mich auch nicht gern Unannehmlichkeiten durch übereifrige Soldaten und Polizisten ausgesetzt hätte. Und dann war ich in Tjumen auch garnicht recht auf dem Damme, ich glaube es war Malaria, die sich wieder regte. Werckshagen, ein gescheiter, sehr belesener und vor allem für Erdkunde auffallend begabter Mensch, konnte ein ganz interessanter Begleiter sein, da er eine Unmasse zu erzählen wußte und alles sehr aufmerksam betrachtete. Auch von Tjumen und seinen Bischöfen wußte er viel. Andererseits war er schrecklich unstet, warf alles durcheinander, sodaß ich ihm oft grob kam, damit er mich mit seinem endlosen Gerede nicht noch konfus machte. Mein Schädel brummte sowieso schon. Am Freitag stieg dann der „Subbotnik“. Früh etwa um 10h erschien eine 17

Musikkapelle (natürlich Kriegsgefangene) mit mehreren roten Fahnen. Wir traten an, etwa 1000 Mann, und wurden unter Vorantritt der Kapelle und der roten Fahnen, feierlich beim Klange preußischer und österreichischer Militärmärsche durch die Stadt geführt. Hinter der Stadt schwenkte die Kapelle nach der Seite ab, ließ uns an sich vorbeimarschieren und spielte dazu die Internationale. Irgendwelche Kaffern an der Spitze des Zuges konnten in ihrer Begeisterung nicht genug tun, und nahmen beim Klange der „Nationalhymne“ ihre Mütze ab. Uns am Ende des Zuges blieb garnichts anderes über, als diese sich unaufhaltsam nach hinten fortpflanzende „Ovation“ mit zumachen. Wir marschierten dann noch ein Ende weiter, bis wir am Flußufer an einem großen Stapelplatz kamen, wo ungeheure Mengen an Floßholz lagerten. Hier wurden lauter Gruppen von 10 Mann eingeteilt, jede bekam 2 Sägen und mehrere Beile, und dann machten wir uns an die Arbeit. Eigentlich war wenig Stimmung vorhanden, den faulen Russen, und vor allem den auf den Büros herumfaulenzenden Kriegsgefangenen galizischen Geblütes die Arbeit zu leisten, 18

doch da man nun einmal draußen war, gingen alle Gruppen forsch an die Arbeit, und im Verlaufe von wenig Stunden war eine recht ansehnliche Menge Holz gesägt und gespalten. Die Russen sollten doch sehen, was wir schaffen konnten. Am Nachmittag trat dann wieder alles an, und zog im Zuge auf dem selben Wege zum Bahnhof zurück. Ich persönlich zog es vor, mich von dem gemeinsamen Rückweg zu drücken, und mir noch allein einiges von der Stadt anzusehen. 28.11.22

Als Belohnung für unsere Arbeit war uns außer der beschleunigten Weiterfahrt eine anständige warme Beköstigung zugesagt worden. Seit wir in Omsk verladen worden waren, lebten wir wieder von Tee, Brot und dem, was jeder einzelne dazu hatte (Eier, Wurst, Butter, Tomaten u.a.). Aber bei dem kühlen Wetter – mehrere Tage regnete es – verlangte uns doch auch mal wieder nach einer warmen Gericht. Als wir nachts in Tjumen ankamen, und es hieß, auf dem Verpflegungspunkt (der Stelle, die durchfahrende Militär- und 19

Gefangenentransporte zu beköstigen hatte, auf jedem sibirischem Bahnhof waren große Anlagen derart (xxxxxxxxxxxxxxxxxxx)) gibt es noch zu essen, zogen wir schleunigst trotz der vorgerückten Stunde noch dorthin. Doch das Essen war saumäßig, selbst ich konnte nur mit großer Überwindung davon essen, eine Fischsuppe, die fast nur aus Gräten und Wasser bestand, und irgendeine Kascha, ich glaube Weizenkörner, die noch ganz hart waren und außerdem mit üblen Öl angerichtet. Die Empörung war natürlich nicht gering, am nächsten 7

Tage wurde uns eine anständige Beköstigung versprochen, die es dann auch in Gestalt von Suppe mit Fleisch gab. Aber dann kehrten die Russen wieder zur Fischsuppe zurück, und die nächsten beiden Tage war das Essen kaum zu genießen. Verglich man die Beköstigung, die das ausgehungerte Deutschland den heimkehrenden Russen gab, mit dem, was uns vorgesetzt wurde, dann konnte man sich ein gutes Bild machen, wer Wert darauf legte, den gefangenen Gegner halbwegs menschlich zu behandeln, und wer sich darauf beschränkte, 20

große Worte von Ausbeutung durch Kapital- und Militaristen, von der Solidarität des Proletariats usw. zu machen, in Wirklichkeit aber den wehrlosen Deutschen schonungslos ausnutzte. Dieser Eindruck wurde uns während unsere Aufenthaltes in Tjumen noch bestärkt, als dort ein Transport Russen aus Deutschland durchkam. Ihnen wurde nicht das Ansinnen gestellt, erst ein Subbotnik zu machen, und für sie hatte man sofort Lokomotiven zur Weiterfahrt. Uns war es natürlich hochinteressant, von den Leuten neue Nachrichten aus Deutschland zu hören. Durch unseren ganzen Transport ging eine belebende Freude, als wir in hunderten Darstellungen immer wieder zu hören bekamen, daß in Deutschland Ordnung und erträgliche Lebensbedingungen seien. Und besser als alles Erzählen sprach das Aussehen der Russen, die richtig vollgefressen waren und aus der Haut zu platzen schienen. Auch waren sie anständig angezogen, und gut mit Gepäck und Geld versehen, während 21

die Mehrzahl von uns einen zerlumpten und verhungerten Eindruck machten. Und doch hätte keiner von uns mit ihnen tauschen mögen, das Gefühl, aus dem Land der Willkür und Unterdrückung in das der Ordnung und Menschenachtung zu fahren, kam angesichts der Aussprache mit den Russen ganz unwillkürlich über jeden einzelnen. Andererseits hatten die Russen keine reine Freude an dem, was sie zu sehen und hören bekamen. Auch einige deutsche Frauen waren bei dem Transporte, doch machten sie einen wenig erfreulichen Eindruck. Die Behandlung durch die mit unserer Beförderung und Verpflegung beauftragten Behörden wurde erst besser, als wir in Petersburg ankamen, wo beides dem deutschen Arbeiter und Soldatenrat übertragen war. Doch nun wieder zu unserm Aufenthalt in Tjumen. In der Nacht vom 1./2. Sept. waren wir angekommen, am 3. (Freitag) war der Subbotnik, den 4. benutzte ich zu einem Gange in die Stadt, wo es mir gelang, eines der von uns Gefangenen sehr geschätzten 22

Dampfbäder zu entdecken; natürlich nahm ich die Gelegenheit einer gründlichen Säuberung mit Freuden wahr. Das Bad war natürlich nicht so sauber wie ein deutsches, aber wenn man bedenkt, daß es ständig fast überfüllt war (in der Männerabteilung waren etwa 40 – 60 Badegäste), daß sich die alten russischen Holzhäuser schwer sauber halten lassen, und daß fast gar kein Personal vorhanden war, so war es doch eine recht erfreuliche Leistung, eine der Einrichtungen, in denen die Russen den Deutschen über sind. Auf dem Bahnhof hörte ich nachher, daß in Tjumen noch mehrere derartige Bäder waren. Dann machte ich noch einen guten Kauf. Ein alter Russe bot mir ausgelassene Butter (in einem Topf aus Birkenrinde, wie sie die russischen Bauern zum Aufheben von Butter, Honig, Milch und anderem verwenden) an, ich schleppte ihn mit zum Bahnhof, wo mein Nachbar J. der große Kapitalist, die Butter für sich, mich und seinen Genossen kaufte. Ich nahm gern ein mir von ihm wiederholt angebotenes Darlehen von 15000 Rubel auf, 23

da er allein an barem Geld Hunderttausende besaß, konnte ich es gut tun, und von da an ordentlich essen. In Petersburg war das Geld alle, doch hatte ich mir fast täglich 8-10 Eier leisten können, dazu Brot, damit kam man schon aus, und konnte die Fischsuppen verschmerzen. 8

Recht unangenehm war mir aber, daß sich die Malaria wieder regte. Schon am Donnerstag hatte ich Fieber und Kopfschmerzen gehabt, und am Sonnabend nachm. kam es wieder, dazu die mit jedem Malariaanfall verbundene Schwäche und Schlappheit. Glücklicherweise gehörte auch ein Lazarett zu den großen Anlagen für durchfahrende Truppe, und da fand ich eine barmherzige Schwester, die mir eine ganze Anzahl Pulver Chinin gab, die ich dann fleißig genommen habe. Am Sonntag abd. endlich nahte der Tjumer Aufenthalt seinem Ende. Eine Lokomotive erschien, fuhr uns eine Weile auf dem Bahnhof hin und her, dann arbeiteten 24

die ganze Nacht hindurch russische Eisenbahner bei Fackeln an unserm Zuge und besserten schadhafte Kupplungen usw. aus. Auch das war typisch Russisch. 4 Tage hatten wir in Tjumen gestanden, ohne daß sich jemand um unseren Zug gekümmert hätte, ausgerechnet in der Nacht, noch dazu in der von Sonntag auf Montag, mußten sie ihre Arbeit machen. Gegen Morgen setzte er sich dann aber endgültig in Bewegung. Als es hell wurde, hatten wir Tjumen weit hinter uns. Für die ersten 530 km hatten wir 6 Tage gebraucht, in denen wir eigentlich die ganze Reise bis Petersburg hätten zurücklegen können. Doch da wir uns dem Ural näherten, und jeder Gefangene die Überzeugung hatte, westlich des Ural sind wir in Sicherheit, fuhren wir frohen Mutes westwärts. Vom nächsten Tage, Montag den 6. Sept., ist mir nichts mehr in Erinnerung. Am Dienstag vorm. (7.Sept.20) kamen wir in Jekaterinenburg (heute „Swerdlowsk“) an, etwa 800 km westlich Omsk (das wir am 31.8. früh verlassen hatten) 25

Da auf dem Bahnhof nicht viel los war, ich auch überall noch so viel wie möglich von Sibirien sehen wollte, und schließlich allen freiwilligen und unfreiwilligen Arbeiten aus dem Wege gehen wollte, machte ich mich sofort auf in die Stadt, die hier, wie meist, ein ganzes Ende vom Bahnhof entfernt war. Entfernungen spielen keine Rolle in Rußland, man hat ja Zeit und man hatte früher Wagen und Pferde (oder Schlitten und Pferde). Mich begleitete mein Nachbar Jelonek, der (neben manchen unangenehmen) die angenehme Eigenschaft hatte, daß er sich für alles interessierte und alles mit offenen Augen ansah. Daß wir sofort loszogen, erwies sich als sehr richtig, denn die Stadt war sehr sehenswert, und auf dem Bahnhofe hatte es garnicht lange gedauert, da waren Internationale gekommen und hatten zwar keine warme Verpflegung vermittelt, dafür aber ein „Meting3“ veranstaltet und Berge von Flugschriften verteilt. Und die Russen hatten sich Leute zu Aufräumungsarbeiten auf dem Bahnhof geben lassen. 26

Hatte ich in Tjumen die erste russische Stadt mit Spuren alter Kultur und mit einer Geschichte kennen gelernt, so machte mir Jekaterinenburg durch seine großzügigen Anlagen besonderen Eindruck. Man fühlte sich dort wieder in Europa, zu dem es wohl auch politisch gehört. Hat man hinter dem Bahnhof einen Hügel mit steilen Straßen und großen öffentlichen Gebäuden überwunden, so kommt man an einen See (wohl einen gestauten Fluß) durch den ein Damm führt. Am See liegt mit sehr schönen großen Gärten, stattlichen Gebäuden, großen und einheitlichen Ufermauern die eigentliche Stadt. Leider versäumten wir, das naturwissenschaftliche Museum auf zu suchen, das sehr sehenswert sein soll (Jekaterinenburg ist der Mittelpunkt der Uralindustrie, hat wohl auch eine Bergakademie.) Uns zog es durch die Hauptstraßen, die recht verwahrlost waren, zum Markt. Hier stand ein im Rohbau stehen gebliebener Warenhausbau, der mir noch in Erinnerung ist als ein 27

Versuch eines Eisenbetonbaus in besonderen, Material entsprechenden Formen. Daran schloß sich der typische Basar mit Holzbuden und verfallenden Verkaufsständen, auf denen sich eine dichte Menschenmenge hin- und herschob, und auf dem es eine Unmenge Sachen 3 Hier ist wohl das englische „meeting“ gemeint, s.a. Heft 5 Seite 118

9

zu kaufen gab, Lebensmittel und vor allem alte Sachen jeder Art. Wir kauften uns an einem stark umlagerten Stande warme Eierkuchen, die wir gleich von der ungewaschenen Hand verzehrten. Unter dem alten Papier entdeckte ich auch deutsche Bücher und Zeitschriften, u.a. einen Stoß der ausgezeichneten Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure. Ich glaube, auch das Daheim oder V.+Kl. (Velhagen & Klasing) Monatshefte waren zu haben. Alles in allem hatte ich den Eindruck, daß sich in normalen Zeiten in Jekaterinenburg recht gut leben lassen muß, im Gegensatz zu dem trostlosen Eindruck, der z.B. Kansk machte. Nach unserer Rückkehr zum Bahnhof mied ich den Zug noch längere Zeit, da mich weder Metings noch Aufräumarbeiten reizten, und saß lange im Wartesaal, und schrieb mal 28

wieder Karten an alle, denen ich Nachrichten versprochen hatte, in Kansk, Krasnojarsk und Omsk. Vermutlich sind diese Karten ebenso wenig angekommen, wie alle anderen, die ich vorher oder nachher geschrieben habe. Rogge im Krasnojarsker Lager, an den ich öfter schrieb, hat mir 1921 mitgeteilt, daß er nichts von mir gehört hat, und infolgedessen nicht viel Zutrauen zum glücklichen Ausgang meiner Reise hatte. Einige Stunden Aufenthalt gehörten zu jeder größeren Station, (darum konnte man sich auch überall unbesorgt weit vom Bahnhof entfernen) warum die dämlichen Russen uns aber nicht wenigstens am Abend weiterschickten, war uns unklar. Sie behaupteten, keine Lokomotiven zu haben, dabei haben wir etwa 30 unversehrte gezählt, von denen in großer Teil unter Dampf lag, und einige wie besessen auf dem Bahnhof hin und her fuhren. Das russische Reagieren wirkte meist ziemlich unverständlich 29

- wir hatten ja oft Gelegenheit, es zu beobachten, besonders in den 3 Wochen auf dem Güterbahnhof Krasnojarsk 1918 - , viel Lärm um nichts. Auch in Jekaterinenburg machten sie großes Getute, fuhren wie verrückt hin und her, aber weiter fuhr kein einziger Zug. Ich glaube, erst am nächsten Nachmittag oder Abend gondelten wir weiter. In Jekaterinenburg erschien auch eine gute Zeitung, der Uralarbeiter (Yparcein padorini). In ihr las ich eine eingehende Darstellung der Lage der Uralindustrie, aus der hervorging, daß sie seit Beginn des Jahres einen Hochofen nach dem anderen hatten ausgehen lassen. Als Grund führten sie den Holzmangel an, was wohl gestimmt haben mag, aber die Wirtschaftsmethode in einem recht traurigen Lichte erscheinen läßt. Denn die Uralwälder sind unermeßlich, es kam also nur darauf an, das Holz zu schlagen und an die Hochöfen heranbringen zu lassen. 30

Von Jekaterinenburg fuhren wir etwa einen ganzen Tag durch den Ural. Der Ural macht hier garnicht den Eindruck eines Gebirges, es ist ein ganz wenig bewegte, meist bewaldete Landschaft. Daß der Zug irgendwo langsamer fahren mußte (wegen der Steigung) kann ich mich nicht erinnern. Riesenhaft waren die Wälder. Oft fuhr man viele Stunden nur durch Wald, in dem nur hier und da Bahnwärterhäuser und die notwendigen Ausweichstellen lagen. Das Laubholz (Birken) war schon gelb, zusammen mit den überwiegenden Kiefern ein feines Herbstbild. Die nächste größere Stadt, schon wieder in dichter besiedeltem Lande, war Perm, wo wir am 9. oder 10. Sept. gegen Abend ankamen. 29.11.22

Die Stadt lag nahe am Bahnhof und machte einen stattlichen, geschlossenen Eindruck. Unser erster Weg war zu den Verkaufsständen am Bahnhof, wo wir Eier (1 Ei = 75 R) 31

erstanden. Dann suchten wir wieder den Bahnhof auf, auf dem sich eine Menge Gefangene herumtrieben. Es waren sogen. Invaliden, die vor 3 Wochen von Jekaterinenburg kommend, in Perm angehalten, aus dem Zuge geholt und auf Arbeit geschickt waren. Die Mehrzahl 10

hatte durchgesetzt, von neuem untersucht und invalide geschrieben zu werden, und warteten nun auf dem Bahnhof in scheußlichen Baracken auf die Möglichkeit, fortzukommen. Die anderen waren auf Arbeit, meist zum Holzfällen nicht weit von der Stadt. In den Baracken herrschte Flecktyphus, sodaß die dort Einquartierten aus begreiflichen Gründen sehr auf Weiterfahrt drängten. Doch das war nicht so einfach, in Russland durfte man nie seinen Zug aufgeben, da es sehr schwer fiel, von neuem Wagen und Lokomotiven zu bekommen. Sibirien ist klein, und so gab es unter den Permer gefangenen eine Anzahl Bekannter. Ich saß bei Dämmerung im Wagen beim Abendessen, da erschien draußen einer und fragte, ob hier ein Petri aus Bielefeld vom I.R. 137 sei. 32

Um peinlichen Szenen aus dem Wege zu gehen, ging ich gleich aus dem Wagen heraus und fand als Fragesteller einen Mann meines Zuges, einen Landwehrmann Fischer aus Münster, der am 23.II.15 mit mir zusammen gefangen genommen war. Er war gut durch die Gefangenschaft gekommen, hatte besonders die letzten 2 Jahre als Schlachter auf einem Dorfe recht gut gelebt und war natürlich mit einer Russin dort verheiratet, der er jetzt durchgebrannt war, um nach Deutschland zurückzukehren. Auf der Fahrt hatte er verschiedentlich Pech gehabt, war krank gewesen und dann in Perm mit ausgeladen worden; doch hoffte er, mit uns weiterfahren zu können, was ihm auch gelang. Ich freute mich, daß er sich nach mir erkundigte, und daß er von vornherein so schlau war, nichts vom Leutnant zu erwähnen. Ganz rein war die Freude allerdings nicht, als ich vom Felde her gelinde Zweifel an seiner Zuverlässigkeit hatte, die dadurch bestärkt wurde, daß er sich am 23.II. 33

nicht sonderlich hervorgetan hatte. Er hatte auch zu einigen Leuten gehört, die sehr bald irgendwo volle Deckung genommen hatten, während unser kleines Häuflein versuchte, sich die Russen vom Leibe zu halten, und die erst später mit einem male als russische Gefangene aufgetaucht waren. Was er von seinem Leben in Sibirien erzählte, war nicht im Stande, ihn mir näher zu bringen, und so beschränkten wir uns bei der gemeinsamen Weiterfahrt auf ziemlich flüchtige Begrüßungen. An jenem Abend in Perm führte er mich noch zu 2 Kansker Herren, die zu dem schon öfter erwähnten Spezialistentransport gehörten, der Mitte Juli von Kansk nach Omsk gefahren war, und sich dort in kleine und kleinste Gruppen auflöste. Hier trafen wir nun davon Oberleutnant Herklotz (einen sächsischen Forstassesor) und den Österreicher Palme, jenen umständlichen Glasfabrikanten aus Haida in Böhmen, der am 24. Juni schon mit mir zusammen nach Krasnojarsk gefahren war, von wo man ihn aber wieder auf seinen 34

Wunsch nach Kansk zurück schickte, da man keine Verwendung für ihn hatte. 2 andere mir näherstehende Kansker waren in der Stadt beschäftigt, von Puttkamer, ein seit 1915 bewährter Leidensgenosse, der Kansk auch als Spezialist verlassen hatte, und ein Fahnenjunker Schlegel, der aus Kansk schon im Mai 20 ausgerissen war, und nach mancherlei Schicksalen bis Perm gelangt war. Er hatte von uns gehört, und kam im Laufe des nächsten Tages heraus und erzählte uns in einer verschwiegenen Ecke von seinen Erlebnissen und was er von allen möglichen Kameraden wußte. Dann erfuhren wir am Abend unserer Ankunft noch, daß vorläufig nicht beabsichtigt sei, uns anzuhalten, was uns einigermaßen beruhigte, denn daß man unsere Vorgänger ausgeladen hatte, wirkte nicht sehr ermutigend. Am nächsten Morgen stieg der übliche Gang in die Stadt. Die Mehrzahl von unserem Transporte wanderten, z.T. schon sehr früh, zum Basar, um einzukaufen. 35

Auch unsere Genossenschaft suchte, nach etwa ¾ stündigem Wandern durch lauter Straßen mit Holzhäusern und Holzfußsteigen, erst mal den Basar auf. Brot war sehr schwer zu bekommen, und nur für viel Geld. Auch die anderen Waren waren erheblich teurer als in 11

Sibirien (1 Schachtel Streichhölzer 200.- R. 1 Wasserglas Sahne 700.-). Die Stadt liegt mit etwa ovalem Grundriß auf einem stattlichen langgestreckten Hügel am Ufer eines breiten Flusses, der Kama?, etwa so breit wie der Rhein bei Düsseldorf. Besonders stattlich war die Hauptstraße auf der Höhe, an deren Ende eine große Kirche lag mit Gärten und monumentalen Häusern mit Aussicht auf den Fluß und das andere Ufer. Das Feine an der Stadt war, daß sie nach außen zu fest begrenzt war, besonders natürlich durch den Fluß, und daß die Bebauung einheitlich – wie bei den meisten russischen Städten – war, sodaß sich nicht wie bei deutschen Städten häßliche Mietskasernen mitten in die Gegend erstreckten. Jenseits des Flusses, der mit der Stadt 36

durch eine Fähre (und eine Eisenbahnbrücke ?) verbunden war, dehnte sich grünes Weideland. Sehr leid tat mir, daß ich nicht wußte, wo die Angehörigen der beiden Russinnen wohnten die ich in Krasnojarsk kennen gelernt hatte, doch hatte ich natürlich nie mit der Möglichkeit gerechnet, mich hier durch Übermitteln von Grüßen gefällig erweisen zu können. Mittags waren wir wieder auf dem Bahnhof. Am Nachmittag suchte ich noch die Universität auf, die garnicht weit vom Bahnhof lag und mir gleich bei der Einfahrt aufgefallen war. Denn sie sah garnicht russisch, sondern gut europäisch aus, etwa wie ein guter moderner Bau aus Frankfurt a. Main. Das Gebäude war ein stattlicher Putzbau mit steilem Schieferdach. Der Betrieb war gerade eröffnet, ich sah mir die Korridore und Ankündigungen an. Von einigen Studenten und Studentinnen, denen ich mich als deutscher Student vorstellte, ließ ich mir einiges von dem Lehrbetrieb erzählen. 37

Sie bekamen vom Staate ein Gehalt von 1800.- R im Monat, (ebenso viel wie ich in Krasnojarsk) von dem sie natürlich nicht leben konnten. Sie halfen sich durch Nebenerwerb oder Unterstützung von Hause. Die Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei wurde nicht von ihnen erwartet, sie sagten mir sogar offen, daß nur ganz wenige Studenten auf Seite der Bolschewiken stünden. Ich persönlich war vorsichtshalber sehr zurückhaltend mit meinen Äußerungen über meine Anschauungen und Beobachtungen, was sie durchaus verstanden. Studentenheime oder andere Stätten gemeinsamen Lebens gab es nicht, die Einrichtung einer gemeinsamen Verpflegung war geplant. Nur zu gern hätte ich mal länger mit gebildeten Russen verkehrt, um etwas mehr von ihrer Sprache und ihren Gedankenwelt kennen zu lernen (der „russischen Psyche“!), doch war mir das leider nie möglich. Am Abend auf dem Bahnhof erfuhren wir, daß wir weiterfahren durften, wenn wir 60 von den Permer Invaliden mitnehmen wollten. Natürlich wollten wir. Wir bekamen in 38

unseren Wagen 2 Damaltiner, soviel ich mich erinnere (jedenfalls reagierten sie auf Italienisch), die sich aber sehr zurückhaltend benahmen, und froh waren, daß wir sie mitnahmen. Noch am selben Abend oder in der Nacht fuhren wir weiter, ganz überrascht, daß wir in der großen Stadt wenig mehr als 24 Stunden Aufenthalt gehabt hatten. Von Perm ging es mit gutem Mute weiter. Der Ural galt im allgemeinen als die Grenze des Gebietes, in dem man Gefangenen Schwierigkeiten bereitete. Ihn hatten wir nun weit hinter uns, und auch Perm, wo man entgegen dem guten Rufe, in dem es bei den Kriegsgefangenen stand, unsere Vorgänger angehalten und ausgeladen hatte, hatten wir glücklich überstanden, und glaubten, jetzt auf flotter Fahrt nach Petersburg zu sein. So glatt wie wir dachten, ging es natürlich nicht. Doch vorher noch einige Worte über das Leben während der wochenlangen Reise. Eine Tepluschka habe ich schon früher (Bd. 2, Seite 2) beschrieben. Natürlich fuhren wir 39

12

diesmal ohne Ofen. Auf den Pritschen war es wie üblich sehr eng, wir lagen zu 6 nebeneinander. Daß ich das große Glück hatte, einen Eckplatz oben zu erwischen, erwähnte ich schon, bei Offiziertransporten war er der begehrteste im ganzen Wagen, von den Leuten wollte ihn niemand, weil es dort „zog“. Dabei waren Werckshagen und ich die einzigen, die keine Decken besaßen und hätten demnach am ersten Grund gehabt, den warmen Mief dem kalten Ozon vorzuziehen. Des „Zuges“ wegen mußte ich leider oft mein Fenster schließen, da es immer einige gab, die schimpften, wenn ich es öffnete. (Das Fenster war eine unverglaste Öffnung, die mit eisernen Klappe geschlossen werden konnte.) Mit Gepäck hatte ich mich nicht viel zu plagen, meine Fressalien standen auf einem Brett, das zu unseren Häupten angebracht war. Abds. zog ich alles an, was ich besaß, und benutzte von meinem bewährten Russenmantel die Hälfte als Unterlage, die andere als Zudecke, wenn ich ihn nicht einfach anzog. So hatte ich morgens und abds. keinerlei Schererei, da ich keine Zahnbürste, Kamm oder Rasiermesse besaß, mich schlafen legte, wie ich ging und stand, 40

und auch nur dann wusch, wenn Zeit, Lust und Umstände dies gestatteten, manchmal erst abds., manchmal überhaupt nicht. Den ersten Halt am Morgen benutzte man jedenfalls, um Teewasser zu holen. Und das war keine Kleinigkeit. Bei unseren Offiziertransporten herrschte immer noch so viel Ordnung, daß sich größere Gruppen bildeten für die immer einer Teewasser holte, die Mannschaften hatten aber ihren Dickkopp, jeder einzelne mußte sich seinen Tschainik (Teekanne) voll Wasser holen, und womöglich 3-4 mal am Tag und öfter. Die Zivilgefangenen gar kamen mit großen Eimern und Kannen, denn sie brauchten heißes Wasser zum Aufwaschen, zum Waschen der Windeln ihrer Kinder usw. Natürlich gab das immer viel Verdruß, denn Teewasser wurde eigentlich nur zum Trinken ausgegeben, aber „gegen einen Misthaufen konnte man nicht anstinken“ und es ließ sich im freien Rußland niemand Vorschriften machen, am allerwenigsten ein Gefangener von Seinesgleichen. So stürzte dann immer, sowie der Zug hielt, besonders morgens bei der 1. Station alles aus den Wagen, d.h. die meisten sprangen heraus, ehe er hielt, und 41

im Handumdrehen stand eine nach vielen hunderten zählende Schlange an. 3. Dez.22

Den Tag über lag man auf seinem Platz. Früher auf unseren Transporten, z.B. 1918 wurde morgens die untere Pritsche geräumt, die Decken zusammengelegt; und man richtete sich oben Sitzplätze für alle ein, dadurch, daß man einige Bretter hinaus tat, damit man die Beine durch hängen lassen konnte. Doch 1920 war es nicht mehr möglich, einen derartige Übereinkunft zu allgemeinem Nutzen durch zusetzen, jeder wollte seinen Platz, auch am Tage über, uneingeschränkt haben. Das Liegen war dann die einzige Körperlage, in der man es länger aushalten konnte, denn das Sitzen mit ausgestreckten Beinen strengt auf die Dauer sehr an. Setzte man sich aber auf einen Koffer, oder eine zusammengerollte Decke, dann stieß man mit dem Kopf an die Decke. Bei gutem Wetter wurde tagsüber meist (auf) eine Bank vor der offenen Wagentür eingerichtet, auf der man bequem saß und die Landschaft 42

an sich vorüber fliegen ließ. Die Verpflegung bestand hauptsächlich aus dem, was jeder sich mitgebracht hatte, oder unterwegs kaufte oder eintauschte. Fast bis Petersburg bot sich immer wieder Gelegenheit, für Geld Lebensmittel zu kaufen, in Jekaterinenburg, Perm, Wiatka und Wologda waren große Märkte mit großen Mengen von Lebensmitteln aller Art, erst in Petersburg war – ebenso wie in Krasnojarsk der freie Verkauf verboten. Besser als Geld wirkten jedoch Waren auf die russischen Bauern und Bauersfrauen, die auf all den kleinen Haltepunkten angelaufen kamen, sowie der Zug einlief. Und da hatte sich schon so etwas wie ein Kurs ausgebildet. Für 1 Schachtel Streichhölzer bekam man 2 Eier, für einen Brief Nähnadeln oder eine Rolle Zwirn 10-15 Eier, (die russischen Bäuerinnen waren schlau genug, erst zu prüfen, ob auf der Rolle auch 13

ordentlich etwas drauf saß, in dem sie seitlich eine Kerbe einschnitten, sodaß sie sahen, wie weit gewickelt war und wo der Holzkern anfing.), für 2 Pfund Salz bekam ich in Wologda 1 Pfund Butter. Auf Salz waren die Russen ganz besonders scharf. Es war rationiert, wie alles, und sie reichten mit ihrer Portion nicht, besonders, da sie zum Einpökeln des nicht 43

abgelieferten Fleisches natürlich kein Salz bekamen. So waren sie vollständig auf die aus Sibirien ankommenden Züge angewiesen; das war andererseits in Sibirien längst bekannt, und jeder Reisende besorgte sich in Mittelsibirien (Omsk und Umgebung) möglichst viel von dem dort sehr billigen Salze. Besonders gut hatten das die Männer im Kommunistenwagen (unser Transportführer und seine Freunde) verstanden, die ganz große Säcke mit Salz mitführten, und die Aufmerksamkeit auf das hiermit ermöglichte Wohlleben durch eine Rieseninschrift „Nieder mit der Borgoisie aller Länder!“ abzulenken versuchten. Der Gedanke, daß sie durch dieses Gebaren die Politik der Russischen Kom. Partei durchkreuzten – Salzrationierung, damit die Bauer Fleisch ablieferten! - kamen ihnen nicht; oder es hieß auch bei ihnen „der brave Mann denkt an sich selbst zuerst!“ Offiziell bekamen wir eine ganz kleine Ration Brot geliefert, die immer kleiner wurde, je näher wir Petersburg kamen. Außerdem gab es manchmal etwas Zucker, 7 Streichhölzer, etwas Machorka (gehackte Tabakstengel) und große Mengen von Agitationsschriften in deutsch und russisch. Geregelt wurde unsere Verpflegung erst, als wir in Petersburg vom deutschen Arbeiter und Soldatenrat übernommen wurden. 44

Ein großes Glück hatte ich dadurch entwickelt, daß ich in den Wagen mit den österreichischen Musikern kam. Die Musik konnte man ertragen (überall, wo der Zug hielt, wurde gleich ein Platzkonzert veranstaltet), und ich hatte den großen Vorteil, mit Leuten zusammen zu fahren, die im allgemeinen auf Sauberkeit hielten und sich manierlich betrugen. Schlüter und Haas, die 2 Wagen weiter vorn mitten unter lauter Danziger Botken? und Hamburgern fuhren, litten sehr unter der Unsauberkeit und dem Benimm ihrer Wagengenossen, und dabei waren beide alles andere als zartbesaitete Seelen. Haas traf ich oft nachts, wenn wir auf einer Station standen, draußen auf und ab wandelnd, weil er in seinem Stall nicht schlafen konnte. Besonders konnte er sich (er lag unten) garnicht an die nachts immer in Mengen von oben herunter rieselnden Läuse gewöhnen. Er war auch, ebenso wie Schlüter, ganz entsetzlich zugerichtet und blutig gekratzt. Denn das war das Entsetzliche bei Läusen: Man knöpfte abd. alle Kleidungsstücke fest zu, zog Rock und 45

Mantel an, und legte sich mit dem festestem Vorsatz, sich nicht zu kratzen, hin, die Hände gefaltet, oder in die Hosentaschen gesteckt: Wenn man nachts aufwachte, fand man die Hände irgendwo kratzend vor, und dann kratzte man sich sehr schnell blutig. In unserem Wagen war es nicht so schlimm, etwa die ersten 8 Tage merkte keiner von uns etwas von den unentbehrlichen Haustieren, höchstens ein paar harmlose Flöhe amüsierten sich. Doch ein paar Schmutzfinken gab es auch bei uns, und man konnte ganz genau von Tag zu Tag verfolgen, wie sich die Läuse allmählich konzentrisch ausbreiteten, ich an der Wand bekam sie zuletzt, zwischen Perm und Wiatka, und bin sie dann bis Hammerstein4 nicht wieder los geworden. Mit den Leuten kam man gut aus. Die Österreicher waren lustige und verträgliche Nachbarn, die meist auch alle etwas besseres vorstellen und sich manierlich benehmen wollten. Die paar Deutschen waren mir noch lieber, es waren ordentliche Männer, die mit 46

offenen Augen durch die Welt fuhren, sich für vielerlei interessierten, überall ein eigenes, 4 Durchgangslager nach der Rückkehr in Deutschland 14

begründetes Urteil hatten, und auch das auf den Metings Vorgetragene nicht kritiklos nachsprachen, sondern meist eine ausgesprochene Abneigung gegen den Kommunismus hatten. Noch größer war diese Abneigung bei den österreichischen Musikanten, doch bei denen mehr aus Instinkt als aus Überlegung. Unter den Deutschen war auch der nette Oberschlesier, Karl Langer aus Kreis Neustadt, der die ganze Zeit in Omsk mit mir zusammen gelegen hatte, und mit dem ich mich immer sehr gut vertragen habe. Für uns bin ich all den Leuten unendlich dankbar gewesen, was ich in keinem Offizierlager gefunden hätte, sie waren durchaus nicht neugierig, und ließen jedermann ruhig seinen Weg gehen, ohne sich irgendwie um Dinge zu kümmern, die sie nicht unmittelbar angingen. Ich habe doch etwa 6 Wochen ausschließlich oder vorwiegend mit ihnen zusammen gelegen, mich sehr viel und eingehend mit ihnen unterhalten, aber nie 47

hat mich einer nach meiner Heimat, meinem Beruf, meinem Vorleben oder dergl. gefragt, wo ich ihnen doch bestimmt aufgefallen sein muß, als einer, der nicht ihresgleichen war. Denn „der Einjährige mit der Brille“ (die Brille trug ich längst wieder nach dem die erste Gefahr glücklich überstanden war und ich schwarz auf weiß hatte, daß ich Musketier und Bauarbeiter sei), ist doch ein so ausgeprägter und von den Leuten als wesensfremd empfundener Typus, und außerdem mußten sie an unserer Unterhaltung doch bald herausgefunden haben, wen sie unter sich hatten. Denn Werckshagen benahm sich außerordentlich töricht. Er hatte entschieden schon sehr, über den Durchschnitt hinaus, unter der Gefangenschaft gelitten und zeigte den Gefangenenirrsinn in manchmal Besorgnis erregenden Formen. Äußerlich war er ganz verkommen, wusch sich nie, wenn man ihn nicht energisch dazu anhielt, war auch was z.B. die reinliche Aufbewahrung von Brot und anderen Lebensmitteln anbetraf, von einer erschreckenden Anspruchslosigkeit, sodaß er bei den meisten unangenehm auffiel. Er war nie pünktlich; wenn wir nicht auf ihn aufgepaßt hätten, wäre er ein paarmal zurückgeblieben und ebenso sorglos war er mit allen Reisevorbereitungen, z.B. dem Einkauf von 48

Lebensmitteln usw. Um nun nicht aufzufallen, redete er alle mit „du“ und „Genosse“ an, verwechselte absichtlich mir und mich und bemühte sich berlinerisch zu sprechen. Doch immer nur zeitweise, denn meist brach seine wahre Natur durch und er sprach so, wie er dachte, und das, was ihn interessierte. Und da zeigte sich dann, daß er ungeheuer belesen war und ganz verblüffende Kenntnisse besaß. Besonders hatte er eine große Begabung für Erdkunde. Er wußte auf der ganzen Welt Bescheid, vor allem aber in Sibirien. Aber auch sonst hatte er große Kenntnisse, namentlich volkswirtschaftlicher und geschichtlicher Art. Das kam nun ständig zum Durchbruch bei ihm, und ich hielt es für durchaus verkehrt, jetzt in dieser Umgebung solche Sachen zu besprechen, weil man dadurch nur unnötig unangenehm auffiel. So habe ich ihm meist möglichst grob den Faden abgeschnitten (Mensch, quatsch doch nicht, und in ähnlichen höflichen Wendungen). 49

Seine Krankhaftigkeit äußerte sich m.E. auch darin, daß er die Fülle von Kenntnissen garnicht ordnen konnte, und immer sprunghaft von einem Gebiet auf das andere überging. So konnte er innerhalb 5 Minuten etwa über den französischen Impressionismus, den russischen Städtebau, den Nikolsburger Frieden, die Vorschriften über den Pionierdienst, die Fürstenschule (er war Pförtner5), finanzpolitische Fragen, den Wandervogel und die freideutsche Jugend, und alles mögliche andere sprechen, sodaß ich ihm sehr bald krampfhaft aus dem Wege ging. Und dann war noch einer im Wagen, der sich zu mir hielt, der schon genannte Kaufmann J. Er war mir seiner Natur nach wesentlich unsympathischer als W., denn seine 5 d.h. er war Schüler des Internats Schulpforta

15

Interessen drehten sich ausgesprochen um rein materielle und wirtschaftliche Fragen, doch war er ein guter und angenehmer Nachbar und Kamerad, und innerhalb seiner Grenzen durchaus erträglich, ja oft machte er mir unfreiwillig viel Spaß. Da er ein Mann war, „der in die Welt paßt“, konnte ich allerlei von ihm lernen, zumal er in seiner Weise gescheit und nicht ohne Interessen war. 50

Gelegentlich, namentlich Nachts, traf ich mich mit Schlüter oder Haas, und war froh, wenn man sich mal frei weg von der Leber unterhalten konnte. Diese beiden hatten es in ihrem Wagen recht übel getroffen, denn zu ihnen kam der Transportführer und seine Freunde oft zu Besuch, und dann wurde blutig Politik gemacht, denn die Leute dort waren gänzlich kritiklos. Nur einmal gab es einen heiteren Zwischenfall, da hätten sie einen der Hauptstänker und -hetzer, den Genossen Haase, doch beinahe furchtbar verprügelt. Er hatte sich nämlich zu der Behauptung verstiegen, wenn in Deutschland erst überall der Kommunismus eingeführt wäre, dann brauchte niemand länger als 4 Stunden zu arbeiten und das war den Landwirten im Wagen denn doch zu starker Toback gewesen, sodaß sie H. zur Bude herauswarfen. Der genannte Haase hatte mir, als ich ihn das 1. Mal sah, einen recht würdigen Eindruck gemacht, da er schon ein älterer Mann war, doch als ich ihn bald auf einem „Meting“ sprechen hörte, stieß er mich ab durch seine 51

auffallend gemeine Gehässigkeit. Und ganz verabscheuungswürdig wurde er mir in Finnland, wo er die finnische Oberschwester, die uns so riesig freundlich und herzlich, allerdings in gebrochenen Deutsch, begrüßt hatte, in der albernsten und gehässigsten Weise nachmachte. Überhaupt waren sämtliche Insassen des kommunistischen Wagens ganz üble Vertreter, die sich allgemein bei den Leuten des Transportes recht geringer Achtung erfreuten, mit Ausnahme eines einzigen jungen Deutschen, der mir aus wirklich anständigen gründen in „die“ Partei eingetreten zu sein schien. Er suchte uns später in Hammerstein in unserer Baracke oft auf, da er mit einem von uns (dort auf etwa 10 angewachsenen) Offizieren gut bekannt war, doch sind mir Einzelheiten seiner Berichte nicht mehr bekannt, ich weiß nur noch, daß er erzählte, sie hätten nicht gewußt, daß Offiziere beim Transport gewesen seien. 52 4.Dez. 22

Nach dieser Abschweifung fahre ich im Bericht fort. Einige Tage hinter Perm kamen wir nachts in Wiatka an, wieder einer Gouvernementsstadt. Der Stationsvorsteher wollte uns eine neue Lokomotive geben, und dann hätten wir gleich weiter gekonnt. Doch unser Transportführer „Genosse“ Grünwald hatte kein Interesse an unserer schnellen Beförderung, sondern legte Wert darauf, sich bei den Lokalbehörden als Transportführer vorzustellen, Befehle zu holen usw. Auch Lebensmittel konnte er bei solchen Aufenthalten herausschinden, doch verzichteten ausnahmslos alle gern darauf, denn eine Kleinigkeit Brot war mit 2 Tagen unnötigen Haltens doch zu teuer erkauft. Hier in Wiatka wäre es beinahe noch schlimmer gekommen. Mittags kam Grünewald aus der Stadt zurück, rief uns zusammen und sagte, wir dürften nicht weiter fahren, es wäre ein Befehl aus Petersburg da, wir sollten hier auf Arbeit gehen. Glücklicherweise war er so dumm, hinzuzufügen: „Weigert Euch nicht, das hat keinen Zweck. Ich bleibe nicht hier, da ich noch besondere Aufträge von der Partei habe“. 53

Diese Unverschämtheit brachte dann doch „die Volksseele zum Kochen“. Er bekam allerlei Schmeicheleien zu hören – besonders freute ich mich, als die Leute im roten Wagen 19 sagten: „Ein deutscher Offizier hätte seine Leute nicht so im Stich gelassen, wie dieser Kommunist den ihm anvertrauten Transport“ - und durch Zuruf wurden einige Männer gewählt, die als Beauftragte des Transportes mit den Russen verhandeln sollten. Das taten sie dann, aber durch Grünewalds nur zu bereitwillige Zusage waren die Russen in Besitz 16

wertvoller Arbeitskräfte gekommen, und dachten garnicht daran, uns weiter zu fahren lassen; im Gegenteil, es war sogar schon ein Unternehmer (ein Sägemühlenbesitzer ?) da, der uns gleich mitnehmen wollte. Unsere Vertreter ließen sich den vermeintlichen Befehl zeigen, und stellten fest, daß er vom Anfang August war, also 5-6 Wochen alt und inzwischen durch 1000 andere überholt. (Was die Wiatkarer wohl wußten, denn sie hatten seitdem schon mehrere Transporte durchgelassen!) Doch alles Protestieren half nichts, sie verlangten nur eine Zusicherung, daß ein Arzt auf den Bahnhof kommen und die 60 „Invalidesten“ heraussuchen sollte, die anderen sollten bis 7 Uhr den Zug räumen, 54

andernfalls würde man uns mit Waffengewalt an die Luft setzen. Der Bescheid war recht entmutigend, doch glücklicherweise war die allgemeine Stimmung so gereizt, daß man sich weigerte. Hierzu trug sehr viel ein günstiger Zufall bei: im Laufe des Nachmittags kam der Personenzug Petersburg – Omsk durch, und in ihm war ein Beauftragter des deutschen A und S Rates in Petersburg, der nach Omsk fahren sollte, um festzustellen, wo denn die andauernd dringend angeforderten deutschen Kriegsgefangenen steckten. Deutschland schickte einen Transport Russen nach den anderen nach Rußland, aber die Schiffe müßten oft leer wieder zurückfahren, weil die Russen viel zu wenig Kriegsgefangene schickten, vor allem fast gar keine Deutschen. Diese Enthüllungen entlarvten doch endlich die niederträchtige Gemeinheit all der vielen Menschenfreunde, in deren Hände unsere Geschicke lagen, und die mit der größten Scheinheiligkeit sich als die Befreier der Gefangenen, die vom kapitalistischen Deutschland vergessen seien, aufspielten. Die Aufforderung, für uns in Wiatka einzutreten, lehnte der Petersburger Vertreter 55

mit der eigenartigen Begründung ab, er habe nur den Auftrag, nach Omsk zu fahren, und könne hier nichts machen - das bolschewistische Rußland war unerreicht im Bürokratismus -, aber wir wußten doch wenigstens, daß die Gründe der Wiatkarer Behörden erstunken und erlogen waren. Gegen Abend kam ein Arzt, und wollte Invaliden herausführen; er wurde aber so beschimpft, daß er schnell wieder verschwand, und die Drohung der Russen, man werde Militär holen und uns mit Waffengewalt an die Luft setzten, wurde etwas großsprecherisch mit der Bemerkung „Wir wollen doch sehen, ob ein Proletarier auf den anderen schießt!“ abgetan. Doch anscheinend hatten die Russen den Spaß an der Sache verloren, sie waren zunächst unentschieden, und nachher versprach der Bahnhofsvorstand gnädig und herablassend, er wolle nur uns auf eigene Verantwortung entgegen seiner Vorschrift eine Lokomotive zur Weiterfahrt geben. Doch ehe es soweit kam vergingen weitere 24 Stunden. Der Tag in Wiatka war ganz ekelhaft. Die Russen hätten wenig Freude an uns gehabt, wenn sie uns wirklich zum Aussteigen gezwungen hätten, denn fast jeder war fest 56

entschlossen, durchzubrennen, und noch in der ersten Nacht würde eine ganze Völkerwanderung begonnen sein. Waren wir doch nur noch 1100 km von Petersburg entfernt. Auf alle Fälle rüstete man sich schon zum Fußmarsch. Mir war diese Möglichkeit gar nicht sehr sympathisch, denn mein schon in Krasnojarsk schwer beschädigter Schuh hatte inzwischen vollends die Maulsperre bekommen; besonders beim Überschreiten von Gleisen mußte ich sehr vorsichtig sein, damit ich nicht mit der nach unten klaffenden Sohle hinter Schienen hängen blieb. Doch noch viel übler war mein Befinden. Ich hatte mal wieder Fieber und Kopfschmerzen, glaubte Flecktyphus sei im Anmarsch, und deshalb konnte ich keinerlei Verzögerung vertragen. Flecktyphus kann man erst nach 6 Tagen einwandfrei feststellen, und soviel brauchten wir noch bis Petersburg, das ich unbedingt erreichen wollte. Mit jeder Verzögerung wuchs die Gefahr, daß ich schon vorher mich krank melden und dann auf irgendeiner finsteren Station aussteigen mußte, in der ich 57

17

vermutlich der einzige Europäer gewesen wäre, und keinerlei Möglichkeit gehabt hätte, irgendwelche Nachrichten nach Hause kommen zu lassen. Deshalb wandte ich mein ganzes Interesse auf der Station haltenden Güterzüge zu, und wollte, wenn man uns tatsächlich nicht weiter ließe, mein Glück mit einem von ihnen versuchen. Doch war es besser, daß all das nicht notwendig wurde. Eine weitere unerfreuliche Beigabe war, daß ich 1-2 Tage vor Wiatka wieder Läuse in meiner Wäsche entdeckt hatte, und mit verzweifeltem Mute ein Stück nach dem anderen wusch, natürlich ohne durchgreifenden Erfolg. So ist mir der Name Wiatka in ganz schlimmer Erinnerung. Von der Stadt habe ich nichts kennengelernt, da ich infolge all der Widerwärtigkeiten keine Zeit und Lust fand, um sie aufzusuchen. Nur im „Agitationspunkt“ (dem Wartesaal) laß ich die neuesten europäischen Zeitungen. 58 5.12.22

Wiatka war ein Höhepunkt: noch einmal versuchte russische Willkür, uns den Weg zur Heimat, der wir uns schon nahe fühlten, zu versperren; wie so oft in den letzten Jahren, und noch einmal traten mir Krankheit und die Widerwärtigkeiten des Gefangenenlebens drohend nahe, drohend, noch in letzter Stunde allem Hoffen der 5¾ Jahre ein Ende zu machen. Doch alles wurde dann noch glücklich überstanden, und von Wiatka ging es ohne Schwierigkeiten immer flott weiter. Von der Bahnfahrt Wiatka – Petersburg ist mir wenig in Erinnerung geblieben. Seit wir die stundenlangen Waldstrecken des Ural, die nur ab und zu durch ein Bahnwärterhaus oder eine Ausweichstelle unterbrochen wurden, hinter uns hatten, ging es meist durch mäßig bewegtes, bebautes Land. Es waren nicht mehr die endlosen Steppen Sibiriens, sondern ein abwechslungsreiches, freundliches Land, mit Dörfern, kleinen Städten, Seen, Flüssen, Windmühlen, Wäldern usw. 59

Einmal an jedem Tag überholte uns der Personenzug, der die Strecke Omsk – Petersburg in 4-5 Tagen zurücklegte (wir brauchten 3 Wochen dazu). Einmal saß ein Kansker Kamerad in ihm (Höfer, stud. Phil. Schnabel und Buchdrucker) der uns kurz begrüßte, und erzählte, daß das Kansker Lager noch keine Aussicht auf Abtransport habe. Er hatte (als ein Mitglied der Kansker fiskalischen Druckerei) sich Papiere nach Moskau erschoben, wo er den deutschen Vertreter, Herrn Hilger, aufsuchen und von neuem an Kansk erinnern wollte, das als östlichstes und größtes Lager mit deutschen Offizieren sehr vernachlässigt wurde. Nach Moskau zweigte eine Strecke in Wologda ab. Wologda, die letzte Gouvernementsstadt vor Petersburg (etwa 500-600 km), erreichten wir am 16. September vormittags. Das Auffallendste an W. war, daß wir schon überraschend schnell weiterfuhren, am selben Nachmittag, das war in einer größeren Stadt noch nicht vorgekommen, und erschien uns kaum glaublich. Da ich wieder auf dem Damm war, ging ich gleich mit meinen Genossen in die Stadt. Schon der Bahnhof machte 60

einen europäischen Eindruck, er hatte Bahnsteige mit Dächern, und Tafeln, die zu den Zügen in den verschiedenen Richtungen verwiesen, Einrichtungen, die ich wohl seit Insterburg (2./3. Februar 1915) nicht mehr gesehen hatte. Die Stadt lag verhältnismäßig nahe am Bahnhof, und hatte eine große Anzahl recht stattlicher 2 stöckiger Häuser. Je mehr man sich Petersburg näherte, desto mehr merkte man daß Sibirien doch nur Kolonialland ist. Der erste neue Eindruck war Tjumen mit seinen stattlichen Bauten aus alter Zeit, hauptsächlich kirchlichen. Dann kam Jekaterinenburg, die großzügige Stadtanlage, in manchem an deutsche Residenzstädte aus der Zeit des Absolutismus erinnernd. Dann Perm, und nun Wologda mit Zeugen einer (vergangenen) sehr soliden bürgerlichen Kultur. Ehe wir die Stadtmitte erreichten, gingen wir über eine Allee mit einem breiten Wassergraben, im 18

Schmuck des Herbstlaubes ein schönes Bild. Dann kam der Markt, auf dem eine große Fülle war. Noch kurz vor den Toren 61

Petersburgs war der freie Handel erlaubt, und große Menschenmengen drückten sich zwischen den Verkaufsständen herum. Es gab eine Menge von Leuten, die – teils verschämt, meist unverschämt – alte Sachen jeder Art feil boten. Auffallend war uns, daß wir hier zum 1. mal Äpfel in großen Mengen sahen. Wir aßen einige, doch war es eine recht minderwertige Sorte. Dann machte ich einen recht vorteilhaften Tausch: Für 2 Pfund von dem Kansker Salz – große schmutzige Salzklumpen! - bekam ich 1 Pfund gute Butter, die mir bis Petersburg ein recht gutes Leben ermöglichte. Auf dem Markte sah man schon unangenehm viel Häuser europäischer Art. Wir hielten uns nicht lange in der Stadt auf, da wir schon wußten, daß es bald weitergehen sollte. Auf dem Bahnhof hatten wir noch ein recht trauriges Bild. Auf einem Gleise stand ein Zug mit einem „deserteur-bataillon“. Das Desertieren ist im russischen Heer immer sehr verbreitet gewesen. In den Schriften über den russisch-japanischen Krieg liest man davon, 62

schon 1915 hörte man sogar in der Abgeschiedenheit der Gefangenenlager davon. - Die russischen Rekruten kamen häufig zu Kriegsgefangenen, und baten sie um einen Empfehlungsbrief an deutsche Behörden, oder sie ließen sich Unterricht im Überlaufen erteilen – dann 1917 nach der Februarrevolution nahm das Dersertieren riesige Ausmaße an, es gab einen mächtigen, politisch einflußreichen „Bund der Deserteure“, und 1920 desertierten die Russen natürlich ganz genau so. Das war ja auch kein Wunder. Seit Jahrhunderten kannten sie nur die Knute, und den Zwang, für irgendwelche Leute, die sie nicht kannten, ihre Haut zu Markte zu tragen, und gegen andere, die ihnen nie etwas zu Leide getan hatten, zu kämpfen. Ob sie nun für Väterchen Zar und die rechtgläubige Kirche, oder für den gerechten Frieden auf demokratischer Grundlage und die Selbstbestimmung der Völker (Kerenski 1917) oder für die Diktatur des Proletariats kämpften, immer mußten sie ohne irgendwelche Anteilnahme für andere, die irgendwo in Sicherheit saßen, bluten. 63

An der polnischen Front im August 1920 waren die kriegsmüden Russen nun wieder in solchen Massen desertiert, daß die Bolschewiken das bei kleineren Massen beliebte Erschießen nicht gut anwenden konnten, sondern Bataillone von Deserteuren zusammenstellten, die nun mächtig gezwiebelt wurden. Diese Burschen, die wir in Wologda sahen – alle noch jung, meist unter 20, waren ganz erbärmlich anzuschauen, das wochenlange Hungern hatte sie so abgemagert, und ihren Gesichtern einen tief ergreifenden, trostlosen gealterten Ausdruck verliehen, den ich mir nur zurückzurufen brauche, um mir ein Bild vom hungernden Rußland zu machen. Ich habe immer die Auffassung vertreten, daß man verschimmeltes Brot ruhig essen kann, solange der Schimmel nur weiß ist, dagegen die Stücke mit grünem Schimmel immer weggeworfen. Daß auch sie ein begehrtes Nahrungsmittel sein können, sah ich in Wologda, wo sich die Deserteure gierig auf alle von den Gefangenen weggeworfenen Brotreste stürzten. 64

In Wologda ging es also schnell weiter, noch am selben Tage fuhren wir ab und nun war unser nächstes Ziel Petersburg. Größere Halte gab es jetzt nicht mehr, nur am 17. abds. lagen wir 4-6 Stunden auf einer kleinen Station, wo die Gefangenen sofort, wie meist, ein großes Abkochen begannen. Warmes Essen hatten wir schon lange nicht mehr bekommen, so reisten die meisten mit Lebensmitteln und Kochtöpfen und fingen jedes mal, wenn der Zug länger hielt, an abzukochen. Holz wurde irgendwie besorgt. Wenn der Transportführer es verbieten wollte, wurde er nur beschimpft, weil er nicht für Verpflegung sorgte. - Voller Unruhe ging man bis spät in die Nacht auf dem kleinen Bahnhofe auf und ab und wartete auf die Lokomotive. 19

Sonnabend der 18. September brachte uns dann ein ganz gehöriges Stück an Petersburg heran. Abends lagen wir wieder lange Zeit in einem kleinen Städtchen mit einem großen Bahnhof, auf dem reger Betrieb herrschte; man merkte die Nähe der Hauptstadt. 65

In größter Spannung erwachten wir am Sonntag, 19. Sept. morgen. Wir waren etwa 30 km von Petersburg entfernt, auf das wir munter zu fuhren. Auffallend waren mir gelegentlich rechts und links der Bahn liegende Waldstücke, in denen die gefallenen Bäume, genau so wie in Sibirien, verfaulten. Wir kamen der Stadt immer näher, bald sahen wir die ersten Gärten – ich glaube ähnlich wie die Schrebergärten der deutschen Großstädte – und die ersten Häuser, häßlich und unvermittelt wie in Europa. Vorortzüge begegneten und überholten uns, schließlich lagen wir fest auf irgendeinem Güterbahnhof ganz draußen. Die Kriegsgefangenschaft war eine unaufhörliche Folge von Geduldsproben. Nun hielten wir, schon in den Vorstädten, und kamen nicht weiter. Irgend etwas Zuverlässiges, was nun aus uns werden sollte, war nicht fest zustellen, es hieß, am Sonntag arbeiteten die Gefangenenbehörden nicht. In schlecht verhohlener Ungeduld suchte man die Zeit tot zuschlagen. Es war ein schöner, sonniger Septembermorgen, bei dem warmen Sonnenschein schwärmte alles nach allen Richtungen aus, ich suchte ein geschütztes Plätzchen, 66

um die leider wieder sehr notwendige Läusejagt vorzunehmen. Die Aussicht, daß nun bald alles besser werden würde, ermutigte mich sehr großzügig vorzugehen, und das ganze Hosenfutter heraus zuschneiden und wegzuwerfen. Überall sah man Gefangene in derselben Beschäftigung, ein Idyll, daß in Rußland immer mit dazu gehörte. Am Nachmittag ging es weiter. Jetzt durch durchwegs bebaute Viertel – meist Fabriken, die nicht rauchten, und Arbeiterwohnviertel – fuhren wir langsam dem Zentrum der Stadt zu, und landeten (etwa zwischen 4 und 5) auf dem Warschauer Bahnhof. Auf dem Warschauer Bahnhof war in großen Baracken eine Gefangenenaustauschstelle eingerichtet. Russen die aus Deutschland kamen, lagen in geräumigen Sälen mit sauberen Betten. Speise- und Versammlungsräume wurden lebhaft benutzt. Nachdem wir erfahren hatten, daß wie die Nacht noch auf dem Bahnhof im Zuge bleiben mußten, daß es abds. warm zu essen gäbe, und daß vorher großes 67

Begrüßungsmeeting sei, machte ich mich mit meinem Nachbar schleunigst auf den Weg. Den jeden Tag stattfindenden Metings gingen wir grundsätzlich aus dem Wege, und außerdem wollten wir noch möglichst viel vom fremden Lande sehen. 6.12.22

Gleich außerhalb des Bahnhofsgebäudes waren wir mitten in der Weltstadt darin. Wir überschritten einen Kanal, der quer zu unserer Marschrichtung verlief, und kamen in eine große Radialstraße, die gerade auf das Torgebäude der Admiralität zu lief, den Richtungspunkt für 3 Hauptstraßen Petersburgs (Stadterweiterung um 1750 unter Elisabeth durch Restrelli), den Senski-prospekt, die Gorochowaja und den Wosnessenski Prospekt. Wir waren auf dem Ismailow-Prospekt, der hinter dem nächsten Ringkanal, der Fontanka, in den Wosnessenskipr. übergeht. Doch war von der Admiralität – von der wir gut 3 km entfernt waren, nichts zu sehen. Wir gingen, soweit unsere Zeit erlaubte, doch zeigte sich nichts Bedeutendes. Die Häuser rechts und links waren schrecklich hoch, 6 oder 7 Stockwerke, 68

und sahen aus wie die ödesten Mietskasernen europäischer Hauptstädte. Ab und zu wurde die Häuserflucht durch Kasernen oder öffentliche Gebäude unterbrochen, von denen namentlich die Kasernen recht stattlich waren. Die Straße war im ganzen gut im Stande, eine Elektrische verkehrte nicht, doch nur, weil Sonntag war, an den anderen Tagen war lebhafter Verkehr. Auffallend war uns, daß so wenig Menschen auf der Straße waren. Die Riesenhäuser und die großen Stille machte einen etwas unheimlichen Eindruck. Einmal 20

begegnete uns eine Truppe, die anscheinend zum Bahnhof marschierte, um an die Front verschickt zu werden, die Leute machten einen müden und stumpfen Eindruck, auch eine Musikkapelle war nicht imstande, das Bild zu beleben. Um das Abendessen nicht zu versäumen, kehrten wir bald – in der Abenddämmerung – zurück. Auf dem Bahnhof gab es [zum 1. Mal auf der Reise], anständig zu essen, ich glaube eine Suppe und Apfelreis. Überhaupt herrschte hier schon Ordnung, sicherlich ein Einfluß des deutschen Arbeiter und Soldatenrates. Wir aßen in den sauberen 69

Sälen der Baracke, ich glaube, unter den Austeilern war sogar eine Deutsch sprechende Dame. Nachmittags war großes Meting mit Musik und viel Klimbim gewesen, abgesehen vom Vorsitzenden des Deutschen A+S-rates, Gen. Rothkegel, von dem behauptet wurde, er sei ein Rechtsanwalt aus Hamburg. Die kritiklosen Leute waren ganz angetan von dem, was er erzählt hatte – es war hauptsächlich eine Beschimpfung der deutschen Regierung wegen ihrer mangelhaften Fürsorge, und ein Herausstreichen der Kommunisten wegen ihres guten Sorgens für uns Gefangene gewesen -. Besonders hatte ihnen imponiert, daß R. immer gesagt hatte „Wenn sie in Deutschland Rechenschaft verlangen über das, was man für Sie getan hat werden Sie alles bestätigt finden, was ich Ihnen hier sage.“ Immer wieder sagten sie: „Wenn er so so etwas sagt, müssen seine Angaben wahr sein, sonst würde er sich ja furchtbar blamieren“. Die Toren machten sich nicht klar, daß von 1000 auch noch nicht einer sich die Mühe machen 70

würde, zu Hause derartigen Fragen nach zugehen. Und das meiste von dem, was R. sagte, war falsch oder mindestens sehr schief dargestellt. Doch ich hatte keinerlei Neigung, mir all die Verhetzung und das wüste Schimpfen auf Ebert und Scheidemann mit anzuhören, und war deshalb dieser Versammlung ebenso wie fast allen anderen fern geblieben. Doch ehe ich – zum letzten Male in unserem Zuge – schlafen ging, bin ich lange im Dunkeln auf den Bahnhof herumspaziert, in und um die Baracken. In irgendeinem Raum waren, soviel ich mich erinnere, auch musikalische Darbietungen für den Transport Russen, die frisch aus Deutschland kamen. Von ihnen ließen wir uns vor allem erzählen, und waren froh, viel gutes zu hören. Sie waren auffallend anständig angezogen, wenigstens für unsere Begriffe, und erzählten gern und im allgemeinen zufrieden von Deutschland. Viele waren allerdings sehr enttäuscht von dem, was sie in Rußland sahen, einer gab uns einen Brief 71

an einen Kameraden mit, den wir in Deutschland einwerfen sollten, da er die Zensur nicht passieren würde, wenn er ihn in Rußland auf die Post brächte. Er warnte nämlich seinen Kameraden dringend, heimzukehren, und bedauerte, daß er nicht wieder zurückkonnte. Und dann bin ich noch lange mit Karl Haas auf und ab gewandert, wir konnten noch garnicht fassen, daß dies die letzte Nacht im Transportzuge sein sollte, daß wir wirklich Petersburg erreicht hatten. Am anderen Morgen (Montag 20.Sept.) mußten wir früh aufstehen und unsere Sachen packen, man merkte, daß wir aus russischen in deutsche Hände übergegangen waren. Es wurde angesagt, daß sich alle deutschen Kriegsgefangenen in der Geschäftsstelle des A u. SRates einzufinden hätten, um dort registriert (in Rußland immer das Wichtigste) eingekleidet, verpflegt und untergebracht zu werden. Das zog ! Beim allgemeinen Auf- und Ausräumen stieß mir noch das Mißgeschick zu, daß mir mein seit Jahren bewährter Porzellanbecher, 72

der mir seit 2 Monaten außer zum Trinken auch zum Waschen diente, hinfiel und zerbrach. Doch meine wohlhabenden und gut ausgerüsteten Nachbarn konnten mit einem Blechbecher aushelfen. Dafür war ich bei meinem lächerlich kleinen Reisesack in der Lage, 21

ihnen auf dem Wege in die Stadt einige ihrer vielen Gepäckstücke zu tragen. Die Registrierung usw. sollte in alphabetischer Reihenfolge vor sich gehen, so konnte wir uns Zeit nehmen, und in aller Ruhe, abseits vom großen Haufen, der mir immer, ganz besonders aber in der Gefangenschaft, verhaßt war, durch die Stadt wandern. Diesmal verfolgten wir den Wosnessenskiprospekt bis an den innersten Ringkanal ( die (3 silbig!) Moika?), wo er sich zu einem großen Platz verbreiterte, an dem das öde prunkvolle Gebäude des Reichsrates (einer Art Herrenhaus im Zarenrußland) und andere monumentale Gebäude lagen, und auf dem ein großes Reiterstandbild aus Bronze stand, irgendeinen Zaren darstellend6. Hier waren wir mit einem male im eigentlichen 73

Petersburg drin. Doch wir gingen nun nicht weiter gerade aus in den Stadtkern, sondern bogen nach links ab, an der Moika entlang, an der wir bald die frühere italienische Gesandtschaft, das Geschäftsgebäude des Deutschen Arbeiter- und Soldatenrates, erreichten. Hier lagen und standen schon hunderte von Gefangenen auf der Straße, und erwarteten, bis ihr Buchstabe aufgerufen wurde. Der Registrierung, die mit einem eingehenden Verhör verbunden war, sah ich mit einiger Besorgnis entgegen. Wenn das Hauptziel der Prüfung auch war, zu verhindern, daß sich nicht Reichsdeutsche, vor allem Österreicher, mit eindrängten, so wußten wir doch auch, daß man Offizieren garnicht grün war und daß das Verhör von ganz Gerissenen abgehalten wurde. Um allen Reinfällen vorzubeugen, hatte ich meinen guten Waffenrock, den ich nicht aufgeben wollte schon auf dem Bahnhof einen Musketier (dem ostpreußischen Schuster, Hermann S., dem einzigen, der außer meinen Kansker Bekannten wußte, wer ich war) mit einwandfreien Papieren gegeben, dem er nicht gefährlich werden konnte. Und dann ließ ich meine Brille 74

wieder in die Tasche verschwinden. Und so ging alles gut. Man trat in endloser Schlange an, und bewegte sich langsam von einer Stelle zur anderen. Meine Papiere fielen nicht auf, ich gab ruhig die paar von mir geforderten Angaben, und konnte dann ungeschoren weiter zur nächsten Stelle ziehen. Alle, die irgendwie auffielen, wurden sehr eingehend geprüft, durch Fragen nach ihrer Dienstzeit, nach ihrem Regiment, Brigade, Division usw., nach Kriegserlebnissen u.a. Viele mußten auch mit einem alten Gewehr preußische Griffe machen. So fand man Österreicher ziemlich unfehlbar heraus. Das ganze System war gut und klappte. Nachdem man die eigentliche Registrierung und Prüfung überstanden hatte, kam man der Reihe nach an die verschiedensten Tische, an denen Schreiber noch alles mögliche fest stellten, z.B. was man an Kleidungsstücken brauchte, ob man Medizin oder ärztliche Hilfe brauchte, dann kamen Stellen, an denen Ausgabeanweisungen für die zugebilligten Wäsche- usw. Stücke, oder Medizin (hier ließ ich 75

mir noch einmal Chinin geben) ausgegeben wurden. Dann war man durch, ließ sich die meisten Sachen geben (meist aus deutschen Heeresbeständen) und dann kam das Schönste, das Brausebad. Es war zwar sehr eng, und vor allem keine strenge Scheidung zwischen seinen und schmutzigen Leuten und Sachen möglich, aber es war doch eine richtige Wohltat, die verdreckten und verlausten Sachen weit weg zu werfen und dann das reine Zeug anzuziehen. Dann gab es Essen, richtiges deutsches Feldküchenessen, das war großartig. Die nächste Programmnummer war die Unterbringung. Die meisten, darunter ich, bekamen einen Platz in einem der Säle der italienischen Gesandtschaft zugewiesen. Doch da es hier furchtbar eng war, und alle meine Kameraden in der früheren deutschen Botschaft untergekommen waren, zog ich es vor, mich auch dorthin zu begeben, wo wir dann auch alle gut Platz fanden. 7. Dez. 1922

Die Botschaft lag ganz in der Nähe an einem großen Platz mit lauter monumentalen 6 Nikolaus I

22

Gebäuden, der durch die Isaakskirche abgeschlossen wurde, den Abmessungen nach 76

das kleinste Gebäude am Platz, nur 3 geschossig, machte die deutsche Botschaft doch den anständigsten Eindruck, weil sie durch wohl abgewogene Verhältnisse und gediegene Ausführung eindringlicher und vornehmer wirkte, als die Kolosse. Sie war erst kurz vor dem Kriege fertig geworden und nach den Plänen von Peter Behrens gebaut. Bei Kriegsausbruch war sie von der aufgeregten Bevölkerung gestürmt und übel zugerichtet worden. Im ganzen Hause war keine ganze Fensterscheibe mehr. Polstermöbel waren zerfetzt, Vertäfelungen und alle Gegenstände des inneren Ausbaus zerschlagen, ein großes Bild der Königin Luise durchlöchert. Doch auch die Trümmer ließen eine äußerst gediegene und vornehme Pracht erkennen, an die keine der Botschaften anderer Staaten heranreichte. Auf dem Dache hatten 2 Pferde mit Rosselenkern aus Bronze gestanden. Auch sie hatte man zerstört, die Pferde lagen noch oben, vermutlich waren sie zu schwer, die Männer hatten sie in den Hof gestürzt. 77

Als Massenquartier war die Botschaft allerdings nicht sehr geeignet. Wir richteten uns auf dem obersten Flur eines Nebentreppenhauses ein. Da die Fenster nur notdürftig mit Brettern verschlagen waren, zog es ganz erbärmlich durch das ganze Haus. Und dann fror man, da es nachts (Ende September) schon empfindlich kühl war, und Decken nicht gab. Nur als Lager hatten wir einen dünnen Teppich. Doch waren wir eine ganz angenehme Gesellschaft zusammen. Nachdem wir uns unseren Platz besorgt hatten, legten wir uns natürlich noch nicht schlafen, obgleich es Dunkel war, sondern die neue und interessante Umgebung reizte noch zu einem nächtlichen Ausflug. Vorbei an der überwältigenden Isaakskirche und über den Petersplatz fanden wir den Weg an das Nevaufer, die große bewegte Wasserfläche, in der sich Lichter des anderen Ufers spiegelten, die hohen Kaimauern, die stattlichen Bauten am Ufer waren der erste , gewaltige Eindruck der Weltstadt Petersburg, ein Eindruck, der durch die Dunkelheit und die Stille 78

- man sah und hörte fast gar keinen Menschen – gewaltig gesteigert wurde. An der Isaakskirche waren riesige Holzvorräte gestapelt, die von bewaffneten Posten [darunter auch Frauen] bewacht wurden, die sich große Holzfeuer angezündet hatten. Auch dieses Bild gehörte unbedingt mit zum Petersburg unserer Tage hinzu und lebt noch stark in meiner Erinnerung, ein stärkeres, geschlosseneres Bild als das laute, schrille und zerfetzte Berlin bei Nacht. Und noch eine 3. Seite des nächtlichen Petersburg lernten wir kennen, den Schleichhandel. Seit dem 1. Sept. war der freie Handel sehr streng verboten, so konnte man nur noch nachts oder in den Häusern handeln. Unsere Beutel mit Salz hatten wir mit, einer stand Posten auf der Straße, die anderen tauschten im Dunkel einer Torfahrt Salz gegen Brot, eins der Geschäfte, bei denen beide Teile befriedigt waren. Unser Aufenthalt in Petersburg sollte mehrere Tage dauern. Dem Tageslauf war von vornherein ein festes Gerippe gegeben: es gab täglich Morgenkaffee und 2 warme 79

Mahlzeiten im Hofe der früheren italienischen Gesandtschaft, in dem 2 (?) deutsche Feldküchen standen. Mit den reichen Lebensmittel-, Wäsche-, und Kleidervorräten, die die deutsche Regierung zur Verfügung gestellt hatte, hatte sich hier der deutsche Arbeiter + Soldatenrat eingerichtet, und löste, soweit wir das beobachten konnten, die ihm übertragene Aufgabe, den Gefangenenaustausch zu leiten, recht gut. Man merkte, daß man es mit ehemaligen Soldaten zu tun hatte; nach der russischen (und auch galizisch-österreichischen) Schlamperei wirkte das sehr wohltuend [Kommisbrot ist eben doch besser als „Möhlspeis'n“]. Die italienische Botschaft war auch sehr fein eingerichtet, mit erlesenem Geschmack, aber in traditioneller Formensprache, waren die reichen Säle, Gemächer, 23

Treppenhäuser u.s.w. eingerichtet, aber es war eben doch eine Kunst II. Ranges – entsprechend dem Lande, das sich hier vertreten ließ, und auch entsprechend der Lage innerhalb Petersburgs – Ganz anders dagegen die deutsche Botschaft, die das beste Deutschland würdig 80

vertrat: In hervorragender Lage als der bei weitem beste moderne Bau der Stadt ein Vertreter der einzigen Großmacht, in der sich nach den kulturellen Wirrnissen des XIX. Jahrhunderts eine künstlerische Gestaltung der Jetztzeit anbahnte. Das genannte Gerippe als Tageseinteilung war bindend, denn auf die Verpflegung war man unbedingt angewiesen. Im übrigen war ich bestrebt, jede Minute auszunutzen, um möglichst viel zu sehen, denn daß Petersburg wohl die gewaltigste Stadt ist, die ich bis jetzt kenne, hatte ich schon in der ersten Nacht erkannt. Glücklicherweise besaß ich aus meinem Metula-Sprachführer einen kleinen Stadtplan. Auch Begleiter aus meinem Bekanntenkreis fanden sich immer. Den „Metings“, die hier wie überall veranstaltet wurden, hielt ich mich natürlich noch entschiedener fern als bisher. 21.Sep.20 Aus der reichen Fülle des Gesehenen kann ich nur weniges hervorheben. Zunächst, ganz nahe bei unserer deutschen Botschaft, die Isaaks Kirche, überwältigend groß, 81

mit einer großen vergoldeten Kuppel. Ein Zentralbau, mit Säulenvorhallen nach 4 Seiten. Die Säulen, wohl um 20 m hoch, aus einem Stück, prachtvoll roter schwedischer oder finnischer Granit, das Innere entspricht nicht dem äußeren, da es kein einheitlicher Raum ist, sondern aus mehreren Teilen von riesiger Höhe, aber kleiner Grundfläche besteht. Dabei recht dunkel. Dann die Neva, wohl 600 – 1000 m breit, mit zwei Ufern, auf denen 1 Monumentalbau neben dem anderen steht. Viele davon sehr frisch und kräftig in der Farbe (weiß und rot, weiß und gelb), und kaum einer, der aus dem Bilde herausfällt. Der größte von ihnen die Admiralität, 400 m lang. Über der Einfahrt in die 82

Admiralität ein schlanker, vergoldeter Turm, der Richtungspunkt für die 3 Radialstraßen. Neben der Admiralität (westlich) der Petersplatz mit dem ehernen Reiterstandbild Peters des Großen (Inschrift: PETRO PRIMO CATHARINA SECUNDA) auf einem gewaltigen Block aus finnischem Granit. Östl. der Admiralität der Winterpalast. Ihn suchten wir am Nachmittag auf, er war gut gehalten. Nur außen sah man dichte Kugelspuren am ganzen Gebäude, und innen in den Privatgemächern des Zaren waren einige Bilder demoliert. Großer Reichtum an Sälen, Bildern usw. Einfacher und wohnlich die Privatgemächer, mit wundervollem Blick über die Neva zur Peter Pauls Festung. Gegenüber dem Winterpalast das gleichfalls unglaublich große, halbkreisförmige Generalstabsgebäude. Ein Reinfall war der Besuch des neuen Michaelspalastes (des Museums Alexander III), das eine Riesenmenge von Bildern enthielt, aber nur Bilder 83

wie man sie in jedem deutschen Provinzmuseum auch hat, nichts Altrussisches und auch nichts Neurussisches. Auf den Straßen war für eine Stadt von dieser Größe recht wenig Verkehr. Und am meisten störten die leeren Schaufenster. Die Läden waren fast ausnamslos geschlossen. Soweit nicht Behörden darin eingerichtet waren, standen sie leer und sahen schmutzig und verwahrlost aus. Die Elektrische verkehrte und wurde sehr stark benutzt. An den Haltestellen standen die Leute in langen Schlangen, es waren nicht nur die Plätze im Wagen besetzt, auch außen, wo Hand und Fuß nur eben Platz fanden, klebten Fahrgäste. Überall fand man Frauen, die Äpfel verkauften. Sie wurden auf Karten geliefert, aber von den Empfängern meist weiter verkauft, weil sie andere Sachen nötiger brauchten. Für 24

1000 Rubel bekam man 4 – 5 Stück. [6000-7200 R = Monatsgehalt eines ehrlichen Arbeiters, 7000 R = 1 Pfund (400 gr) Butter, 2000 R = 1 Pfund Salz]. Die Äpfel schmeckten sehr gut, so weit das Geld reichte, kauften wir sie uns. 84

Auch Automobile sah man viel, in ihnen saßen fast ausschließlich Matrosen mit verwegenen Gesichtern und übler weiblicher Begleitung. Oft wurde man von Vorübergehenden angesprochen. Meist waren es Deutsche, oder Balten, oder Skandinavier, die die Gelegenheit benutzten, mal unbelauscht und ungefährdet ihr Herz ausschütten zu können. Alle hingen mit großer Liebe an Petersburg, und sprachen mit Begeisterung von dem Leben, das früher hier geherrscht habe. Und das sah man jetzt noch an den Spuren, daß hier früher Geschäfte und Vergnügungsstätten des größten Ausmaßes und in weltstädtischer Aufmachung gewesen waren, und daß ein reges Leben – nicht nur materiell – hier geherrscht hatte. Großzügig in jeder Weise, denn kleinlich und knickerig ist der Russe nicht. Man sieht der Stadt an, daß sie von Peter dem Großen auf Kommando, mit einem Heer von 80000 Arbeitern, gegründet worden ist. 85

Am nächsten Tage bestiegen wir zuerst die Isaaks Kuppel, etwa 120 m hoch, leider war es nicht klar, so daß man Kronstadt und die finnische Bucht nur sehr im Nebel sah, doch gewann man einen guten Überblick über die nah gelegenen Stadtteile. Am Nachmittag machten wir einen größeren Weg, gingen über die Neva und suchten die Peter-Pauls Festung auf. Durch mächtige Tore kommt man in eine abgeschlossene Anlage auf einer Insel, die im warmen Sonnenschein und bunten Glanze des Herbstlaubes mehr einen idyllischen als gewaltigen Eindruck macht. Die ganze Anlage mit niedrigen Häusern, sehr viel Alleen und Gärten und vielen Kasematten und Bastionen ist architektonisch aus einem Gusse und vorbildlich. In ihr liegt eine ganz europäisch anmutende Barockkirche mit einem schlanken, vergoldeten Turme, den wir schon immer von weitem bewundert hatten. Davor stand ein kleines Häuschen mit Erinnerungen an Peter den Großen, darunter einem von ihm angefertigten (?) Boot. Leider war dies alles nicht zugänglich, wurde auch nicht erklärt, so mußte 86

ich mir das meiste selbst zusammenreimen (aus verblaßten Erinnerungen an die Langenscheidtschen Sprachbriefe, in denen ein Spaziergang durch Petersburg eingehend durchgenommen wurde). Doch das Schönste war, im Sonnenschein am Nevaufer zu sitzen, und über das glitzernde Wasser auf die geschlossene Palastfront am Südufer der Neva zu sehen. Vorher hatten wir noch das Wohnhaus Peters des Großen, ein ganz kleines niedriges Holzhaus aufgesucht, nachher gingen wir die schöne breite Promenade, die im Halbkreise um die Festung herumführt. Hier sahen wir die neue mohamedanische Moschee, gedeckt mit hellgrünen glasierten Ziegeln, und überzogen mit islamitischer Ornamentik. Leider konnten wir nicht hinein. Am anderen Ende der Promenade lag der Zoologische Garten mit einem großen Rummelplatz. Dann kamen wir über die Insel, auf der Börse, Universität und Kadettenkorps liegen, zurück in unser Viertel. Im Arbeiter und Sold. Rat trafen wir mit einem mal alte Bekannte. Unter den 87

ständig zuströmenden Neuankömmlingen waren 4 Herren, die unmittelbar aus Kansk kamen, Peter Neuhaus, Wolff, Sander und der kleine Schmitt. Sie waren mit einem 2. Spezialistentransport von Kansk bis Omsk gefahren, hatten hier einen Russischen Eisenbahnbeamten kennengelernt, der sie mit in seinem Dienstwagen genommen hatte, und waren so rasch nach Petersburg gekommen. Dann trafen wir noch Puttkammer und Schlegel, die von Perm kamen. (P. reißte als „Drainagenvorarbeiter“ Egon von Puttkammer) 25

8.12.22

Von einem kleinen Mißgeschick muß ich noch berichten, am 22.9. früh (oder nachts) hatte ich mein Brillengestell (den Steg) zerbrochen. Das war sehr peinlich, da es mein einziges war, und ich noch sehr viel sehen wollte, ehe wir in Deutschland landeten. So flickte ich sie mir mit kümmerlichsten Hilfsmitteln. (Einen schmalen Streifen Blech, den ich mit meiner bewährten Taschenschere von einer Salzbüchse abschnitt. Doch dieser Notbehelf war recht unbequem, und so suchte ich 88

einen Optiker auf. Auf dem Newskiprospekt (jetzt Prospekt des 25. Oktober) war noch ein optisches Geschäft, das einzige offene Privatgeschäft, das ich überhaupt in Petersburg gesehen habe. Ein Verkäufer versprach mir, mir in 8 Tagen ein neues Gestell zum Preise von 1200,- Rubel zu liefern. Darauf konnte ich mich natürlich nicht einlassen, sagte ich stolz: in 8 Tagen bin ich in Deutschland und dann brauche ich Ihr Gestell nicht mehr. Da mischte sich erfreulicherweise der Inhaber des Ladens ins Gespräch, redete mich gleich auf deutsch an, besah sich den Schaden, freute sich, wie ich mir geholfen hatte, und sagte, daß ich mir am nächsten Morgen ein neues Gestell zum Preise von 1000,- Rubel holen könne. Ich unterhielt mich dann noch eine Weile mit ihm und sprach ihm vor allem meine Verwunderung darüber aus, daß sein Laden noch in Betrieb sei. Da sagte er, das begriffe er auch nicht, vielleicht käme es daher, daß er sehr schlecht entbehrlich sei. Im übrigen rechne er aber jeden Tag mit einer Konfiszierung, die er aber nicht fürchte, da er über ein großes nicht zu beschlagnahmendes Kapital verfüge, seine Fachkenntnisse und seine 89

geschickten Hände, die ihm immer wieder Einnahmen verschaffen würden. Die Bezahlung meines Einkaufs war nicht ganz einfach. Ich war, als wir in Petersburg eintrafen, wie so oft im Leben, vollständig abgebrannt, und besaß nur noch einige Rubel. Doch fand ich Rat, ein geschäftskundiger unter meinen Bekannten verwies mich an eine Russin, die Tee kaufen wollte. Tee war in Petersburg eine große Seltenheit, die Frau behauptete, seit 2 Jahren keinen mehr getrunken zu haben; für den Russen ist das eine große Entbehrung. So verkaufte ich ihr meine Teereste, etwa ¼ Pfund, für 1000 Sowjetrubel + 20 Zarenrubel, konnte so meine Brille bezahlen und hatte außerdem eine kleine Barschaft für die Heimfahrt; wir hatten gehört, daß die Schiffskantinen der Auslaufdampfer Zarenrubel in Zahlung nehmen. (In Deutschland im Quarantänelager gab es für 100 Sowjetrubel 1 Mark, für 100 Zarenrubel 50 Mark, in Petersburg für 1 Silberrubel 2000 Sowjetrubel) 90

Der 23. Sept. führte mich morgens zunächst zum Optiker. Außerdem gingen wir noch ein Ende über den Newskiprospekt, der als die größte Geschäftsstraße des vergangenen Petersburg jetzt einen besonders traurigen Eindruck machte. An ihm sahen wir die riesige Kasaner Kathedrale, einen monumentalen Bau, der an einem halbkreisförmigen, von Kollonaden abgeschlossenen Platz liegt. Dann suchten wir noch die farbenprächtige, d.h. mehr bunte als schöne Kirche auf, wo im Jahre 1881? der Zar Alexander III? Durch Bombenwurf umgebracht worden war. Auch einige Zeitungen las ich an den Anschlagtafeln auf der Straße, darunter die bekannte Petersburger Prawda (xxxx = die Wahrheit), die, soviel ich weiß, von Maxim Gorki heraus gegeben wird. Aus ihr ist mir zweierlei in Erinnerung geblieben: Ein Leitartikel wies ausführlich darauf hin, daß die Ernte das Jahres 1920 so schlecht gewesen sei, wie noch keine seit 1891, daß in vielen Gouvernements sogar das 91

Saatgetreide fehle, und daß außerordentliche Maßregeln ergriffen werden müßten – eine im revolutionären Rußland sehr verbreitete Redensart - , um eine Hungersnot im Sommer 1921 zu verhindern. Welche Maßnahmen die russischen Behörden ergriffen haben, ist mir 26

unbekannt, ebenso, ob böser Wille oder Unfähigkeit die Ursache davon waren, daß die Hungersnot so entsetzliche Formen angenommen hat. Die 2. Erinnerung an die Petersburger Zeitungen bezieht sich auf die begeisterten Berichte, die einem in jenen Tagen stattfindenden Besuche von Klara Zetkin7 gewidmet waren. Klara Zetkin, die von Zeitungsberichterstattern ausgeforscht wurde, bediente sich der bei Deutschen beliebten, bei Ausländern ziemlich unmöglichen Methode, das eigene Land nach Kräften schlecht zu machen, und dem Ausländer zu schmeicheln. Aufgefordert, ihre Eindrücke von Petersburg auszusprechen, rühmte sie die im Verhältnis zu Berlin glänzende Straßenbeleuchtung, den Verkehr der Straßenbahn und das rege Arbeiten der Fabriken. 92

Ich fühle mich nicht berufen, Berlin Petersburg gegenüber zu verteidigen, und weiß sehr gut, daß Petersburg Berlin in vielem überlegen ist. Aber das Auftreten der K. Zetkin, vermutlich der ersten Vertreterin des Reichstages, die in P. auftrat, hat uns doch geärgert, denn das mit der Straßenbeleuchtung war einfach Unsinn, wenn nicht gar erstunken und erlogen, der Verkehr der Straßenbahn war rege, aber doch im entferntesten nicht ausreichend um das Bedürfnis zu befriedigen – und wenn er genügt hätte, so hätte das auch wenig bewiesen – und das Rauchen der Fabrikschornsteine hat sie wohl allein gesehen, wir haben trotz 3 tägigem Herumstreifen herzlich wenig davon bemerkt. Noch einen erfreulichen Eindruck will ich berichten. An der Admiralität lag ein großer Park mit stattlichen Bäumen. Hier sah ich die ersten Eichen und freute mich immer wieder von neuem daran; in Sibirien gab es nur Nadelholz und Birken. 93

Pünktlich erschienen alle am 23. Sept. zum Mittagessen, war doch angesagt worden, daß es nach dem Essen zum Bahnhof gehen solle. Zum letzten Male aßen wir im Hofe der italienischen Gesandtschaft, dann marschierten wir ein Stück an der Moika (dem innersten Ringkanal) entlang bis an eine Brücke, wo Extrawagen der Straßenbahn uns abholen sollten. Hier verabschiedete uns im Auftrage der A. + S. Rates unser Transportführer, Genosse Grünwald. Daß er ein großes Mistvieh war, erwähnte ich schon. Seit er in Wiatka versucht hatte, uns gemein im Stich zu lassen, war er auch bei den Leuten so ziemlich drunter durch, nur ein kümmerliches Häuflein hielt sich noch pflichtschuldigst zu ihm. Er hielt noch eine flammende Rede gegen den „Imperialismus“ und Kapitalismus, belehrte uns über unsere Pflichten zu Hause und ließ die unvermeidliche „Internationale“ anstimmen. Fatalerweise war die ganze Rede überraschend gekommen. Da ich in der Mitte des Zuges stand, gerade ihm gegenüber, konnte ich mich nicht unbemerkt verdrücken, sondern mußte alles aus 94

nächster Nähe anhören, ja sogar, um nicht in letzter Minute unangenehm aufzufallen, so tun, als ob ich die Internationale mitsang. Doch auch das ging vorüber. Grünwald verabschiedete sich von seinen näheren Freunden durch eindringende Ermahnungen „Genossen! Nicht umfallen, es muß kommen!“. Er persönlich zog es vor, in Rußland zu bleiben, wo ihm ein feines Pöstchen beim Gefangenenaustausch gegeben wurde. Vielleicht wollte er auch nur einige Wochen mit seiner Heimkehr warten. Wäre er mit uns gefahren, so hätte er doch damit rechnen müssen, daß ihn viele nach dem Verlassen des russischen Bodens handgreiflich zur Verantwortung gezogen hätten. Doch mir war alles so egal, ich überwand mich sogar soweit, daß ich ihm 2 bis dahin sehr bewährte Reisebegleiter, meine Zange und meinen Hammer, vermachte für die Gefangenenaustauschstelle. [Etwas Handwerkszeug ist überall sehr nützlich, in Rußland war es doppelt wertvoll. In der Eisenbahn zB. konnte ich mich immer gleich häuslich 95

einrichten, schlug Nägel in die Wand, an denen ich Teller, Löffel, Mütze, Tabakbeutel u.a. 7 Klara Zetkin, eine sozialistische deutsche Politikerin, 1857 - 1933

27

aufhing usw.]. Nach längerem Warten erschienen dann einige Straßenbahnwagen, wir stiegen ein (das 1. mal seit Juli 1914) und fuhren durch viele Straßen der Stadt [Liteine-Prospekt und Liteini (d.h. Hießhaus) Brücke] zum Finnischen Bahnhof, auf dem nördlichen Nevaufer. Auch hier wieder längeres warten, dann erschien ein Herr von der „Deutschen Fürsorgestelle für Kriegs- und Zivilgefangene“ - die nicht, wie wir bisher angenommen hatten, mit dem Deutschen Arbeiter + Soldatenrat identisch war - und verteilte die Reisepapiere. Auch ein Zug war da, doch fehlte es ihm an Brettern, außerdem war es empfindlich kalt. So suchte ich bald mit meinen findigen Begleitern einen großen geheizten Wartesaal auf, der sich bald mit Gefangenen füllte. Auf Bänken sitzend, oder auf Tischen und der Erde liegend, brachte wir hier die Nacht zu. Am nächsten Morgen, einem kühlen und 24. Sept. 20

96

feuchten Septembermorgen, hieß es dann „Einsteigen“!, und bald rollten wir los. Die finnische Grenze war nicht weit, etwa 20-30 km. Zuerst kamen wir durch lauter herbstlich bunte Gärten mit Landhäusern, nachher durch ebene Gegenden mit Feldern, Wäldern und Dörfern. Schon nach 2-3 Stunden hatten wir die Zollstation erreicht. Die dort stattfindende Gepäckrevision machte den meisten sehr zu schaffen. Schon in Petersburg hatten wir große, ausführliche Bestimmungen angeschlagen gesehen (im Deutschen A+S Rat), was jeder mitnehmen dürfe. An Papiergeld z.B. 15000.- Rubel. Mich persönlich rührte all das wenig. Viele Sachen hatte ich nie besessen, meine geringe Habe war mir z.T. gestohlen worden, z.T. hatte ich sie aufgezehrt. An Geld besaß ich höchstens 300-500 Rubel. An schriftlichen Aufzeichnungen nur noch ein angefangenes Notizbuch, mit einigen Lesefrüchten aus dem Sommer 1920, Gedichten von C.F. Meyer, Hermann Hesse und Nekrassow und dem mir sehr wertvollen Verzeichnis sämtlicher Stationen und Ausweichstellen der sibirischen Bahn (bis nach Petersburg). 97

Dann hatte ich im Brustbeutel noch mein Eisernes Kreuz, das ich, nachdem ich es 5¾ Jahre glücklich durchgerettet hatte, gerade jetzt ungern eingebüßt hätte. Bei solcher Armut konnte ich anderen gern behilflich sein, indem ich ihnen Geld abnahm, das ich teils – bis zur Höhe der erlaubten Summe – offen vorzeigte und teils versteckte, auf die Gefahr hin, daß es mir abgenommen wurde. Das ganze Verfahren war eigentlich eine richtige Gemeinheit. Das (kapitalistische – ausbeuterische) Deutschland ließ seine russischen Gefangenen vollkommen ungeschoren über die Grenze, das für „das Menschenrecht“ kämpfende Rußland nahm den Deutschen alles ab, es war nichts anderes als eine Ausraubung. Wir Offiziere besaßen alle so gut wie garnichts, Karl Haas z.B. hatte nur seinen Mantel und Teebecher, ich doch immerhin außerdem noch einen Waffenrock und einige Wäschestücke in meinem arg zusammen geschrumften Reisesack, aber die Mannschaften hatten meist recht beträchtliche Summen bei sich, die sie doch zum großen Teile auf ehrlichen Wege und durch lange Arbeit erworben hatten. Summen, mit denen 98

sie in Deutschland sich gut über die ersten Wochen hinweghelfen konnten. Doch das half nichts. Der Dumme, der gespart hatte, wurde sein Geld los. Die Handhabung der Untersuchung war echt russisch. Wir wurden einzeln oder zu 2 vorgelassen. Erst kam man in ein Zimmer, in dem alles Schriftliche oder Gedrucktes abgenommen wurde, nur durch Betteln erlangte ich, daß ich mir aus meinem Notizbuch das Blatt mit Heimadressen von Kameraden herausreißen durfte, deren Angehörige ich von Deutschland aus schreiben wollte. Bezeichnenderweise gab es keine Bescheinigungen, sondern jeder Beamter packte das erbeutete, auch das Geld, ohne jede Buchung in seine Schublade. Was ich – für andere – versteckt hatte, bekam ich alles glücklich durch, auch meinen Brustbeutel, ein Gegenstand, den die Russen nicht kannten. 28

Bezeichnend für die Methode fand ich auch, daß man einem Manne, der sich begeistert den deutschen Text der „Internationale“ abgeschrieben hatte, 99

dieses verfängliche Schriftstück abnahm. In einem 2. Raum fand die Gepäckrevision statt. Bei Leuten, denen man wie mir den armen Schlucker schon von weitem ansah, nur sehr oberflächlich. Nachdem die viele Stunden dauernde Revision vorüber war, traten wir den Vormarsch zu der etwa ¾ Stunde entfernten Grenze an. 9.12.22

Die Revision auf der Zollstation war die letzte Schikane. Für viele eine recht empfindliche, ich muß gestehen, daß ich in der Aussicht, in wenig Stunden jenseits der Grenze zu sein, einen Schmerz über irgendwelche Verluste nicht empfinden konnte. Auf einem sandigen Wege durch Kiefernwälder längs der zerstörten Eisenbahnstrecke gelangten wir an die Grenze. Zwischen Finnland und Rußland herrschte noch so eine Art Kriegszustand, oder vielmehr waren die Verhandlungen noch nicht zu einem Friedenschluß gediehen. Die Finnen schlossen ihre Grenze sehr streng gegen Rußland ab. 100

Sie hatten von der Bolschewistenherrschaft in ihrem Lande im Frühjahr 1918 genug gehabt. Unter diesen Umständen galt es als ein großes Entgegenkommen, daß sie den Gefangenenaustausch durch ihr Land duldeten und sogar kräftig förderten. Allerdings wurden wir in Finnland streng abgeschlossen und kamen mit der Bevölkerung nicht in Berührung. Man fürchtete russische Seuchen und bolschewistische Propaganda. Die ganze Art, wie der russische Kommissar uns dem finnischen Vertreter des roten Kreuzes ablieferte, führte uns die russischen Methoden zu guter Letzt noch einmal deutlich vor Augen. Zunächst vergewisserte sich der Russe, ob er auch seine Schutzbefohlenen alle hatte, indem er die Namensliste verlas. Manche fehlten, für die riefen andere „hier“, manche verstanden ihre verstümmelten Namen nicht, niemand überwachte, ob nach jedem Namensaufruf einer, mehrere oder niemand fortging, und als der Russe fertig war, waren eine ganze Menge übrig geblieben. Glücklicherweise gab er es auf, die Sache zu klären 101

und die Liste in Ordnung zu bringen. Dann ließ er uns hart an der Grenze antreten, die durch einen tief eingeschnittenen Bach gebildet wurde, auf dessen anderen Ufer die ersten finnischen Posten standen. Nach längerem Zählen, das bei solchen Gelegenheiten unvermeidlich war, wurden dann immer 35 Mann abgezählt, über eine schmale Betonbrücke gelassen und von den Finnen in Empfang genommen. Töricht wie er war, hatte der Kommissar den finnischen Vertreter gefragt, ob auch keine deutschen Offiziere bei dem Transporte wären, was der selbstverständlich verneinte. Als einer der letzten kam ich dran, sah mir noch einmal die die letzten Rotgardisten an, ging mit dem Gefühle, mit niemandem in ganz Rußland von Petersburg bis Wladiwostok tauschen zu mögen, über die Brücke. War in Rußland alles bis zuletzt unsachlich und unpraktisch gewesen, so empfing uns am anderen Ende der Brücke ein von Grund auf andere Welt, wir fühlten uns vom 1. Augenblick an heimisch in dieser Umgebung, 102

die wir als uns verwandt empfanden. Die finnischen Soldaten waren sauber und stramm. Ihre Uniformen und Ausrüstungen erinnerten an deutsche. Die Offiziere hätte man für deutsche halten können. Jeder Gruppe von 35 Mann wurde sofort ein Wagen zugewiesen der Zug stand zur Abfahrt bereit hart an der Grenze, so etwas wäre in Rußland nie möglich gewesen! - und als die letzten eingestiegen waren, ertönte ein Pfiff, und mit affenartiger Geschwindigkeit ging die Fahrt los. Wir fuhren etwa 1-2 Stunden. Die Halte waren immer nur ganz kurz – der Gefangene hatte sich in Rußland angewöhnt, sowie der Zug hielt, aus 29

dem Wagen zu springen, denn Aufenthalte unter ¼ Stunde gab es nicht, auf Stationen hielt der Zug viel länger. Als nun bei dieser schnellen Fahrt auf einzelnen Stationen die finnischen Eisenbahnbeamten den Leuten zu verstehen gaben, daß sie nicht aussteigen dürften, gab es doch tatsächlich einzelne Nörgler, die anfingen zu schimpfen, daß gleich nach dem Verlassen Rußlands wieder die Bevormundung anfinge. 103

Sehr sauber waren die Bahngebäude, z.T. auch als Bauwerk ganz ansprechend. Gänzlich fremdartig die vielsilbigen, vokalreichen Namen, und das merkwürdigste waren für mich die ausgesprochen mongolischen Gesichter in europäischer Kleidung. Zivilbevölkerung sahen wir, glaube ich garnicht, wir fuhren schnell durch eine leicht bewegte Gegend mit Kiefernwäldern, die oft von Feldern unterbrochen wurden. Gegen Ende der Fahrt wurden die Wälder auf der südlichen Seite dichter, ab und zu öffneten sie sich, und man hatte kurze Ausblicke auf die unbewegt daliegende See. Bald war unser Ziel erreicht, es war die Station des in den Kämpfen 1917/18 viel genannten Fort Inno (Terijoki). Ein etwa ¼ stündiger Marsch durch Kiefernwald brachte uns in ein kleines, Stacheldraht umwehrtes Barackenlager unmittelbar am Strande. Die finnische Oberschwester kam und begrüßte uns mit einer Herzlichkeit, der gegenüber der vereiste 104

Gefangene hilflos und verlegen war. Mit voller Güte strahlenden Augen ging sie an unserem Zuge entlang, und wollte möglichst jedem einzelnen die Hände drücken. Ich fand es tief beschämend und wurde klein vor der Güte dieser Frau, die sich durch die Stumpfheit der Masse nicht ein bißchen unterkriegen ließ, sondern gleichmäßig freudig und teilnahmsvoll von einem zum anderen ging. Doch Rußland ließ sich nicht nach 2 Stunden abschütteln. 24.-27.9.20 Der 3 tägige Aufenthalt im finnischen Lager war eine recht unerwünschte Verzögerung. Ob und warum sie nötig war, weiß ich nicht, glaube mich aber zu erinnern, daß der Vertreter der Kriegsgefangenenhilfe in Petersburg, der uns auf dem finnischen Bahnhof die Reisepapiere brachte, andeutete, wir hätten sofort einen Dampfer bekommen, wenn man uns etwas früher abgeschickt hätte. Das Lagerleben war geregelt, es war für alles gesorgt. Die Baracken waren sauber, abds gab es Holz zum Heizen. Zur Verpflegung waren deutsche Feldküchen mit deutscher 105

Bedienung da, die Kost war gut und ausreichend, man konnte oft „kapitulieren“. [Schon in Petersburg hatte ich meine letzten Eßvorräte aufgezehrt, fuhr von P. ohne irgend etwas Eßbares ab und war seitdem auf die offiziell gelieferte Verpflegung angewiesen, und kam damit aus, in Hammerstein war sie allerdings auch sehr reichlich.]. Auch so etwas wie ein deutscher Feldwebel trieb sich im Lager herum, man merkte aber nicht viel von ihm. Wir erfuhren, daß am selben Abend, an dem wir ankamen, der deutsche Dampfer der uns heimführen sollte mit einer Ladung Russen Stettin verlassen habe, und nach 3 Tagen eintreffen würde. Der Aufenthalt wurde zu einer gründlichen Wäsche und Entlausung sämtlicher Sachen benutzt. Eine kleine Badeanstalt und ein fahrbarer Desinfektionsofen waren den ganzen Tag im Betrieb; vorher fielen die verschiedenen Mähnen und Kriegsbärte. Es war eine große Wohltat, endlich wieder gänzlich 106

läusefrei zu sein; wenigstens vorübergehend. Innerhalb des Gitters konnte man sich frei bewegen. Meist war schönes Wetter, und man saß oder lag in der Sonne. Leider war der Blick auf die See durch eine quer vorgelagerte Mole gesperrt. So hörte man nur die Brandung. Am schönsten war die Nacht, das Nahe und das Störende verschwand, man sah nur Sterne, Bäume und die Lichter der Festung Kronstadt. Ich lernte die Oberschwester kennen, sie unterhielt sich längere Zeit mit mir. Sie sprach mit großer Wärme von Deutschland. Ich kann garnicht beschreiben, wie wohl das tat. 30

Seit wir in Rußland waren, hatten wir immer wieder nur Mißgünstiges und lieblose Urteile über unser Vaterland gehört. Und hier gab es Ausländer, die das geschlagene Land nicht verhöhnten oder beschimpften, sondern mit einer Begeisterung davon sprachen, die wir nicht mehr aufbrachten. Sie gab mir ein Heft mit 3 Reden, die der frühere Rektor der Universität Helsingfors und damalige Ministerpräsident im Jahre 1918 gehalten hatte, 107

eine als Begrüßung der deutschen Truppen im April, eine anläßlich der Einweihung des Denkmals für die gefallenen deutschen Soldaten und die dritte im November vor einer wissenschaftlichen Gesellschaft in Helsingfors. Nicht jedes einzelne Wort gefiel mir, aber daß ein Ausländer im November 18 sich mannhaft zu Deutschland bekannt hatte, das imponierte mir. Ich sprach auch mit der Oberschwester über uns Gefangene, und fand ein so feines Verständnis bei ihr, - ähnlich wie bei Elsa Brändström - daß alles Erklären und Entschuldigen überflüssig war. Daß außer mir noch mehrere Offiziere beim Transport waren, hatte sie gleich heraus erkannt. Selbstverständlich ließen wir davon ebenso wenig merken, wie bisher, doch legten wir uns in der Baracke zusammen. Zu uns 4, die wir schon von Omsk an zusammen fuhren, waren in Petersburg noch die 4 Kansker Neuhaus, Wolf, Sander und Schmidt gekommen. Die ersten beiden Tage war auch ein deutscher Zeitungsberichterstatter im Lager. Die anderen umdrängten ihn sehr, ich legte weniger Wert darauf, seine Bekanntschaft zu 108

machen, doch nahm ich gern die Gelegenheit war, ihm eine Karte nach Hause mit zu geben [die aber erst nach mir in Deutschland ankam.]. Später verschaffte ich mir, was er im „Hannoverschen Kurier“ geschrieben hat, doch war es nicht sehr bedeutend. Auch für deutschen Lesestoff war gesorgt: deutsche Zeitungen, vor allem das Berliner Tageblatt und die Woche lagen aus. Im Berliner Tageblatt war gerade der Briefwechsel zwischen Kaiser Wilhelm und Zar Nikolaus veröffentlicht: das war kein guter Empfang. Das Schönste war und blieb das Meer, die Wasserfläche vor mir, den Himmel über mir und das Lager hinter mir, konnte ich alle Unruhe und alle peinigenden Eindrücke los werden. Pünktlich am 27. Sept. abds hieß es „Fertig machen!“ Alles war von den Finnen gut vorbereitet, und klappte. Im Dunkeln zogen wir zum Bahnhof, fuhren einige Stunden westwärts, wurden auch im Dunkeln ausgeladen, und warteten in einem Walde nahe am 109

Meere das Weitere ab. Es waren ganz eigenartige Bilder, wir standen im Walde und sahen durch die Kiefernstämme hindurch den Mond und die glitzernde Meeresfläche. Allmählich, als es heller wurde, konnte man auch einen großen Dampfer erkennen, von dem eine Laufbrücke zu einer Mole führte. Auf ihr sah man gegen den heller werdenden Himmel deutlich ununterbrochen einen nach dem anderen den Dampfer verlassen. Bald kamen die ersten Russen an uns vorbei und suchten den Zug auf, mit dem wir gekommen waren. Das Aussteigen schien endlos zu dauern. Es war ganz hell geworden, bis der letzte Russe von Bord war. Unmittelbar darauf gingen wir an Bord. Beim Betreten des Schiffes bekam jeder eine Nr., die ihm seinen Platz anwies. Uns verschlug es ganz nach unten, in den untersten Ladeboden, den man auf einigen halsbrecherischen Treppen erreichte. Mit ganz engen Gängen standen die Betten immer 2 übereinander zu Gruppen von je 24 vereinigt.

31

110

Als Beleuchtung war in der Mitte der Decke eine kümmerliche Kohlenfadenlampe. Man konnte sich zur Not bewegen, wenn alles in einer Richtung ging, aber wenn sich zwei begegneten, war's schlimm, besonders wenn man in der einen Hand eine Kanne mit Kaffee, in der anderen einen Napf mit Marmelade hatte. Zu den Mahlzeiten stand alles im Gang, und nahm sich Platz und Luft weg. Dazu stelle man sich noch die Bewegung des Schiffes und womöglich Seekrankheit vor. Doch alles wäre zu ertragen gewesen, aber ein unverzeihlicher Fehler der Leitung war es, daß man uns unmittelbar nach dem Verlassen der Russen an Bord nahm. Wir stiegen ein bei Sonnenaufgang und fuhren mittags um 12h los. Da wäre es sehr gut möglich gewesen, zunächst nur einige in das Schiff zu lassen, die es erst mal notdürftig gesäubert hätten. So saß man da in qualvoller Enge und Dunkelheit. Mein Platz war glücklicherweise wieder an der Außenwand, sodaß ich nur auf einer Seite einen Nachbar hatte. Doch neben meinem Bette war der richtige Müllablagerplatz der Russen gewesen. Nur notdürftig konnte ich beim Schein einiger Streichhölzer den gröbsten 111

Dreck mit den Füßen beiseite, d.h. unter mein Bett schieben. Es gab keine Besen oder Kehrbleche, und vor allem keine Bewegungsmöglichkeit. Daß wir sehr bald wieder Läuse hatten, war nicht zu verwundern. Nach der musterhaften Fürsorge der Finnen berührte dieses vollkommene Versagen der ersten deutschen Vertreter ganz besonders peinlich. Es soll ein deutscher Beauftragter vom Roten Kreuz an Bord gewesen sein, ich habe in 3 Tagen nichts von ihm gesehen; es war ein deutscher Militärarzt an Bord, noch ein ganz junger Bursche, er hielt um 9 Uhr Revierstunde ab, sonst sah man ihn nur ohne irgend welches Interesse für uns zu zeigen, auf dem für uns gesperrten Kajütenteil spazieren gehen, wo die Herren vom Kommando sehr gut wohnten und sehr gut verpflegt wurden. Der 3. im Bunde war ein junger Amerikaner von der C.Y.M.A. (Christl. Verein junger Männer), ein besonders unerfreuliche Erscheinung. Von Zeit zu Zeit lief er mit einem Kump voll Schokolade durch das Schiff, 112

zog einen langen Schwanz darauf gieriger Leute hinter sich her, und verteilte die Schokolade dann mit großartiger Gebärde. Außerdem gab er Zigaretten und Reklamepostkarten aus. Wer sich englisch sprechend an ihn heranschmiß, hatte auch noch Aussicht, Äpfel zu bekommen. Natürlich gab es viele, denen die Brocken aus seiner Hand schmeckten. Deutsch konnte er nicht, hielt es auch nicht für nötig, es zu lernen. Ein würdiger Landsmann von Mr Wilson. Doch diese Eindrücke kamen erst im Laufe der Tage. Nachdem man seinen Platz notdürftig in Ordnung gebracht hatte – man mußte all seine Sachen auf das Bett legen, auch 32

Teekanne, Teller usw. da man keinerlei Platz sonst hatte – ging man wieder ans Tageslicht, und sah sich dort um. Der Dampfer hieß Ceuta, war aus Oldenburg und hatte etwa 3000 t Wasserverdrängung. An Deck standen 4 Feldküchen, die morgens und mittags Kaffee (d.h. Lorke) mittags und abds warmes Essen ausgaben. Dann war zur Verpflegung noch eine 113

Kantine an Bord, in der man außer mit deutschem mit Romanow Geld (Zarenrubel) bezahlen konnte. Zum Empfang von Kaffee und Essen wurden „Backschaften“ von 20 Mann abgeteilt, wobei ich mit Karl Haas mitten unter Danziger Botken geriet, die mit ihm schon von Omsk an im Eisenbahnwagen zusammen gefahren waren. Doch kam ich gut mit ihnen aus, holte ein paar mal freiwillig Essen und vermied sonst alle nicht unbedingt nötigen Berührungen. Morgens gab es außerdem Brot, Margarine und Marmelade, einmal sogar für 2 Tage. Wo man die Sachen lassen sollte, war mir rätselhaft, da man a) keinen Platz b) weder Butter noch Marmeladendose mit sich führte. Ich half mir, in dem ich das Brot in „das“ Taschentuch einwickelte, und Margarine und Marmelade gleich auf Anhieb verzehrte. Die Mahlzeiten waren immer Höhepunkte, mit dem gefüllten Teller im schwankenden Schiff durch das Gedränge bis auf sein Bett zu gelangen, war nicht ganz einfach. Für einige Glückliche gab es auch Tische und Bänke, im Geschoß über uns sogar einen großen Tisch mit Tageslicht. 11.12.22

114

Am 28. Sept. 20 früh bestiegen wir unseren Dampfer. Der Hafen, eine ganz kleine Anlage mit wenig Fischerhäusern hieß Bjerkö. Mittags 12 Uhr ging es los. Der Nachmittag war herrlich. Bei blauem Himmel und Sonnenschein fuhren wir immer durch bewaldete Inseln hindurch, meist von Lotsen geführt. Die ganze Seefahrt war nicht so einfach für den Steuermann, da in der Ostsee nur eine verhältnismäßig schmale Fahrtrinne als minenfrei abgesteckt war. Gegen Abend des ersten Tages lösten wir uns vom Lande los und steuerten auf das Südufer des Finnischen Busens zu, wo wir nachts in Narwa noch Gefangene an Bord nehmen sollten. Wir waren 800-900, Betten gab es für etwa 1000, und 1200 Mann sollten mitfahren. Wir waren bei der schrecklichen Fülle recht erfreut, als wir am 29. früh mitten im freien Wasser aufwachten, ohne Narwa angelaufen zu haben, es war gefunkt worden, daß die zu uns bestimmten Gefangenen dort noch nicht eingetroffen waren. 115

Am Morgen kamen wir an Reval vorbei, das, soweit der Nebel und der Dunst etwas erkennen ließ recht ansehnlich auf Hügeln sich am Strande aufbaute. Dann sahen wir noch Dagö – ganz flach – daliegen, aber bald kamen wir, scharf westwärts fahrend, ganz ins freie Wasser und sahen weder rechts noch links Land. Das Meer war wenig bewegt, die Sonne schien angenehm warm, Möwen begleiteten das Schiff, ab und zu begegneten uns Segelschiffe und das ganze Deck war angefüllt mit lauter froh gestimmten Gefangenen. Soweit es möglich war, suchte ich etwas hohe und entferntere Punkte auf, denn das Zusammensein mit den Leuten, die mit einem male ebenso kritiklos gegen den Bolschewismus schimpften, wie sie vorher dafür begeistert gewesen waren, fiel mir auf die Nerven, die durch voraus gegangenen 6 Wochen doch sehr beansprucht worden waren. Darum waren schöner als die Tage die Nächte, in denen ich oft 116

an Deck ging, dem gleichmäßigen Auf und Ab der Wellen, und dem Glanz des Mondes, der rhythmisch auf der Wasserfläche mitwanderte, ungestört folgend. Über mir der Sternhimmel, mit denselben Bildern, die vor 3000 Jahren dem Odysseus leuchteten, als er zu den Phäaken fuhr. Am nächsten Morgen (30. Sept.) fuhren wir westlich von Gotland, das mit bedeutenden Höhen steil aus dem Meer emporragte. Auch das sagenhafte Wisby, sahen wir liegen, konnten aber aus der Entfernung (Und gegen die Sonne ?) nicht viel mehr als eine 33

riesige Kirche erkennen. Mittags hatte ich mich etwas zum Schmökern an einen ruhigem Platz im obersten Unterkunftsraum zurückgezogen, als ich mit einem mal spürte, daß sich das Schiff lebhafter bewegte. 14.12.22.

Sofort suchte ich das Deck auf, und fand dort recht laute Lustigkeit vor. Die ersten Leute wurden seekrank, was die anderen zu einer etwas gewaltsamen Heiterkeit anreizte; ich hatte den Eindruck, daß jeder das herannahende Unheil durch übermäßiges Lachen über den 117

Nachbarn, den es zufällig 5 Minuten früher erwischte, zu betäuben suchte. Mir war das ganze Benehmen ziemlich furchtbar, doch konnte man sich nirgend in Sicherheit bringen. Erst gegen Abend wurde es besser. Die Mehrzahl lag krank oder still auf den Betten, und wir Überlebenden konnten verhältnismäßig ungestört vom obersten Verdeck aus das Wohlgefühl genießen, nun in die letzte Nacht hinein zu fahren. Auch materiell hatte die Seekrankheit ihre guten Seiten, die Küchen hatten sinnigerweise als Abendessen einen süßen, roten Brei gekocht, und als ich zum Essen in den Unterkunftsraum stieg – wo es fürchterlich war – konnte man dort stundenlang von dem guten Gericht essen, nach dem herzlich wenig Nachfrage war. Die Nacht war herrlich. Die Wellen hatten einen mächtigen Zug bekommen, im Mondlicht glitzernd kam die unaufhörliche Folge an das Schiff geprallt, am Himmel 118

leuchteten wie sonst die Sterne. Das Schiffsvolk ließ uns freier als sonst auch auf das oberste Vordeck. Abends sahen wir die verschiedenen Leuchtfeuer von Öland blitzen und strahlen, dann fuhren wir bald wieder weit von jeder Küste entfernt südwärts. Etwa um 4 sollte man die Leuchtfeuer von Bornholm gesehen haben, doch da schlief ich schon. Denn am nächsten Morgen wollte ich früh oben sein. (1. Oktober 1920) Und es gelang mir auch einen Platz ganz vorn zu erwischen, wo ich niemand vor mir hatte und niemand zu sehen brauchte. Bald füllte sich das Deck unheimlich, denn keiner wollte unten bleiben, zumal es wieder ganz ruhig geworden war. Zuerst fuhren wir lange Zeit, ohne irgendetwas anderes zu sehen, als die vorhergehenden Tage, Meer, Möwen und gelegentlich Segelschiffe. Dann konnten wir allmählich feststellen, daß ein schmaler, heller Streifen 119

am südlichen Horizont immer deutlicher wurde. Zuerst glaubten wir – zu mir hatte sich Schlüter gesellt, so hatte ich wenigstens einen wohltuenden Nachbar – es seien Wolken; dann nahm der Streifen Gestalt von Bergen an, was mich überraschte, denn ich hätte an der pommerschen Küste keine Höhen erwartet. Doch bald war kein Zweifel mehr möglich, es waren keine Wolken, es war Deutschland. Vor der Küste sah man dann zahllose weiße Punkte, beim Näherkommen erkannte man sie als Segel der Fischerboote. Die Berge wurden deutlicher, man erkannte Kirchtürme, dann auch Ortschaften. Wir fuhren durch die Fischerflotte, mit Winken begrüßt. Die Ostseebäder – Swinemünde, Heringsdorf, Misdroy (vergleich „Plötz“ für huarta!) u.s.w. lagen klar zu erkennen da. Da wurde mit einem Male das Gefühlte und Geschaute zum greifen klar und bewußt: Ein kleines Torpedoboot kam von links, fuhr in gewaltvollem Bogen um uns herum, und 120

von dem niedrigen Schiffe winkten alle zu uns herauf: wir waren wieder in Deutschland, sogar einem Deutschland, das wider unsere Befürchtungen noch Torpedoboote mit der klaren, schönen Kriegsflagge hatte. Etwa um 11 legten wir in Swinemünde an. Ein Arzt kam an Bord und besichtigte flüchtig Schiff und Leute. [Bezeichnend für die Denkweise der alten Gefangenen war, daß sofort jemand wußte, wieviel tausend Mark – 1 Dollar damals = 60.- M – der Arzt für diese Besichtigung bekam, und daß dieser Unsinn sofort im ganzen Schiff verbreitet wurde, in dem Sinne: Seht Ihr, so ist das kapitalistische – militaristische Deutschland]. Um 12 fuhren 34

wir weiter, erst durch den Kaiserkanal, dann über das Haff, dann durch die Oder bis Stettin. Noch in Swinemünde waren die Leute ganz die phlegmatischen, abgebrühten Gefangenen, Winken und Grüßen von anderen Schiffen oder von Lande wurde kaum beachtet. Doch als wir von nun an ständig von neuem begrüßt wurden, von allen Schiffen, 121

denen wir begegneten, und von allen, die uns vom Ufer aus sahen, da taute doch allmählich einer nach dem anderen auf, und als wir in Stettin landeten, waren alle in froher Stimmung. Die Fahrt war herrlich. Ich hatte einen Platz auf einer Rahe (?) erwischt, von wo ich nach allen Seiten freien Ausblick hatte. Die Sonne schien warm, und man genoß immer mehr das Gefühl, nun in Sicherheit zu sein. Geradezu märchenhaft war die Fahrt über das Haff. Alles Nahe und Ferne war so hell und so zart und so fein in der Farbe, daß alles in ganz unirdischem Glanze leuchtete. Dann in der Odermündung wurde es wieder lebhafter. Wir kamen durch Vororte und den Hafen. Überall frohe Begrüßungen von den Gästen der Gartenwirtschaften, von den Anwohnern, von allen, die uns sahen. Der Hafen mit manchen Zeugen tüchtiger Arbeit (Vulkan?) und mit dem eindrucksvoll gelegenen Regierungsgebäude. 122

Dann kam bald die Landungsstelle, es mag zwischen 5 und 6 gewesen sein, daß der Dampfer anlegte: Empfangsreden von einem hohen Podium, eine Reichswehrkapelle spielt, ein Photograph macht Aufnahmen, die Landungsbrücken werden ausgeschoben, und begrüßt von Blumen spendenden, festlich gekleideten Damen betreten wir den deutschen Boden. 123

In Stettin an der Landungsstelle viele Angehörige von Kameraden, die alle nach Nachricht von den ihrigen fragen. Dann auch ein Leidensgenosse, der 2-3 Wochen vor uns gelandet ist, Pasewald, Lehrer in Stettin, angezogen, wie das in Deutschland so üblich ist. Wir staunen, ob des ungewohnten Anblicks, und sind überrascht, daß einer der Unseren so elegant aussehen kann. Ein kurzer Fußmarsch zum Güterbahnhof, dort stundenlang Verpflegung, Verteilung von Postkarten, Äpfeln, Zigarren, Zeitschriften. Telegramm nach Hause. Hier auch die unerwünschte Mitteilung, daß es für 3-4 Tage in ein Durchgangslager geht, und zwar Hammerstein an der polnischen Grenze. 2. Okt.

Abds im Dunkeln in den Zug und nach etwa 6 stündiger Fahrt früh am Morgen in Hammerstein. Hier Empfang durch den Lagerdirektor; alles geht schnell und ordentlich. 124

Antreten zu vieren. Dann die Aufforderung: Sind Offiziere beim Transport, dann vortreten und an den rechten Flügel! Zu allgemeinem Erstaunen tritt unser bescheidenes Häuflein vor und folgt der Weisung. Den Tag über reger Betrieb: Einteilen, Ausfüllen von Listen, Wäsche empfangen, Baden und entlausen. Telegramm nach Hause. Am 3. Okt. (Sonntag) die Schreckenskunde, daß 14 Tage Quarantaine über uns verhängt sind, da Pocken im Lager.

35

Einkäufe, Lesen, Schreiben. Am 7. eingekleidet. Am 8. (Freitag) zum 1. Mal frei in die Stadt Hammerstein gelassen. Am 9. Sonnabend früh abgefahren. Mittags 2 – 3 Stunden in Kranz. Abds durch Berlin. Sonntag früh ½4 in Bielefeld.

Kopie der letzten Seite

36

Nachwort Berlin 9. Januar 1923. Die 1. Niederschrift meiner sibirischen Erinnerungen ist beendet. Ich habe das in mehr als 2 Jahren Niedergeschriebene jetzt noch einmal durchgesehen und will, ehe ich die 6 Hefte denen, die sie lesen wollen, in die Hand gebe, noch einige Bemerkungen machen, die zum richtigen Verständnis und zur richtigen Einschätzung beitragen können. Alles ist aus dem Gedächtnis geschrieben, nur für Einzelheiten der Winterschlacht im Februar 15 und der Beschreibung von Petersburg habe ich deutsche Karten zur Unterstützung benutzt. So mögen sich manche Ungenauigkeiten und Fehler eingeschlichen haben, doch war ja wissenschaftliche Genauigkeit nicht von mir beabsichtigt. Dann ist mir aufgefallen, daß die einzelnen Abschnitte sehr ungleichwertig sind. Tagesstimmungen, auch gelegentliche Unlust, das immer mehr in die Länge wachsende Werk zu vollenden, machen sich mitunter bemerkbar. Manches ist kleinlich, vielleicht sogar bewußt einseitig oder ungerecht geschrieben, doch daran ist nachträglich nichts zu ändern, jedenfalls ist alles nach dem jeweils besten Wissen und Vermögen geschrieben, und auch gerade in seiner Unvollkommenheit ein Zeugnis. Am meisten bedaure ich, daß die ungeheure Fülle von Erlebnissen und die Schwierigkeit, die unendlich vielen Einzelheiten, die dem Außenstehenden so schwer verständlich zu machen sind, mir manchmal die größeren Zusammenhänge verwischt hat, und daß ich jetzt den Eindruck habe, daß ich meist nur Einzelbilder, nicht den ganzen Komplex des Gefangenenlebens und seiner verschiedenen Abschnitte habe darstellen können. Doch das hängt auch damit zusammen, daß die ganze Gefangenschaft ja nicht ein Erlebnis ist, das man von gesicherter Warte aus unbeteiligt an sich vorüberziehen läßt. Die Bewertung und Deutung des Geschehenen, Beobachteten und Erlebten schwankt und macht Wandlungen durch. Ganz besonders gilt dies von der Beurteilung Rußlands und seiner Bewohner, die wir Gefangenen anfangs fast ausschließlich von hohem und, wie uns dünkte, unfehlbarem Standpunkte betrachteten, bis wir allmählich, der eine mehr, der andere weniger, erkannten, daß wir es hier mit einer Welt zu tun hatten (und noch haben), die uns zwar fremd und meist unfaßlich ist, die uns aber gelehrt hat, über vieles nachzudenken und umzulernen. Ich hoffe, daß im Getriebe der Tagesarbeit der kommenden Jahre mir Zeit genug verbleibt, einzelne besonders wichtige Kapitel des Gefangenenlebens noch eingehend und zusammenfassend zu behandeln. Ich schließe meine Niederschrift einstweilen mit der Bitte an alle Leser, mich möglichst rückhaltslos ihre Fragen und Urteile wissen zu lassen und mir dadurch die geplanten Ergänzungen zu erleichtern. Hermann Petri

37

6 Bände der Erinnerungen und ein Feldpostbrief von Lt. Stendel

38

Die Ostfront im Februar 1915

39

40

41

42

43