Erinnerungen aus meiner Kriegsgefangenschaft 5. Heft

Rettiche oder Birkenbesen feilgeboten, das einzige, das zum Handeln erlaubt war. ..... Gelegenheit hatten, alle konstruktiven Einzelheiten kennen zu lernen.
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Erinnerungen aus meiner Kriegsgefangenschaft 5. Heft

Hermann Petri

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1./ Krasnojarsk - 7.VIII.20

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2./ Krasnojarsk – Omsk 7.-10-VIII.20

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3./ Im Gefangenenlager Omsk 10.-29.VIII.20

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4./ Zur Abfahrt aus Omsk angetreten 29.8.20

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Kopie der 1. Seite

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12.10.22.1

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Krasnojarsk 24.6. - 7.8.1920

Ein äußerst schwieriges Problem war die Ernährungsfrage. Das Bißchen, das die Russen auf Karte lieferten – täglich 500 gr Brot und eine ganz bescheidene Mahlzeit – reichte natürlich bei weitem nicht aus. Und mehr konnte man auf erlaubten Wege nicht bekommen. Der ungeheure Marktplatz, auf dem früher, sogar noch Ostern1920, Tausende von Bauern ihre Erzeugnisse verkauft hatten, war so gut wie leer, da der freie Handel „als Spekulation“ streng verboten war. Man sah etwa 10-12 Wagen oder Stände, auf denen Radieschen und Rettiche oder Birkenbesen feilgeboten, das einzige, das zum Handeln erlaubt war. Daß man mit dem Gelieferten nicht auskam, war unbestrittene Tatsache. Sogar Kommunisten gaben das zu (z.B. Wülfing). Es blieb also nichts weiter übrig, als sich „unter der Hand“ etwas dazu zu schaffen, und damit setzte man sich – zum mindestens grundsätzlich – ins Unrecht, wenn es natürlich praktisch unmöglich war, jeden zu bestrafen. Hierin sehe ich mit die teuflischte Seite des Bolschewismus, daß wohl ausnamslos jeder gezwungen wird, die bestehenden Gesetze zu verletzen. So kann jeden Augenblick über ihn das Verhängnis 2

einbrechen, und sogar mit dem Schein des Rechtes. Diese Möglichkeit, die praktisch natürlich nur in einer geringen Anzahl von Fällen ausgenutzt wird, ist eine quälende Last und ständige Gefahr für jeden Russen. 13.10.22

Die Möglichkeiten, sich einen Zuschuß zu der behördlich festgesetzten Lebensmittelmenge zu verschaffen, waren sehr vielseitig, namentlich für die Russen. Die meisten der ortsansässigen Einwohner hatten noch etwas Landwirtschaft, zum mindesten eine Kuh [jeden Morgen zog ein Kuhhirt tutend durch die Straßen und sammelte das ganze Rindvieh der Stadt und trieb die nach tausenden zählenden Herde aus und abends wieder zurück. Sein Tuten ist mir unvergeßlich, da es uns oft aus dem Schlafe weckte. Diese Einrichtung des Gemeindehirten und der Gemeindeweide ist in Sibirien wohl überall verbreitet, jedenfalls in Kansk und unserem Flößerdorf Chomutowo lernten wir sie auch kennen]. 3

Auffallenderweise kannten die Russen gar keinen Gartenbau. Fast bei jedem Hause war ein geräumiger Hof, der Platz genug für einen kleinen Gemüsegarten gewährt hätte, doch aus Gedankenlosigkeit oder Dummheit ließen die Russen diese Möglichkeit ungenutzt. Nur in einem Hof fand ich einen richtigen Gemüsegarten, was mir so auffiel, daß ich mich nach dieser seltsamen Erscheinung erkundigte und die Erklärung bekam, in dem Hause hätten Kriegsgefangene gearbeitet, und die hätten den Leuten den Garten eingerichtet. In Tjumén, (auf unserer Heimfahrt im September) wo der Handel mit Lebensmitteln noch erlaubt war, sahen wir, wie die Russischen Frauen die Bauernwagen dicht umdrängten und sich gegenseitig fast umbrachten, nur um Zwiebeln zu bekommen. Und dabei hätten in der verhältnismäßig kleinen und weitläufig angelegten Stadt wohl alle die Möglichkeit gehabt, sich ihr Gemüse selbst zu ziehen. Aber das hatten wir schon in Tomsk im Sommer 1915 beobachten können, daß der Russe lieber einen langen Weg zum „Basar“ (Markt) zurücklegt, um dort zu feilschen und zu kaufen und zu schwatzen, als daß er sich die 4

Mühe macht, einen Garten zu bearbeiten. So kommt es, daß die Marktplätze selbst in kleinen Städten eine riesenhafte Ausdehnung haben, und daß die Markttage (in Kansk Dienstag, Donnerstag und Sonnabend) eine große Rolle spielen. [Kansk z.B. mit seinen 810-15000 Einwohnern hat einen Marktplatz von der Größe des Kesselbrinks in Bielefeld, vielleicht 200 m breit und 500 m lang.] Markt und Gemüsebau kamen also in Krasnojarsk nicht mehr für die Ernährung in Frage, doch sehr verbreitet war das Hamstern. In 1 Links das Datum, an dem der Text geschrieben wurde, rechts die Seitenzahl des Originals

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Gesamtrußland verhält sich die städtische Bevölkerung zur ländlichen etwa wie 1 : 9, also durchschnittlich 9 Bauern haben einen Städter mit durch zu füttern, und das macht die Aufgabe natürlich wesentlich einfacher als bei uns in Deutschland. [Und trotzdem ist dies Land seit 1917 so herunter gewirtschaftet!] Infolgedessen hatte fast jeder Russe in der Stadt irgendwelche Quellen auf dem Lande, Verwandte oder Bekannte, bei denen er sich herausfuttern konnte. Auch einen Handel gab es, doch galt es hierbei vorsichtig zu sein, damit man nicht von der Miliz gefaßt wurde. Natürlich war dies ein Tauschhandel, denn 5

das Sowjetgeld war so gut wie wertlos. So sah man viele Russen mit alten Sachen weit in die Steppe hinaus wandern und dort ihren Kram – Wäsche, Kleider, Schuhe, Haushaltsgegenstände usw. – ausbreiten, und stundenlang darauf warten, daß einer der vorbeifahrenden Bauern ihnen etwas abnahm und dafür Mehl oder andere Lebensmittel gab. Andere wieder hatten gute Beziehungen zu irgendwelchen Schiebern, Magazinverwaltern usw. und konnten sich so ganz gut ernähren. Für mich löste sich die Verpflegungsschwierigkeit erträglich. Zunächst fand ich im Kriegsgefangenenlager einen Mann, der geröstetes Brot verkaufte. Er war Sanitäter, und kam so wohl in den Besitz des Brotes, das Kranke nicht aßen. Den Luxus, hygienische Bedenken zu haben, hatte man sich längst abgewöhnt. Dann brachte mich Müller, der solche Gelegenheiten sich nie entgehen ließ, auf den guten Gedanken, zu versuchen, das Mehl für den Monat Juni noch nachträglich zu bekommen, da die Abschnitte dafür ja noch an unserer Verpflegungskarte daran waren. 6

Da wir noch im Juni (allerdings erst am 24.) nach Kr. gekommen waren, aber erst am 1. Juli unsere Verpflegungskarten bekommen hatten, machte ich nun Ansprüche auf das Junimehl, und nach vielen vergeblichen Wegen half uns das Entgegenkommen des „Quartals“ vorsitzenden, des schon genannten rührigen und hilfsbereiten Juden, der uns bescheinigte, daß uns nur noch für 1 Monat das Mehl zustehe, und auf diese Bescheinigung bekamen wir 3x25 Pfund Mehl, die eine recht gute Reserve bildeten. Unser Stubengenosse Martin hatte sich zunächst heftig gegen diese „Schiebung“ gesträubt, doch als er nachher seinen Anteil bekam, war er ganz einverstanden. Das Mehl verbackte uns dann je nach Bedarf unsere Hauswirtin, sie buk mehrmals 3 Brote, von denen wir ihr jedes mal 1 gaben. Eine andere Unterstützung war, daß Müller Mitte Juli abdampfte, und mir seine Brot- und Essenskarte hinterließ, so konnte ich bis Ende Juli täglich die doppelte Portion bekommen. Der Versuch, mir auf seine Verpflegungskarte auch für den August eine 2. Essens- und Brotkarte ausstellen zu lasse, scheiterte daran, daß unsere Wirtsleute aus 7

berechtigter Angst vor den Behörden seinen Abgang meldeten und seine Karte ablieferten. So war ich für einige Wochen gesichert, doch schon im August gingen die Vorräte rasch zur Neige, ein Grund mehr, sobald als möglich dies unwirtliche Land zu verlassen. An Gegenständen zum Tausch besaß ich nur wenig, und das wollte ich für Fälle größerer Not aufheben. In Krasnojarsk war ich in der eigentümlichen Lage, daß ich mein Geld nicht los wurde. Mein Gehalt betrug 1800,- Rubel im Monat, 300,- Rubel kostete das Mittagessen 75,- R. das Brot, etwa 50,- die anderen Sachen, die es auf Karte gab, den Rest konnte ich nicht loswerden, da niemand etwas für Sowjetrubel gab. (Nur Kaffee, die Tasse 1,- R. gab es, auch konnte man beim Friseur und inder Apotheke damit bezahlen, da beides staatliche Betriebe waren) Sehr wertvoll waren dagegen das Romanowgeld (Zarenrubel) Gold- und Silberrubel. 8

Zu erwähnen ist schließlich noch der mancherlei Verkehr, den ich in Krasnojarsk hatte, und der als eine angenehme Abwechslung nach 5½ Jahren in den Gefangenenlagern besonders geschätzt wurde. Zunächst wären da meine Stubengenossen zu nennen. Der eine, der österreichische Oberleutnant Martin, verließ uns allerdings schon nach etwa einer 4

Woche. Es stellte sich heraus, daß er, der kein Wort Russisch konnte, tatsächlich nicht zu verwenden war, und nachdem die Russen ihn zunächst für böswillig gehalten, sich dann aber von seiner Ungeeignetheit überzeugt hatten, gelang es nach manchen Wegen zu allen möglichen Behörden – er mußte Invalide und arbeitsuntauglich geschrieben werden – ihn loszueisen, und ihm die Erlaubnis zu erwirken, in das Gefangenenlager Krasnojarsk zu ziehen. Er war sehr viel älter als wir, Familienvater, umständlich, verwöhnt, etwas brummig und knurrig, doch kamen wir gut mit ihm aus, da er ein anständiger Charakter war. Paul Arno Müller, in meinem Alter, Architekt aus Dresden, war eine ganz andere Erscheinung. 9

Leicht verärgert und voreilig in seinem Urteil, gehörte er zu einer Gruppe von Nörglern, die sich im Lager keiner großen Beliebtheit erfreuten. Dazu kam, daß er der getreue Gefolgsmann einiger sehr expressionistischer Maler wurde, die mehr oder weniger beabsichtigt, die große Masse der „Philister“ vor den Kopf stießen. Diese Rolle stand Müller, der ausgesprochen sächsisch sprach und auch sonst viele der unangenehmen Eigenschaften der Sachsen hatte, sehr schlecht, jedenfalls habe ich ihn immer mehr für einen Philister als für einen genialen Menschen gehalten, trotz seiner radikalen Anschauungen und Äußerungen in Kunst und Politik. Schließlich hatte er sich im Lager noch viele Feinde gemacht, dadurch daß er zu dem kleinen Häuflein derer gehörte, die ziemlich offen zum Bolschewismus neigten, ohne offen in die Rote Armee oder die kommunistische Partei einzutreten. Das war so in der Zeit gewesen, in der wir gemeinsam die Entwürfe für das Kommunistische Dorf gemacht hatten (März 1920), und immer 10

hatte es mache erregte Auseinandersetzungen gegeben, die ja bei unserer Arbeit infolge der mit ihr verbundenen Aussprache über das Wesen des Kommunismus leicht erklärlich waren. Besonders ich war einige male deutlich mit ihm aneinander geraten, da ich mich damals auch viel mit dem kommunistischen Programm beschäftigt hatte, das ich als Kompagniezeitungsverleser zu verdeutschen übernommen hatte, und da meine Abneigung gegen den Kommunismus wohl noch größer war als die der anderen. Seit jener Zeit (im März 1920) war ich mit Müller kaum zusammengekommen, da jeder seine eigenen Kreise hatte, und war daher nicht wenig überrascht, ihn jetzt als Stuben- und Arbeitsgenossen näher kennen zu lernen. Er hatte sich nämlich gründlich gemausert, und war zu einem so fanatischen Gegner des Bolschewismus geworden, daß in unseren Unterhaltungen über dieses Thema ich jetzt meist derjenige war, der, wenn auch nicht Parteinahme, so doch Verständnis für manche Erscheinungen des bolschewistischen Systems zeigte, das mir 11

von jeher äußerst unsympathisch, aber doch verständlich aus gewissen Bedingungen des Lebens, namentlich des russischen gewesen war. Trotz unserer häufig sehr voneinander abweichenden Standpunkten und sehr lebhaften Auseinandersetzungen kamen wir gut mit einander aus, und ich würde ihn gern einmal in Deutschland wiedersehen. Sehr viel Zeit brachte ich im Gefangenenlager zu, um den dort lebenden Rogge und Hitzig Gesellschaft zu leisten, eine Woche habe ich sogar draußen gewohnt und kam nur zum Dienst und Essen in die Stadt. Und schließlich fand sich auch in der Stadt selber schnell mancherlei Verkehr. Von Zeit zu Zeit suchte ich den einzigen von uns 8 Kanskern, auf, der außer Müller, Martin und mir in Krasnojarsk verblieben war. 14.10.22.

Dies war Oskar Leutner, der in Deutschland Ingenieur an einem Gaswerk war, und nun in Krasnojarsk auch ein Gaswerk in Betrieb bringen sollte. Natürlich gelang ihm dies nicht, da bald dies, bald jenes fehlte oder kaputt war. So kam es, daß er meist nichts zu tun 12

hatte. Er wohnte in einem der Häuser, die zu der Fabrik gehörten, am Nordende der Stadt, 5

unmittelbar unter der Hochebene, auf der zuerst der Friedhof, weiter zurück das Kriegsgefangenenlager lagen. Ich lernte Leutner erst in Krasnojarsk näher kennen und war gern mit ihm zusammen, da er ein recht verständiger Mann war. Durch ihn erfuhr ich allerlei über einen echt russischen Betrieb. Mit der geplanten Gasanstalt war im selben Gebäude eine Leimkocherei untergebracht. Beide Betriebe zusammen hatten folgende Arbeitskräfte: L. als Ingenieur, er hatte nichts zu tun; einen Polen als kaufmännischen Leiter, und einen Kriegsgefangenen (Barkhausen) (Student der Tierheilkunde aus Marburg) als Kutscher. Arbeiter waren nicht vorhanden, nach dem vor kurzem die letzte Arbeitsfrau weggelaufen war, um ihren Acker abzuernten. Die anderen hatten sich dünn gemacht, weil die dort von ihnen verlangte Arbeit sogar für Russen zu unappetitlich war. Man wollte Leim kochen, also hatte der Gouv. Rat für Volkswirtschaft angeordnet, 13

daß auf dem Schlachthof Knochen für die Leimkocherei gesammelt wurden. In Ausführung dieses Befehles packte man auf dem Schlachthof Rinderschädel und Füße in Ermangelung anderer Stätten in ein Wohnhaus, mehrere Stuben voll. Der Kutscher der Leimkocherei kommt nach einiger Zeit mit seinem Wagen und einigen damals noch vorhandenen Arbeitern, um die Knochen abzuholen. Der Anblick und der Geruch, der sich ihm dort darbietet, nachdem die Schädel und Haxen wochenlang in der fast tropischen Mittelsibirischen Hitze gelegen hatten, war nicht zu beschreiben. Mit Heroenmut schafft man trotzdem das Zeug in die Leimkocherei und breitet es aus. Nun sollen die Knochen zerkleinert werden. Es stellt sich heraus, daß keinerlei Vorrichtungen hierzu vorhanden sind. Eine Anfrage beim Gouv. Rat für Volkswirtschaft, wo man Maschinen zum Zerkleinern bekomme, wird mit dem weisen Ratschlag „Nehmt doch Beile!“ beantwortet. Inzwischen ist den Leuten und der ganzen Nachbarschaft die Sache zu dumm und der Gestank zu groß geworden, und eines schönen Tages (oder Nachts) wirft man das ganze Zeug in den Jenissei 14

dabei steht jeden Tag in der Zeitung, wir stehen „am Vorabend“ einer Choleraepidemie, beachtet größte Reinlichkeit! Wochen- wenn nicht monatelang haben haben eine Reihe von Leuten eine „produktive“ Arbeit geleistet. Die Kehrseite: Im Kriegsgefangenenlager Krasnojarskt bestand eine blühende Knopffabrik. Sie mußte ihr Arbeiten einstellen, weil sie auf ihre dringenden Bitten um Lieferung von Rinderhörnern stets die Antwort bekam „Wir können keine Hörner abgeben, da wir aus den Schädeln Leim kochen wollen“! So wurden „zwar“ keine Knöpfe gedreht, „dafür“ aber auch kein Leim gekocht. Ich habe in der kurzen Zeit, in der ich „freier Bürger“ war, verhältnismäßig wenig Betriebe kennen gelernt. Doch wo man hinhörte, bekam man ähnliche Schilderungen. Ausnahmen bildeten Betriebe, die vorwiegend mit Kriegsgefangenen arbeiteten, und die sich von dem Dreinreden der bürokratischen Genossen freihalten konnten. Geschafft wurde natürlich auch in Betrieben mit einem Arbeitsvorgang, z.B. in den Schustereien. Verhältnismäßig gut arbeitete auch die Eisenbahn. Die Eisenbahner waren überhaupt eine 15

große Macht innerhalb des Staates, an den sich kein Gewalthaber herantraute. Schon 1905 beim Rückzug des russischen Heeres durch Sibirien, hatten die Eisenbahner bei der allgemeinen Revolte eine Art revolutionärer Regierung gebildet, und dadurch eine gewisse Ordnung und ein Intaktbleiben des Verkehrs durchführen können, und waren für ihre revolutionären Betätigung nicht zur Verantwortung gezogen worden, als die zaristische Regierung wieder fest im Sattel saß. Die Revolution von 1917 war auch nur möglich, weil die Eisenbahner sie unterstützten, und für Aufrechterhaltung der Ordnung sorgten. Xxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxx xxxx xxxxxxxx xxxxxx das Allrussische ausführende Komitee der Eisenbahner war ein verhältnismäßig wenig genannter, aber maßgebender Faktor. Auch im Sommer 1920, als ich in Krasnojarsk war, machten die Kommunisten einen Versuch, innerhalb der Eisenbahnerorganisationen zu Einfluß zu gelangen, ohne daß sie 6

Erfolg gehabt hätten, denn vor den Eisenbahnern hörte der Machtbereich der Tscheka auf. 16

Selbstverständlich waren die Eisenbahner durchaus regierungstreu, schon ihre eigene, revolutionäre Vergangenheit sprach ja dafür, doch wehrten sie sich mit Erfolg und mit Recht gegen ein Dreinreden, wie es sich die kommunistische Partei auf allen Gebieten, und zwar aus politischen, nicht aus fachlichen Gründen, erlauben konnte. Die kommunistische Partei hat nämlich so gut wie alle wichtigen Posten in der Hand. So war der Leiter des Gouvernementsrates für die Volkswirtschaft, wohl der wichtigsten Behörde, auch ein von Petersburg kommandierter Parteimann [im bolschewistischen Rußland wird viel das Wort xxxxxxxxxxxxxxxx, partinu gebraucht, ein Adjektiv das man mit „Parteiangehöriger“ übersetzen kann, wobei die stillschweigende Voraussetzung ist, daß es sich um einen Kommunisten handelt, denn andere Parteien gibt es nicht.] Von der Sache hatte er keine Ahnung, die Arbeit verrichteten ein Krasnojarsker Chemiker, ein feiner kluger Mann, einer der wenigen Gebildeten und brauchbaren Russen, die ich kennen gelernt habe. Bei ihm bekam man klare Auskünfte und zuverlässige Angaben. Dafür gehörte er auch zu der verrotteten Bourgeoisie. 17 15.10.22

Doch nun wieder zu meinem Verkehr. Trotz allem Schlimmen, das der Krasnojarsker Zeit anhaftete, [sehr kümmerliche Lebensbedingungen mit der sicheren Aussicht auf ständige Verschlechterung, und die Unstetigkeit, die Absicht, sobald wie möglich weiter nach Westen vorzubringen, die mich mit vollem Bewußtsein und mit Absicht nicht warm werden ließ] hatte diese kurze Epoche meines Gefangenendaseins auch ihre Reize, die ich dankbar empfand. Zunächst, daß man endlich aus dem aufreibenden Lagerleben heraus war, und als Mensch wie andere Menschen auch, und sei es noch so kümmerlich, lebte und arbeitete. Und dann, daß man in seinen Umgang nicht auf die Kriegsgefangenen angewiesen war, die je länger, desto schlimmer eine Klasse für sich bildeten mit manchen krankhaften Eigentümlichkeiten. So benutzte ich gern die Gelegenheit, in Krasnojarsk auch in 2 Familien zu verkehren. Da war einmal der Vetter eines Kansker Kameraden, ein Herr Cibis, Lehrer 18

aus Oberschlesien, der das Glück gehabt hatte, schon früh aus dem Gefangenenlager auf Arbeit kommandiert zu werden (da er nicht Offizier war), und eine recht gute Stelle zu erwischen, in der Verwaltung einer Lederfabrik. Hier stand er sich recht gut und konnte sich bald ein bürgerliches Leben einrichten. Er heiratete dann eine deutsch Russin, die im Hause eines reichen jüdischen Kaufmanns als Erzieherin lebte. In dessen Hause fand auch das Ehepaar C. ein bescheidenes Unterkommen, nach europäischen Begriffen klein und eng und primitiv, für einen der über 5 Jahre im Gefangenenlager gelebt hat, märchenhaft und überwältigend wohnlich und gemütlich. Der Jude war so gestellt, daß er den beiden vollkommen umsonst Wohnung und eine anständige Verpflegung gewähren konnte. Zwar hatten auch die Bolschewiken bei ihm Hausdurchsuchung abgehalten und requiriert, doch er hatte, als alter Praktiker in russischen Dingen, dem Requisitionskommando das Maul gestopft, und war so durch ein für ihn kleines Opfer glimpflich davon gekommen, und fand Mittel und Wege, ein nach unseren Begriffen hochanständiges Leben weiterzuführen. 19

Eines morgens war ich dort im Hause, kam durch die Küche, und sah, daß dort ein großes Kuchenblech mit kleinen runden Törtchen stand, die gerade mit Erdbeeren belegt wurden. Und das in einer Zeit, wo ich um ein Stück trockenes Brot zu bekommen, keine Anstrengung gescheut hätte. Einen gewissen Vorteil von diesem Überfluß genoß ich übrigens auch, da ich, wenn ich abds bei C. war, auch außer Tee mit Zucker immer noch irgendwelches anständiges Gebäck bekam. 7

Ein freies und sorgenloses Beisammensein war es natürlich nicht, denn das Leben aller Gefangenen stand unter dem Druck der Ungewißheit, wann geht es nach Hause, und gerade in jenen Wochen war es besonders aufregend, da man immer mehr dahinter kam, daß die russische Regierung grundsätzlich den Abtransport förderte - in zögernder Ausführung des im Frühjahr mit Deutschland geschlossenen Vertrages - daß aber lokale Widerstände 20

- sibirische? Krasnojarsker ? Internationalistischer ? - mit Erfolg den Abtransport aus Sibirien hintertrieben. Für die Familie Cibis lag die Sache insofern schlimmer, als sie doch eine Menge wertvoller Wäsche und Kleider und alles mögliche Gepäck hatten, das sie natürlich nach Deutschland mitnehmen wollten und mußten, für das aber in einem offiziellen Austauschtransport kein Platz war, und das sie auf keinen Fall auf eine Flucht mitnehmen konnten. Eine unangenehme Beigabe hatte der Verkehr mit ihnen, ich traf dort unseren Kansker Tischgenossen Wülfing wieder, der in Krasnojarsk bei der roten Armee stand, und bei dem Juden einquartiert war. Ich hatte mich seinerzeit zu sehr über seinen Eintritt in die Rote Armee aus Gründen, die ich nicht anerkennen konnte, geärgert, als daß ich jetzt unbefangen und frei mit ihm hätte verkehren können und sollen. So mag denn auch unsere Unterhaltung frostig genug ausgefallen sein. Er führte ein für unsere Verhältnisse glänzendes Leben, da die Rotarmisten eine recht anständige Verpflegung und ein gutes 21

Gehalt bekamen, obgleich auch ihnen manches beschnitten war, wie Wülfing erzählte. Dabei hörte ich von Herrn Cibis einen recht sympathischen Zug, der mir an W. gefiel. Man hatte ihm die Wache bei der Tscheka (außerordentliche Mordkommission) übertragen wollen, da man für solche Posten Ausländer nahm. Da hatte Wülfing den Mut besessen, sich zu weigern, mit der Begründung, er sei in die rote Armee eingetreten, um für den Kommunismus zu kämpfen, und nicht um Henker zu spielen. Und diese Weigerung war ihm merkwürdigerweise nicht schlecht bekommen, vielleicht wollte man sich die wenigen deutschen Offiziere, die in die rote Armee eingetreten sind – soviel ich weiß, waren es in ganz Rußland 3 – erhalten. Man gab ihm einen Posten bei der Verwaltungsabteilung der internationalen Brigade, wo er so etwas wie Feldwebel oder Zahlmeister war, und im übrigen gut lebte, ohne daß ich gehört hätte, 22

daß er etwas für die Ausbreitung des Kommunismus mit getan hätte. Das lag seiner Natur nicht, die es nicht vertragen konnte, unter den selben Lebensbedingungen, wie seine Umgebung, zu leben. Außerdem hatte ich bei der Wohnungssuche zufällig noch ein 2. Ehepaar kennen gelernt, bei dem ich dann oft und gern zu Gast war. Es waren Zivilgefangene, Polen österreichischer Nationalität. Er war Elektrotechniker, und hatte einen feinen Posten, ich glaube in Moskau, gehabt. Dann waren sie bei Kriegsbeginn interniert, hatten die Moskauer Deutschenprogrome (Sommer 1915 ?), denen die Polizei 3 tagelang untätig zugesehen hatte, miterlebt, und hatten eine Art von Freiheit auch erst nach der Revolution erlangt. Die letzten Jahre hatten sie in Perm – zeitweilig unter englischer Besatzung recht gut – gelebt, und von dort beim Rückzug der Koltschak Truppen versucht, über den Ural und durch ganz Sibirien nach Wladiwostok zu kommen. Nach Monate langem herumliegen auf der gänzlich überfüllten und verstopften Bahn waren sie dann im Januar 1920 in Krasnojarsk gelandet, 23

wo sie primitiv in einem Zimmer hausten. Immerhin hatten sie noch allerlei wertvolle Gegenstände aus besserer Zeit, durch deren Eintausch sie sich jetzt das Leben ermöglichten, und so konnte man auch bei ihnen Tee vom weiß gedeckten Tisch trinken und meist noch etwas dazu zu essen bekommen. Er arbeitete auf dem Gouvernementsamt zur Beschaffung von Heizstoffen, [Gubtop] (vergl. Heft 4 Seite 11/12) sie war leidend, und sah mit großer 8

Furcht dem kommenden Winter entgegen, der für sie wie den meisten Krasnojarskern infolge des fast vollständigen Fehlens von Brennholz ein eisiges Gespenst war. Die Furcht vor Kälte und Krankheit machten sie schrecklich aufgeregt, und alle Sensationen und Parolen über Abtransport wurden eingehend bei ihr besprochen, ich mußte ihr alles berichten, was ich erfuhr. Die Leute waren tatsächlich übel dran, denn wenn sie auch Papiere hatten, daß sie ehemalige österreichische Untertanen waren, so mußten sie doch damit rechnen, als Polen behandelt zu werden, und niemand war in Sowjetrußland so 24

verhaßt und so entrechtet wie die Polen. Er (Cljarniewsky) war ein interessanter und gescheiter Mann, der viel aus seinem Betriebe und aus seinen früheren Erlebnissen in Rußland zu erzählen wußte. Er wägte nüchtern ab, was er sah und hörte, und deshalb war mir sein Urteil über das, was um uns vorging, immer sehr wertvoll. So ganz ging er dabei nie aus sich heraus, und das mag mit seiner unangenehmen Stellung als Pole gelegen haben. Die Unwirtschaftlichkeit der Sowjetwirtschaft wußte er mit vielen Beispielen zu erläutern, aber es war keine gehässige Kritik, sondern er beschäftigte sich eingehend mit dem Kommunismus, studierte wissenschaftliche russische und englische Werke darüber, und wußte allerhand über das wirtschaftliche Geschehen auf dem Erdball zu erzählen. Er vertrat die Ansicht, daß nach einigen hundert Jahren der Kommunismus sich durchsetzen würde, jetzt aber noch nicht. Gern hätte ich mich mit diesen Fragen unter seiner Anleitung eingehender beschäftigt, doch schon vom 1. Tage an war es ja mein Bestreben gewesen, in Krasnojarsk auf keinen Fall Wurzeln zu schlagen. Auf jeden Fall war ich beiden dankbar, 25

daß sie mich jederzeit gastlich bei sich aufnahmen, die übliche Besuchszeitzeit im Juli war nach 10 Uhr abends, weil es dann anfing, erträglich zu werden. Die Unterhaltung war oft recht schwierig, und wurde bald russisch, bald deutsch geführt. Gern wüßte ich, was aus ihnen geworden ist, habe bis jetzt aber noch nichts feststellen können. Noch ein kurzes Wort über meine Hausgenossen. Der Hausherr, Grigorieff, war der typische kleine Beamte, jetzt Sekretär auf einem Finanzamt. Ich sah ihn verhältnismäßig wenig, da er bald verschwand und aufs Land ging, um sich Holz für den Winter zu besorgen. Auch das war typisch für die Unfähigkeit des bolschewistischen Systems, die einfachsten Lebensbedürfnisse der Einwohner zu befriedigen, daß es nicht möglich war, Holz zu bekommen. Dabei gingen die Wälder bis hart an die Stadt. Der Staat machte sich die Sache einfach, und überließ die Sorge für Brennholz (ebenso wie die für Ernährung und Kleidung) der Selbsthilfe. Unser Grigorieff, der mit über 50 Jahren sich diese Strapazen 26

gern erspart hätte, ließ sich vom Arzt krank schreiben und einen mehrwöchigen Erholungsurlaub verordnen, um mit Bekannten irgend wo draußen Holz zu fällen und dann nach Krasnojarsk zu flößen. Diese Methode war, abgesehen von den mit ihr verbundenen Unbequemlichkeiten, äußerst unfachlich, denn so schlugen das Holz nicht diejenigen, die was davon verstanden, und die nach Kleidung und Werkzeug darauf eingerichtet waren, sondern lauter Laien, und dazu in der denkbar ungeeignetsten Zeit, im Juli, wo man sich vor Mücken jeder Art im tropischen Urwald garnicht zu retten wußte, wie wir es von unserem Aufenthalt in Minimo im Juni 1918 nur zu gut kannten. Gr. entschwand also bald nach meinem Einzug, und ich erlebte seine Rückkehr nicht mehr. Er war im ganzen freundlich, aber sehr zurückhaltend. Gelegentlich in Gesprächen zeigte er, wie die meisten Russen, eine unglaubliche Kritiklosigkeit. Die Russen brachten das Gespräch mit Vorliebe auf politische Dinge, insbesondere auf die Entstehung des Krieges, und nichts war so dämlich und albern, 27

daß sie es nicht geglaubt hätten. Ihr letztes Argument, gegenüber dem alles Weitereden zwecklos war, war immer, das und das ist wahr „denn es hat so in der Zeitung gestanden!“ 9

Lord Northcliffe hat gute Arbeit getan. Eine andere Eigenheit der gebildeten und sogen. gebildeten Russen hatte ich oft zu beobachten, das war ihre m. Ansicht nach grundverkehrtes Verhalten dem Bolschewismus gegenüber. Sie schimpften maßlos, und waren sehr hart in der Kritik, was ja angesichts der ungeheuren Dummheiten und Gemeinheiten schließlich leicht und erklärlich war, aber sie legten selber die Hände in den Schoß und sorgten nicht dafür, daß es besser wurde. Ich will zugeben, daß die Bolschewiken mit großem Erfolg alles, was unter den nicht- Kommunisten tüchtig war, was Schneid und Initiativgeist besaß, umgebracht hatten, sodaß der Rest, der die (bis dahin) 2¾ Jahre ihrer Herrschaft überstanden hatte, nicht mehr viel taugte. Trotzdem war ich nach kurzer Zeit der Beobachtung bei einer grundsätzlichen Ablehnung dessen, was Bronstein (Trotzki) und Apfelbaum (Sinojew) als Kommunismus brachten, 28

zu der Überzeugung gekommen, daß es die Pflicht eines jeden Russen war, in dem nun tatsächlich bestehenden kommunistischen Staat nach Kräften mit Hand anzulegen, und zu versuchen, auf eine Besserung hin zu arbeiten. Denn auf den Klassen, die in Rußland vor der Revolution maßgebend waren, lastet der Vorwurf, daß sie weniger durch Dummheit und Unklarheit, als aus Eigennutz, Bestechlichkeit und Grausamkeit es haben dahin kommen lassen, daß die Bolschewiken seinerzeit als Befreier begrüßt wurden. Wobei allerdings wieder zu bedenken ist, daß von den alten herrschenden Klassen wohl kaum jemand die bolschewistische Herrschaft überlebt hat, außer ganz alten Leuten oder denjenigen, denen es glückte, ins Ausland zu fliehen. Und was ich jetzt in Sibirien als „Bourgeoisie“ kennen lernte, waren durchweg kleine Leute, die auch früher nichts zu sagen hatten. Mit Grigorieffs Frau kamen wir wenig zusammen. Sie brachte uns täglich mehrmals den Samowar. Dann wohnte noch ein „xxxxxxxxxxx“ im Hause, ein Wort, das sich 29

nicht gut übersetzen läßt, es ist das Femininum zu „Flüchtling“. Sie war eine junge Frau von etwa 20 Jahren, und stammte aus Perm, wo ihre Angehörigen noch lebten. Sie hatte den wohlklingenden Namen Antonina Maximowa, der für mich immer etwas von antiker Monumentalität hatte. Als ich sie kennen lernte, suchte ich etwas über ihre Personalien zu erforschen. Sie sagte mir, ihr Mann sei Offizier in der Koltschakarmee gewesen. Als ich fragte, wo er denn jetzt sei, sagte sie lachend „Das weiß ich nicht, vielleicht ist er tot“. (xxx xxxx, xxxxx xxxx xxxx). Sie hatte ihn seit einem Jahr nicht mehr gesehen, und nie gehört, was aus ihm geworden. Ich habe nie das Lachen los werden können, mit dem sie mir das erzählte. Es ist sicher furchtbar schwer, einem Menschenschlag, der uns so vollkommen unverständlich ist, wie die Russen, gerecht zu werden, und man soll sich vor leichtfertigen Vorurteilen hüten; trotzdem habe ich aus verschiedenen Äußerungen und Beobachtungen den Eindruck 30

gewonnen, daß die Beziehungen zwischen Mann und Frau, auch zwischen Eltern und Kindern in Rußland vielfach von einer erschreckenden Oberflächlichkeit sind. Ich will allerdings nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß auch meine Urteile und Beobachtungen sehr spärlich und oberflächlich sind, und daß ich klare, eindeutige und vorbehaltlose Urteile über den Russen und seine „Psyche“ lieber denen überlasse, die nie in Rußland waren. Antonina Maximowa wäre brennend gern nach Perm zu ihren Angehörigen zurückgekehrt, aber da ihr Mann Koltschakoffizier gewesen war, war natürlich nicht daran zu denken, daß sie Reisepapiere bekam, und zum Schieben oder Entfliehen war sie wohl zu dumm und zu bequem. Mit dem 3. Mitbewohner, dem ungarischen Schuster, kamen wir gut aus, er war ein ordentlicher und fleißiger Mann. 31

Mit unseren Kansker Kameraden standen wir die ganze Zeit über in Verbindung, da 10

auffallender Weise die Post ganz gut arbeitete. Anton berichtete getreulich, was in Kansk vor sich ging, und von Zeit zu Zeit hatte man auch Gelegenheit, Kansker zu sprechen, die nach Krasnojarsk kamen, oder auf der Durchreise hier notgedrungen Station machten. Eine große Freude war mir auch 1 oder 2x Briefe von Hause, die über Wladiwostok nach Kansk gelangt waren, nachgeschickt wurden, besonders erinnere ich mich an einen verhältnismäßig rasch beförderten von Ende März, der in seinen eingehenden Schilderungen mir und anderen, denen ich daraus vorlas, ein anschauliches Bild von dem Leben im Nachkriegsdeutschland gab. Nach diesen allgemeinen Ausführungen will ich noch der Zeit nach die wichtigsten Ereignisse des Krasnojarsker Aufenthaltes schildern. Am 24.5.20 waren wir gekommen, die erste Woche verstrich mit der Ordnung unserer äußeren Arbeits- und Lebensbedingungen. 32

Nachdem sie einigermaßen geordnet waren, fing ich zusammen mit P. G. Müller an, mich in der Stadt umzusehen, auch einiges zu skizzieren, um Einiges, was mir für die russische Bauweise besonders bezeichnend erschien, im Bild mit nach Deutschland nehmen zu können. Schon seit wir im Sommer 1919 Gelegenheit hatten, ab und zu aus dem Lager heraus und auf die Dörfer hinaus zukommen, hatte ich besondere Aufmerksamkeit auf die russische Blockbauweise und auf die Einrichtung des russischen Bauernhauses verwandt, und konnte meine Beobachtungen sehr schön ergänzen und vertiefen, als wir im Herbst 1919 zur Flößerei 14 Tage auf dem Dorf lebten, und durch Abreißen eines Hauses Gelegenheit hatten, alle konstruktiven Einzelheiten kennen zu lernen. Das von uns abgerissene Haus war dadurch besonders interessant, daß es noch vollkommen ohne Verwendung von Eisen gebaut war. Das einzige Metall, das sich am Hause fand, waren 2 eiserne Türangeln. 33

Meine so erworbenen Kenntnisse waren mir dann sehr wertvoll, als wir im März 1920 die Entwürfe für die kommunistischen Siedlungen machten, und entsprechend unseren Anschauungen über bauliche Gestaltung bestrebt waren, von den guten und bewährten landesüblichen Bauwesen aus zu gehen und sie sinngemäß anzuwenden und zu entwickeln. In Krasnojarsk habe ich dann eifrig ein bautechnisches Handbuch mit sehr vielen Einzeichnungen studiert und mir vieles daraus herausgezogen. Sowie wir mit der Ordnung unserer Angelegenheiten einigermaßen im Klaren waren, nahm ich dann auch den Verkehr mit dem Gefangenenlager auf, in dem Rogge und Hitzig unter ziemlich gedrückten Verhältnissen lebten. Das ganze Lager litt darunter, daß es längst nicht so fest gefügt war, wie unser Kansker, es war ein ständiges Kommen und Gehen, infolgedessen tat niemand viel an der Einrichtung und Verbesserung der Baracken, und die Selbstverwaltung kam auch nicht zu stetiger Entwicklung. Dazu kam, daß Krasnojarsk 34

ein besonders übles Lagerkommando hatte. So sah jeder zu, daß er so bald wie möglich weg kam, auf Arbeit oder nach Hause. Der Weg – von unserer Wohnung 1-1¼ Stunde – war bei der meist herrschenden Hitze nicht sehr angenehm, besonders, wenn es windstill war, weil man dann von den zahllosen Mücken sehr geschunden wurde. Und in den Baracken selber wimmelte es von Flöhen, wie ich es bis dahin noch nicht kennen gelernt hatte. Mir sind die Nächte [etwa eine Woche schlief ich dort] unvergeßlich, infolge der Hitze konnte man sich nicht dicht anziehen oder gar zudecken, und so fanden die in großen Mengen angreifenden Flöhe immer schnell gute Weideplätze; um die Hüften und um die Handgelenke hatte man morgens immer einen breiten roten Gürtel. Etwa nur eine Woche hausten wir in unserem Zimmer zu 3, dann verließ uns Herr Martin, um ins Lager überzusiedeln. Ich behielt vorsichtig mein Lager auf dem Schneidertisch bei, Müller verlegte seinen Schlafplatz von dem Fußboden in das eiserne 11

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Bettgestell, hatte aber wenig Freude daran, da es voller Wanzen war, sodaß man M. tag und nacht auf der Jagd sah. Doch auch er verließ mich bald. Mitte Juli, an einem Sonntagmorgen (18. Juli 20), wir hatten gerade angefangen, uns zu erheben, ging die Tür auf und herein kam Wilhelm Hartmann und Dyck (auch von unserer Gruppe) und Voß (aus unserer Baracke 25). Der seit Wochen erwartete Technikertransport nach Omsk, auf den wir im Juni vergeblich gehofft und gewartet hatten, war doch noch zu Stande gekommen, und die 3 benutzten den Aufenthalt in Kr., um uns zu begrüßen, W.H. um mich abzuholen, denn in einem der 3 Wagen (es waren etwa 60 Mann rechtmäßig und dazu einige blinde Passagiere) hätte man gut mitfahren können, da nicht anzunehmen war, daß die Russen sich die Mühe machen würden, genau zu prüfen, ob jeder einzelne auch zu diesem Sammeltransport gehörte. Die Versuchung war groß, doch schließlich entschloß ich mich, lieber in Krasnojarsk zu bleiben, weil ich Rogge und 36

Hitzig, die mich am selben Tage mittags aufsuchen wollten, nicht sang- und klanglos sitzen lassen mochte. Statt meiner packte dann Müller seine 7 Sachen, und getrennt wanderten wir zum Bahnhof, ich, um die Bekannten dort wenigstens zu begrüßen. Bis Omsk ist deren Reise dann auch glatt gegangen, dort sollten sie sich nach ihrem Auftrag zur Arbeit melden. Das tat natürlich keiner, sondern sie blieben in ihren Wagen auf dem Bahnhof liegen, und einzelne oder in Gruppen verdrückten sich einer nach dem anderen. Als ich 3 Wochen später nach Omsk kam, traf ich von der ganzen Gesellschaft nur noch 2 an, und auch die waren schon in einen nach Petersburg bestimmten Transport eingeteilt, und fuhren bald weiter. Einzelne, die unterwegs kleben geblieben waren, traf ich dann noch im September in Perm, andere holte ich in Petersburg ein, bzw. überholte sie. In der folgenden Woche war ich dann meist im Lager, um Hitzig, dem es schlechter ging, Gesellschaft zu leisten, bis er etwas ruhiger geworden war. 37

Ende Juli gingen von dem Riesenlager Krasnojarsk 2 sogenannte Invalidentransporte nach Petersburg ab, jedes mal 300 – 500 Mann in gut eingerichteten Personenzügen. Außer einigen, die wirklich invalide waren, waren es meist ganz gesunde Leute, die ihre Bevorzugung lediglich ihrer Freundschaft mit den internationalistischen Lagerkommandanten verdankten. Umso empörender war es, daß ein wirklich schwer Kranker wie H., dem sogar die maßgebende Ärztekommission seine Krankheit anerkannt hatte, und auf seinem Registrierschein vermerkt hatte, er müsse unbedingt so schnell wie möglich nach hause gebracht werden, nicht mit kam. Doch alle in diese Sache unternommenen Schritte waren erfolglos, sogar Wülfing, den ich um seine Unterstützung bat, war machtlos, der einflußreichste Mann vom“Gubewak“, [der Behörde zur „Evakuierung der Kriegsgefangenen des Gouvernements] der Genosse Tarnogolski, ein galizisches Mistvieh erklärte, er lasse keinen Offizier zu dem Transport zu. 38

Er tat die für eine maßgebende Persönlichkeit recht eigenartige Äußerung: „Die feldgrauen Hurrabestien (d.h. die deutschen Offiziere) mögen verrecken“. Wir haben uns später in Petersburg beim deutschen Arbeiter und Soldatenrat, in dessen Händen der ganze Austausch der deutschen Kriegsgefangenen lag, erkundigt, ob es derartige Weisungen gegeben hätte, und bekamen den Bescheid, daß sie das nie getan hätten. Über die Eigenmächtigkeiten der sibirischen Behörden Kriegsgefangenen gegenüber, besonders über die Zurücksetzung, die die meist galizisch- ungarisch- jüdischen Lagerkommandanten den Reichsdeutschen angedeihen ließen, bekamen wir im August und September noch mancherlei zu hören, was die Begeisterung für die Solidarität der Proletarier aller Länder bei manchem Deutschen recht abkühlte. Ende Juli ging auch ich daran, meine Weiterreiseabsichten in die Tat um zu setzen. 12

Hitzigs Aufregung hatte einer größeren apathischen Ruhe Platz gemacht, ich glaubte, daß meine Anwesenheit ihm nicht mehr viel nützen konnte. Außerdem hoffte man ja trotz aller Enttäuschungen, daß der langsam beginnende Abtransport der Invaliden doch einmal in etwas flotterem Tempo vor sich gehen würde. 39

Grund genug, jetzt endlich energisch an die Heimfahrt zu denken, war ja vorhanden, die 5½ Jahre genügten, und ich war allmählich so weit, daß ich mir sagte, nur weg von hier, ganz gleich, wie das Unternehmen abläuft. Zu diesem Grunde allgemeiner Art kamen noch mehrere besondere Umstände, daß nämlich meine Kleidung und Wäsche so ziemlich am Ende ihrer Leistungsfähigkeit war, daß ich den Winter mit seinem Mangel an Holz und Lebensmitteln entgehen wollte, und daß ich mich auch nicht der im Spätherbst mit Sicherheit zu erwartenden Flecktyphusgefahr aussetzen wollte, vor der man im ziemlich abgeschlossenen Lager einigermaßen geschützt gewesen war, aber der man mitten unter Russen schwer entgegen arbeiten konnte. So beschloß ich dann, Anfang August aufzubrechen. Mein Brotvorrat war ganz stattlich, ebenso hatte ich das nötige Chinin für 6 Wochen. Länger als 6 Wochen brauchte der Chininvorrat nicht zu reichen, da man in der kühleren Jahreszeit mit Malaria nicht mehr zu rechnen hatte. Mit meiner Kleidung war es faul bestellt; ich besaß noch einen Waffenrock von 40

dem guten Friedensstoff, aber sonst fast nur Lumpen. Meine Hose war durch ständiges Aufsetzen von Flicken schon zu einem „geschichteten“ Gebilde geworden. Die Wäsche war so zart, daß ich sie beim Waschen garnicht mehr reiben konnte, sondern nur 1 Tag eingeseift stehen ließ und dann vorsichtig ausdrückte. Am schlimmsten war es mit dem Schuhzeug. Ich besaß nur ein Paar sog. Tschechenschuhe, amerikanisches Machwerk schlimmster Sorte, das neu unverwüstlich aussah, aber schon nach wenig Wochen allerlei Schäden bekam und anfing, aus dem Leim zu gehen. Bei meinen waren jetzt zum Überfluß die Sohlen durchgelaufen. Ich versuchte, auf rechtlichem Wege mir neue Sohlen zu beschaffen, da mir die nötigen Tauschobjekte fehlten. Außerdem hatte ich ja die Sohlen auch im Dienste der Russen durchgelaufen. Zunächst ließ ich mir von meinem Chef, dann von den beiden Vorsitzenden unseres Kollektivs (Vereinigung der Angestellten unserer Behörde) mit den nötigen Stempeln bescheinigen, daß ich in dienstlichem Interesse dringend ein paar Sohlen brauchte. Damit wies man mich an die Gouvernementslederabteilung. 41

Der Chef – nach meinen bisherigen Erfahrungen ging ich immer gleich auf den Höchsten der betreffenden Behörde los, und ließ mich nicht mehr von Sekretären hinhalten – war sehr freundlich, bedauerte aber unendlich, daß er nicht zuständig sei, und schickte mich mit einigen empfehlenden Eintragungen auf meinem Papier an die Abteilung zur Versorgung der Armee. Hier erklärte man, man habe strengen Auftrag, nur an Mitglieder der roten Armee Leder auszugeben. Ich zog nun zur Gewerkschaft der Bauarbeiter, bei der ich eingetragenes Mitglied war. Die Gewerkschaften waren die Stellen, durch die man Kleidungsstücke bekommen konnte, wenn es überhaupt etwas gab. Es kam vor, daß 6 Mann zusammen Stoff für eine Hose bekamen, oder 12 Mann 1 Paar Schuhe. Die Aufteilung überließ man den Betreffenden. Wir Kriegsgefangenen haben nie etwas von unserer Gewerkschaft bekommen, weil die Brüder regelmäßig, wenn es etwas gab, sagten, empfangsberechtigt seien nur diejenigen, die schon seit dem so und so vielten Mitglieder seien, und das Datum war immer so gewählt, daß wir nicht in Frage kamen. Außerdem wurden, so viel ich erfuhr, im Bauarbeiterbüro in den 6 Wochen meiner Zugehörigkeit nur äußerst minderwertige Mützen 42

verteilt, auf die ich keinerlei Wert legte. Also von dieser Stelle verwies man mich an die Zentralstelle sämtlicher Gewerkschaften des Gouvernements. Hier nahm man meinen Wisch mit einigen freundlichen Worten an. Nach einigen Tagen verlangte ich Bescheid, und erfuhr, 13

daß die Stelle nicht zuständig sei, man wolle mein Gesuch an die Gesamtsibirische Stelle in Omsk (3 Tagereisen von Kr. entfernt!) weitergeben. Doch solle ich mir keine großen Hoffnungen machen, sie hätten schon einen großen Stoß ähnlicher Gesuche da liegen. Diese Erfahrung beschleunigte meine Reisepläne, und ich beschloß, nicht den Beschluß der Omsker Regierungsstelle in dieser schwierigen Angelegenheit abzuwarten. Der Ungar Erkulenz von unserem Büro, dessen Schuhe so zerlatscht waren, daß man bei jedem Schritte die Zehen sah, begnügte sich nicht mit dieser Entscheidung, sondern setzte mit mir zusammen dicke Gesuche und Beschwerden auf. Er erreichte damit aber auch nur, daß er von einigen Genossen auf Behörden mit hochklingenden Namen mehr oder 43

weniger freundliche Vertröstungen erhielt, und als er schließlich irgendwo (mit dem städtischem Verpflegungskommitee merkwürdigerweise) eine Anweisung an eine Schusterwerkstätte erhielt, daß er sofort bedient werden sollte, sagte ihm deren Leiter, er dächte garnicht daran, sich an diese Anweisung zu halten. Erkulenz kam in Zukunft an feuchten Tagen nicht mehr zum Dienst, weil er, wie er sagte, mit seinen kaputten Schuhen nur bei trockenem Wetter ausgehen könne, was ihn aber nicht hinderte, zu dem nur 3 Häuser von unserem Büro entfernten Mittagstisch zu kommen. So verlief man unendlich viel Zeit, ohne etwas zu erreichen. Ganz finster war die Aussicht auf Brennholz. Wie ich schon erwähnte, löste der Staat diese Frage dadurch, daß er jedermann freistellte, selber für sich zu sorgen. Bei uns wurde eine entsprechende Aktion von der Gesamtheit der Angestellten eingeleitet. Gleich am ersten Sonnabend, kurz ehe wir weggehen wollten, forderte man Müller und mich unvermittelt auf, für 14 Tage mit hinaus in den Wald zu kommen und Holz zu fällen. Wir lachten die Leute aus. Darauf drohten 44

sie, „dann bekommt Ihr kein Holz“, was auf uns keinerlei Eindruck machte, denn wir erklärten „wir wollen auch gar keins haben“. Als nach einigen Wochen das oder die Flöße ankamen, war es das selbe Theater, ich sollte am Sonntag mit an den Fluß, die Stämme herauszuziehen, was ich natürlich wieder ablehnte. Doch alle Russen und Russinnen zogen hinaus, denn es wurde Buch geführt, wie lange jeder mit arbeitete, und entsprechend der Arbeitszeit wurde das Holz verteilt. Auch unser alter 70 jähriger General mußte erscheinen und mitarbeiten. Daß diese Methode, solche Arbeiten von jedermann, nur nicht von denen, die sie gelernt hatte, und die entsprechend ausgerüstet waren, ausführen zu lassen, äußerst unrationell war, darüber machte sich niemand Gedanken. Ich habe einmal am Jennisseiufer gesehen, wie eine Schar junger Mädchen – natürlich alle mit Stöckelschuhen und Florstrümpfen – ein Holzfloß ab luden. Das war ein amüsanter Anblick und ein großes Juchhei, Kichern und Lachen, besonders seitens der Zuschauer, aber geschafft wurde fast garnichts, da die Mädchen alles, jeden einzelnen Griff, 45

denkbar unpraktisch anfingen. Aber die Freude, wenn eine ins Wasser trat! So hatte es als Volksbelustigung einen gewissen Wert. All diese Arbeiten und trüben Aussichten für den Winter beschloß ich mich zu entziehen. Den letzten Anstoß gab die politische Lage. Ende Juli und Anfang August meldeten die Frontberichte von einem schnellen Vorrücken der Sowjettruppen auf polnischem Gebiet, ja sogar, daß bei Soldau Rotarmisten auf deutsches Gebiet übergetreten seien. Ging das so weiter, so konnten im Handumdrehen Reibereien, wenn nicht Kämpfe zwischen deutschem Grenzschutz und übereifrigen Russen entstehen, und daß dann die 1. Folge ein Befehl wäre, keine Kriegsgefangenen mehr auszutauschen, darüber war ich mir klar. Und wie die Stimmung der russischen Behörden war – namentlich derer, die in Krasnojarsk 4000 km hinter der Front saßen und die blutigsten Reden führten – davon konnte ich mich 14

gelegentlich der Verabschiedung eines für die polnische Front bestimmten Rekrutentransport überzeugen. Da wurden 6 – 8 feurige Reden gehalten, die alle in dem 46

Sinne endigten: Macht an der Grenze nicht halt, die Proletarier Deutschlands, Frankreichs und Belgiens warten nur auf Euch! Befreit sie und befreit die ganze Welt vom Joch des Kapitalismus! usw. usw. Nun sahen diese jungen Bürschchen ja nicht gerade so aus, als ob sie, wie Trotzki damals in einem viel genannten Artikel „die rote Brücke“ verlangt hatte, in 6 Wochen an den Pyrenäen sein würden, aber der gute Wille dazu war zweifellos vorhanden. Hierfür sprach auch ein Anfang August befohlene Mobilmachung sämtlicher ehemaliger Offiziere. Dieser Mobilmachungsbefehl, der angab bis zu welchem Lebensalter die einzelnen Ränge zu erscheinen hätte, enthielt auch die humane Ankündigung, wenn irgend ein gestellungspflichtiger Offizier nicht erscheint, so wird seine Frau, oder seine Geschwister, oder seine Eltern, oder irgend jemand, der mit ihm verwandt oder bekannt ist, zur Rechenschaft gezogen. Was dies zur Rechenschaft ziehen heißen sollte, darüber war sich jedermann in Rußland klar. Die ganze Methode war eins der vielen teuflisch raffinierten 47

Mittel, mit denen die Kommunistische Partei Rußlands ihre Schreckensherrschaft aufrecht erhält. Mit größter Spannung verfolgte ich nun die neusten Meldungen und die Moskauer Zeitungen. Mein Plan war, am Sonnabend am Ende der ersten Augustwoche zu verschwinden. Das hatte den Vorteil, daß meine Abwesenheit frühestens am Montag gemerkt werden konnte; bei der in unserem Büro herrschenden Gleichgültigkeit für Sowjetinteressen und der Sympathie für uns Kriegsgefangenen konnte ich sogar mit einer größeren Sicherheitsfrist rechnen. Mein Plan war, irgendwie als „Schwarzfahrer“ d.h. ohne die erforderlichen Papiere, über den Ural zu kommen, von wo (Perm oder Wiatka) aus man nachher den Kriegsgefangenen offiziell zur Weiterreise behilflich war, wie uns mehrere Karten von glücklich entwischten mitgeteilt hatten. Über das Wie machte ich mir wenig Kopfzerbrechen, da es doch immer anders kam, als man sich sich zurecht legte, die Hauptsache war der preußische „Drang nach vorwärts“ und etwas Glück. Wurde man geschnappt, dann bei nächster Gelegenheit weiter, da aber die Personenzüge scharf 48

kontrolliert wurden, beabsichtigte ich, mit Güterzügen langsamer, aber dafür sicherer zu fahren. 16.10.22

Große Vorbereitungen waren nicht zu treffen. Eines Abds. Suchte ich noch einmal das Ehepaar Cibis auf, und fand zu meiner Überraschung beide reisefertig zwischen ihren gepackten Sachen sitzend. Es sollte mal wieder ein Invalidenzug abgehen, der in Kr. Zusammengestellt wurde, und Kansker und Krasnojarsker Mannschaften mitnehmen sollte. C. war es gelungen, für sich den Posten eines Sanitäters und für seine Frau den einer Krankenschwester zu ergattern. Doch der Zug war ihnen vor der Nase weg abgefahren, ostwärts nach Kansk, und nun warteten sie ziemlich unglücklich und aufgeregt auf seine Rückkehr. In Rußland haben es die Züge so an sich, daß sie entweder zu früh oder zu spät, aber nie pünktlich abfahren. Ich erwähnte nichts von meinen Plänen, weil ich es für schädlich hielt, solche Sachen voreilig zu besprechen. 49

Am Freitag 6.8. nachm. wanderte ich dann ins Lager hinaus, um mich zu verabschieden, und vielleicht auch Rogge aufzufordern, mit zu kommen. Doch er hatte gerade wieder einen tüchtigen Malariaanfall, so daß er auf keinen Fall mitgekonnt hätte. Auch hatte er etwas das Zutrauen verloren. Beim besprechen der Lage erfuhr ich dann die neuste Parole, die ein deutscher Herr aus bestimmter Quelle, die er mir auch nannte, hatte, daß ein Befehl aus Petersburg oder Moskau vorliege, in der nächsten Woche aus Krasnojarsk 15

2 Züge mit reichsdeutschen Kriegsgefangenen abzutransportieren. Unwahrscheinlich war die Sache nicht, denn wir wußten, daß Befehle vorlagen, die Reichsdeutschen abzutransportieren, da Deutschland bisher als einziger Staat einen Austauschvertrag abgeschlossen hatte. Doch waren diese Befehle bisher regelmäßig unterdrückt worden, oder man hatte einen Transport mit Österreichern und Ungarn zusammengestellt und nur wenige Reichsdeutsche mitgenommen. Stimmte die Sache, und gingen wirklich in der nächsten Woche 2 Transporte Reichsdeutsche ab, dann wäre es sinnlos gewesen, einige Tage vorher allein los zu 50

fahren. Um die Züge zu füllen, hätte man schon sämtliche Reichsdeutsche ohne Unterschied sammeln müssen, denn es waren in Krasnojarsk (Stadt und Lager zusammen) höchstens 1000. Man hätte sich dann auch nicht an die mancherlei Festsetzungen der Reihenfolge [erst Mannschaften, dann Offiziere, erst Kranke, dann Gesunde, erst die nicht Beschäftigten, dann die in staatlichen Betrieben tätigen] halten können, sondern ausnamslos alle mitnehmen müssen. Das war also eine schwierige Frage, die ich ganz allein lösen mußte, und in der mir auch niemand raten konnte; immerhin wurde ich schwankend. Auf alle Fälle verabschiedete ich mich von den beiden Kameraden und sagte ihnen, sie sollten nach einigen Tagen sich in meiner Wohnung nach mir erkundigen und falls ich weg sei, meine Erbschaft antreten (Waschschüssel, Eimer usw.). Als ich mich wieder auf den Weg zur Stadt zurück aufmachte, traf ich einen türkischen Hauptmann, mit dem ich in Kansk in derselben Baracke gelegen hatte. Auf meine Frage woher? Und wohin? Erzählte er mir, zwischen den Türken und der Sowjetregierung 51

sei ein Bündnis abgeschlossen. Die türkischen Soldaten würden aus den Gefangenenlagern und von ihren Arbeitstätten gesammelt, ausgerüstet und an eine Front im Südwesten Sibiriens, in Turkestan oder am Kaspischen Meer, oder auch in der Kaukasusgegend gebracht, um gegen die Engländer zu kämpfen. {Randbemerkung: vermutlich im Zusammenhang mit der Mission Enver Paschas, die mohammedanische Völker von Buchara, Samarkand usw. gegen die Engländer zu mobilisieren (siehe auch Euringer „Der S????sker“)} Er war in großer Begeisterung und die Freude leuchtete ihm aus den Augen. Sie kämen aus Kansk, morgen sollten sie zusammen mit den Krasnojarsker Türken weiterfahren, zunächst bis Omsk. Ich fragte ihn gleich, ob er mich als blinden Passagier mit nehmen könne, fand aber keine Gegenliebe. Sie lägen sowieso schon so eng, auch wisse er nicht, wie weit er den Krasnojarsker Türken trauen könne, kurz, ich merkte, er wollte nicht. Immerhin freute mich die Sache, die mir nach allem was ich bisher schon von der bolschewistischen Propaganda bei den Völkern Asiens von China bis zur Türkei gelesen hatte, durchaus wahrscheinlich erschien, und ich wünschte ihm alles Gute auf seinem Kriegspfad. Es war übrigens, wie ich gleich erwähnen will, ein Glück für mich, daß ich nicht mit den Türken gefahren bin, 52

denn ich bin so viel schneller vorangekommen, in Omsk trafen sie erst 24 Tage nach mir ein. Sie trugen am Arm einen weißen Halbmond und Stern auf rotem Grunde. Ob aus dem Unternehmen etwas geworden ist, habe ich nie erfahren, bin aber kürzlich (Sept. - Okt. 1922) durch die Kämpfe um die Dardanellen und die Konferenz von Medania lebhaft daran erinnert worden. Ich ging in die Stadt zurück, es war mittlerweile Abend geworden, und traf dort noch Beutner, dem ich meine Neuigkeiten erzählte, und für meinen Plan zu keilen versuchte. Doch fand ich bei ihm keine Gegenliebe, er wollte sich die Aussicht auf den wie er meinte sicheren Abtransport nicht durch das Risiko eines Fluchtversuches verderben. [Schon seit dem Juni bestand an vielen Orten der Brauch, daß man auf der Flucht ergriffene Kriegsgefangenen so viel Tage an der Bahnstrecke arbeiten ließ, wie sie Stunden von ihrem 16

Ausgangslager entfernt waren. Viele mußten sich dieser Strafe 53

unterziehen, aber die meisten rissen, ehe sie abgebüßt war, zum 2. Male aus. Im Juli war ein geharnischter Befehl erlassen und uns zur Kenntnisnahme vorgelegt, nach dem Kriegsgefangenen, die in russischen Diensten standen und sich eigenmächtig von ihrem Posten entfernten, mit Zwangsarbeit bestraft und als allerletzte ausgetauscht werden. Wenn man solche Befehle wörtlich nahm, was man in Rußland nie tun darf, konnte man sich allerdings einschüchtern lassen.] Dann suchte ich noch die Familie Gruiewsky (Seite 22 ff) auf, teils, um zu hören, was er von der Lage hielt. Es war nämlich in sofern eine Verschärfung eingetreten, als England angesichts des ungestümen Vordringens der Russen an der polnischen Front eine drohende Haltung einnahmen und seine Schiffe vor der finnischen Bucht aufmarschieren ließ. Jede Verwicklung hätte für uns Kriegsgefangene bedeutet, daß der soeben begonnene Austausch wieder auf ungewisse zeit unterbrochen würde, und das wäre für einen auf der Flucht befindlichen doppelt und dreifach unangenehm gewesen, denn er hätte dann dort, wo er 54

nicht mehr weiter kam, unter recht üblen Bedingungen leben müsse, weil der fliehende Kriegsgefangene ohne nennenswertes Gepäck war, und weil die Lebensbedingungen je weiter nach Westen desto schwieriger wurden. Noch bis Krasnojarsk, wo ich ja mit einem Aufenthalt rechnete, hatte ich mir die wichtigsten Sachen mitgenommen, z.B. einen Eimer, eine Waschschüssel, eine Decke; auf die Flucht konnte man nur das mitnehmen, was man am Leibe trug und Lebensmittel (15 Pfund Brot!) und etwas Gepäck (Wäsche, Tauschartikel), soviel man eben mit einmal tragen konnte, ohne unbeholfen zu werden. Und daß das für einen längeren Aufenthalt nicht ausreicht ist ja wohl verständlich. Selbst in Deutschland nimmt man ja auf Reisen nicht mehr Gepäck mit, als man bequem tragen kann, und dabei hat man es noch nicht einmal nötig, Decken, Teller, Schuhbürsten, Teekanne und andere „Gegenstände 1. Notwendigkeit“ mit sich herum zu schleppen. Auch von diesem Gesichtspunkt aus mußte man die Flucht betrachten, was ich in Krasnojarsk zurückließ, war unrettbar verloren, denn neu kaufen konnte man sich keinerlei 55

Waren, erstens weil es so gut wie garnichts gab und zweitens, weil man sie nicht bezahlen konnte. Herr Gr., mit dem ich diese Möglichkeiten besprach, ohne meine Absichten bestimmt auszusprechen, sagte, ich dürfe mich, wenn ich sonst entschlossen sei, auf keinen Fall durch derartige Nachrichten einschüchtern lassen, denn diejenigen, die das getan hätten, wären noch immer die Dummen gewesen, und im schlimmsten Falle, wenn der Ausweg nach dem Westen verschlossen wäre, würde sich ja auch in europäisch-Rußland, oder wo ich sonst steckte, irgend eine Lebensmöglichkeit finden, und wenn dann eines schönen Tages das Loch wieder aufgetan würde, dann hätte ich den großen Vorteil, vorne an zu sein. All das leuchtete mir sehr ein, da es sehr gute Beobachtungen waren, die gut mit meinen Erlebnissen übereinstimmten. Die Zaghaften, die 1918 oder 1920 immer noch auf irgend etwas gewartet hatten, waren sitzen geblieben; und wer am weitesten im Osten saß, war am übelsten dran, es sei denn, daß der Weg nach Osten frei würde. 56

Und auch diese letzte Möglichkeit trat verwirrend in meine Pläne ein. Nachdem ich mich spät in der Nacht von Gr. Verabschiedet hatte und nach Hause gegangen war, traf ich meine Wirtin noch wach an, mit Besuch, einem Verwandten, der von auswärts gekommen war und wohl länger in Krasnojarsk bleiben wollte. - Wie es schien, war er scharf auf mein Zimmer. - Wir kamen in ein Gespräch, und ich gab Frau Grigorieff noch an, wenn ich eines schönen Tages verschwunden sein sollte, und nach 3 Tagen noch nicht wieder da wäre, so 17

sollte sie mich bei der Miliz als „verreist, unbekannt wohin“ abmelden. Als der Russe von meinen Plänen hörte, riet er mir lebhaft ab. Im Westen sei es furchtbar, Hungersnot usw. Die Bahn sei verstopft. Und vor allem Kriegsgefangene lasse man nicht hindurch. Er selbst sei 2 Transporten begegnet, die nicht weiter gekonnt hätten. Wenn ich fahren wollte, so müßte ich unbedingt nach Osten fahren. Den ersten Teil seiner Reden nahm ich nicht sehr tragisch, doch der Vorschlag, nach Osten zu fahren, hatte sicher viel für sich, und im Kansker Lager hatten viele vorgezogen, nach Osten durch zu kommen. 57

Der Weg war zwar etwas weiter, da es von Kansk bis Wladiwostok etwa ebenso weit bis Petersburg war, aber die Gefahrenzone war sehr viel kleiner, nach Westen etwa 4000 km Sowjetrepublik, d.h. absolute Willkür, und nach Osten nur etwa 1000 km, bis östlich des Beikalsees, wo das Gebiet des Ataman Semjonoff begann, bei dem Kriegsgefangene gut aufgehoben waren. Doch ich ließ mich einstweilen nicht davon anfechten, legte mich schlafen, machte am nächsten Tag (Sonnabend 7.8.20) meinen Dienst wie wie sonst und ging um 4 Mittagessen. Dann mußte ich aber doch bald eine Entscheidung treffen. Ich ging erst einmal auf den Bahnhof, um mir das Gelände anzusehen. Hier fand ich – außer unserem Kansker Türken – eine große Menge von Frauen und Kindern; sie wollten, wie sie sagten, Beeren sammeln. Nun wußte ich, daß es ein beliebter Sport der Russen war, am Sonnabend als Schwarzfahrer mit irgendeinem Zug nach Westen zu in den Urwald zu fahren, hier bei großen Holzfeuern zu übernachten, und am Sonntag sei es zum Vergnügen, 58

sei es zum Verkauf oder Tausch, Beeren zu sammeln. Ich fragte, ob denn noch ein Zug ginge, darauf sagten sie „ja, abends“. Das war ja ganz günstig. Dann suchte ich noch einmal die Lesehalle auf, ohne aber aus den Zeitungen etwas Neues oder für mich Wesentliches zu erfahren. Dann ging ich nach Hause, überlegte hin und her, und kam schließlich auf den genialen Gedanken, mir eine Frist zu stellen, und zwar steckte ich mir eine Pfeife an, mit dem Entschluß, bis sie zu Ende geraucht sei, mich so oder so zu entscheiden. Und so lag ich dann auf meinem köstlichen Lager, dem Schneidertisch, zum letzten male auf meiner lang bewährten Wattedecke, und schaute, wie Pythia den Schwefeldämpfen, den mystischen, blauen Rauchwolken meines Tabaks zu. Und so kam ich dann zu dem Entschlusse, auf alle Fälle zu fahren, und zwar nach Westen. Das jahrelange Abwarten und Aufschieben, und Vertröstet werden hatte ich gründlich satt, sodaß ich mir sagte, lieber jedes Risiko, als hier in Krasnojarsk langsam untätig vermodern. Es war ja der bewährte militärische Grundsatz: 59

Besser verkehrt handeln als überhaupt nicht handeln. Ich packte also meine Sachen, was sehr schnell ging, wobei sich aber zeigte, daß man doch immer noch zu viel besaß. An Gepäck nahm ich mit einen selbst genähten, unbequemen Rucksack, in ihm waren meine 15 Pfund Brot, mein dicker Waffenrock. Wäsche (1 x zum Wechseln und etwas zum Verkaufen oder Eintauschen) und einige Kleinigkeiten wie Schuh- und Kleiderbürste, Trinkbecher, Teekanne, Tee, Hammer, Zange + Nägel usw. Dann nahm ich noch einen russischen Segeltuchtornister, den ich auf die Seite hängte, in ihm waren die wertvollen Gegenstände, teils zum eigenen Bedarf, vor allem aber zum Tauschen. So 1 Pfund Zucker, etwa 10 Schachteln Streichhölzer, 1 Pfund Salz, 6 – 8 Stück gute Seife, ¼ Pfund guter Zigarettentaback, (er sollte eventuelle Schwierigkeiten aus dem Wege räumen) Kerzen, einige rot eingebundene Notizbücher (ein Erzeugnis und Geschenk von Anton Raedt, das er viel und gut bezahlt in Kansk auf dem Markt vertreiben ließ) Messer, Löffel, Gabel, Fenchelöl (gegen Läuse), Chinin, Schuhfett, Tabak, Zigarettenpapier, Waschzeug, mehrere Zahnbürsten, 1 großer Gummischwamm, Taschentücher. Notiz- und Skizzenbuch und schließlich noch einige Bücher, ich mußte doch die Familientradition hochhalten, Bilder und Briefe hatte ich keine mehr, da alles dem Feuer überantwortet wurde. 18

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Auf diesen recht gewichtigen Tornister schnallte ich noch meine Wattedecke, da ich günstigsten Falls 6 Wochen bis Petersburg rechnete, also den Oktober mit seinem 1. Frost und Schnee voll berücksichtigen mußte. Dann räumte ich in der Stube auf und ordnete meine Hinterlassenschaft, die ich teils für meine Wirtsleute bestimmte, teils für Hitzig und Rogge, schrieb noch Briefe an Erkulenz und Grujewsky, denen ich Brot- und Essenskarte vermachte und verabschiedete mich im Hause. Alle wünschten mir aufrichtig Erfolg. Der ungarische Schuster bat um Reiseberichte und Tips. Antonina Maximowa war tief gerührt, als ich ihr ein Fläschchen japanisch – englisches Eau de Cologne verehrte, das – eine Lieferung des Roten Kreuzes – mir oft in der „dicken Luft“ recht gute Dienste geleistet hatte. Sie wollte sich dankbar zeigen, kramte und drückte mir ein Stück furchtbare Seife in die Hand, die ich, um sie nicht zu kränken, einsteckte, um sie so bald wie möglich weiter zu geben, denn ich hatte wirklich keinen Platz, außerdem genug anständige Seife. Es war mein Gewinner, daß ich es nicht tat, denn schon nach 2 Tagen war ich darauf angewiesen. 61

Dann rückte ich los. Es regnete fein, war aber unangenehm warm dabei. Da ich meinen Mantel – einen schweren russischen Militärmantel – anziehen mußte, wurde mir bei dem ungewohnten und unbequemen Gepäck bald schwül zu Mute. Ich ging bei Grujewskys vorbei, um meinen Brief abzugeben, traf aber niemand an, außer der widerwärtigen Hauswirtin, der Frau eines Ingenieurs (Trajanowski) meiner Behörde, die Gr. als Zivilgefangenen immer in der ungezogensten Weise behandelte. Ich würde gern erfahren, ob sie meinen Brief abgegeben oder unterschlagen hat. Dann wankte ich weiter, und es dauerte nicht lange, da hatte ich meinen Entschluß schon verflucht, so war ich in Schweiß geraten. Nach etwa ½ Stunde kam ich zum Glück an Erkulenz' Wohnung vorbei (des ungarischen Studenten und Mitarbeiters) und war heilfroh, hier eine kleine Pause einschieben zu können [xxxxxxxxxxxxxx zum Rauchen, sagt der Russe, der bei jeder Gelegenheit die Arbeit oder seine sonstige Tätigkeit unterbricht, um sich eine Zigarette an zu zünden. 62

Diese xxxxxxxxxx Pausen sind eine sehr wesentliche und bezeichnende Eigenschaft russischen Lebens, und dürfen daher nicht unerwähnt bleiben, besonders, da der Kriegsgefangene sie übernahm.] E. hatte Besuch von einer jungen Russin - es war dies seine Methode, russisch zu lernen -, und sie geriet außer sich, als sie von meiner Absicht hörte. Das dürfe ich auf keinen Fall tun, ich würde sofort geschnappt werden, auf Kriegsgefangene sei man sehr scharf, und morgen schon würde ich in der Tjurma' – dem berüchtigten Gefängnis – sitzen. Doch jetzt half kein Winseln, der Stein rollte; außerdem war ich heilfroh, mit meinem Gepäck den größten Teil des Weges bis zum Bahnhof hinter mir zu haben. 18.10.22

Ich ruhte mich etwas aus, sammelte neue Kräfte, gab E. meine Brotkarte und Verhaltungsmaßregeln zur Erklärung meines Fehlens im Dienste, und wanderte weiter. Von ihm war es nicht mehr weit bis zu dem mir zur Genüge bekannten Bahnhof. Auf dem Bahnhof war wie meist ein lebhaftes Getriebe. 63

Der erwartete Güterzug war mittlerweile vor das Bahnhofsgebäude vorgefahren, er hatte fast lauter leere, flache Wagen, so wie sie bei uns z.B. beim Transport von Brettern benutzt werden, die alle dicht mit Russen, hauptsächlich Frauen und Kindern besetzt waren, die alle xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx (Beeren sammeln) wollten. Ich ging, ohne viel nach rechts oder links zu sehen, gerade auf den Zug los, fragte, ob man dazu steigen könne, und ließ mich auf einem der Wagen im dichten Haufen der Russen nieder, den Rücken zum Bahnsteig, und ohne mich um zu sehen. Bei feinem Regengeriesel saßen wir so, vielleicht 1 – 1½ Stunden, und warteten auf die Abfahrt des Zuges. Doch mit einem Mal erschien die 19

Miliz, schrie xxxxxx x xxxxx! „Steigt von den Wagen herunter“ und wo das nicht schnell genug ging, da halfen sie mit den Gewehrkolben nach. Nun stand ich als blamierter Mitteleuropäer mitten unter all den schimpfenden Russenweibern und kam mir kollosal dumm vor nach diesem mißglückten Anfang. Doch gab ich die Sache noch nicht auf, und betrachtete den Zug jetzt eingehend. Die Mehrzahl der Wagen waren flache und offen, auf sie konnte man natürlich nicht vor den Augen der jetzt aufpassenden Miliz. Immerhin 64

nahm ich (ebenso wie viele Russen) mir als letzte Möglichkeit vor, in letzter Minute auf den fahrenden Zug auf zu springen, und damit zu rechnen, daß sie mich dann doch nicht mehr fassen könnten, und im schlimmsten Fall nicht treffen würden. Hinten am Zuge war eine 2. Lokomotive. [Da es westlich Krasnojarsk stark steigt, wurden alle Züge 20 – 30 km von einer 2. Lokomotive geschoben.] Auf sie, oder vielmehr ihren Tender zu springen, war nicht ratsam, da schon zu viele Russen mit der gleichen Absicht um sie herum standen, und ohne hemmendes Gepäck geeigneter zum „gallischen Sprung“ waren. Da ich jede Möglichkeit ausprobieren wollte, ging ich ohne großes Zutrauen auch einmal an der anderen Seite des Zuges entlang, fand 3 dicht mit Russen belegte Tepluschken (Güterwagen, die heizbar und zum Truppentransport eingerichtet sind.) und fragte auf alle Fälle mal an, ob ich zu ihnen einsteigen könne. Und ich traute meinen Ohren kaum, wie ich hörte, daß einer der Russen sagte: „das ist ein Kriegsgefangener, der hat eine weite Reise vor sich, den nehmen wir mit!“ Ich warf meine beiden Gepäckstücke in das dichte Gedränge, schwang mich 65

hinterher und hockte mich in unmöglichen Verrenkungen mitten unter die Leute. Da es schon wahnsinnig voll war, fand ich natürlich keine begeisterte Aufnahme, doch war mir das recht gleichgültig. Der Wagen sollte eine Gesellschaft von russischen Waldarbeitern westwärts auf ihre Arbeitsstelle bringen; außer den Berechtigten hatte eine Anzahl von Schwarzfahrern wie ich, meist Frauen und junge Leute Platz gefunden. Ich drückte mich möglichst in den Hintergrund, um nicht gesehen zu werden. Etwa 1½ Stunden bangen Warten lagen wir noch vorm Bahnhofsgebäude, jede Minute befürchtete ich eine Kontrolle. Endlich, es wurde schon dunkel, zog der Zug an. Doch die Herrlichkeit dauerte nicht lange, noch innerhalb des weitläufigen Bahnhofes hielten wir, man hörte laute Stimmen, Schimpfen und auch einen Schuß am anderen Ende des Zuges. Schon fürchtete ich, man habe hier gehalten, um alle Unbefugten heraus zu holen, doch muß es einen anderen Grund gehabt haben, nach einigen Minuten bangen Wartens setzte sich der Zug wieder in Bewegung und fuhr nun forsch nach Westen zu, in die Nacht hinein. 66 19.10.22.

Die Fahrt war unendlich geheimnisvoll und schön. Als einziger Europäer unter lauter wildfremden Russen, vollkommen im ungewissen, was der nächste Tag bringen wird, so ging es durch die warme regnerische Sommernacht. Einige Stellen längs des Bahndammes in der Nähe der Haltepunkte waren belebt von Scharen von Ausflüglern und Beerensuchern, deren Singen und Jauchzen und qualmige Holzfeuer bis zu uns im weiter rollenden Zuge klangen und leuchteten. 20 km westlich Krasnojarsk kamen wir durch die Ausweichstelle Minimo, bei der wir im Juni 1918 eine Woche voller Spannung gelegen hatten. Im Dunkel versuchte ich noch rasch möglichst viel von der damals her vertrauten Umgebung zu erhaschen. Einzelne aus unserem Wagen stiegen im laufe der Stunden aus, ohne daß es weniger eng geworden wäre. Denn allmählich begann die Nachtruhe, und jeder streckte seine Knochen nach irgend einer Richtung, bis sie auf Widerstand stießen. Ein junger Russe, der in Deutschland kriegsgefangen und Knecht bei schleswiger Bauern gewesen war, 67

und von dort entwischt und über Kopenhagen heimgekehrt war, erzählte mir stundenlang von seinen Erlebnissen, die mich garnicht interessierten. Voll Stolz führte er mir eine 20

elektrische Taschenlampe vor, die er sich mitgebracht hatte. Allmählich kehrte allgemeine Ruhe ein, aus der ich unliebsam gerissen wurde, als – etwa um 1 Uhr – der Zug hielt und alle ausstiegen. Die Arbeiter sagten mir, sie seien an ihrem Bestimmungsort angelangt, die Wagen führen nicht weiter, auch ich müsse aussteigen. Das war ein peinliches Erwachen, denn nach dem schönen Anfang hatte ich mich schon ganz in dem Gefühl hinein gelebt, es müsse auch so weiter gehen. Ich stieg also aus, und konnte, nachdem der Schwarm sich verlaufen hatte, feststellen, daß nur die letzten 3 Wagen abgehängt wurden. Schnell stieg ich ich in einen der niedrigen offenen Wagen des Zuges, legte mich lang hin, teils um nicht gesehen zu werden, teils um zu schlafen. Bald stieg ein Bremser zu mir in den Wagen, fragte wer ich sei und wo ich hin wolle, war aber ganz freundlich, als ich ihm sagte, ich sei Kriegsgefangener und wollte nach Hause. Allerdings meinte er, das hätte keinen Zweck, 68

die Kontrolle sei sehr streng und sie würden mich bald fassen. Ich sagte ihm nur, man muß es eben versuchen, und schlief dann bald trotz leisem Regen ein, um so besser, als der Zug sich bald wieder westwärts in Bewegung setzte. Doch nur zu früh wachte ich wieder auf, da wir auf einer kleinen Station hielten. Es war etwa ½ 3 und ich brachte heraus, daß es xxxxxxxxxxxxx (Schwarzfluß) sei, etwa 100 km westlich von Krasnojarsk, daß der Zug hier bleibe, mit Kohlen aus in der Nähe gelegenen Grube (oder Holz?) gefüllt würde und dann nach Krasnojarsk zurückginge. Mir blieb nun nichts anderes übrig, als eine abwartende Haltung einzunehmen, und zwar beschloß ich, mich wieder in meinen Wagen niederzulassen, und abzuwarten, bis der nächste Güterzug käme, und zu versuchen, mit ihm weiterzufahren. Doch schon bald kam ein Russe, und rief mir oder sonst jemand in der Nähe zu: „Der Postzug kommt“. Ich wachte aus meinem Dämmern auf, war das Liegen in dem feinen Regen satt und beschloß, mein Heil im Personenzug zu versuchen. Eigentlich hatte ich den garnicht in den Kreis meiner Pläne und Berechnungen gezogen, da ich wußte, 69

daß in ihm die Reisenden sehr genau kontrolliert wurden, und dem konnte ich mich ja nicht aussetzen. Doch der Regen machte meine Vorsätze zu nichte, ich sagte mir, nachts wird schon nicht kontrolliert werden, und wenn es Tag wird, steigst du wieder aus, und wartest an geeigneter Stelle auf einen Güterzug. Der Zug kam, außer mir waren noch einige lichtscheue Gestalten erschienen, die gleich mir auf den kaum haltenden Zug sprangen, der dann gleich wieder in die Nacht hinein fuhr. Natürlich war der Wagen, den ich erwischt hatte, wie alle anderen, vollkommen überfüllt, sogar in den Gängen standen und lagen die Reisenden, soweit ich im Dunkeln feststellen konnte. Die russischen Personenwagen sind ähnlich wie unsere D Zugwagen, die Eingänge sind an beiden Enden, längs durch den ganzen Wagen geht ein Gang, so daß auf einer Seite von ihm immer 1 Sitzplatz, auf der anderen 3 Sitzplätze sind. Die Wagen sind aber nicht durch eine Harmonika verbunden, sondern nur wie unsere Personenwagen durch einen eisernen Laufsteg. Auf der Plattform hinter der Tür fand ich Platz, so daß ich in 70

irgendwelchen unbequemen Stellungen kauernd, ganz gut über die Nacht hinweg kam. 20.10.22.

Ohne mir große Überlegungen über meine Weiterfahrt zu machen, fuhr ich so mit Wohlbehagen in den Sonntagmorgen hinein. Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen, und der Blick in die frische, wohltuend schnell vorüberfliegende sibirische Landschaft ließ die Zeit vergehen. Im Laufe des Morgens hielten wir auf einem kleinen Bahnhof und um mir die Beine zu vertreten, wanderte ich auf und ab. Während dessen redete mich einer an, in dem ich sofort den Kriegsgefangenen Österreicher erkannte, merkwürdiger weise fragte er mich auf russisch, wo hier der Lesesaal sei. Auf jedem russischen Bahnhof, oder wenigstens auf den größeren, war der Wartesaal 21

in 1. und 2. Kl. in einen „Agitationspunkt“ umgewandelt, in dem Zeitungen und Zeitschriften auslagen und die Wände mit Plakaten bepflastert waren. 71

Die gewünschte Auskunft konnte ich ihm nicht geben, sagte ihm aber, er solle ruhig deutsch mit mir sprechen, da ich ebenso Gefangener sei wie er. Im weiteren Gespräch erfuhr ich dann, daß er in der Hauptstadt der Fernöstlichen Republik, in Werchnendinsk – einige Stunden Bahnfahrt östlich des Baikalsees – dem Ausgangspunkt unseres Zuges, eine wichtige Stellung inne gehabt habe, und daß es ihm gelungen sei, eine Kommandierung nach Moskau zu ergattern. Er fuhr zusammen mit einem Russen im sogenannten „Stabswagen“, dem einzigen Wagen 1. und 2. Kl. Im Zuge. Ich fragte ihn nach der Handhabung der Kontrollen, da sagte er, hinter (westlich) Krasnojarsk sei eine sehr scharfe vorgenommen worden, die nächste würde wohl erst hinter Omsk sein. Ich frohlockte. Dann sagte er mir noch, wenn ich bis Omsk ungefährdet durchkäme, sollte ich mich dort an ihn wenden, er würde mir vielleicht zur Weiterreise behilflich sein können. Inzwischen sollte ich ihn aber nicht anreden, da wir von mitreisenden Internationalen beobachtet würden. Es mag ja sein, daß er recht hatte, doch bin ich mehr geneigt ihn für einen Schwätzer zu halten. Die Glocke rief zum Einsteigen, und von dem Gehörten froh gestimmt, stieg ich wieder 72

ein auf meinen Platz im Wagenende, und rechnete frohen Mutes aus, wie schnell ich nun weiter kommen würde. Der Personenzug brauchte für die Strecke Krasnojarsk – Omsk nur 2½ Tage. Um so mehr war ich überrascht, als mit einem Male die Tür, an der ich stand, aufging, und vom Nachwagen her ein Eisenbahner, gefolgt von 2 Rotgardisten mit Gewehr, erschien, und nach meinen Papieren fragte. Ich hatte überhaupt nicht mehr mit dieser Möglichkeit gerechnet, und war daher zu meinem Glück sprachlos. In Blitzesschnelle malte ich mir aus, daß man mich natürlich sofort festnehmen und nach Krasnojarsk zurückschicken würde, und daß ich günstigenfalls am Montag vorm. wieder als blamierter Mitteleuropäer auf meinem Büro erscheinen würde, von Hause weiter entfernt als jetzt, und von den paar Eingeweihten mit Spott begrüßt. Glücklicherweise war ich wenigstens besonnen genug, meine wahren Absichten und das Fehlen der vorgeschrieben 73

Dokumente nicht gleich offen heraus zu zugestehen, sondern den Mund zu halten und gleichgültig mein Portemonnaie aus der Tasche zu holen, in dem ich die verschiedensten Papiere hatte, die ich seit Beginn meiner Tätigkeit für die Russen für alle Fälle gesammelt hatte, da ich wußte, wie wertvoll in Rußland ein Stück Papier mit einem Stempel und 2 Unterschriften ist. Mit der Selbstverständlichkeit dessen, der in seinem guten Recht ist, wies ich dem prüfenden Rotarmisten gleich das erste Papier vor, das mir in die Hände kam, einem Personalausweis aus meiner Kansker Tätigkeit im März auf dem stand, daß der Inhaber, der Kriegsgefangene - - bei der und der Behörde in Kansk beschäftigt sei. Nichts von Kommandierung, oder gar Reiseerlaubnis. Ob nun der Kontrolleur, ein junger Bauernbursche, mit mir als Kriegsgefangenen Mitleid hatte, oder ob er nicht lesen konnte, weiß ich nicht, jedenfalls sagte er xxxxxxxx, „gut“ gab mir meine Papiere zurück und ging zum nächsten. Ich halte die erste Deutung für wahrscheinlich, da ja der Zweck 74

der Kontrolle damals ein durchaus innerpolitischer war, das genaue Überwachen und Festhalten aller Elemente, denen die bolschewistischen Gewalthaber nicht trauten, wie russischen Offizieren, früheren Beamten und dergl. Die Kriegsgefangenen hatten sich aber zur Genüge als harmlos herausgestellt. Und daß man die Revisionen durch einen vornehmen ließ, der nicht lesen und schreiben konnte, oder der nicht wußte, welche Ausweise vorgeschrieben waren, das erscheint mir unwahrscheinlich, obgleich ja andererseits nichts so dumm ist, daß es nicht 22

doch gemacht wird, zumal von den Russen. Mir war jedenfalls ganz unglaublich zu Mute, ich konnte gar nicht begreifen, wie diese unerwartete Gefahr an mir vorüber gegangen war. 30.10.22.

Selbstverständlich beschloß ich, von nun an im Personenzuge zu bleiben, und gab alle unklaren und unbequemen Pläne, wie das Reisen im Güterzuge, auf. Dann legte ich mir, um mich nicht wieder von einer Kontrolle so überraschen zu lassen, eine Fabel zurecht: ich sei mit 60 anderen Kriegsgefangenen „Spezialisten“ von Kansk nach Omsk kommandiert, 75

hätte in Krasnojarsk den Zug verlassen, um einen Bekannten aufzusuchen, und als ich zum Bahnhof zurück gekommen sei, sei der Zug schon weg gewesen. Der Stationsvorsteher habe mir gesagt, ich solle mit dem nächsten Personenzug hinterherfahren, ich würde den Güterzug, an dem die Wagen unseres Transportes angehängt seien, bald einholen. Ein Reisepapier hätte ich nicht, da wir 60 zusammen nur ein einziges gemeinsames Papier gehabt hätten. Diese Geschichte klang möglich und wahrscheinlich, zumal ich sie mit genauer Kenntnis der Einzelheiten solcher Kommandierungen und der Anwendung der entsprechenden Fachausdrücke des Behörden Russisch vortragen konnte. Auch hatte ich Papiere, daß ich schon als Techniker für die Russen gearbeitet hatte, und daß ich zur Verfügung des „Sib urteß“ (Siehe Heft 4. S. 65/66) stand. (der „Sibirischen Abteilung für die Registrierung und Verteilung der technischen Arbeitskräfte“). Schließlich beschloß ich, auf allen größeren Stationen den Zug zu verlassen, damit ich nicht etwa im stehenden 76

Zuge erwischt und sofort an die Luft gesetzt werden konnte. Im fahrenden, übervollen Zuge war das Verhaften nämlich garnicht so leicht und bequem, sodaß die Kontrolleure wohl auch aus diesem Grunde nicht so scharf zugriffen. Die 1. größere Station, die wir noch im Laufe des Vormittags erreichten, war Atschinsk, eine Kreisstadt von etwa 8 bis 10000 Einwohnern. Ich trank eine Kanne Tee, möglichst im Verborgenen. - Das Teetrinken gehört in Rußland unbedingt zum Reisen, wie überhaupt zum Leben, jeder reist deshalb mit einer kleinen Teekanne. Die Strecke war mir schon einigermaßen bekannt, da wir sie ja 1918 schon 2 x zurückgelegt hatten. Auch hatte ich mir aus einem alten Kursbuch alle Stationen und Haltestellen abgeschrieben. Im Durchschnitt liegt an der sibirischen Strecke etwa alle 300 km eine Kreisstadt, alle 600 – 900 eine Gouvernementsstadt. Dazwischen liegen Dörfer und Weichen, letztere oft mitten in einsamer Steppe oder im Urwald. 77 3. Nov. 1922.

Längs der ganzen Strecke stehen, immer ein Werst (1066 m) voneinander entfernt, Tafeln mit der Zahl der Entfernung bis zur nächsten großen Station. So kann man mit Hilfe der Stationsverzeichnisses genau verfolgen, wo man sich befindet, und darin hatten wir Kriegsgefangenen durch unsere wochenlange Reisen schon große Erfahrung. Besondere Eigentümlichkeiten bot die Fahrt an jenem Sonntag (8. VIII. 20.) nicht, es ging meist durch flaches, kultiviertes Land. Nach einigen Stunden kam dann plötzlich die 2. Kontrolle, wieder ein Eisenbahner mit 2 Soldaten. Diesmal prüfte einer, der genauer Bescheid wußte, ein Jude mit gerissenem, unangenehmen Gesichtsausdruck. Er ließ mich meine ausgedachte Geschichte mit vielen Worten erzählen, fiel aber nicht darauf herein, sondern sagte, das könne er nicht kontrollieren, ich müsse mir das bescheinigen lassen, und dürfe so mit 78

meinen Papieren nicht weiter fahren. Ich redete noch eine Weile, aber erfolglos, und fragte dann, wer mir denn das bescheinigen und gültige Papiere ausstellen könne. Er sagte, das solle ich auf der nächsten Station versuchen, jedenfalls dürfe ich nicht weiter fahren. Ich war ganz zufrieden, daß er mich sonst ungeschoren ließ, denn daraus, daß ich die 2. 23

Kontrolle von anderen ausgeübt wurde, als die 1., schloß ich, daß jede Patrouille nur einmal kontrolliert, und daß alle paar Stunden – vermutlich gleichzeitig mit dem Zugpersonal – die Wachmannschaften wechselten. Und diese Vermutung hat sich dann auf der Weiterfahrt bewahrheitet: Wir wurden bis Omsk sicher etwa 10 mal kontrolliert, jedes mal von anderen, denen ich meine Geschichte immer von neuem erzählte, meist mit dem Erfolg, daß sie nicht darauf hereinfielen, sondern sagten, auf der nächsten Station müsse ich den Zug verlassen. Das besorgte ich dann auch, aber ehe er weiter fuhr, stieg ich wieder ein. Es war eine weitverbreitete Eigenart der Russen, über die wir uns 1915 viel wunderten, bis wir uns 79

allmählich daran gewöhnten, daß sie gern Befehle und Anordnungen gaben, sich aber nicht darum kümmerten, ob sie auch ausgeführt wurden; und hierauf baute ich. Peinlich war die Lage natürlich trotz alle dem, denn ich konnte auch mal an den Unrechten kommen, auch fürchtete ich, daß unter den Mitreisenden - meist auf Kommando oder Urlaub fahrende Soldaten - , denen ich doch auch im Wege oder unbequem war, irgend einer war, der aus Bosheit oder Gesinnungstüchtigkeit sich in meine Sache einmischte und den Kontrolleuren mein Verfahren aufdeckte, doch da kam mir die russische Trägheit zu Hilfe, die Russen kümmern sich nicht viel um Sachen, die sie nichts angehen; auch bemühte ich mich, meinen Vers möglichst unauffällig vorzutragen. Natürlich machte ich auch viele Versuche, mal irgend einen Stationsbeamten zu finden, der mir schwarz auf weiß die Erlaubnis gab, mit dem Zuge zu fahren. Doch damit hatte ich wie zu erwarten war, 80

kein Glück: auf den kleinen Stationen war man sehr freundlich, verwies mich aber an die nächste Kreisstadt, da man selber nicht die nötigen Befugnisse habe. Auf den größeren Stationen war man unterrichtet über die Bestimmungen, unfreundlich und wies mich ab, wobei ich immer noch froh war, daß man mich nirgendwo verhaftete. Denn auf den größeren Stationen waren überall Anschläge neuen Datums angeklebt, auf denen allen Behörden strengstens untersagt wurde, einzelnen Kriegsgefangenen Reiseerlaubnis zu geben, ganz gleich, welche Gründe die betreffenden auch hätten. Zur Vermeidung von Überfüllung der Züge und zur Aufrechterhaltung der Ordnung dürften Kriegsgefangene nur in Transporten die Eisenbahn benutzen. Da war es dann kein Wunder, daß man mich immer an andere Dienststellen verwies, mir aber nichts bescheinigte. Nun, es ging ja auch so. Nachmittags kamen wir durch die Kreisstadt Marinsk, abends beim Dunkelwerden durch Taiga, von wo eine 81

Stichbahn nach Norden nach Tomsk (etwa 80 km). (Taiga ist das Wort für den sibirischen Urwald, der sich von Tomsk und Taiga aus hunderte von km nach Nordosten erstreckt. Im Sommer 1915 hatten dort ständig Waldbrände geherrscht, bei denen so große Rauchmassen entwickelt wurden, daß wir in Tomsk häufig tagelang keine 10 m weit sehen konnten.) Der sibirische Urwald, so weit wir ihn von der Bahn aus sahen, hatte übrigens nichts überwältigendes, sondern machte mehr den Eindruck, daß bei dem ungepflegten und ungeregelten Wachstum ein Baum dem anderen im Wege stand, sodaß die Bäume recht kümmerlich aussahen. Die Mitreisenden waren zum größten Teil russische Soldaten, die im dienstlichen Auftrage oder auf Urlaub fuhren. Sie waren recht gut mit Lebensmitteln ausgerüstet, und wurden auch unterwegs gut verpflegt. Da ich nach dem mangelhaften Essen in Krasnojarsk unterwegs auf die noch mangelhafteren von wenig trocken Brot und viel Tee angewiesen 82

war, lief mir doch manchmal das Wasser im Munde zusammen, wenn die Russen ihre Vorräte auspackten. [Wir hatten später öfter Gelegenheit, zu beobachten, daß es im kommunistischen Rußland zwar keine Kriegsgefangenen gab, weil die Unterschiede zwischen den Menschen fortfallen sollten, daß die ehemaligen Kriegsgefangenen aber so 24

gut wie garnichts zu essen bekamen, während der reaktionäre Koltschak 1919 zwar einen Stacheldraht um das Lager zog, aber pünktlich die Ration eines immobilen russischen Soldaten lieferte.]. Ich vermied es, mich mit den Russen mehr als unbedingt nötig war, in Gespräche einzulassen, und war froh, daß auch sie sich nicht um mich kümmerten. Im Laufe des Tages war es mir gelungen, mich von der Plattform aus etwas mehr in den Wagen hinein vorzuarbeiten, und zeitweise sogar etwas zu sitzen. In Taiga glückte es mir sogar, einen Liegeplatz im 3. Stockwerk zu erwischen. 83

In den russischen Wagen 3. und 4. Klasse kann man die Rücklehne der Bänke für die Nachtruhe als II. Stockwerk hochklappen, das III. Stockwerk ist das Gepäckbrett. Um den Platz besser auszunutzen, waren die Klappen auch bei tage hochgeklappt und belegt, sodaß man darunter nur gekrümmt sitzen konnte. In unserem Abteil hielten sich nun mindestens auf: 6 Mann sitzend auf beiden Bänken, 2 Mann liegend auf den hochgeklappten Lehnen, 2 Mann liegend auf den Gepäckbrettern; dann jenseits des Ganges waren auch noch 2 Sitzplätze, die in den 3 Stockwerken auch mit zusammen 6 M. belegt waren, sodaß 16 Mann die Mindestbelegung war. Dazu kamen die, die sich stehend oder liegend noch dazwischen herumdrückten. Mein Lager war keineswegs bequem, da selbst ein mittelgroßer Mensch auf dem nur 3 Sitzbreiten langen Brett sein Bein nicht hätte ausstrecken können, geschweige denn ich2. Da ich die Beine auch nicht in den Gang herunter baumeln lassen konnte, 84

mußte ich sie scharf anziehen, sodaß die Knie in spitzem Winkel weit über den Rand meines Lagers hinausragten. Aufrichten konnte man sich natürlich auch nicht, da man unmittelbar unter der Decke lag. Mein Rucksack mit dem geröstetem Brot war mein Kopfkissen. In dem so eng belegten Wagen war natürlich kein Platz für weitere Gepäckstücke, und so hatte ich meine Segeltuchtasche mit den vielen Wertsachen draußen gelassen, in einem kleinen Raum zwischen Plattform und Abteil, in dem der eisernen Ofen stand, einer Kiste, die ganz mit Gepäckstücken voll gepfropft war. Nach den anstrengenden 24 Stunden, die voraus gingen, schlief ich glänzend, wie man in einem fahrenden Zuge überhaupt gut schläft, zumal wenn man aus Sibirien westwärts fährt. 4.11.22.

Am anderen Morgen stieg ich von meinem Lager hinab, sah mich nach meiner Reisetasche um und mußte die bittere Entdeckung machen, daß sie verschwunden war. 85

Nach längerem Erkundigen und Nachforschen erzählte mir einer der Soldaten, ein anderer Soldat, der nachts auf einer mittlerweile etwa 200 km zurückliegenden Station ausgestiegen sei, habe sie mitgenommen. Der Verlust war sehr schmerzlich, denn die Tasche barg alles, was ich an wertvollen Gegenständen besaß, die mich während meiner Reise, und wenn es sein mußte, im Winter 20/21 ernähren mußten, dabei vieles, was selbst für einen sehr Reichen unerschwinglich war, wie Eßbesteck, Zahnbürste u.ä. Noch schmerzlicher war mir der vollkommen unersetzliche Verlust meiner Niederschriften und Skizzen. Doch was halfs, mein Ziel war der Westen, also ging es ungeachtet der Verluste weiter; nun mußte ich einfach, Biegen oder Brechen, Durchkommen, denn ein russischer Winter ohne Decke, das war einfach unmöglich. Mit manchem fand ich mich besser ab, als man meinen sollte, 86

z.B. eine Zahnbürste konnte ich mir erst im Oktober 20 im Durchgangslager Hammerstein erwerben. Auch daß mir das Rasiermesser fehlte, haben wohl mehr diejenigen, die mich ansehen mußten, als unangenehm empfunden, als ich selber. Montag 9.8.20. Von der Fahrt im Laufe des Tages, an dem wie am Tage vorher, auch wieder einige 2 1,96 m groß

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Kontrollen stattfanden, ist noch zu berichten, daß wir früh in Nowo-Nikolajewsk3 eintrafen, und dort etwa 1-1½ stunden Aufenthalt hatten, die ich vorsichtshalber außerhalb des Zuges zubrachte, trotz des feinen Regens. Nowo-Nikolajewsk hat sich erst kurz vor dem Krieg zu einer bedeutenden Stadt entwickelt, dort, wo die sibirische Eisenbahn den Ob überschreitet, und man nahm an, daß sie als Mittelpunkt des sibirischen Butterhandels eine große Zukunft habe. Bei uns Kriegsgefangenen stand Nowo-Nikolajewsk nicht in gutem Ruf, im Winter 14/15 hatte hier im Lager eine furchtbare Flecktyphusepidemie geherrscht 87

(hier waren die berüchtigten „Friedhofsbaracken“, in die Lebende hinein und fast nur Tote heraus kamen) und wir Chabarowsker hatten es in besonders übler Erinnerung, weil hier unsere am 8.4.18 so hoffnungsvoll begonnene Heimfahrt Ende Juni 18 endgültig scheiterte. Bei meinem Umherbummeln auf dem Bahnhofsgelände entdeckte ich auch deutsche Kriegsgefangene, und erfuhr im Gespräch mit ihnen, daß der Abtransport aller Kriegsgefangenen in Sibirien begonnen habe, und zwar von Westen her, so daß erst im Gouvernement Omsk alle Invaliden, dann aus dem Gouvernement Omsk alle Gesunden und aus dem östlich von Omsk gelegenen Gouvernement Nowo-Nikolajewsk alle Invaliden usw ausgetauscht werden sollten. Die weiteren Erlebnisse zeigten, daß diese Parole diesmal richtig war. Ebenso richtig war natürlich, daß ich im Osten nicht darauf gewartet habe, 88

denn bis Kansk drankam, darüber konnten günstigenfalls Monate vergehen, aber auch irgend etwas dazwischen kommen, was den Austausch für längere Zeit gänzlich unterbrach. Gleich westlich Nowo-Nikolajewsk fuhren wir über den Ob. Gern hätte ich auch diesen großen sibirischen Strom gesehen, aber die Bolschewiken waren in jenen Wochen von einer lächerlichen Nervosität ergriffen und fürchteten überall Spionage und Bombenattentate; vermutlich wollten die Etappenkavaliere ihre Notwendigkeit beweisen. Alle Brücken waren von einem großen Aufgebot von Kriegsknechten bewacht und niemand durfte aus dem Fenster sehen. Einige Schreckschüsse sorgten dafür, daß man sich zurück hielt, und so war es mir nicht möglich, einen Überblick über Stadt und Strom zu gewinnen. Die Fahrt im Laufe des Tages war, so weit ich mich erinnere, ohne besondere Reize, und führte meist durch Steppe, ohne Erhebungen. Man merkte aber, daß man in ganz 89

fruchtbaren Gegenden war, denn während es in der Nähe von Krasnojarsk nirgends Lebensmittel auf den Stationen zu kaufen gab, kamen hier beim Nahen des Zuges die Bauersfrauen in großen Scharen zum Bahnhof gerannt, und boten Brot, Fleisch, Milch, Gurken, Fisch und das beliebte Gebäck, das mit Fleisch, Sauerkraut oder Fisch gefüllt war, zum Verkauf. Ob dieses Angebot mehr eine Folge der Fruchtbarkeit der Gegend, oder der nachsichtigen Handhabung des Verbotes des freien Handels war, kann ich nicht entscheiden. Für mich mit meinen 2-3000 Rubeln kam der Markt garnicht in Frage, nur einmal habe ich mir eine Flasche rohe Milch für etwa 100 Rubel geleistet. Wer Wert auf Sauberkeit legte, durfte hier nicht kaufen, die Pfoten der Bäuerinnen, und die Art, wie sie und die Käufer die Lebensmittel anfaßten, konnte schwachen Gemütern den Appetit verderben. 90

Den österreichischen Herrn, der mir seine Hilfe (siehe Seite 71.) angeboten hatte, sah ich verschiedentlich, nahm aber nach seinem Wunsch nicht Notiz von ihm. Einmal redete er mich flüchtig an, und fragte ganz verwundert, wie ich es eigentlich fertig brächte, trotz der vielen Kontrollen noch immer weiter zu kommen, und wiederholte seine Aufforderung, mich in Omsk, wenn ich so weit käme, wegen der Weiterfahrt an ihn zu wenden. Gegen Abend kamen wir wieder an eine Stadt, eine Kreisstadt von der Größe von Kansk, mit dem Namen Kainsk (mit dem Beinamen Tomski, weil es im Gouv. Tomsk lag, 3 Die Stadt heißt jetzt: Nowosibirsk

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wie Kansk den Beinamen Jenisseiski nach dem Jenissei Gouvernement.). Kainsk lag etwa 300 km östlich von Omsk, und hatte auch noch einen 2. Namen (wie viele sibirische Städte), Barabinsk. Auf dem Bahnhof – es war mittlerweile ein schöner Sommerabend geworden – hatte sich eine Menge Menschen eingefunden. 91

Die Durchfahrt „des“ Postzuges war für die sibirischen Landstädtchen natürlich immer ein Ereignis. Ein Mitreisender erzählte mir, daß vor wenigen Wochen hier ein großes Blutbad stattgefunden habe, man hatte in oder bei der Stadt einen Putschversuch gemacht, der natürlich bald unterdrückt wurde, und dann hatte man die Stadt bestraft, dadurch daß man eine „Strafexpedition“ dorthin schickte, d.h. eine Räuberbande mit roten Kokarden, die nach Herzenslust plünderte und mordete. Derartige Putschversuche waren keine Seltenheit, im Juli erfuhr ich allein von zweien, einer fand in Krasnojarsk selber statt, und wurde ganz in der Stille, aber mit viel Blutvergießen unterdrückt. Ein zweiter, gefährlicherer fand bei Nowo Nikolajewsk statt, wo „reaktionäre Banden“ sich in den Wäldern südlich der Bahn organisiert und einen zunächst erfolgreichen Vorstoß auf die Eisenbahn gemacht hatten. 92

(„die“ Bahn, die sogenannte „Magistrale“, ist Sibiriens Lebensader.) 7.XI.22.

Doch sehr bald war es gelungen, den von vornherein nur lokalen Aufstand zu unterdrücken, die Zeitungen meldeten von zahlreichen Verhaftungen, was in diesem Falle hieß: Hinrichtungen. Der 3. Putsch, von dem ich in diesen Wochen hörte, war der in Kainsk. Übrigens erzählte mir davon ein eigenartiger Mitreisender, der am Nachm. irgendwo zu uns gestiegen war. Daß er ein Ausländer war, sah man seinem ganzen Äußeren und Benehmen an, eine hechtgraue „Kappe“ ließ einen öst. Ungarischen Kriegsgefangen in ihm vermuten. Ich redete ihn an, und erfuhr bald, daß er ungarischer Offizier war – einer, der so schlecht deutsch sprach, wie mir das bei meinen gebildeten Ungarn noch nicht vorgekommen war. Jetzt war er Mitglied der Kommunistischen Partei, und zwar merkwürdiger weise nicht der internationalen Sektion, sondern ein russischer Kommunist, und wurde nun von der 93

Partei bald hierhin, bald dahin auf Agitationsreisen geschickt. Die ganze Organisation hatte, nach seinen Erzählungen zu urteilen, etwas Jesuitisches und etwas Kadavergehorsam an sich. Er wußte nicht wohin er fuhr, sondern mußte sich in Omsk seine Instruktionen holen, und so führte er schon seit Wochen oder Monaten ein unruhiges Reiseleben, bekam den Auftrag, in irgend einem Dorf eine Versammlung abzuhalten, fuhr dann gleich weiter, unbekannt wohin, vielleicht 600 km nach Westen. Wie er es fertig brachte, eine russische Agitationsrede zu halten, weiß ich nicht; vielleicht war es nicht so schwer, den kommunistischen Wortschatz zu erlernen. Der Mann war ein ganz seltsamer Mensch, fanatisch und hart, wie ich selten jemand sah. Irgend ein russischer Soldat warf ihm seine Teekanne um, da wurde er doch so maßlos erregt und ausfallend in seinen Äußerungen vorsichtiger weise allerdings auf Deutsch - daß ich dachte, er würde dem Russen gleich an 94

die Kehle springen. Ich habe die Russen nicht sehr geschätzt, und namentlich in jenen Tagen nicht, aber was er von den Russen erzählte, und die Art und Weise, wie er sie runter machte und samt und sonders beschimpfte, das war mir doch unbegreiflich, und in solch maßloser Härte noch nicht vorgekommen. Einen größeren Gegensatz zu russischen Wesen, als er darstellte, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, und es ist mir unbegreiflich, was ihn zum Bolschewismus, der doch in 1. Linie russisch, und dann noch lange nicht international ist, hingezogen hatte. Doch war er ein Ungar, und ich kann mir wohl vorstellen, wie Leute

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seines Schlages in Ungarn unter Bela Kun4 gehaust haben. Alles sah er von seinem kommunistischen Standpunkte aus an, und wenn er von einem Russen erzählte, der irgend wie schlecht gehandelt habe, so sagte er nicht, das sei ein schlechter Mensch, sondern es sei ein schlechter Kommunist. Nach seinen Reden müßte man vom Kommunisten eine unbedingt einwandfreie und unanfechtbare Lebensführung erwarten, ob er allerdings vertrug, mit dem selben Maßstab gemessen zu werden, den er an seine Parteibrüder anlegte, scheint mir zweifelhaft, jedenfalls war er mir ein ganz besonders unangenehme Abart des homo sapiens, weil mich diese Härte und Kälte und fanatische Einseitigkeit abstieß. 95

Auf alle Fälle war ich ihm gegenüber vorsichtig, doch hat er mir keinerlei Schwierigkeiten gemacht, obgleich es ihm sicherlich leicht gewesen wäre, festzustellen, daß ich nicht so ganz einwandfrei mit Papieren versehen war. Seine ganze Aufmerksamkeit war anscheinend auf die Kommunisten vereinigt. Doch das Wichtigste beim Aufenthalt in Kainsk war, daß ich dort Anschläge ganz jungen Datums (Anfang August) fand, in denen befohlen wurde, alle reichsdeutschen Kriegsgefangenen Mannschaften sofort von ihren Arbeitsstellen in das Lager Omsk zu schicken, damit sie von dort abtransportiert wurden. Jeder russische Arbeitgeber, der den Befehl nicht ausführte, sollte mit Zwangsarbeit bestraft werden. Die deutschen Offiziere sollten an ihren Arbeitsplätzen verbleiben. Unter den auf dem Bahnsteig Promenierenden entdeckte ich einen jüdischösterreichischen Militärarzt, der jetzt als russischer Stadtarzt in Kainsk tätig war. 96

Ich redete ihn an, und er riet mir, mich in Omsk als Musketier ins Lager zu begeben; so käme ich am sichersten nach Hause. Das leuchtete mir ein, und als wir weiterfuhren säuberte ich meine Papiere, d.h. zerriß einen alten Invalidenschein von 1919, auf dem ich noch als Leutnant angeführt war, und meinen Krasnojarsker Registrierschein, auf dem auch lauter jetzt nur hinderliche Angaben waren (Leutnant, Gymnasium, Student usw.) 10. August 20. Auch die 3. Nacht ging vorüber und am Dienstag früh näherten wir uns schnell Omsk. Zu der Freude, daß bis hierher alles wider Erwarten schnell und glatt gegangen war kam die aufregende Frage, wie nun weiter? Omsk hat einen Riesen-Bahnhof, wir fuhren erst durch eine Unmenge von Zügen – Güter- und Personenzüge, bewohnten und nicht bewohnten – bis wir vor dem Stationsgebäude hielten, wo sich eine große Menschenmenge herumtrieb. 97

Mein erstes Bestreben war, den mitreisende Österreicher zu erreichen, der mir seine Hilfe für die Weiterfahrt angeboten hatte. Er sauste richtig geschäftig durch die Menge, und erst nach einer Weile gelang es mir, mit ihm in Ruhe ein paar Worte zu sprechen. Ich erinnerte ihn an sein Angebot, und war nicht wenig enttäuscht als er mir auch nur seine Begleitung, aber keinerlei Papier oder sonst eine reale Unterstützung anbieten konnte. Mir ist noch unverständlich warum er zuerst vollkommen unaufgefordert einem Unbekannten anbot, ihm zu helfen, von Omsk nach Moskau zu kommen, und nachher mit einer faulen Ausrede kam, er hätte auch nur Papiere für sich allein, doch wenn ich in denselben Wagen steigen wolle, so würde er sich über meine Begleitung freuen. Ich hatte ziemlich fest mit diesem unverhofften Glücksfall gerechnet, und war recht enttäuscht, als er sich als Reinfall entpuppte. Was nun? Ich konnte mich nun nicht recht entschließen, mit dem Personenzug weiter zu fahren. Bisher war alles mit der immerhin möglichen Ausrede: ich bin nach 98

Omsk kommandiert! Gut gegangen, ob ich aber mit der neuen Ausrede, ich bin in den Ural 4 Bela Kun (1886-1938), ungarischer kommunistischer Politiker.

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oder nach Petersburg kommandiert, Erfolg haben würde, das auszuprobieren traute ich mich nicht recht, zumal wir wußten, daß bald hinter Omsk eine sehr strenge Kontrolle (ähnlich wie die von mir vermiedene hinter Krasnojarsk) sein würde, die alle, die von Sibirien aus nach Europäisch-Rußland wollten, scharf untersuchte; kurz, ich wollte das Schicksal nicht herausfordern, nachdem ich etwa 12 x hintereinander schon merkwürdiges Glück entwickelt hatte. Außerdem gabelte sich die Bahn in Omsk in die Nordlinie (über Jekaterinburg und Perm nach Petersburg) und die Südlinie (über Tscheljabinsk, Samara nach Moskau), und wenn auch die Nordstrecke die nähere war, so hatte doch auch die Südstrecke mancherlei Vorteile, und verschiedene Kameraden hatten schon auf ihr Moskau erreicht, von wo man ohne weiteres durch den deutschen Bevollmächtigten Holzer weiter kam. So schob ich meine Entscheidung hinaus, und erkundete zunächst erst mal die Möglichkeit, mit einem 99

Gefangenentransport weiter zu kommen. Beim Einfahren in Omsk waren wir an einem Zuge vorbei gekommen, in und an dem ich Kriegsgefangene gesehen hatte. Dorthin – etwa ¼ Stunde vom Empfangsgebäude – ging ich also, und erfuhr, daß es der letzte Omsker Invalidenzug sei, der noch am selben Tage abgehen sollte. Ihm sollte noch am gleichen Tage der 1. Zug mit gesunden Mannschaften, die auch schon „einwaggoniert“ seien, folgen. Ich sollte nur ins Lager gehen, dann käme ich sofort auf die Liste und noch im Laufe der Woche weg. Einer von den Leuten, ein Reichsdeutscher, gab mir noch den guten Rat, der von guter Beobachtung eingegeben war: „Nimm nur deine Brille ab, sonst halten sie dich für einen Einjährigen!“ (d.h., du kommst als Nicht-Proletarier nicht mit). Diese Auskünfte die mir nach allem, was ich bis dahin erfahren hatte, durchaus wahrscheinlich klangen - (der alte Kriegsgefangene war sehr skeptisch) - bewogen mich, weitere gewagte Experimente 100

zu lassen, und zu versuchen, mit einem Mannschaftstransport mit zu kommen. Ich ließ mir das Lager beschreiben, holte vom Bahnhof meinen Reisesack, und zog los. 8.11.22.

Die Stadt Omsk liegt etwa 1-1½ Stunden vom Bahnhof entfernt, mit dem sie durch eine Stichbahn verbunden ist, das Gefangenenlager etwa ¾ Stunde. Das Kriegsgefangenenlager war ein kleiner Teil eines riesigen Bezirkes von Kasernen, Ställen, Exerzierplätzen, Baracken usw. Schon sehr bald stieß ich auf eine Gruppe von 4 anderen Gefangenen, die gleichfalls ins Lager strebten, und denen ich mich anschloß. Sie kamen von weither; von Barnaul aus, wo sie im Winter 19/20 im Lager gewesen waren, waren sie auf Arbeit in die Steppe südlich davon gegangen. Im Juli 20 hatten sie sich in dem unklaren Gefühl, daß es jetzt Zeit sei, auf die Beine gemacht und in 4 Wochen 1000 km meist zu Fuß zurückgelegt, bis sie 400 km westl. Omsk auf die Eisenbahn stießen, 101

wo man sie nach Omsk schickte. Sie hatten allerhand gesehen und erlebt, waren oft bei Kirgisen gewesen, hatten den großen Salzsee südlich der Bahn gesehen, und wußten viel zu erzählen. 3 von ihnen waren Österreicher, einer Deutscher aus dem schlesischen Gebirgsland. Mich nahmen sie anstandslos in ihre Gesellschaft und behandelten mich als ihresgleichen, was mir sehr lieb war. Auch sie gaben mir den Rat, meine Brille wegzutun. Sehr gefiel mir, daß mich keiner von ihnen nach Herkunft, Beruf usw. fragte, obgleich ich mit dem einem über 6 Wochen zusammen war. Ehe wir ans Lager kamen, sahen wir auf einem Anschlußgleis einen Zug mit Gefangenen stehen, es war der 1. Transport von Gesunden. Ich ging am ganzen Zuge entlang, um nachzusehen, ob irgend jemand Bekanntes darin sei; und richtig, kaum war ich einige Schritte entfernt, als einer hinter mir herkam, und mich anrief. Es war ein Herr Viethaus aus unserem Lager Kansk, der mit 60 Spezialisten nach Omsk gekommen war, 29

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und mir erzählte, er sei der letzte, der noch da sei, die anderen seien schon alle weiter, teils allein, teils in kleinen Gruppen, und auch er hoffe, mit seinem Transport noch am selben Tage auf den Bahnhof und dann bald weiter zu kommen. Er empfahl mir, ins Lager zu gehen, aus dem jetzt regelmäßig Transporte abgingen. Im Lager suchten wir gleich die Kanzlei auf, um möglichst schnell auf die Liste zu kommen, und fanden hier schon eine große Schar vor, die alle nicht hinein konnten, da die kleine Baracke überfüllt war. Der Befehl, der überall im Gouvernement bekannt gegeben war, hatte zur Folge, daß jeden Tag hunderte von Kriegsgefangen aus allen Richtungen zusammen strömten. Nach langem Warten gelang es uns, in einen größeren Raum einzudringen, wo die Listen aufgestellt wurden, und wo man uns unsere Papiere abnahm. Meine Papiere waren recht mangelhaft. Um eine genaue Kontrolle über die Kriegsgefangen zu haben, hatten die „Evakuierungs“behörden, d.h. Internationalisten, 103

Russen wären nicht so schlau gewesen, einheitliche Formulare drucken zu lassen, in denen die Personalien sehr eingehend eingetragen wurde. Ich hatte meine zerrissen, da er lauter gefährliche Angaben enthielt. (Leutnant, Student usw.) Ich war in Krasnojarsk registriert worden, und hatte dort schlecht falsche Angaben machen können, da ich bei meiner Anmeldung eine längere Unterhaltung und Auseinandersetzung mit dem Obergauner Tarnopolski hatte, und ich dem schlecht etwas vormachen konnte. So gab ich dann einige Surrogatpapiere ab: einen vorläufigen Registrierschein aus Kansk, in dem nur mein Name stand, eine Bescheinigung, daß ich in Kansk für die Russen gearbeitet hatte, und eine Mitgliedskarte vom „Verbande der Bauarbeiter“ in Krasnojarsk. Nach längerem Warten erfuhren wir, daß die Kanzlei Mittagspause machte, suchten uns in irgendeiner Baracke einen Platz, was leicht fiel, da die Baracken fast leer waren, 104

und gingen dann, um die Reisestaub und Schmutz los zu werden, an den Irtisch, dort zu baden. Daß er vom Lager nur ½ St. entfernt war, war eine sehr große Annehmlichkeit, die mir umso wertvoller war, als ich nichts zum Waschen besaß, als ein Stückchen sehr schlechte Seife und meinen Trinkbecher. Der Irtisch machte einen recht unansehnlichen Eindruck, im Gegensatz zu dem wasserreichen Jenissei war er zum großen Teil ausgetrocknet, weite Strecken der Ufer lagen trocken und im Fluß waren große Inseln entstanden. Ich war heilfroh, eine so angenehme Gesellschaft gefunden zu haben, die mich ohne weiteres zu sich aufnahm. Im Lager war ich sehr zurückhaltend, denn mir war garnicht geheuer. Es brauchte mich nur irgend einer etwas eingehend in ein Gespräch zu ziehen, dann mußte er sehr bald merken, daß ich nicht der war, als der ich mich ausgab. Daß trotzdem in 6 Wochen niemand etwas merkte, oder wenigstens niemand 105

mir Schwierigkeiten machte, ist mir heute noch unerklärlich. Allerdings waren in allen Mannschaftslagern eine Anzahl Leute, die weder Bauern, noch Arbeiter waren, sondern als Kaufleute u.ä. mehr Ähnlichkeit mit unser einem hatten. Besonders unangenehm war mir, daß ich meine Brille ständig in der Tasche tragen mußte, wodurch mir doch sehr vieles von der Außenwelt entging, und ich noch unbeholfener wurde. Auf all diese recht unangenehmen Experimente hatte ich mich nur eingelassen in der sicheren Annahme, daß es nach 1 oder 2 Tagen nach Hause gehe. Wie übel war aber meine Lage, als ungefähr 3 Wochen scheußlichster Art daraus wurden. Abds. mußten wir alle antreten, und es wurde stundenlang die Liste des nächsten Transports vorgelesen, wobei die aufgerufenen mit ihrer Nummer antworten mußten. Da viele nicht aufpaßten, manche Namen auch arg verstümmelt waren, dauerte es sehr lange und mußte schließlich abgebrochen werden, da es dunkel wurde. Meine – allerdings 30

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recht unbegründete – schwache Hoffnung, auch schon meinen Namen zu hören, erwies sich natürlich als verfehlt. 11.8.20. Am nächsten Morgen fanden wir uns wieder (mit vielen Leidensgefährten) vor der Kanzlei ein. Nach einiger Zeit erschien der Leiter der Kanzlei, ein kleiner galizischer Jude, Genosse Mahler, ließ uns antreten und verlangte die Registrierscheine. Uns, die wir keine hatten, eröffnete er, daß ohne Registrierschein niemand auf die Liste komme. Wir sagten, wir hätten unsere abgegeben. Darauf er, das sei sehr töricht gewesen, einen Registrierschein gäbe man nicht aus der Hand, doch wenn die Scheine in Ordnung gewesen wären, würden wir beim nächsten Transport dabei sein. Am Abend wurde wieder ein Transport verlesen – und wohl auch noch eingeladen – wir waren nicht dabei: 5 Mann hoch. Es war mir recht lieb, daß ich 4 Leidensgenossen hatte, ich durfte mich nicht allzu oft auf der Kanzlei sehen lassen, um Beschwerde zu führen, da ich sonst bald erkannt worden wäre. 107

Doch unsere Sache zog sich ziemlich in die Länge. Erst hieß es, die Scheine müßten sich finden, auf der Kanzlei ginge nichts verloren, wir sollten nur die nächste Transportliste abwarten, auf der wir sicher mit darauf wären. Als sich diese Hoffnung als trügerisch erwies, bekamen wir die Erlaubnis, uns selber neu zu registrieren, d.h. Scheine mit den vorgeschriebenen Formularen zur Unterschrift und Stempelung vorzulegen. Da war es nun mein Gewinner, daß es keine Vordrucke mehr gab, sodaß wir uns auch die Formulare selber schreiben mußten. Da die anderen nicht russisch schreiben konnten, übernahm ich diesen Teil der Arbeit, die anderen besorgten Papier und Schreibzeug, und vor allem führten sie Verhandlungen und erledigten die nötigen Wege. Besonders tüchtig waren hierbei 2 nette junge Leute, wohl Kriegsfreiwillige, einer aus Rostock und einer aus Berlin. Sie waren als Köche in einem kommunistischen Kurort (xxxxxxxx= Teufelsgraben) etwa 50 km 108

südlich Omsk gewesen, hatte dort sehr gut gelebt und brachten eine Menge Delikatessen mit, von denen ich geglaubt hatte, es gäbe sie überhaupt nicht mehr in Sibirien. Doch die Kommissare, die das Publikum des Kurortes bildeten, wußten, was sie ihrer Gesundheit schuldig waren. Das kam uns zu gute, denn die beiden Köche machten sich auf der Kanzlei durch Spenden von Kakao usw. recht beliebt, und so kam unsere Registrierung endlich in Gang, ja die beiden waren sogar schon beim nächsten Transport dabei und pendelten los, während wir anderen 3 auf den nächsten warten mußten. Gern wäre ich mit ihnen gefahren, dann hätte ich Gesellschaft gehabt, in der ich mich hätte zwangloser benehmen können. Einmal luden sie mich auch zum Abendessen ein, und bewirteten mich, der ich auf eine ganz kümmerliche Ernährungsweise gesunken war, mit Kakao, Milch und Zucker, was mir mindestens schon seit 3 Jahren nicht vorgekommen war, und hochfeinen Zwieback. Meine 109

Schreibertätigkeit hatte sich schnell herum gesprochen, und immer wieder kamen nun Ankömmlinge, deren Papiere nicht in Ordnung waren, und ließen sich von mir neue Scheine ausstellen. Ich tat es gerne, da es mir ganz angenehm war, möglichst viele Leute mir etwas zu verpflichten. Manche kamen allerdings auch, und wollten mir die Arbeit mit Geld oder Naturalien bezahlen, was ich ablehnte, da mir der Standpunkt, ich bin reich, da kann ich andere für mich arbeiten lassen, nicht gefiel. Alles schien sich so einzurenken, da kam prompt der nächste Schlag. 9.11.22.

Der Geburtstag, 14. August, vor dem Kriege festlich begangen, 1914 – 1919 mit Stillschweigen übergangen, entwickelte sich 1920 zu einem richtigen Unglückstage. Und zwar nicht ein Unglück allein. Die erste freudige Überraschung war, daß ich in meiner Wäsche Läuse entdeckte, die ich mir vermutlich am Tage vorher im Dampfbade 110

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geholt hatte. Läuse waren nicht nur unangenehm, sondern gefährlich, weil sie die Verbreiter des Flecktyphus waren, und was Flecktyphus heißt, das weiß jeder sibirischer Kriegsgefangene zur Genüge. Und Läuse wieder los zu werden mit so mangelhaften Hilfsmitteln, wie sie mir zu Gebote standen, war eigentlich aussichtslos. Nach dieser Einleitung des Tages wurde mittags wieder ein Transport verlesen – Im Laufe der Woche waren schon 3 abgegangen -. Ob mein Name schon genannt war, oder ob die Verlesung unterbrochen wurde, weiß ich nicht mehr, jedenfalls schien alles gut zu stehen, ich glaube sogar, der Transport sollte abends schon verladen werden, da kam mit einem Male der Befehl, wie man sagte, aus Petersburg, den Abtransport der Kriegsgefangenen einzustellen, zunächst für 14 Tage. Die Bahn sei überfüllt, das Bahnmaterial werde für militärische Zwecke gebraucht, (Feldzug gegen Polen) und die in den letzten Tagen abgegangenen Transporte stünden auf der Strecke, ohne weiter 111

zu kommen. Wie die ganze Sache zusammenhing, wußten wir nicht, doch an dem Befehl war nicht zu zweifeln, und was aus den 14 Tagen werden würde, war auch garnicht abzusehen. Es war scheußlich. Das Leben im Lager und in der Baracke war entsetzlich, nun wuchs mit der Länge des Aufenthaltes die Gefahr des Erkanntwerdens, mit dem Herannahen des Winters die des Flecktyphus; Geld und Vorräte schmolzen zusammen. Noch ein Lichtblick leuchtete für kurze Zeit. Als wir mittags zur Verlesung versammelt waren, sah ich in der Menge mit einem Male meinen Krasnojarsker Bekannten, Herrn Cibis (siehe S. 18/19). Er erzählte mir, sie seien mit dem Lazarettzug – in dem er als Sanitäter, seine Frau als Krankenschwester – ohne Kranke, aber mit viel Personal oder Leuten, die sich als Personal ausgaben, von Krasnojarsk bis Omsk gefahren und stünden jetzt auf dem Anschlußgleis am Lager und warteten weitere Befehle ab. - Die ganze 112

Geschichte war echt russisch, weil die verantwortlichen Leute sich nicht über das, was sie wollten, klar waren, gondelte der Lazarettzug wochenlang leer in Sibirien umher, wirklich kranke Gefangene konnten nicht abtransportiert werden „aus Mangel an Transportmitteln“; eine ziemlich große Gesellschaft von Nichtstuern machte sich in dem Lazarettzug breit und lebte gut auf Staatskosten. Cibis forderte mich auf, ihn zu besuchen, und gegen Abend, noch ganz unter dem Eindruck des vernichtenden Schlages, ging ich zu ihm. Außer ihm und seiner Frau war in dem Zuge noch eine ganze Anzahl ähnlicher Existenzen, die alle den Sanitätsdienst vorschützten, um bequem und mit möglichst viel Gepäck aus Sibirien heraus zu kommen, z.T. auch einige trübe Gestalten, die aber von dem leitenden russischen Arzt geduldet, gern gesehen oder gewünscht wurden. Das Ehepaar Cibis reiste mit einem Blumentopf, in dem ihre Hochzeitsmyrthen wuchsen, und von dem sie sich nicht trennen wollten 113

und der mir, so oft ich noch zu ihnen in den Zug kam, immer viel Freude machte. Lebensmittel hatten sie in großen Mengen und bewährter Güte, da sie reich mit Geld und vor allem Tauschwerten versehen waren und auch genügend Platz hatten, Vorräte zu lagern. So konnte ich mich mit gutem Gewissen an Tee und Butterbrot stärken. Bei Besprechung der Lage fanden wir dann heraus, daß ich doch eigentlich auch in dem Lazarettzug mitfahren könnte. Eine Rote+Binde konnte besorgt werden, dem russischem Arzt sollte ich womöglich aus dem Wege gehen, was nicht schwer sein würde, da er sich nicht viel um seinen Zug kümmere; und Platz und vor allem Verpflegung würde sich schon finden. Ich griff natürlich begierig diese Möglichkeit auf, verabredete, daß ich abends nach der Abendverlesung, oder -kontrolle, oder -versammlung – eins von den 3 war jeden Abend stundenlang – kommen sollte und kehrte ins Lager zurück. Dort wartete ich noch die abendliche Veranstaltung ab, die nichts wesentliches brachte, jedenfalls keine 114

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„neue Lage“, schnürte mein kümmerliches Bündel, und machte mich marschbereit. Draußen am Zuge empfing mich Herr C. ganz niedergeschlagen und hoffnungslos. Es hätte keinen Zweck, daß ich in den Zug käme, da er vermutlich noch lange in Omsk stehen bleiben würde. Der Russische Arzt hätte herausgefunden, daß er nirgends so billig leben und so leicht Lebensmittel einkaufen könne wie in Omsk, und hätte deshalb auch keinerlei Interesse daran, die Weiterfahrt zu betreiben, die ihm nur Arbeit und schlechtere Lebensbedingungen bringen könnte. Angesichts dieser Lage habe auch er, C., vor, ins Lager über zu siedeln, und zu versuchen, so schneller nach Hause zu kommen. Unter diesen Umständen mußte ich natürlich meinen Plan aufgeben, und kehrte mit der 3. Enttäuschung des Tages ins Lager zurück und suchte mein Lager auf. Das Lagerleben war scheußlich, und nur zu ertragen in der Annahme, daß der Aufenthalt nur von kurzer Dauer war. Die Baracken waren selbst bei Tage dunkel, 115

sodaß man nur an wenigen Plätzen lesen konnte, und schmutzig, namentlich bei Regenwetter, da der Mittelgang nicht etwa gedielt war, sondern den nackten Boden zeigte. Ein großes Glück war, daß die Leute, fast ausschließlich Reichsdeutsche, auf Sauberkeit hielten. Die Einrichtung war die übliche: 2 Geschosse Pritschen übereinander. Ich hatte mir der Einfachheit halber einen Platz unten gewählt, was den Nachteil hatte, daß einem von oben Staub, Brotkrümel u.a. durch die Fugen auf den Kopf rieselten. Als mein Bett diente die eine Hälfte meines Mantels, mit der anderen deckte ich mich zu. Zum Unterbringen der paar Sachen diente ein Regalbrett am Kopfende, außerdem schlug ich mir einige Nägel ein – als erfahrener Gefangener reiste ich nicht ohne Hammer, Zange und Nägel – Glücklicherweise hatte ich mir Schuh- und Kleiderbürste gerettet, sodaß ich meinen Platz immer sauber halten konnte. Der Tageslauf war folgender: Morgens stürzte man zum „Kigiatek“, der Zapfstelle 116

für heißes Wasser, wo man stundenlang (wörtlich zu nehmen!) anstehen mußte, wenn man nicht ganz früh draußen war, wenn noch alles schlief. Viele kamen nach endlosem Stehen mit leeren Kannen zurück, weil das Wasser nicht gereicht hatte. Vormittags ging dann meist der größte Teil auf Arbeit, d.h. zurück bleiben durften nur die Kranken, die von der Arbeit befreiten und die zum Barackendienst eingeteilten. Ich war gleich in den ersten Tagen beim (österreichischen) Lagerarzt gewesen, um mir Chinin geben zu lassen. Er hatte mich unaufgefordert nur für leichte Arbeit tauglich geschrieben (als Malariarekonvaleszenten), so brauchte ich nicht mit auf Arbeit zu gehen, wurde aber dafür viel mit Barackendienst (Ausfegen!) und Schreibarbeit beim Barackenkommandanten, einem vernünftigen Österreicher, beschäftigt. Einmal wurde ich auch in den Wald geschickt und mußte Birkenbesen schneiden, zum Ausfegen der Baracke. Die auf Arbeit geschickten 117

traten gegen 9 an, gingen zum Irtisch, setzten über und mußten auf dem anderen Ufer Salz aus Schiffen in Eisenbahnwagen tragen. Sie kamen meist erst gegen 4 Uhr wieder. Recht gut, jedenfalls besser als in Kansk und Krasnojarsk, war die Verpflegung. 2 x am Tage gab es heißes Wasser zum Tee aufbrühen. Mittags eine ordentliche Portion kräftiger Fleischbrühe, etwas, was man garnicht mehr kannte, abds meist Kascha (Buchweizen, Graupen oder Hirse mit meist recht üblen Öl oder Fett angemacht.) Zum Essenholen waren wir in Gruppen von 10 Mann eingeteilt, das Essen wurde in großen flachen Schüsseln – etwa so groß wie eine Waschschüssel – ausgegeben, die sich schlecht tragen ließen, besonders wenn es geregnet hatte und die Wege glatt waren. Aber die ganze Art der Ausgabe war sehr praktisch und ging flott voran. Die Schüsseln wurden nach dem Essen wieder in die Küche gebracht und dort aufgewaschen. Außerdem ab es täglich 118

1¼ Pfund (500 gr) recht guten Brotes. Abds war entweder Transportverlesung, Kontrolle 33

oder „Meeting5“ (sprich: Miting), wozu alle Lagerinsassen auf einen großen Platz zusammen getrieben wurden. Die Meetings, vor denen ich mich meist drückte, waren schrecklich. Deutsch, russisch und ungarisch wurden wir über den Krieg aufgeklärt und vor allem auf unsere Pflicht hingewiesen, die Weltrevolution nach Deutschland zu übertragen. 14. Nov. 22.

Das Lager zu verlassen, war verboten; man sollte immer zur Stelle sein, für den Fall, daß wichtige Befehle angesagt, oder ein Transport verlesen wurde. Natürlich konnte ich mich an diesen Befehl nicht halten, sondern versuchte, so viel Zeit wie möglich außerhalb des entsetzlichen Lagers zu zubringen. 3 Beschäftigungen halfen mir besonders, über die Zeit hinweg zu kommen; Spaziergänge in einen nahen Walde, das Zeitunglesen auf dem Bahnhof und das Baden im Irtisch. 119

Morgens, wenn das Frühstück und der Barackendienst erledigt war, verdrückte ich mich in einen kümmerlichen Wald, der etwa ¼ Stunde vom Lager entfernt lag. Hier suchte ich mir ein ruhiges Plätzchen, irgend eine sonnige Lichtung abseits von den Wegen, nahm zuerst die tägliche Läusejagt an allen Kleidungsstücken vor, und dann legte ich mich in die Sonne und döste oder las irgend etwas Schönes. Denn erfreulicherweise war noch eine ganz gute Bücherei im Lager. Mit besonderer Dankbarkeit denke ich an die „Stromtid“6 zurück, die mir gut über jene niederdrückenden Tage hinweg half, und bei deren Lesen ich die Gegenwart gänzlich vergessen konnte. Wenn das Wetter es irgend wie erlaubte, ging ich auch zum Irtisch zum Baden. Auch dort hatte ich ungestörte, windgeschützte Stellen gefunden, wo man baden, waschen und in der Sonne liegen konnte. 120

Und schließlich ging ich möglichst jeden Tag zu dem etwa ¾ Stunden vom Lager entfernten Hauptbahnhof. Dort war immer Betrieb, man sah Transporte, hörte, was draußen geschah, und konnte die neuesten Nachrichten lesen. Die Zeitungen wurden nämlich nicht mehr an Einzelpersonen abgegeben, sondern waren an Plakattafeln angeschlagen oder in Lesehallen ausgelegt. In solch einer Lesehalle war der Wartesaal in Omsk – wie in den meisten sibirischen Städten auch, - umgewandelt worden, den sogenannten xxxxxxxxxxxxxxxx, dem „Agitationspunkt.“ Agitation und Propaganda waren sehr gut entwickelte Seiten des bolschewistischen Systems, ihm dienten die Agitationszüge, Eisenbahnzüge die außen über und über mit grellen, werbenden Darstellungen bemalt waren, die „Meetings“, die unzähligen Plakate und die „Agitationspedell“. Im Omsker stand am Eingang ein Soldat, der jedem eine Marke gab. Für die Marke bekam man am „Buffet.“ 121

eine Zeitung oder Zeitschrift, und beim zurückgeben der Zeitung bekam man die Marke zurück, ohne die man den Saal nicht verlassen durfte, eine einfache Maßregel gegen Diebstahl. Auf dem Podium saß eine kleine Kapelle und machte Musik. Alle Augenblicke spielte sie die III. Internationale, worauf alles aufstand und schweigend zuhörte. Die Auswahl an Zeitungen (natürlich nur kommunistische, andere gab es ja nicht) war recht groß. Mir war der Besuch des Lesesaales doppelt wertvoll, einmal, weil man nur dort einigermaßen sicheres über das, was in Rußland und der Welt vor sich ging, erfahren konnte. Und 2. weil ich so noch allerhand Interessantes über Rußland erfuhr. 15.November 22.

Denn so minderwertig die Lokalblätter, wie z.B. der Krasnojarsker, waren – sie brachten nur Bekanntmachungen und von niederen Geistern zurecht gestutzte Ausschnitte 122

so gut waren die hauptstädtischen. Schon im „Ratssibirien“, der Omsker Zeitung stand viel 5 Hier ist wohl das englische „meeting“ gemeint. 6 „Ut mine Stromtid“, Roman von Fritz Reuter

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lesenswertes, und noch interessanter waren die „Nachrichten (xxxxxx xxxxx) des Moskauer Ausführenden Komitees“ mit sehr gescheiten Leitartikeln von Karl Radek, die Petersburger „Prawda“ (Wahrheit) – ich glaube, sie war das Organ von Maxim Gorki – und die xxxxxxxxxxxxxxx „Das Ökonomische Leben“, das Organ des Allrussischen Rates für Volkswirtschaft. Bei allen Zeitungen mußte man natürlich bedenken, daß sie Regierungsblätter waren, und daß es zugegebenermaßen eine Pressefreiheit nicht gab. Noch etwas vom Leben im Lager. Wie tief ich gesunken war, geht daraus hervor, daß ich, nachdem mir meine Reisetasche gestohlen war, weder Löffel noch Gabel noch Tischmesser besaß. Nur mein Taschenmesser und meine Taschenschere waren mir verblieben. Bei allen Mahlzeiten mußte ich also warten, bis meine Nachbarn gegessen hatte, und mir dann einen Löffel borgen. Nach einigen Tagen konnte ich mir durch Vermittlung 123

eines Nachbarn für teures Geld einen Holzlöffel ungeheuren Umfangs erstehen, und ich kam mir wieder sehr reich vor, wenn es sich auch nicht gerade bequem damit aß. Sehr groß aber war mein Schmerz, als ich eines Tages beim Baden mein schönes Taschenmesser – ein Schweizer Armeemesser mit vielen Schikanen – verlor. Ohne Taschenmesser komme ich mir immer verloren vor, ganz besonders empfand ich diesen Mangel dort, wo das Taschenmesser fast mein einziger Besitz war. Nach langem Suchen fand ich endlich auf dem Markt einen Händler, der mir für eine für meine Verhältnisse recht bedeutende Summe (400,- R ?) ein ganz gemeines Taschenmesser, das überhaupt nicht fest stand, verkaufte. Mein Waschen war recht russisch, ich nahm meinen Trinkbecher voll Wasser, das genügte, um Gesicht, Hände und Hals zu waschen. Wäre nicht der Irtisch gewesen, und hätte sich nicht öfter Gelegenheit geboten, in ein Dampfbad zu gehen, ich glaube, ich hätte es nicht ausgehalten. Zu dem Kapitel Wasser usw. möchte ich noch bemerken, daß man sich in Deutschland garnicht vorstellen kann, wie wertvoll in Rußland Messer, Gabel, Löffel, 124

auch Schere, Teller u.a. ist. Vor dem Kriege wurden diese Sachen, soweit sie gut waren, im Ausland hergestellt, nur die minderwertigen in Rußland. - Im März 1915 kauften wir für unser Zimmer in Tomsk ein großes Messer „Notung, das neidige Schwert“7, schon bei der 1. Benutzung sprang die Klinge -. Nach der Revolution hörte nun eine Fabrik nach der anderen auf, zu arbeiten, aus dem Ausland kam nichts herein, so daß die Not groß war. Im Gefangenenlager war es üblich geworden, daß die Habe von Verstorbenen versteigert wurde, um Messer, Gabel usw. fanden dabei immer scharfe Kämpfe statt, die Preise dafür wurden ganz unsinnig in die Höhe getrieben. Ähnlich war es mit Streichhölzern. Nach der Revolution war es den Russen nicht mehr möglich, Streichhölzer herzustellen, was ins Land kam, stammte aus Japan – dabei taten die Russen natürlich ganz erhaben gegenüber de Japanern -. Im September las ich im „Ratssibirien“ einen Bericht der obersten Verteilungsbehörde; sie schrieb: „als wir im Winter 19/20 Sibirien eroberten, 125

nahmen wir Koltschak so und so viel Millionen Schachteln Streichhölzer (japanisches Fabrikat) ab, die für Sibiriens Bevölkerung bis Ende September reichen. In Sibirien Streichhölzer herzustellen, ist unmöglich; wir haben in Europäisch Rußland Streichhölzer und viele andere Fabrikate bestellt; das einzige, das wir bekommen haben, sind 2 Waggons mit Parfüm, und einige mit Teegläsern und Untertassen“. - Daß diese Sendungen den Warenhunger der sibirischen Bevölkerung nicht befriedigen konnten, kann man sich vorstellen. Sehr schmerzlich war mir, daß ich aus Mangel an jeglichem Gerät – nicht einmal 7 Notung ist Siegfrieds Schwert bei R. Wagner

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eine Waschschüssel besaß ich – meine Wäsche nicht ordentlich waschen konnte. Einige Male pumpte ich mir eine Schüssel und tat, was streng verboten war, holte mir kochendes Teewasser, und übergoß meine verlauste Wäsche damit. Doch ohne Erfolg, eine gute sibirische Laus ist nur durch längeres Kochen tot zu kriegen. Mein verzweifeltes Waschen mit kaltem Wasser am Flusse war natürlich gänzlich erfolglos. 126 0

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100 Hitze schaden der Laus ebenso wenig wie 20 Kälte. Eine weitere Annehmlichkeit in der nicht rein zu haltenden Baracke waren die vielen Flöhe, die sich auf jeden müden Schläfer stürzten. Der Zufall verhalf mir da zu einem guten Mittel; ich entdeckte, daß man verhältnismäßig wenig belästigt wurde, wenn man sich erst ganz spät schlafen legte. Vermutlich hatte dann sich jeder Floh schon einen Weideplatz gesichert und den ersten Blutdurst gestillt. Doch auch eine große Annehmlichkeit habe ich zu berichten. Während in Krasnojarsk bei sehr schwerer Strafe verboten war, irgend welche Lebensmittel (außer Rettig und Radieschen) im freien Handel zu verkaufen, waren in Omsk eine ganze Reihe von Basaren (russisch für Markt) auf denen an den Markttagen eine große Menge von Verkäufern die köstlichsten Sachen feilbot, und eine noch viel größere Menge von Käufern und Schaulustigen sich herumdrängelte. Meine Mittel waren leider sehr knapp, immerhin ging ich doch oft hin und holte mir Mohrrüben, Steckrüben oder Eier. 127

Zu Brot, Milch, Butter, Sahne, Tomaten und anderen Herrlichkeiten langte es leider nicht. Aber es war erstaunlich, wie viel gekauft wurde. Die russischen Frauen trugen in großen Körben Tausende bis zehntausende von Rubeln nach Hause (1 Ei damals 50 R, 1 Tomate 100 R, 10 Mohrrüben 200,- R, 1 Fl. Milch 120,- (?), 1 Apfel 300 – 400,- R 1 Pfund Brot etwa 200 – 300,- R) und dabei bekam ein Arbeiter im Monat etwa 1500 – 1800 Rubel (Mein Gehalt in Krasnojarsk in der 21. Gehaltsklasse betrug 1800,- R). Das Höchstgehalt betrug etwa 3000,- R im Monat. Was darüber war, war doch jedenfalls nicht auf zulässige Art und Weise erworben. Der Markt diente auch als eine Art von fliegendem Trödelmarkt. Leute, die meist bessere Tage gesehen hatten, boten Wäsche und Hausrat feil. Galizische Händler betrieben einen schwunghaften Handel, und Kriegsgefangene verschacherten alles Mögliche, um Geld 128

zu bekommen und überflüssiges Gepäck los zu werden. Diese Sorte Handel war verboten, und von Zeit zu zeit kamen Milizpatrouillen und verhafteten einige Leute. Ob das Verbot dem Handel mit Sachen überhaupt galt, oder nur dem Verkauf der „xxxxxxxxxxxxxxxx“ der „fiskalischen Gegenstände“, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls waren es fast nur Stoffe, Kleidungsstücke und Wäsche aus militärischem Besitze, die dort verhandelt wurden, denn andere gab es kaum noch. Es gab kaum Russen, die nicht Militärmäntel und -wäsche trugen. Das Verkaufen von Ausrüstungsstücken war eine beliebte Einnahmequelle der russischen Soldaten, darin waren sich alle gleich, unter dem Zaren ebenso wie in der Roten Armee, der General ebenso wie der Rekrut und der Kommissar. Von Zeit zu Zeit wurden ein paar Dumme, die es gar zu schlimm trieben, erschossen, doch änderte das wenig an dem bewährten Brauche. Für uns Kriegsgefangenen war das sehr wichtig, denn der Kauf von gestohlenem Militärzeug war für uns 129

die einzige Möglichkeit, unsere Ausrüstung zu ergänzen. Ich glaube im Lager Kansk gab es keinen, der nicht sogenannte Tschechenschuhe – Fabrikat der Amerikaner für Russen und Tschechen – und Russenhemden getragen hätte, die meisten hatten auch Russenmäntel. 16.11.22.

Das Schrecklichste an dem Aufenthalt in Omsk war die Besorgnis, daß dieses zur Not vorübergehend zu ertragende Leben durch irgend einen unglückliche Verkettung von 36

Umständen eine längere Dauer haben könnte. In Europäisch-Rußland sah es damals nicht günstig aus. Auf den überraschenden Vormarsch in Polen war ebenso schnell der Rückschlag gefolgt, und es war sehr gut möglich, daß eine weitere Gefährdung der politischen und militärischen Lage die Einstellung aller Gefangenentransporte zur Folge hatte. Dieselbe Folge mußte auch das zeitweise sehr wahrscheinliche Eingreifen der englischen Flotte in die russischen Händel haben. 130

Und das Leben im Lager Omsk war wohl das übelste, was ich in der Gefangenschaft durchgemacht habe. Von Dreck, Ungeziefer und Dunkelheit schrieb ich schon. Die Ernährung war, wie ich auch schon erwähnte, erträglich und besser als in anderen Lagern: morgens Tee, Brot und Moorrüben oder rohe Eier, und 2 x am Tage warmes Essen. Sehr lähmend war die Unsicherheit. In der Annahme, höchstens einige Tage im Lager zubringen zu müsse, hatte ich mich als Musketier und Bauarbeiter ausgegeben, je länger ich dort bleiben mußte, umso weniger ließ sich vermeiden, daß ich mit einzelnen meiner Nachbarn in Berührung geriet, und einer, der nicht ganz dumm war, mußte dann sehr bald merken, daß ich nicht der sein konnte, als der ich mich ausgab. Jedes harmlose Gespräch über Lagerverhältnisse oder über Arbeit bei Bauern oder Handwerkern, oder über Erlebnisse irgendwelcher Art konnte mich verraten. Auch war sogar Sibirien so klein, daß mir in der kurzen Zeit meines Aufenthaltes im Lager Omsk mindestens 10-12 Leute begegneten, 131

die mich kannten, und (mit oder ohne Absicht) verraten konnten. Ein anderer der früheren Chabarowsker Kameraden, Hauptmann Forstner, (einem Flieger) der aus Barnaul entflohen war, und im Omsker Lager als Zigarrenmacher lebte, war allerdings durch eigene Unvorsichtigkeit erkannt worden und deswegen zu Zwangsarbeit verurteilt worden. Er war mit lauter Russen, teils politischen, teils wirklichen Verbrechern in einem anderen Lager nahe bei unserem festgesetzt, aus dem wir die Sträflinge öfter auf Arbeit gehen sahen, schrecklich verwahrloste und zerlumpte Gestalten. Vom Leben in der „katorga“, dem Gefängnis der zur Zwangsarbeit Verurteilten gibt das beste Bild immer noch Dostojewski, in seinen „Memoiren aus einem Totenhause“, die auch in Omsk spielen, allerdings in einem anderen Gefängnis, der Kregost (Festung). Aber das Leben der Sträflinge hat sich seit der von ihm geschilderten Zeit in der Mitte des XIX. Jahrh. Höchstens verschlechtert, denn 132

die Bolschewiken haben zu den überall mit dem Gefangenenleben verknüpften Härten und Leiden noch eine besondere Grausamkeit hinzugefügt, die politische Verdächtigung, die vollkommene Unsicherheit und die Furcht, in jedem einen Spitzel oder Denunzianten zu sehen. Doch ich war nun einmal im Lager drin, da hieß es aushalten, denn noch rechnete man mit einem baldigen Abtransport. Nur die Hoffnung auf ihn half mir auch über das Niederdrückenste hinweg, das war das Zusammenleben mit den Leuten. Ich war im Frieden als Einjähriger und im Felde als Vorgesetzter immer recht gut mit den Leuten ausgekommen, weil es nur immer selbstverständlich war, in jedem einen Mitmenschen zu sehen. Besonders während meiner kurzen Feldzugstätigkeit hatte ich geglaubt, durch ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit den Leuten verbunden zu sein. Auch in der Gefangenschaft war dies Gefühl noch vorhanden, obgleich die Russen bewußt und mit großer Hartnäckigkeit jede Verbindung zwischen Offizieren und Mannschaften zu verhindern suchten. (Ganz gelang es ihnen ja nie) 133

Noch in Kansk, wo wir mit Mannschaften in einem Lager lagen – die strengen Bestimmungen der Zarenzeit waren bei Koltschak vielfach in Vergessenheit geraten – hatte ich nie die geringsten Schwierigkeiten im Verkehr mit Mannschaften gehabt, und einige während der Lazarettzeit sehr schätzen gelernt, so daß ich seit der Zeit in den verschiedensten Mannschaftsbaracken recht gute Bekannte hatte, mit denen ich auch heute 37

noch gern verkehren würde. Aber die geistige Luft im Omsker Lager war mir furchtbar. Dort gewann ich den Eindruck, den ich noch nicht wieder habe los werden können, durch mein ganzes Vorleben – Schule, Haus, Beruf, Verkehr usw. - in eine Welt hineingeraten zu sein, die von der jener durch unübersteigbare Schranken getrennt ist. Ich konnte mir rein verstandesgemäß sehr gut erklären, daß meine Nachbarn, ausgehend von ihren Lebensbedingungen in Deutschland und beeinflußt durch das, 134

was sie im Kriege und vor allem in der Gefangenschaft erlebt hatten, so geworden waren, wie sie hier von mir gesehen wurden, ich mußte vielem, von dem was sie sagten, zum mindestens eine subjektive Berechtigung zuerkennen, und doch wurde ich das maßlos niederdrückende Gefühl des Fremdseins und einander nicht Verstehens nie los. 17.11.22

Das läßt sich im Einzelnen schlecht beweisen, mir war eben alles, was ich anhören mußte, zuwider. Die ganzen Unterhaltungen, die sich meist um die politische Lage in Rußland und in Deutschland drehten, waren so glatt und niederdrückend, und noch schlimmer war das Singen. Vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein wurde andauernd die mir bis dahin unbekannte III. Internationale gesungen mit ihrem Schlusse: Völker hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht die Internationale erkämpft das Menschenrecht! 135

Den deutschen Mannschaften ging es damals fast durch die Bank materiell verhältnismäßig recht gut. Nachdem die ersten Schrecken der Tschechenzeit (Sommer 1918) überwunden waren, hatten es die Kriegsgefangenen verstanden, sich gute Pöstchen zu ergattern, als Köche, Handwerker und Pferdepfleger bei allen möglichen Truppenteilen, als Handwerker in Stadt und Land und als Arbeiter auf Magazinen und allen möglichen Werkstätten. Man sah es ja, als sie sich jetzt zum Abtransport im Lager Omsk sammelten, hatten sie fast durchweg große Reichtümer an Geld, Vorräten und Kleidungsstücken. Von der Not die in Kansk in unseren Offiziersbaracken herrschte, war nichts zu spüren. Und zu jeder Mahlzeit verzehrten sie Tausende von Rubeln. Das alles wäre ja gar nicht wert, erwähnt zu werden, wenn sie anerkannt hätten, daß sie diese ihre bevorzugte Stellung lediglich ihrer Geschicklichkeit, Gesundheit, Anpassungsfähigkeit, auch Skrupellosigkeit, kurz ihrer Geeignetheit für den Kampf ums Dasein verdankten, und daß ihr Wohlleben 136

mit den Entbehrungen anderer erkauft waren. Aber man hörte nur immer wieder, daß sie die jetzt herrschende Ordnung priesen, weil es ihnen, den Lauten, gerade gut ging; was sonst ringsherum vor sich ging, wurde nicht beachtet. Daß es ihnen auch schon 1919 unter Koltschak recht gut gegangen war, das hatten sie vergessen. Die systematische Propaganda und die ihren Bedürfnissen sehr entgegenkommenden Redensarten des bolschewistischen Ideenkreises hatten eben gute Erfolge. Natürlich lag es zum Teil auch daran, daß hier die Schreier das große Wort hatten. Noch übler fand ich aber, daß nachher Ende September, als wir auf der Ostsee schwammen, die Stimmung eine ganz andere geworden war. Da wollten sie mit einem male nichts mehr vom Bolschewismus wissen, und einer schimpfte noch mehr als der andere. Gewiß fand auch das eine Erklärung darin, daß die Leute, die vorher dank ihrer westeuropäischen Leistungsfähigkeit eine Sonderstellung unter den Russen eingenommen hatten, durch den Abtransport wieder in die große Masse zurück gestoßen wurden und daß der Abtransport 137

mit manchen ungewohnten Unbequemlichkeiten verbunden war, und daß unsere Erlebnisse auf der Heimfahrt nicht sehr dazu angetan waren, von dem guten Willen und den Fähigkeiten der Bolschewiken ein gutes Zeugnis abzugeben, und daß die Leute aus Russland nachher auf dem Schiffe still wurden und umgekehrt. Immerhin kam mir das ganze Gebaren höchst abstoßend vor, und ich machte mir 38

wenig Hoffnung darauf, daß diese Männer nachher in Deutschland ein eigenes, selbst erworbenes, zuverlässiges Urteil haben würden, sondern war mir bald darüber im Klaren, daß sie sich bald von den Redensarten ihrer Umgebung vollständig würden einfangen lassen. Noch einige Einzelheiten aus den geschilderten 3 Augustwochen. Ich erwähnte schon, daß ich mehrfach Bekannte traf. Gleich in den ersten Tagen sah ich in unserer Baracke einen kleinen jungen Westfalen, der lange Zeit, erst in Chabarowsk, dann in Kansk, Bursche bei einer Gruppe unserer Baracke gewesen war. Er war ein netter, ordentlicher 138

Mann, von dem ich keinen Augenblick befürchtete, daß er mir Schwierigkeiten gemacht haben würde – wie ich überhaupt glaube, daß von 100 Deutschen Mannschaften mindestens 99 keinerlei Gebrauch davon gemacht hätten, wenn sie einen als Offizier erkannt hätten – hätte ich ihn irgendwie unbeobachtet sprechen können, so hätte ich ihn angeredet und gebeten, vorsichtig zu sein. Doch bei dem großen Gewühl war das nicht möglich, und so ging ich ihm immer aus dem Wege. Schon nach einigen Tagen kam er mit einem Transport weg, und das war mir ganz lieb, denn einmal, kurz ehe er mit den anderen zum Bahnhof ging, begegnete ich ihm plötzlich ganz nahe, und merkte, daß er mich erkannte. Das nächste, von dem ich vorläufig nur hörte, war ein Herr aus unserem Lager, der nach Omsk als landwirtschaftlicher Sachverständiger kommandiert war, aber bald seine Tätigkeit aufgegeben hatte und ins Lager gezogen war. Es war Herr Alzheimer, ein sehr sympathischer älterer Bayer. 139

Ich hörte zuerst seinen Namen bei einer Kontrolle, dann habe ich ihn auch bald bei Gelegenheit vorsichtig aufgesucht, und war dann öfter bei ihm, meist abends im Dunkeln. Wir erzählten uns gegenseitig, von Kansk und Omsk, auch machte er mir gelegentlich kostbare Geschenke in Gestalt von Brot. 12.11.22

Der 3. Bekannte erkannte mich, ohne daß ich erraten hätte, wer er war. Anfang der 2. Woche in Omsk ging gelegentlich ein wüster Gesell dicht hinter mir her und sagte leise zu mir: „Ist denn Ihr Knie wieder in Ordnung?“ Ich fragte überrascht, was er denn von meinem Knie wüßte, und da stellte es sich dann heraus, daß es einer der Krasnojarsker Offiziere war, die im Mai 1918, als wir in K. auf dem Bahnhof standen, zu uns entwichen waren, und daß er mir damals, als ich mit beschädigtem Knie in dem feudalen Delegiertenwagen lag, kennen gelernt hatte. Er hieß Werckshagen, war zum mindesten ein Sonderling und 140

war schon 1919 von Kansk nach Omsk (wegen irgendwelcher ärztlicher Behandlung) gekommen. Sein Aussehen war ganz unbeschreiblich, seit vielen Monaten hatte er sich weder rasieren noch die Haare schneiden lassen, und auch nicht übertrieben oft gewaschen. Mit ihm kam ich, namentlich in der letzten Omsker Woche, öfter zusammen, da er in Sibirien und in Omsk gut Bescheid wußte, und viele Bekannte hatte. Allerdings mußte man vorsichtig sein, da er sich sehr wenig Mühe gab, nicht aufzufallen. Die nächsten Bekannten waren 2 Kansker. Gerade 1 Woche nach meiner Ankunft, am 17.8. kamen eines Abends 2 Mann in die Baracke und suchten einen Platz. Schon an der Stimme erkannte ich sie als Schlüter (Lt. im I.R.34.) mit dem ich seit März 15 zusammen war, und Haas, einen Berliner Referendar, der im Sommer 16 mit den badischen Herren von der Märzoffensive am Starotschsee (1916) zu uns nach Krasnaja Rjetschka gekommen war. I 141

Ich zeigte mich sofort, sagte ihnen irgendetwas Gleichgültiges, ohne sonst zu zeigen, daß wir uns kannten. Als es dann dunkel wurde, konnte ich sie mit hinaus nehmen, und außerhalb des Lagers in der Russenstadt spazierend haben wir uns dann unsere Erlebnisse erzählt. Haas hatte in Kansk beim xxxxxxxxxxxx, der Zentralbücher- und pressestelle, 39

gearbeitet. Nach mehren Monaten war es ihm gelungen, eine Kommandierung nach Omsk „zum Einkaufen von Büchern“ zu erlangen. Da er kaum Russisch konnte, auch sonst unbeholfen war, brauchte er einen Begleiterr, hierzu war Schlüter (gewandt, guter Russe, genügsam und zuverlässig) geeignet wie kein 2.; Haas gelang es, durch ein russisches Tipfräulein alle seine Papiere mit dem Zusatz xx xxxxxxxxxxxx (mit Dolmetscher) versehen zu lassen, und so waren die beiden ohne irgendwelche Schwierigkeiten von Kansk bis Omsk gekommen, wo sie aus ähnlichen Gründen wie ich das Lager aufsuchten. Mir war ihre Gesellschaft sehr wertvoll: tagsüber kannten wir uns nicht, abends trafen wir uns 142

außerhalb des Zaunes, und redeten uns alles vom Herzen, was sich im Laufe des Tages angesammelt hatte und nicht ausgesprochen werden durfte. Dann hatte ich noch eine Begegnung, die mir einen tüchtigen Schreck einjagte. Eines Nachmittags kam ich von Baden (im Irtisch) zurück in die ziemlich leere Baracke - die Leute waren noch auf Arbeit. - Draußen grelles Sonnenlicht, drinnen war es dämmerig, so daß ich zuerst wenig erkannte, und nur sah, daß der bis dahin freie Platz neben dem meinigen besetzt war. Als ich näher kam, begrüßte mich der neue Nachbar mit einem Male als Kansker Bekannten. Da erkannte auch ich ihn an seiner Stimme als einen Deutschen, der 1918/19 mit mir zusammen im Lazarett und in der Quarantaine gelegen hatte. Nachdem wir das festgestellt hatten, sagte er auf einmal ganz unvermittelt: „Sie sind doch Leutnant!“ Es war mein Glück, daß kaum jemand in der Baracke war und die fatale Bemerkung hörte. Irgendwelches Abstreiten wäre sinnlos gewesen, der Mann hatte mich 1919 am 27. Jan. 143

die Kaisergeburtstagsfeier mit glitzernden Achselstücken abhalten sehen, und kannte mich von damals ganz genau. So machte ich ihm dann leise klar, er solle seinen Mund halten, ich wolle genau so gut nach Hause, wie er. Da entschuldigte er sich sehr, die Bemerkung sei ihm ohne Absicht entfahren, er wolle sich in Zukunft mehr in Acht nehmen. Trotzdem war mir die Nachbarschaft unheimlich. Er hatte Papiere von der kommunistischen Partei, daß er nach Petersburg fahren dürfe. Trotzdem hatte man ihn in Omsk aus dem Zug geholt, und ins Lager geschickt, weil nach nunmehr begonnenem Abtransport der Kriegsgefangenen keiner mehr allein fahren dürfe, sondern jeder sich den offiziellen Transporten anzuschließen habe. Er war ein stattlicher preußischer Kavallerist, im übrigen aber eine recht unerfreuliche Erscheinung. Faul und Genuß süchtig, verstand er es, sich Posten zu verschaffen, wo er wenig zu tun hatte, und fand immer andere, die für ihn arbeiteten. In seinen Erzählungen 144

renommierte er und schnitt er so auf, daß sie keiner mehr Ernst nahm. Mannigfache Bekanntschaften mit Russinnen, die ihn als stattlichen Menschen, der sehr auf sein Äußeres hielt, nicht schwer fielen, kosteten ihn viel Geld, und waren wohl auch der Grund, weshalb er, wie ich noch in Kansk gehört hatte, den Posten eines Henkers bei der Tscheka übernommen hatte. Daß solche Nachbarschaft mir unheimlich war, auch nachdem ich mich überzeugt hatte, daß er keinerlei Absicht hatte, mich zu verraten, ist wohl begreiflich. Bei seinem Renommieren, er erzählte häufig von den vornehmen Bekanntschaften, die er im Lager Kansk gehabt hätte, machte er Versuche, auch mich in die Unterhaltung zu ziehen, wodurch ich leicht, wenn auch ohne seine Absicht, auffallen konnte. So war es mir recht lieb, daß er nach einigen Tagen, als es ihm nicht gelang, weiter zu kommen, irgendwelchen Anschluß in der Stadt fand, und sich im Lager nur noch selten sehen ließ. Auf alle Fälle behandelte ich ihn möglichst entgegenkommend. 145

Von dem Lagerleben habe ich das wichtigste schon berichtet. Nachdem der Abtransport eingestellt war, wandte sich natürlich unser Interesse lebhaft den Möglichkeiten zu, unter Umgehung des offiziellen Weges aus dem köstlichen Sibirien heraus zu kommen. 24.11.22

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Der 1. Versuch derart war das vergebliche bemühen, als Schwarzfahrer mit dem Krasnojarsker Lazarettzug fort zu kommen. Daß es schief ging, stellte sich später als Glück heraus. Denn der Zug fuhr zwar so um den 19. Aug. herum besetzt mit sogenannten Kranken nach Moskau ab, hatte aber unterwegs auf der Strecke Omsk – Tscheljabinsk – Samara – Moskau soviel Aufenthalte, daß die Insassen erst 4 Wochen oder noch mehr nach uns in Deutschland eintrafen. Ein 2. Reinfall war ein von dem schußligen Werckshagen eingefädeltes Unternehmen, zusammen mit 2 trüben Ehrenmännern, ich glaube ehemalige russische Matrosen, nach Petersburg zu fahren (mit irgendwie erschobenen Papieren). 146

Die Zusammenhänge sind mir nicht mehr ganz klar, ich weiß nur noch, daß der vergeßliche und unpünktliche W. die Sache versiebte; eine Gelegenheit, in 4 – 5 Tagen nach Petersburg zu kommen. Dann ging ich fast täglich auf den Bahnhof, um dort (die Zeitung zu lesen und) zu sehen, welche Möglichkeiten sich boten. Doch auch dabei kam nichts heraus. Die Militärtransporte nach dem Westen waren überfüllt, und alle Versuche, von ihnen als Handwerker, Koch, Pferdepfleger usw. mitgenommen zu werden, wurden immer wieder abgewiesen. Offen gestanden war ich darüber nicht nur traurig, bei einem Transport, wo die Aussichten ganz günstig schienen, sah ich wie die Leute [die zu 40 in einem Wagen lagen!] alle da saßen, ihre Hemden ausgezogen hatten und Läuse suchten. Da verging mir doch die Lust, denn meine eigene Zucht war damals dank energischer Bekämpfung stark im Abnehmen, und ich legte keinerlei Wert auf eine Auffrischung. Und 2 – 3 Wochen mit den Russen eingepfercht zu leben, war auch kein schöner Gedanke. Einmal hatte ich mich mit einem Lokomotivführer angefreundet, und er schien 147

nicht abgeneigt zu sein, mir fort zu helfen. Doch erzählte er Schauermärchen von der Unordnung in Rußland. Spätestens in 4 Wochen hätten wir Gegenrevolution, und ich müsse unbedingt nach Osten fahren. Daran lag mir nun wenig. So kam schließlich der Tag unserer Abreise heran. Auf Arbeit brauchte ich nicht zu gehen, wegen meiner Malaria. Die anderen fuhren jeden Tag auf das andere Irtisch Ufer, und luden dort Salz aus Dampfern in Eisenbahnwagen. In der Omsker Gegend war Salz leicht zu haben, doch wir wußten, daß es je weiter nach Westen, desto „sparsamer“ wurde. Z.B. in Moskau sollte es ein sehr wertvoller Tauschartikel sein. So brachte dann jeder Plenni sich ein mehr oder weniger großes Säckchen voll Salz mit ins Lager, auch ich ließ mir von Schlüter etwa 10 Pfund mitbringen. Durch Werckshagen, der lange in Omsk (erst im Lager, dann in der Stadt und ihrer Umgebung) gelebt hatte, bekam ich Zutritt zu einem großen Zimmer, in dem er sich 148

meist aufhielt, und in dem deutsche und österreichische „Intelligenz“ (Einjährige und dergl.) wohnte. Gern nahm ich die Gelegenheit wahr, hier mal in Ruhe zu sitzen, auch mich zu waschen oder eine andere Unterhaltung zu hören, als in den Baracken üblich war. Ebenfalls durch W. kam ich einige male in die Stadt, von der ich bis dahin nur die nächst gelegen Teile (das Birkenwäldchen östl. vom Lager, den Markt im Norden, und die Straßen die zwischen ihm und dem Lager lagen, und das Stück zwischen Lager und Irtisch) kennen gelernt hatte. Omsk ist lange nicht so schön wie Krasnojarsk. In der dortigen Gegend scheint Holz knapper zu sein, als in Mittelsibirien. Die Häuser waren vielfach aus Lehm gebaut, und das verwendete Holz war viel kümmerlicher als in den Gebieten, die ich bis dahin kennen gelernt hatte. Dann war die Stadt ganz entsetzlich ausgedehnt. Man mußte über eine Stunde gehen, bis man in der Mitte der Stadt angekommen war, und dann war es meistens 149

dunkel. Das stundenlange Laufen auf den infolge jahrelanger Vernachlässigung immer mehr 41

verkommenden Holzbürgersteigen war recht anstrengend. An Besonderheiten ist mir wenig in Erinnerung geblieben. Es gab unangenehm viel Häuser europäischer Art, sodaß das hübsche geschlossene Bild der russischen Holzstädte ziemlich zerstört war. Interessant waren die vielen Kirgisen, häufig mit Kamelwagen. Die viel genannte „Krepost“ (xxxxxxxx = Festung), in der im März 1915 unsere Kameraden, zu denen wir im Sept. 15 im Hause Isossimow in Tomsk stießen, gesessen hatten (Raedt, La Baume u.a.), sah ich nur im dunkeln und konnte so kein Bild gewinnen. In ihr hat Dostojewski seine sibirische Kerkerhaft („Memoiren aus einem Totenhause“) abgesessen. Gut gefiel mir in Omsk der Stadtteil unmittelbar an dem Nebenfluß des Irtisch, der Omka, deren steile Ufer mit hübschen Holzhäusern und auch stattlichen öffentlichen 150

Gebäuden bebaut waren. Jedesmal, wenn wir über die Brücke gingen, stritten wir uns über die Breite des Flusses, von dem W. behauptete, er sei breiter als die Weser bei Minden, was ich bestritt. Schon bald darauf hatte ich Gelegenheit, an diese Streitfragen zurück zu denken, jedes mal, wenn ich im Winter 20/21 auf meinen Reisen Bielefeld – Hannover und zurück bei Vennebeck über die Weser fuhr, mußte ich feststellen, daß Werckshagen recht gehabt hatte, und daß mir unsere heimischen Flüsse viel zu groß in Erinnerung gelebt hatten. In Omsk lebten auch mehrere deutsche Familien. Sie gehörten zu den Mennoniten, die aus Friesland in die Danziger Niederung (Oskar Janzen), von dort an die Wolga und von dort nach 1900 (?) in die Omsker Gegend gewandert sind. Dort sollen sie schnell Mustersiedlungen geschaffen haben, die sich durch Sauberkeit, Gärten, Bäume und durch hochentwickelten Ackerbau und Viehzucht auszeichneten. Leider habe ich nichts davon kennen gelernt. Viele Mannschaften, die bei diesen Mennoniten gearbeitet hatten, wollten 151

nicht viel von ihnen wissen, und sagten, sie seien geizig, hart und ihr sehr zur Schau getragenes Christentum sei scheinheilig. Ein eigenes Urteil habe ich nicht, erkläre mir aber die Abneigung der Leute z.T. daraus, daß sie bei den Mennoniten vermutlich schärfer arbeiten mußten, als bei den Russen. Ihr Führer in der Stadt war ein sehr gerühmter Augenarzt, Dr. Isaak (kein Jude!) in dessen Haus mich W. auch einmal schleppte, den wir aber leider nicht antrafen. Von dem Teil der Stadt, den wir erreichten, ging es nun noch einmal stundenlang nach Norden weiter, wo man in der Ferne auf Anhöhen stattliche Gebäude liegen sah. Gern wäre ich mal dorthin gewandert, doch hätte ich dazu einen ganzen Tag nötig gehabt, und so lange wagte ich mich nicht aus dem Lager, da doch ganz plötzlich der Befehl zum „Fertigmachen“ kommen konnte. Unter normalen Verhältnissen. d.h.1./ frei 2./ gesund und gut ernährt 3./ mit heilen Schuhen und Kleidern würde ich furchtbar gerne durch Sibirien reisen. Die gewaltige 152

Natur mit ihren exotischen Abmessungen, die mancherlei fremden Völkerschaften (in Omsk außer Kirgisen viele Chinesen) und die Eigenart des Koloniallandes vereinigen sich zu interessanten und eigenartigen Bildern, die vor Mitteleuropa den großen Reiz größerer Frische und Ursprünglichkeit voraus haben. Allerdings gehört auch Geld dazu. In Omsk z.B. muß man Droschke fahren könne, zu Fuß ist diese Stadt (mit etwa 100 – 150000 Einwohnern?) überhaupt nicht zu durchqueren. Ende August wandte sich auch unser Geschick. Es hieß, es soll wieder ein Transport gehen. Transportverlesung war eine entsetzliche Sache. Manchmal 3 Stunden stand man auf dem großen Platz inmitten des Lagers, und wartete sehnsüchtig, doch meist erfolglos auf seinen Namen. Da die verschiedensten Völker unter den Gefangenen waren, die Namen häufig entstellt wurden und viele nicht aufpaßten, war das Verfahren nicht einfach. Die vielen zweifelhaften Fälle versuchten die Ausrufer deutsch, ungarisch oder russisch zu klären. 42

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Als aber jetzt die 1. Verlesung nach etwa 14 tägiger Pause kam, paßte ich auf wie ein Luchs und brüllte, als ich drankam mein „hier!“ mit solcher Begeisterung, daß ich allgemein auffiel, und sich die Ausrufer nicht beschweren konnten, sie hätten meine Antwort nicht gehört. Nach dem Aufruf bekam man seine gestempelten Papiere in die Hand, ich also meinen selbst ausgestellten Registrierschein. Von nun an hatte ich doch wieder einige Sicherheit. Mit dem Abfahren war es natürlich noch nicht so eilig, aber man hatte doch jetzt wieder Zutrauen. Da nunmehr ein Ende des sibirischen Aufenthaltes abzusehen war, ging ich an meine kümmerlichen Wäschevorräte und verkloppte zunächst ein großartiges Bettlaken, das mir einer meiner Lazarettbekannten in Kansk im Frühjahr 1919 besorgt hatte. Ich hatte es noch vor meiner Abreise von Kansk tadellos gewaschen und gebleicht; sodaß es ein schönes, wertvolles Stück war. Allerdings war es durch mehrere Kammerstempel sehr 154

entwertet. Vorsichtig breitete ich es auf dem Basar im dichten Menschengedränge aus, und hatte sofort eine große Anzahl von Interessenten dafür. Doch keiner wollte den verlangten Preis (5000.- R) zahlen, alle wiesen auf die Stempel. So war ich schließlich froh, als mir einer 4000.- bot, bezahlte und mit dem Laken verschwand. Das verkaufen des als staatliches Eigentum gestempelten Stückes war mir doch recht unheimlich gewesen. Von dem Gelde konnte ich mich mal gründlich satt essen und mir auch noch Vorräte einkaufen. Meine Bekannten – Schlüter, Haas und Werckshagen – waren auch bei dem Transport, der letztere hätte in seiner Zerfahrenheit beinahe die Verlesung verpaßt, was ihm schon 1 oder 2 x passiert war, in letzter Minute gelang es uns, ihn ausfindig zu machen und heranzuschleifen. Ein recht großer Schrecken war mir aber, als ich hörte, daß mein Nachbar, der Kommunist Z., nicht mit verlesen war. Ich traf ihn wutschnaubend in der Baracke, von wo er, um sich zu beschweren, auf die Kanzlei ging. Ich war mächtig im Druck, daß er in seinem Zorn sich hinreißen lassen könnte, zu sagen: 155

„Deutsche Offiziere nehmt ihr mit auf die Liste, und mich, den eingetragenen Kommunisten, laßt ihr sitzen.“ Doch glücklicherweise ließ er sich durch das Versprechen beruhigen, daß er beim nächsten Transport bestimmt dabei sei. Ich behandelte ihn sehr zuvorkommend, übernahm es auch, sofort nach der Ankunft in Deutschland an seinen Vater zu schreiben. Am Sonntag, den 29. August, mittags, mußten wir mit Sack und Pack antreten. Zuerst war – nach stundenlangem Warten – feierliche Verabschiedung. Ein Russe, der die Verdienste der Kommunisten um die Kriegsgefangenen pries, sagte, man schicke uns nach Hause, weil jetzt der geeignete Moment gekommen sei, daß wir als Vorkämpfer die Weltrevolution nach Deutschland brächten. Nach mehren Reden ähnlichen Inhaltes konnten wir dann zu dem nahe gelegenen Anschlußgleis gehen.

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