Leipziger Buchmesse

Hesse- oder Bachmann-Adap- tionen. Mit einem Wort: von. Schul-Comics, die im Deutsch- unterricht so gut verwertbar wären wie im Kunstunterricht. Comic.
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bücherleben Das Magazin der Leipziger Buchmesse

September 2015

Echoraum der Bücher: Autoren und Verleger erinnern sich an 25 Jahre Leipzig liest +++ Streitfall Onleihe: Frank Simon-Ritz und Matthias Ulmer über die E-Book-Ausleihe in öffentlichen Bibliotheken +++ Romane in Bildern: Belletristikverlage haben Lust auf Comics +++ Generation Smartphone: Was das digitale Lesen für Produzenten und Vermittler bedeutet +++ Gründet und mehret euch!: Wie Start-ups die Buchbranche bereichern

Leipziger Buchmesse

Independence Days: Unabhängige Verlage stehen für eine bunte Bücherlandschaft. In Leipzig sind die Kleinen mit originellen Veranstaltungsformaten und immer wieder neuen, ausgefallenen Leseorten echte Publikumsrenner. „UV – Die Lesung der unabhängigen Verlage“ genießt längst Kultstatus. Im märchenhaften Jugendstil-Ambiente des LindenfelsWestflügels, übers Jahr bespielt vom Figurentheater Wilde & Vogel, lesen am Messefreitag Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Haus platzt aus allen Nähten – fast so, als würde ein Popfestival stattfinden.

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bücherleben | ausgabe september 2015

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Editorial

„In Leipzig entdecken die Zuhörer Sätze, die man selber noch gar nicht als besondere Sätze entdeckt hat.“ (Martin Walser, Die Stadt der Städte) Die Lektüre der „Minutennovellen“, die der Ungar István Örkény erfand, sollte idealerweise 60 Sekunden dauern. Inzwischen hat nicht nur das Leben, sondern auch das Lesen deutlich an Fahrt gewonnen. Mit der zweiten Ausgabe unseres Magazins wollen wir den Trend zum Switchen, Zappen und Zoomen nicht weiter anheizen. Im Gegenteil: Entschleunigung ist angesagt.

6 Leipzig liest Herausgeber Leipziger Messe GmbH Postfach 100720 04007 Leipzig www.leipziger-buchmesse.de Projektteam Leipziger Buchmesse Direktor: Oliver Zille Tel. +49 341 678-82 40 Fax: +49 341 678-82 42 [email protected] Projektleitung: Julia Lücke [email protected] Projektkoordination, Text: Nils Kahlefendt, Leipzig Gestaltung, Layout: Angela Schubert & Jo Schaller, Halle (S.) Abbildungen: Tobias Bohm (S. 23), Dressler (S. 16), fotolia (S. 9, 19, 21), Franziska Frenzel (S. 2/3), Ferdinando Iannone (S. 13), Niels Kahlefendt (S. 25, 26, 27), Leipziger Buchmesse (S. 8, 11), Mike Licht/flickr (S. 20), Nikolas Mahler/Reprodukt (S. 17), Richard McGuire (S. 15), Gert Mothes (Titel, S. 7, 10, Rückseite), Alex Reuter (S. 21), Maria-Helene Tornau (S. 24), dpa – Hendrik Schmidt (S. 9), Philipp Wiegandt (S. 12)

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Echoraum der Bücher Im kommenden März feiert Europas größtes Lesefest Geburtstag: Autoren und Verleger erinnern sich an Geschichten aus 25 Jahren.

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Bibliotheken Streitfall Onleihe Frank Simon-Ritz, Vorsitzender des Deutschen Bibliotheksverbands, und Verleger Matthias Ulmer über die E-Book-Ausleihe in öffentlichen Bibliotheken.

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Auch wir Messemacher versuchen übers Jahr, kritischen Abstand zur eigenen Arbeit zu gewinnen: Was lässt sich anders, vielleicht besser machen? Auf unserer sommerlichen Teamklausur – diesmal in den unendlichen Weiten des Erzgebirges – stand eine Frage ganz oben: Wie verändert die digitale Revolution unsere Messe, letztlich auch uns selbst? Wie lassen sich die Chancen digitaler Transformationsprozesse für alle an der Buchmesse beteiligten Akteure richtig ausspielen? Endgültige Antworten gibt es nicht; wir werden uns, Stück für Stück, immer wieder neu erfinden müssen. Klar ist: Digitales Lesen und Schreiben wird das Bild der Leipziger Buchmesse in den kommenden Jahren weiter verändern. 2016 starten wir ein neues Projekt, das Start-ups und neuen Geschäftsmodellen mehr Präsenz geben wird: Auch für die Digital Natives soll Leipzig eine feste Adresse bleiben. Dass Leser und Autoren im Fokus stehen, ist die Konstante all unserer Bemü-

hungen – materialisiert im Lesefest Leipzig liest, das im kommenden März seinen 25. Geburtstag feiert. Die Monate bis dorthin halten auch für uns noch genügend Spannungsmomente bereit. Einiges von dem, was uns derzeit umtreibt, nimmt das aktuelle bücherleben auf: informativ, unterhaltsam und, wie wir hoffen, auch überraschend. Gehen Sie also, ganz im Sinn von Martin Walser, mit uns auf Entdeckungstour. Und bleiben Sie Leipzig für deutlich länger als eine Minute gewogen. Auf bald!

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Comic & Manga

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Romane in Bildern Das Zauberwort heißt Graphic Novel: Andreas Platthaus über Comics in Publikumsverlagen.



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Digitales Lesen

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Generation Smartphone Das Bedürfnis nach gut erzählten Geschichten ist ungebrochen, wird allerdings längst nicht mehr nur zwischen Buchdeckeln gestillt.



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Ihr Oliver Zille Direktor der Leipziger Buchmesse

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Kindheitsmuster Raus aus dem Elfenbeinturm: Nachwuchsautorin Paula Fürstenberg und ihr langer Weg zum ersten Roman.

Gründet und mehret euch! Start-ups und Buchbranche: Die Frage nach den Geschäftsmodellen von morgen trifft einen Nerv.

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Leipzig liest

Echoraum der Bücher 25 Jahre Leipzig liest: Kaum zu glauben, aber wahr – im kommenden März feiert Europas größtes Lesefest seinen 25. Geburtstag. Wie haben Autoren und Verleger dieses Woodstock der Literatur erlebt? Zehn Leipzig-Fans erinnern sich.

Hotel Leipzig Ich bin im Hotel aufgewachsen, in einem Touristenort voller weiterer Hotels. Ferien- und Nebenjobs suchte ich mir natürlich auch im Hotel, ich kann ein Double-de-luxe-Bett in weniger als einer Minute mit einem Classic-Leintuch beziehen. Als ich meinen Mann kennenlernte und er erzählte, sein Vater betreibe eine Pension auf Rügen, dachte ich, dass das Leben eben doch verlässliche Konstanten bietet. Diese Konstante erhalte ich aufrecht, indem wir jährlich zur Leipziger Buchmesse Gäste beherbergen, und obschon sie dafür nichts bezahlen müssen und unsere Wohnung sich stark von einem Hotel unterscheidet, bin ich in den vier Tagen Hotelierin und nichts sonst. Meine Töchter räumen bereitwillig ihre Zimmer und übernachten bei Freundinnen, und zum guten Service unseres Hauses gehört auch das große Frühstücksbüfett am Sonntagmorgen für alle Gäste. Auch Daniela Seel ist seit sieben Jahren Stammgästin bei uns, und ich sehe sie dann weniger als Verlegerin und Dichterin, sondern eben als Gast. Wir begegnen uns gerade so viel, wie in einem Hotel Gast und Wirt sich begegnen. Manchmal sind wir beide verlegen darüber, dass wir in solch anderem Zusammenhang aufeinandertreffen als sonst. Ich argwöhne dann, dass ich in meinem Gastronomie-Modus ungewohnt auf 6

Daniela wirke, geschäftig und beflissen. Dann stehen wir ein paar Sekunden verlegen in der Küche und sagen nichts, und ich trockne hektisch Töpfe ab. Oft müssen wir auch ein bisschen darüber lachen, zum Beispiel, wenn ich ihr sagen muss, dass dieses Mal wegen Überbelegung Umbuchungen notwendig sind und sie eventuell jede Nacht in einem anderen Zimmer schlafen muss. Ich bin aber im Herbergswesen versiert genug, dass ich jedes Mal rasch zu meinem Geschäft zurückfinde und Daniela frage, ob sie noch etwas braucht. Immer ist sie zufrieden und braucht nichts. Morgens stehe ich noch früher auf als sie, wie es die Hoteliers eben tun, und koche Kaffee für sie. Das ist eigentlich eine sehr schöne Beschäftigung. Martina Hefter, geboren 1965 in Pfronten/Allgäu, lebt als Dichterin und Performerin in Leipzig. Sie veröffentlichte zuletzt den Gedichtband „Vom Gehen und Stehen. Ein Handbuch“ (kookbooks, 2013).

Frl. Ursula Die schönste Lesung hatte ich 2003 zusammen mit Helmut Krausser im Einrichtungshaus smow, wo wir „Frl. Ursula“, den letzten Roman unseres im Jahr zuvor tödlich verunglückten Freundes Heiner Link vorstellten. Das Buch hatte zu diesem Zeitpunkt noch kaum Aufmerksamkeit bekommen. Wir rechneten deshalb nicht mit großem Andrang. bücherleben | ausgabe september 2015

Same procedure as every year: Für vier Messetage ist kookbooks-Verlegerin Daniela Seel zu Gast bei dem Schriftstellerpaar Martina Hefter und Jan Kuhlbrodt.

Doch als wir ankamen, war das smow schon über und über voll mit Zuhörern. Dafür, dass es keine traurige, sondern eine sehr komische Lesung wurde, sorgte Heiners Text, ein Sittenbild der Vorstadt voll haarsträubender Nachbarschaftserotik. Die Leipziger Volkszeitung schrieb: „Liebe und Verführung sind manchmal ganz schöne Irrtümer, bisweilen aber auch kurzweilig und charmant. Ein hübsches Buch. ,Ich wär’ froh, wenn Sie’s sich besorgen’, sagt Oswald.“ Die Leute sind unserem Rat gefolgt, und ein Jahr später hat sogar Elke Heidenreich den Roman besprochen, sodass er am Ende noch ein Bestseller wurde. Dass er unter einem günstigen Stern stand, spürten wir schon im smow. Georg M. Oswald, geboren 1963 im oberbayrischen Weßling, arbeitete nach seinem Jurastudium als Rechtsanwalt und Autor in München. Zuletzt legte er den inzwischen verfilmten Roman „Unter Feinden“ (Piper 2012) vor. 2013 übernahm Oswald die Leitung des Berlin Verlags.

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Das Original feiert Geburtstag: Leipzig liest ist gelebte Literaturverführung. 1992 mit 80 Autoren gestartet, blickt das Bücherfest auf eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen zurück: Mit weit über 3000 Veranstaltungen ist es heute unangefochten Europas Lesefest Nummer eins. Viele andere Lese-Initiativen im deutschsprachigen Raum sind von Leipzig inspiriert worden. Dem Original hat das nicht geschadet – im Gegenteil. Das Geheimnis des Erfolgs? Wahrscheinlich muss man es in der beinahe symbiotischen Verbindung zur Stadt suchen: Die Neugier, Leidenschaft und Leselust der Leipziger machen Leipzig liest einzigartig.

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Loslesen! Was Leipzig liest bedeutet, habe ich leibhaftig so richtig erst erfahren, als wir mit Klett Kinderbuch zum ersten Mal einen eigenen Stand auf der Leipziger Buchmesse hatten. Vorher war Leipzig liest für mich natürlich auch schön: die vor Literatur vibrierende Stadt, Lesungen an den unmöglichsten Orten, Gespräche mit wildfremden Menschen in der Straßenbahn über Autoren, Bücher, Verlage … dieses unverwechselbare „Wir alle schwimmen in Literatur“Gefühl, das man an den Messetagen in dieser Stadt erlebt wie nirgendwo sonst. Aber am eigenen Stand erlebte ich die Bedeutung dieser zwei Wörter noch einmal neu. Leipzig kam, setzte sich hin und las. Nicht ganz Leipzig, das ist klar. Aber komplette Leipziger Familien, mit zwei, drei oder vier Kindern. Eine hat mich besonders beeindruckt. Angeschmiegt von beiden Seiten und auf dem Schoß sitzend, ließen sich die Kinder in aller Ruhe von ihrem Papa ganze Bücher vorlesen, eins nach dem anderen. Ich hatte derweil Gespräche, Termine an anderen Orten, ich war mal auf Toilette – wenn ich zurückkam, saßen sie immer noch da. Bis alle Bücher ausgelesen waren. Im nächsten Jahr kamen sie wieder und lasen wieder alles durch. Leider sind sie jetzt zu groß geworden und kommen nicht mehr. Auch unser Programm ist größer geworden – es wäre jetzt schwierig, alle unsere Titel hintereinan-

Zwei für Heiner: Georg M. Oswald und Helmut Krausser lesen im smow.

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derweg zu lesen. Aber dieses Leipzig-liest-Bild hat mich durch die erste Zeit begleitet: Wir sind mit Klett Kinderbuch genau in der richtigen Stadt gelandet. Monika Osberghaus, Jahrgang 1962, arbeitete als Buchhändlerin, studierte Kinderliteratur und betreute zehn Jahre die Kinderbuchseiten der F.A.Z. Heute ist sie Verlegerin von Klett Kinderbuch. Sie lebt mit Mann und Sohn in Leipzig.

Einige von tausend Toden In Leipzig haben wir nicht das erste Mal aus dem versionierten E-Book „Tausend Tode schreiben“ gelesen, aber das erste Mal in einem offiziell literarischen Rahmen. „Wir“ ist im Falle dieses Projekts mit mittlerweile mehreren Hundert Autorinnen und Autoren eine sehr bewegliche Größe, nicht mal ich, die Verlegerin und Herausgeberin, bin zwingend in allen Kontexten Teil davon. Auch im Telegraph blieb bis zum Schluss offen, wer von den Mitwirkenden anwesend sein und wer darüber hinaus lesen würde. Es ist immer ein bisschen merkwürdig, wenn sich Netzmenschen das erste Mal „draußen“ begegnen, es dauert einen Moment, bis man die virtuelle Vertrautheit mit der physisch realen Fremdheit vermittelt hat, und weil #1000Tode mehr noch als Twitter- und Facebook-Freundschaften eine große virtuelle Nähe unter den Beteiligten erzeugt, spürte ich das in Leipzig besonders deutlich, ja, war sogar ein bisschen überfordert, konnte ich in den meisten Fällen doch Personen erst identifizieren, indem ich ihren Namen laut aussprach und sie auf die Bühne bat, Personen, von denen ich durch ihre Texte doch Dinge wusste, die ich von Menschen, die ich gut kenne, nicht weiß. So begann ein bisschen geisterhaft ein Abend, der von uns allen, die wir anwesend waren, als sehr lebendig erinnert wird. Nicht unpassend für eine E-Book-Lesung. Christiane Frohmann, Jahrgang 1969, arbeitet als Digitalverlegerin, Autorin und Veranstaltungsorganisatorin in Berlin. 2011 war sie Mitbegründerin des E-Book-Verlags eriginals berlin, 2012 startete sie den Frohmann Verlag.

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Auf Tuchfühlung mit den Lesern: Martin Walser signiert.

Liebeserklärung Die Leipziger sind – und das auch in der DDR-Zeit – das beste, das hellhörigste, das reaktionsfähigste Publikum, das sich einer, der vorliest, wünschen kann. Das heißt, ich habe nirgends lieber gelesen als in Leipzig. Martin Walser, geboren am 24. März 1927 in Wasserburg, lebt in Überlingen am Bodensee – und hat seinen Geburtstag schon oft in der Messestadt gefeiert. Im zuletzt erschienenen Tagebuchband „Schreiben und Leben“ (Rowohlt 2014) finden sich auch Notate einer frühen Leipzig-Reise im März 1981.

Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk, dem früheren galizischen Stanislau, gilt heute als Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur. Für seinen Roman „Zwölf Ringe“ (Suhrkamp 2005) wurde er 2006 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. 2014 erschien der von Andruchowytsch herausgegebene Band „Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht“ (Suhrkamp).

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Dämonen Erstmals war ich in Leipzig zur Buchmesse 2004. Von allen Episoden jenes unvergesslichen Besuchs ist dies die unvergesslichste: Suhrkamp hatte mich eingeladen, auf dem legendären Blauen Sofa zu lesen. Danach gab es einen Empfang mit Wein. Unter solchen Umständen vergesse ich oft die Zeit und so kommt es, dass ich üblicherweise fast der letzte Gast bin, der weggeht. Plötzlich finde ich mich also ganz allein im nächtlichen Leipzig wieder, zu mitternächtlicher Stunde, in mir rauscht der Wein, ich habe mich verlaufen, es weht ein starker Wind und bläht die Schöße meines damals noch langen Mantels. Irgendwo von der Seite, aus der Dunkelheit, erreicht mich die heisere Stimme eines obdachlosen Greises: „Gehen Sie ins Büro?“ Es kommt mir vor, als wolle er mich veräppeln, also antworte ich wütend: „Nein, in die Hölle!” Er verzieht sich ängstlich. Vielleicht sehe ich wirklich irgendwie dämonisch aus – die Schöße meines Mantels, der entschlossene Gang, die wirren Haare. Fehlen der Huf, die Hörner, die Aureole. Erst als mir einfällt, dass diese Straßenbahnschienen zum Hauptbahnhof führen müssen, gelingt es mir, das Hotel zu finden. 9

Hopp, Schwiiz: Schwingen und Literatur

Leipzig liest – ich auch Dass Leipzig liest, weiß eh jeder, und ich, quod erit demonstrandum, auch. Und noch etwas weiß jeder, ich auch, ich hab es nur nicht ernst genommen: Dass nämlich, wenn der Messetag vorüber ist, der schlechteste Moment ist, um in die Straßenbahn Richtung Stadt zu steigen. Dann ist die nämlich wie zur Rushhour in Tokio. Ich tat es trotzdem und hatte das unverdiente Glück, in dem Totalgedrängel noch einen Klappsitz zu erwischen. Auf dem saß ich also, die Tüte mit Büchern und Prospekten zwischen den Knien und direkt vor mir eine sehr schöne Frau, die mit dem Herrn, der neben mir saß, sich sehr lebendig in einer Sprache unterhielt, die ich absolut nicht erkennen konnte. Eine Weile ergötzte ich mich an dem Rätselraten und dem Klang, dann zog ich einen Gedichtband aus der Tüte, den mir am Nachmittag ein befreundeter Verleger in die Hand gedrückt hatte. Ich fing an zu lesen (s. o.). Es dauerte nicht lange, da beugte sich die Schöne über meinen Scheitel und sagte: „Da lesen sie aber gerade ein sehr schönes Buch.“ Und ich: „Ehe Sie mir das erklären, verraten Sie mir bitte, in welcher Sprache ihr beide geredet habt.“ „Albanisch“, sagte sie, und jetzt wusste ich auch (das erklär ich ein andermal), woher sie das Buch kannte. Bis zum Hauptbahnhof unterhielten wir uns über das Wunder des Gedichts, wie viel Kunst und 10

Welt und Leser-Ich da auf knappstem Raum zueinander finden. Wir merkten das eigene Glück am Anderen, und Schöneres kann es kaum geben. Jochen Jung, geboren 1942 in Frankfurt/Main, aufgewachsen in Eckernförde an der Ostsee, war lange Jahre Lektor und Geschäftsführer des Residenz Verlags in Salzburg. Im Jahr 2000 gründete er dort den eigenen Verlag Jung und Jung.

Schwingen Sägemehl ging nicht – aus feuerpolizeilichen Gründen. Sportmatten mussten genügen. In den sogenannten „Ring“ gestiegen sind sie trotzdem, die zwei Schweizer Schwinger, um auf der Bühne des Schauspielhauses Leipzig im Rahmen von „Auftritt Schweiz“ helvetische Sport-Folklore mit Literatur zu paaren. Die Verbindung zum Wort schuf Wolfgang Bortlik, der Schwinger-Texte von Schweizer Autoren und eigene Schwinger-Gedichte gelesen und den Anlass moderiert hat. Wie am Schluss der Veranstaltung einer der stämmigen Ringer den auch nicht gerade leichtgewichtigen Autor fast in Zeitlupe kunstgerecht auf die Matte gelegt hat, war große Poesie. Peter Bichsel hätte seine Freude gehabt. Dani Landolf, Jahrgang 1968, hat als Journalist gearbeitet, zuletzt als stellvertretender Chefredakteur der Berner Tageszeitung „Der Bund“. Seit 2007 ist er Geschäftsführer des Schweizer Buchhändler- und Verlegerverbands (SBVV).

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Ganz Leipzig lauscht, wenn Leipzig liest Ich wohne nicht einfach in Leipzig. Ich wohne wahlweise in der Bachstadt, der Messestadt, der Autostadt, der Wasserstadt oder der Sportstadt. Das ist manchmal ein bisschen ermüdend. Denn es kommen immer noch neue Titel und Namen hinzu. Ganz aktuell: Die am schnellsten wachsende Großstadt Deutschlands. Einen Superlativ gibt es allerdings, den kann man gar nicht oft genug erwähnen: Leipzig liest – das größte Lesefest Europas. Das größte Lesefest in Verbindung mit der Buchmesse der Herzen – das ergibt bei mir zusammen ungefähr so viel Vorfreude wie Geburtstag und Weihnachten zusammen bei meinen Kindern. Aber auch die Tage vor und nach Leipzig liest bleiben literarisch geprägt: Über das ganze Jahr wirken viele junge Literaturmacher und eine Vielzahl kleiner und mittlerer Verlage in Leipzig. Nicht umsonst bekam Leipzig in den Medien den Beinamen: „Ungekrönte Königin der jungen deutschsprachigen Literatur.“ Leipzig wird erfolgreiche Literaturstadt bleiben, weil der Standort viel früher als alle anderen auf das wichtigste Thema der Branche gesetzt hat: Literaturvermittlung. Ganz Leipzig lauscht eben, wenn Leipzig liest. Claudius Nießen, geboren 1980 in Aachen, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, dessen Geschäftsführer er seit 2008 ist. Unter dem Label Clara Park entwickelt er Literaturveranstaltungen und berät öffentliche Einrichtungen, Stiftungen und Unternehmen in Fragen der Kunst- und Kulturförderung. Die von ihm betreute Lange Leipziger Lesenacht ist einer der Magneten von Leipzig liest.

Grass, zum Letzten Der 87-jährige Nobelpreisträger hatte in den letzten Jahren seine öffentlichen Auftritte spürbar reduziert. Größere Exkursionen mied er möglichst ganz, denn das jahrzehntelange Pfeifenrauchen hatte seine Lunge ziemlich zugesetzt, sodass es ohne Sauerstoffmaschine kaum noch ging. Und damit ließ sich schlecht reisen. Als ich ihn dann aber fragte, ob er bereit wäre, den ersten Band der „Freipass“-Reihe, dem neuen Jahrbuch der Günter und Ute Grass Stiftung, während der Leipziger Buchmesse vorzustellen, wurde er ganz hellhörig. Mit der Veranstaltungsreihe verband er nur gute Erinnerungen: volle Säle bei den Lesungen aus seinen belletristischen Büchern des Steidl-Verlages, lebhafte Diskussionen zu den zeitgeschichtlichen Dokumentationen bei uns, darunter 2010 die Buchpremiere im Saal des Alten Rathauses zu seiner Stasi-Akte. Schließlich kamen wir überein, dass ihn ein Fahrer von uns zu Hause bei Lübeck abholte, die ganze Zeit in Leipzig begleitete und am Folgetag wieder nach Hause brachte. Dazwischen lagen zwei fulminante Auftritte: seine Lesung in der überfüllten Universitätsbibliothek Albertina und eine politisch scharfe Diskussion auf dem „Blauen Sofa“ des ZDF in der großen Glashalle der Messe vor mehr als 500 Zuhörern. Das war am 13. und 14. März 2015. Genau einen Monat später, am 13. April, verstarb er an einer Lungeninfektion. Die Lesung seiner zwölfseitigen Ballade „Netajis Weltreise“ bei Leipzig liest war sein Bewegender Moment: Günter Grass in der Albertina letzter literarischer Auftritt. Für alle Beteiligte ein denkwürdiges Erlebnis. Christoph Links, geboren 1954 in Caputh bei Potsdam, ist Verleger und Publizist. Der von ihm im Dezember 1989 gegründete Ch. Links Verlag war einer der ersten Independents, die nach Aufhebung der Zensur in der DDR die Arbeit aufnahmen.

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Bibliotheken

Onleihe: Wie weiter? E-Book-Ausleihe in öffentlichen Bibliotheken: Neue Buchformate und Nutzungsmöglichkeiten verlangen nach neuen Regeln und Geschäftsmodellen. Wir haben zwei Akteure der Diskussion gebeten, ihren Standpunkt zu erläutern.

Bibliotheken brauchen E-Books Von Frank Simon-Ritz

Ein wenig überspitzt könnte man sagen, dass derjenige, der infrage stellt, dass öffentliche Bibliotheken überhaupt ein E-Book-Angebot vorhalten müssen, die Existenzberechtigung und Zukunftsfähigkeit dieser Einrichtungen infrage stellt. Bibliotheken waren schon immer dazu da, ihre Kundinnen und Kunden mit Information, Wissen und Unterhaltung zu versorgen – und das ganz unabhängig von den gerade aktuellen „Datenträgern“. Wer Bibliotheken also auf das gedruckte Buch reduzieren wollte, würde ihnen den weiteren Weg ins Digitale verwehren. Über kurz oder lang würden sich Bibliotheken damit zu „Papiermuseen“ entwickeln. Für Nostalgiker wären sie damit zwar immer noch ein attraktiver Ort, aber eine aktive Rolle bei der Informationsversorgung der Bevölkerung würde ihnen damit nicht mehr zukommen. Um genau diese Rolle auch weiterhin spielen zu können, brauchen Bibliotheken also dringend ein attraktives E-Book-Angebot. Die Situation in 12

Frank Simon-Ritz, Jahrgang 1962, ist seit 1999 Direktor der Universitätsbibliothek der BauhausUniversität Weimar. Seit 2012 ist er stellvertretender Sprecher der Deutschen Literaturkonferenz und Mitglied des Sprecherrats des Deutschen Kulturrats, seit April 2012 Vorsitzender des Deutschen Bibliotheksverbandes (dbv).

Deutschland ist im europäischen bzw. internationalen Vergleich zwiespältig einzuschätzen. Auf der einen Seite gibt es relativ viele öffentliche Bibliotheken, für die ein entsprechendes Angebot selbstverständlich ist. Andererseits ist es für die Bibliotheken und ihre Nutzerinnen und Nutzer immer weniger nachvollziehbar, dass sich große Verlage und Verlagsgruppen (Holtzbrinck) sträuben, ihre E-Books für öffentliche Bibliotheken zu lizenzieren. Und noch schwerer ist es zu verstehen, dass tatsächlich – ganz anders als bei gedruckten Büchern – Verlage darüber entscheiden können, ob Bibliotheken ihre Produkte anbieten können oder nicht. Da dies ein unhaltbarer Zustand ist, fordern Bibliotheksvertreter bereits seit 2012, dass es hier zu einer gesetzlichen Regelung kommen muss. Die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien hat im Frühjahr 2015 eine klare Richtung vorgegeben, dass nämlich – wenn es zwischen Verlagen und Bibliotheken hier in absehbarer Zeit nicht zu einer Einigung kommt – „aus kulturpolitischer Sicht gesetzliche Regelungen in Betracht zu ziehen sind“.

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Bibliotheksräume – real und digital: Der im Vorfeld der Leipziger Buchmesse vom 14. bis 17. März 2016 stattfindende 6. Bibliothekskongress lädt zur Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen und wichtigen Zukunftsfragen des Bibliotheks- und Informationssektors ein. Die Großveranstaltung im CCL steht unter der Schirmherrschaft von Kulturstaatsministerin Monika Grütters; Gastland sind die USA. www.bid-kongress-leipzig.de

Matthias Ulmer, Jahrgang 1964, ist geschäftsführender Gesellschafter des Verlags Eugen Ulmer (Stuttgart). Er ist Vorstandsmitglied des Verlegerausschusses im Börsenverein des Deutschen Buchhandels und befasst sich dort schwerpunktmäßig mit dem Thema Digitalisierung und dem Dialog mit den Bibliotheken.

Bibliotheken haben E-Books Von Matthias Ulmer

Das erfolgreichste Segment im Buchmarkt ist aktuell die E-Book-Ausleihe der öffentlichen Bibliotheken. Fast täglich findet man in Regionalzeitungen Fotos von Bürgermeistern, die sich stolz am Computer bei der Nutzung der neu eröffneten Onleihe in ihrer Kommune fotografieren lassen. Noch nie konnten Bibliotheken solche Zuwächse vermelden, noch nie gab es so begeisterte Rückmeldungen der Nutzer, noch nie waren die Kommunalpolitiker so stolz auf ihre Bibliotheken. Eine echte Erfolgsgeschichte. Dennoch bemüht sich der Bibliotheksverband, in der Lobbyarbeit ein Bild von Krisen und Gefahren zu zeichnen. Wie passt das zusammen? Ob im Bereich der Musik, der Filme, der Hörbücher oder jetzt auch der E-Books: Verleih- oder Abomodelle sind offenbar das angemessene Vertriebsmodell für digitalisierte Medien. Sie lösen zunehmend die Kaufmodelle ab. Für Urheber und Verwerter ist es deshalb notwendig, sich rechtzeitig umzustellen und die Refinanzierung der Medien über die neuen Vertriebskanäle bücherleben | ausgabe september 2015

zu sichern. Auf der Suche nach angemessenen Preisund Lizenzmodellen bedeutet das zunächst: viel Experimentieren. Die E-Book-Angebote der öffentlichen Bibliotheken sind für Leser attraktiv und kostenlos. Das ist unschlagbar. Man kann bezweifeln, dass es neben den 2.500 öffentlichen E-Book-Angeboten noch Platz für kostenpflichtige kommerzielle gibt. Und da beginnt das Problem: Wenn sich die E-Book-Nutzung komplett auf Leihmodelle verlagert und die Kaufumsätze wegfallen, ist die Produktion von Literatur in Form von E-Books nur möglich, wenn adäquate Umsätze im Leihmarkt entstehen. Läuft der Leihmarkt fast vollständig über die öffentlichen Bibliotheken, müssen die Umsätze von den Bibliotheken finanziert werden. Und dafür haben sie keine Gelder. Eine Urheberrechtsschranke würde zwar den Schwarzen Peter von den Kommunen auf die Kultusminister verschieben. Das Geld – daran zweifelt niemand – werden aber auch die nicht zur Verfügung stellen. Es bleibt nur die Möglichkeit, gemeinsam einen Weg zu finden, der Autoren angemessene Honorare sichert, der die Investitionen der Verlage refinanziert, der für Kommunen finanzierbar und für Leser attraktiv ist. 13

Comic & Manga

Romane in Bildern Comics in Publikumsverlagen: Ausdrucksbreite und Formenspektrum des Genres werden hierzulande gerade erst richtig entdeckt. Zunehmend mischen auch etablierte Belletristikverlage mit. Von Andreas Platthaus

Dass sich die Einstellung von etablierten Belletristikverlagen gegenüber Comics geändert hatte, wurde mir klar, als ich von Suhrkamp im Jahr 2008 dazu eingeladen wurde, eine neue Reihe mit gezeichneten Adaptionen von Literaturklassikern herauszugeben. Dass sich doch noch nicht so viel geändert hatte, wurde mir klar, als ich dann erstmals mit der Verlagsspitze und einigen Comiczeichnern, deren Mitwirkung ich erhoffte, zusammensaß. Die Erwartungen an Verkaufszahlen von Comics waren ebenso unrealistisch wie die Vorstellungen vom nötigen Arbeitsaufwand. Bei den Auf lagen denken Verlage gern an „Asterix“ mit seinen Millionenstartauflagen, was aber leider ein einmaliges Phänomen ist, beim Arbeitsaufwand an die Mühe, die für ein normales Buch von vielleicht 150 Seiten nötig ist. Doch Zeichnen kostet meist mehr Zeit als Schreiben – normal bei Comics sind eine bis zwei Seiten Reinzeichnung pro Tag –, und das Schreiben kommt ja noch dazu, weil auch eine literarische Vorlage erst einmal so umgearbeitet werden muss, dass man sie überhaupt zeichnen kann. Zudem war es der Wunsch des Verlags, dass jeder seiner Comicadaptionen der vollständige Text der Vorlage beige14

geben würde, was ein groteskes Ungleichgewicht geschaffen hätte, denn die gezeichneten Versionen von Belletristik haben im Regelfall deutlich weniger Seiten, weil man durch die Bilder vieles leichter darstellen kann, was literarisch ausführlich beschrieben werden muss, und Comics generell nicht allzu textlastig sein sollten. Faktisch wären bei Umsetzung der Idee einer Kombination von geschriebenem und gezeichnetem Buch nur noch Erzählungen oder Novellen für eine Adaption infrage gekommen – ein Konzept, das wenige Jahre später die Büchergilde Gutenberg umgesetzt hat, als sie E.T.A. Hoffmanns „Fräulein von Scuderi“ und Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ auf diese Weise herausbrachte.

Suhrkamp träumte von Frisch-, Hesse- oder Bachmann-Adaptionen. Mit einem Wort: von Schul-Comics, die im Deutschunterricht so gut verwertbar wären wie im Kunstunterricht. bücherleben | ausgabe september 2015

Hier und jetzt: Mit seiner Comicerzählung „Here“ sprengte Richard McGuire 1989 die Grenzen des Genres. Auf sechs Seiten glückte es ihm, die menschliche Idee von Zeit und Raum infrage zu stellen. 25 Jahre später erschien die Langversion des Kultcomic bei DuMont.

Diese Erwartungen waren also dreifach unrealistisch, und es ist wohl kein Zufall, dass sich von den damals eingeladenen Comiczeichnern nur einer für das Projekt gewinnen ließ: Ulf K., der allerdings erst sechs Jahre später seine Version von Bertolt Brechts „Geschichten vom Herrn Keuner“ fertigstellte, eine Sammlung von kurzen Parabeln. Und doch wurde die Suhrkamp-Graphic-Novel-Reihe ein großer Erfolg – gewiss mehr publizistisch als finanziell –, weil der Verlag nicht auf seinen Vorstellungen beharrte und sich schnell von dem Konzept löste, den Comics die Ausgangstexte beizugeben. Auch Geduld wurde aufgebracht, denn der erste Band, Nicolas Mahlers Adaption von Thomas Bernhards Roman bücherleben | ausgabe september 2015

„Alte Meister“, erschien erst 2011. Doch er wurde nach Judith Schalanskys „Hals der Giraffe“ das von der Kritik meistbesprochene Suhrkamp-Buch des Jahres und verkaufte sich mit mehr als 10.000 Exemplaren für einen anspruchsvollen Comic glänzend. Seitdem sind in der Graphic-Novel-Reihe des Verlags zehn Bände erschienen, darunter Bearbeitungen von Marcel Beyer, Robert Musil, Lewis Carroll, Mark Twain, aber mittlerweile auch mit Volker Reiches „Kiesgrubennacht“ eine erste eigenständige Comicproduktion. Suhrkamp war trotzdem kein Pionier auf diesem Feld; der Verlag genoss wegen seines literarischen Renommees lediglich das größte Aufsehen. Als erster großer deutscher Belletristikverlag hatte Rowohlt bereits in den siebziger Jahren den japanischen Manga „Barfuß durch Hiroshima“ von Keiji Nakazawa verlegt, die autobiografische Schilderung eines Jungen, der den Atombombenangriff vom 6. August 1945 überlebt hat. Allerdings erfüllte der Band

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nicht die Erwartungen des Verlags, und so blieb die im Original insgesamt vierteilige Erzählung in Deutschland für dreißig Jahre ein Torso, ehe der Comicverlag Carlsen sie neu und vollständig herausbrachte. Rowohlt war es aber gleichfalls, wo 1987 Ralf Königs Schwulencomic-Komödie „Der bewegte Mann“ erschien und 1989 dann der erste, 1992 der zweite Band von Art Spiegelmans „Maus“ – einer der größten Comicerfolge weltweit und diesmal auch in Deutschland. Wobei das Haus den Zuschlag deshalb bekommen hatte, weil der erste deutsche Rechteinhaber, der Zweitausendeins Verlag, einen Übersetzer engagiert hatte, der Spiegelmans Vorlage zu frei ins Deutsche gebracht hatte, weshalb dann die Reinbeker mit ihrem exzellenten Ruf für Übersetzungen aus dem Englischen zum Zuge kamen. Rowohlt bescherte das ein Buch, dem das gelungen ist, was Suhrkamp sich zwei Jahrzehnte später auch für seine Comics erträumte: Schullektüre in Deutschland zu werden. Zauberwort Graphic Novel: Art Spiegelman „Meta Maus (S. Fischer), David Mazzucchelli „Asterios Polyp“ (Eichborn), Marcel Beyer/Ulli Lust „Flughunde“ (Suhrkamp), Erich Kästner/Isabel Kreitz „Pünktchen und Anton“ (Dressler), Volker Reiche „Kiesgrubennacht“ (Suhrkamp) und Alison Bechdel „Fun Home“ (Kiepenheuer & Witsch).

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„Maus“, die Geschichte von Art Spiegelmans Eltern, die als polnische Juden Auschwitz überlebt haben und dann nach Amerika auswanderten, wo Spiegelmans Mutter 1968 den Freitod wählte, hat den Comic revolutioniert: in seinen erzählerischen Mitteln, aber mehr noch in der öffentlichen Wahrnehmung.

Plötzlich wurde erkannt, welche Möglichkeiten diese Erzählform bot, und Leser wie Publikumsverlage suchten ähnliche Bücher. Aber nur abermals Rowohlt fand auch welche, nämlich weitere Bände von Ralf König. Anderes ungewöhnliches Material jedoch gab es nicht, weil sich die Zeichner und die Comicverlage an die seit Jahrzehnten etablierten Muster hielten, die eigentlich nur aus den in Format und Seitenumfang genau festgelegten Heften und Alben bestanden. Für eine „literarische Erzählweise“, die Format und Umfang eines Comics nach den Erfordernissen einer Geschichte gewählt hätte, wie es bei Romanen ja üblich ist, schien in den Comicverlagsprogrammen kein Platz zu sein – obwohl sowohl „Barfuß durch Hiroshima“ als auch „Der bewegte Mann“ und „Maus“ bereits vorgemacht hatten, dass es auch anders ging. Es musste erst der vom Comicverlagsmarketing zunächst in den Vereinigten Staaten, später auch in Deutschland geprägte Begriff „Graphic Novel“ kommen, um mehr Freiheit für die Autoren und Lektoren zu schaffen – und das Interesse der klassischen Belletristikverlage zu wecken. Aber das wäre gar nicht möglich gewesen ohne eine weitere Voraussetzung: die Bereitschaft des

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Sortimentsbuchhandels, sich auf Comics einzulassen, die in Deutschland bislang als Kiosk- oder Bahnhofsbuchhandelsware galten – oder in speziellen Comicläden verkauft wurden. Für diese neue Einstellung war ein Phänomen verantwortlich, das Ende der neunziger Jahre entstand: die Manga-Begeisterung. Die damals vor allem von den beiden großen deutschen Comicverlagen Carlsen und Ehapa aus Japan importierten Serien stießen auf ein jugendliches Publikum, das hier etwas ganz Neues entdeckte, das die eigenen Eltern, die schon mit Comics aufgewachsen waren, nicht kannten und vor allem auch nicht verstanden – zu unterschiedlich vom westlichen Comic war die Manga-Erzählweise. Ideale Voraussetzungen also für ein veritables Jugendphänomen. Zusätzlich fanden erstmals Mädchen gezeichnete Geschichten, die speziell für sie konzipiert waren, während sich die amerikanischen und europäischen Comics klar am traditionell männlichen Publikum orientierten. Mit diesen neuen Käuferschichten entstand auch die Möglichkeit, neue Vertriebswege zu wählen, denn die Manga-Fans wollten gar nicht ins alte Umfeld der Comicleser. Klassische Buchhandlungen, die es riskierten, Manga-Regale aufzustellen, erlebten einen Ansturm jugendlicher Leser, die sonst wohl nie den Weg dorthin gefunden hätten. Als dann mit den Graphic Novels das nächste vielversprechende – und dazu noch „literarische“ – Comicphänomen anstand, ließ sich der Sortimentsbuchhandel gern dafür gewinnen, und so fanden die als anspruchsvoll vermarkteten Comics auch tatsächlich ein literarisches Publikum. Das wiederum machte die klassischen Verlage nachdenklich. Als einer der ersten wagte sich Knesebeck an Comics, allerdings erst einmal 2006 mit Stéphane Heuets Adaption von Marcel Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ an ein Projekt, das in Format und Umfang noch dem traditionellen französischen Albenformat folgte. S. Fischer dagegen setzte auf die Bekanntheit von Art Spiegelman, als der Verlag 2008 dessen Anthologie „Breakdowns“ im Überformat herausbrachte, die stark erweiterte Neuausgabe seines Debütbands, der ursprünglich

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bereits 1980 auf Deutsch bei Stroemfeld/Roter Stern erschienen war. Zugleich wechselte Spiegelman auch mit „Maus“ von Rowohlt zu S. Fischer. So sind wir jetzt auch bei Comics soweit gelangt, dass Verlage erfolgreiche Autoren abwerben. Andere Belletristikverlage, die sich zuletzt an Comics versucht haben, sind Kiepenheuer & Witsch mit bislang zwei Graphic Novels von Allison Bechdel, DuMont mit Richard McGuires „Hier“, Atrium mit mehreren Bänden unterschiedlichster Provenienz, Eichborn mit Tim Dinters Adaption von Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“ oder der Jugendbuchverlag Dressler mit Isabel Kreitz’ Comicversionen von Erich-Kästner-Klassikern. Das Spektrum an Namen und Themen ist breit – beste Voraussetzungen für einen anhaltenden Trend. Andreas Platthaus, Jahrgang 1966, ist seit 1997 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tätig; derzeit ist er dort stellvertretender Chef des Ressorts Literatur und literarisches Leben. Neben dem Roman „Freispiel“ (Rowohlt Berlin, 2009) hat Platthaus vor allem Sachbücher veröffentlicht, darunter zahlreiche Publikationen zur Comic-Kultur.

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Comics für alle: Literarische Comics und Graphic Novels sind am Comic-Gemeinschaftsstand (Halle 5) und bei zahlreichen Belletristikverlagen zu erleben. Parallel zur Buchmesse öffnet im März 2016 die 3. Manga-ComicCon in Halle 1 ihre Tore.

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Digitales Lesen

Generation Smartphone Digitales Lesen: Das Bedürfnis nach gut erzählten Geschichten ist ungebrochen, wird allerdings längst nicht mehr nur zwischen Buchdeckeln gestillt. Eine Herausforderung für Produzenten und Vermittler.

„Wer die Zukunft kennenlernen will, muss 15-Jährige fragen, die alles per Smartphone erledigen“, ist Oliver Samwer, Vorstandsvorsitzender von Rocket Internet und einer der erfolgreichsten deutschen Netz-Unternehmer, überzeugt. In der Tat: Ohne Internet läuft bei Deutschlands Kindern und Jugendlichen nichts mehr. Es ist immer da – wie die Luft zum Atmen. Spätestens im Alter von zehn Jahren sind fast alle im Netz unterwegs – so das Fazit einer aktuellen Studie des Branchenverbands Bitkom. Der Bericht mit dem Titel „Jung und vernetzt – Kinder und Jugendliche in der digitalen Gesellschaft“ stellt fest, dass heute bereits 85 Prozent der 12- bis 13-Jährigen über ein eigenes Smartphone verfügen; die mobile Nutzung des Internets hat sich bei Kindern von 2011 bis 2013 auf 73 Prozent verdreifacht. Dienste wie Google, Wikipedia, YouTube, Facebook, WhatsApp oder Instagram gehören bereits bei den 10-Jährigen zum Alltag. Dreijährige „swypen“ mit den Fingern über Flachbildschirme oder die Cover von Hochglanzmagazinen, Dreikäsehochs hören ihre Lieblings-Tracks per Spotify-Strea18

ming auf dem Schulweg, Jugendliche verabreden sich, von den Erwachsenen unbemerkt, via WhatsAppGruppenchats zu Leseaktionen. Oder verschicken über den seit 2014 zu Facebook gehörenden Chatdienst Sprachnachrichten, statt mühsam SMS zu tippen. „Jugendliche, die in ihren Klassenräumen auf interaktiven Whiteboards statt auf Kreidetafeln schreiben, Kleinkinder, die intuitiv Tablets bedienen können, bevor sie Bauklötze aufeinander stapeln, sind nicht mit den Käufergruppen zu vergleichen, die bisher den Buchmarkt bestimmten“, meint Kai Wels, Stabsleiter Digitale Medien und Produktentwicklung beim Berliner Beuth Verlag. Und:

„Wer die nachfolgenden Generationen erreichen will, muss ihr mediales Nutzungsverhalten besser verstehen als diese selbst.“ bücherleben | ausgabe september 2015

Immer drin: Für die Digital Natives ist das Netz immer verfügbar – wie die Luft zum Atmen.

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Die „Generation Smartphone“, so Wels, differenziere Content nicht mehr nach den jeweiligen Containern: „Egal ob E-Book, Buch, Zeitung, Magazin, Social Network, Webseite, Blog oder App – für sie ist es am Ende nur ein weiteres Icon auf ihrem Homescreen.“ In einer Welt, die uns immer mehr Mobilität und Flexibilität abverlangt, ist elektronisches Lesen zweifellos zukunftsfähig. Leseforscher beobachten indes einen Wandel des Leseverhaltens – es wird flüchtiger, fragmentarischer. Auf bruch in eine neue, aufregende Ära des multimedialen Geschichtenerzählens oder Ende der Gutenberg-Galaxis? „Produzenten und Vermittler sind derzeit gezwungen, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben“, meint Doris Breitmoser, Geschäftsführerin des Arbeitskreises für Jugendliteratur (AKJ), der die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Kinder- und Jugendliteratur schon häufiger in seinem traditionellen FrühjahrsSymposium zur Leipziger Buchmesse in den Blick nahm. „Dabei herrschen Goldgräberstimmung und Unsicherheit gleichermaßen.“ Während die einen auf größere Freiheiten für die Urheber und neue Ausdrucksformen hofften, fürchteten andere die Aushöhlung des Urheberrechts und das Marktdiktat der großen Konzerne. Während auf der einen Seite neue Chancen für die Leseförderung in Sicht kommen, wird andernorts ums Kulturgut Buch, den Fortbestand von Bibliotheken und Buchhandel gezittert. Zeitgemäße Leseförderung muss die Vielfalt im alltäglichen Medienumgang von Kindern und Jugendlichen aufgreifen, um diese in ihrer Lebenswirklichkeit zu erreichen. Aus Sicht der Stiftung Lesen bergen digitale Medien – von der K i nderbuch-App bis zum enhanced

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E-Book – immense Chancen, fürs Lesen zu begeistern. Um ihre Potenziale für die Leseförderung besser zu nutzen, hat die Stiftung einen eigenen Entwicklungsbereich „Digitales Lesen“ aufgebaut. Er greift aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung auf, entwickelt neue Modell- und Forschungsprojekte rund um den Einsatz digitaler Medien in der Leseförderung und bietet allen hier Aktiven Unterstützung und Hilfestellung an, etwa in Form von Webinaren, Leseund Medienempfehlungen.

Ob es um Wikipedia-Recherchen oder die neuesten Statusmeldungen auf Facebook geht – für die Stiftung ist Lesen im digitalen Zeitalter eine Schlüsselkompetenz, um an Bildung teilzuhaben, Informationen zu bewerten, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Nur konsequent, dass sich auch der „Leipziger Lesekompass“, mit dem die Stiftung Lesen und die Leipziger Buchmesse seit 2012 Orientierungshilfen für Lehrer, Erzieher und Eltern geben, nicht auf Gedrucktes beschränkt: „Wir finden, dass andere Trägermedien teilweise enormes pädagogisches und motivatorisches Potenzial bergen“, meint Sabine Uehlein, Programm-Geschäftsführerin der Stiftung. „Wenn Kinder neben einer guten Geschichte auch etwas über den bewussten Umgang mit neuen Technologien lernen können – umso besser!“ Angesichts des sich rasant verändernden Mediennutzungsverhaltens der jungen Zielgruppe tun auch Verlage gut daran, die gegenwärtige Technologierevolution als Chance zu begreifen – und in die Zukunft zu investieren. Dabei lässt sich sogar die Klischeefalle umgehen, digitale Produkte als Sargnagel des gedruckten Buchs zu betrachten. Mit seiner Multimediabibliothek LeYo! hat Carlsen die Brücke

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zwischen beiden Welten geschlagen: Zu jedem Buch der Reihe gibt es eine kostenlos herunterladbare App, mit der Kinder ab drei Jahren Buchinhalte akustisch, visuell und spielerisch erschließen können. „Mit einer guten Idee“, so Stefan von Holtzbrinck, „kann man auch heute noch sehr, sehr schnell wachsen“. Unterm Dach der Holtzbrinck Holding loten Start-ups neue Ge-schäftsmodelle im digitalen Umfeld aus: Der Flatrate-Dienst skoobe etwa, über den sich zu einem festen monatlichen Preis E-Books ausleihen lassen, oder die Plattform LovelyBooks. skoobe (was rückwärts gelesen das Wort E-Books ergibt), wurde 2010 gegründet, ging zwei Jahre später online und bietet heute mehr als 130.000 Bücher aus rund 1.600 Verlagen an. LovelyBooks setzt auf Lesen als Gemeinschaftserlebnis, den Austausch über Bücher – direkt im E-Book, über Widgets, in Apps oder im Social Web. Das kommt an: Derzeit hat die Plattform rund 165.000 registrierte Mitglieder. Die grenzenlosen digitalen Möglichkeiten im Blick, scheint die Branche von einem regelrechten Experimentierfieber erfasst zu sein. Aber: Wird sich der digitale Markt mittel- und langfristig von rein bestsellergetriebenen Umsätzen emanzipieren, lassen sich auch neue, anspruchsvolle literarische Formate durchsetzen, von denen wir heute noch nichts ahnen? Genau dieser Fragestellung geht der 2013 von Matthias Gatza, Ingo Niermann und Henriette Gallus gegründete „Modellverlag“ Fiktion nach. Das von der Bundeskulturstiftung geförderte Projekt will die sich durch die Digitalisierung eröffnenden Chancen für die Wahrnehmung und Verbreitung anspruchsvoller Literatur weiterentwickeln. Dabei setzt Fiktion auf mehreren Ebenen an: Simultan werden deutsch- und englischsprachige E-Books publiziert, die sich nicht nur inhaltlich gängigen Marktkriterien verweigern – die Bücher werden auch kostenlos angeboten. Parallel arbeitet man am Aufbau eines internationalen Autoren-Netzwerks, dem inzwischen so illustre Namen wie Elfriede Jelinek, Douglas Coupland oder Tom McCarthy angehören. Mit Workshops und Kongressen für Autoren, Juristen und Verlagsprofis will Fiktion zudem die Debatte übers Urheberrecht

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Experiment: Matthias Gatza will anspruchsvoller Literatur den Weg ins Digitale bahnen.

vorantreiben. Für Mitgründer Matthias Gatza, Autor, Lektor und im früheren Leben Print-Verleger, eröffnet die Digitalisierung ein spannendes Experimentierfeld: „Als ich mit 26 Jahren meinen eigenen Verlag hatte, musste ich für jedes Buch 10.000 bis 20.000 Mark ausgeben und dazu noch den Vertrieb finanzieren. Jetzt die Chance zu haben, ästhetischen Übermut ohne diese Kosten in eine lesende Gesellschaft zu spielen, finde ich aufregend.“

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Digitale Welten: E-Books, Fortsetzungsromane fürs Handy, Spiele oder Online-Datenbanken – klassische Buchverlage und Start-ups arbeiten an neuen digitalen Geschäftsmodellen für die Branche. Die Messe bildet diesen Kulturwandel ab und gibt ihm neue Impulse. Formate wie die Buchmessekonferenz, bücher.macher oder das Programm autoren@leipzig sorgen für Austausch, Information und Vernetzung zwischen jungen Kreativen und klassischer Verlagswelt.

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Autoren

Kindheitsmuster Literatur entsteht nicht im Elfenbeinturm: Das Feedback von Dozenten, Freunden und Kollegen, Autorenwerkstätten oder die „Prosa Prognosen“ der Leipziger Buchmesse haben Paula Fürstenberg bei der Arbeit am ersten Roman wichtige Impulse gegeben.

Als die Mauer fällt, ist Paula Fürstenberg zwei, im Abiturjahr lockt die Ferne. Was anfangen mit all dem Leben, das vor ihr liegt? An eine Autorenlaufbahn hat die junge, musik- und theaterbegeisterte Potsdamerin nie gedacht. Es ist die Mutter, die ihr – nach einem längeren Frankreich-Aufenthalt – vorschlägt, Literarisches Schreiben zu studieren. Eine Wahl, die alle Wege offenhält. Fürstenberg bewirbt sich am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Seit 2006 bietet es ein dreijähriges Vollzeitstudium an, wahlweise in Deutsch oder Französisch. Im Zentrum steht die von einem Mentor begleitete Arbeit an den eigenen Texten. Im ersten Jahr ist der Schweizer Silvio Huonder Fürstenbergs literarischer Sparringspartner, später wechselt sie zu Ruth Schweikert. Auch Kommilitonen wie Marc Anton Jahn oder Simone Lappert werden zu Begleitern der täglichen Schreibpraxis – und zu engen Freunden. In ihrem ersten Bieler Jahr macht Paula Fürstenberg eine merkwürdige Entdeckung: „Ich hatte mir fest vorgenommen, alles Mögliche auszuprobieren, von der Short Story bis zur Lyrik. Aber bald merkte ich, 22

dass sich Motive und Figuren wiederholten. Eigentlich schrieb ich immer an der gleichen Geschichte.“ Eine Geschichte, die mit Nachgeborenschaft zu tun hat und mit dem Leben in der DDR, das sie nur aus Büchern und vom Hörensagen kennt. Eine biografische Spurensuche: „Eigentlich bin ich ja ein Westkind“, lacht Fürstenberg. „Aber ich bin mit Menschen aufgewachsen, die diesen Biografiebruch in sich tragen.“ In Biel wird aus der Geschichte, die sich nicht wegdrängen lässt, ein Romanmanuskript. Mit dem Bachelor aus Biel in der Tasche geht Paula Fürstenberg zurück nach Berlin. Bald steht ihr Schreibtisch in der Bürogemeinschaft „Adler & Söhne“. Die von DLL-Absolventen wie Katharina Adler, Saša Stanišić und Thomas Pletzinger gegründete Kooperative aus Autoren, Lektoren und Übersetzern, die sich in Heiner Müllers ehemaliger Zigarrenhandlung im Prenzlauer Berg eingerichtet hat, begreift den Entstehungsprozess von Literatur nicht als einsames Werkeln im Elfenbeinturm, sondern setzt auf gegenseitige Inspiration. Auch in „Betriebsfragen“ teilt man bereitwillig Erfahrungen: Welcher bücherleben | ausgabe september 2015

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Die Autorenwerkstatt Prosa wird seit 1998 vom Literarischen Colloquium Berlin (LCB) ausgerichtet. Ihr Ziel ist es, jüngere deutschsprachige Autorinnen und Autoren, die noch keine eigenständige Buchpublikation vorgelegt haben, zu entdecken und zu fördern. Im Rahmen der Reihe „Prosa Prognosen“ werden die Stipendiaten auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt.

Verlag könnte passen? Soll man einen Agenten einschalten? FürsPaul a Fürstenberg tenberg ist das Feedback der Kolwurde 1987 in Potslegen wichtig: „Egal, ob ich Vordam geboren und hat bis 2011 am Schweizeschläge umsetze oder mich gegen rischen Literaturinstiandere Positionen abgrenze: Der tut in Biel studier t. Ihre Arbeiten wurden Austausch wirkt immer klärend.“ mehrfach ausgezeichAls sie 2011 erstmals öffentlich in net, 2012 erhielt sie ein Arbeitsstipendium der Berliner Lettrétage aus ihrem des Landes BrandenManuskript liest, sind alle da: die burg. Ihr erster Roman wird 2016 bei KiepenFamilie, Freunde. „Ein toller heuer & Witsch (Köln) Abend.“ Anders aufregend der erscheinen. Auftritt im Rahmen der „Prosa fühlte sich gut an.“ Es wird noch einiges Wasser den Prognosen“ auf der Leipziger Buchmesse, drei Jahre Rhein hinunterfließen – Lektoratsrunden, Titelspäter: Nach der Teilnahme an der Autorenwerkstatt konferenz, die Wahl des richtigen Covers – bis das des LCB bewegt sich Fürstenberg hier schon unterm Debüt im Herbst 2016 erscheint. Nach fünf Jahren Radar der Verlags-Scouts, die nach neuen Talenten Arbeit am Text gewöhnt sich die Autorin gerade ans Ausschau halten. Gefühl des Loslassens. „Ein Roman schluckt jede Menge Energie und lässt wenig Platz für andere Unter Vermittlung des Literaturagenten Florian Projekte. Für anderes Leben.“ In einem Jahr wird Glässing (Landwehr & Cie) fällt die Wahl schließlich Paula Fürstenberg ihr erstes Buch in Händen halten. auf Kiepenheuer & Witsch. „Ich bin nach Köln Ziemlich wahrscheinlich, dass sie dann schon am gefahren, mit meiner Lektorin Sandra Heinrici und zweiten schreibt. Olaf Petersenn durch die Abteilungen gegangen: Das bücherleben | ausgabe september 2015

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Verlage

Gründet und mehret euch! Start-ups und Buchbranche: Die Frage nach den Geschäftsmodellen von morgen trifft einen Nerv. Wenn sich alte und neue Ökonomie auf der Leipziger Buchmesse begegnen, geht es auch darum, gemeinsam schlauer zu werden.

Der Mann hat Mut: Zur Leipziger Buchmesse im März präsentierte Robert Merkel sein Startup direkt neben dem Weltkonzern Amazon. Nach zehn Jahren bei der 20th Century Fox und Walt Disney hat der gebürtige Leipziger mit einem alten Kindergartenkumpel, der jetzt als IT-Spezialist arbeitet, die eigene Firma gegründet. Mit dem Digitalverlag frankly will die Life Media AG zwar nicht das Rad neu erfinden,

aber immerhin einen Gegenentwurf zur amerikanischen Internet-Unternehmenskultur etablieren. Eine Art „YouTube für Publishing mit angeschlossenem iTunes-Store“, scherzt Merkel. Doch der Jungunternehmer meint es ernst. frankly ist Verlag, E-BookStore und soziales Netzwerk in einem. Die Tugenden traditionellen Verlegens sollen mit den neuen technologischen Möglichkeiten in Einklang gebracht werden – zum Nutzen von Autoren und Lesern. „Wir waren zu jung, als Napster die Musikindustrie revolutionierte“, meint Merkel selbstbewusst – für das eigene Startup sei die alte Buchstadt genau der richtige Ort. „Das Neue wird hier entstehen.“ Nicht nur auf der Messe oder den Berliner Buchtagen, dem jährlichen Gipfeltreffen der Branche, fällt es ins Auge: Die jungen Tüftler werden wahr- und ernst genommen – auch von Büchermenschen, die mit der hippen Gründerszene nicht per se verbandelt sind.

Alles ist möglich, Denken mit Scheuklappen war gestern. Kreativer Kopf: Robert Merkel startet in Leipzig den Digitalverlag frankly.

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Frank Maleu, Gründer der E-Book-Boutique Minimore, tüftelt gemeinsam mit der Mainzer Agentur bureau23 an einem Weg, wie sich E-Books einfach, bücherleben | ausgabe september 2015

Thinktank: Der startup club des Börsenvereins bringt junge Gründer und klassische Verlagswelt zusammen.

sicher und ohne aufwendige technische Voraussetzungen lokal handeln lassen. Im Laden laden, womöglich gleich bar bezahlen – warum eigentlich nicht? Über die App des Berliner Start-ups MediaSpot können mit Hilfe der iBeacon-Technologie E-Books, Hörbücher und Magazine an ausgewählten Orten kostenlos gelesen und gehört werden, derzeit wird das Angebot schon an rund 150 Orten der Hauptstadt und in der Flotte von berlinlinienbus.de genutzt. Nun wollen die Berliner auch das stationäre Sortiment für die Technik begeistern. Klaus Rössler und Stefan Fischerländer, die Frankfurter Gründer von bookvibes, schrauben derweil an etwas, das sie gewitzt „Emotional Internet of Things“ nennen. Eine App, die Emotionen aus Büchern extrahiert: „Mit unserer Webanwendung können wir die emotionale DNA jedes Buchs bestimmen – und so ein Netzwerk aus Lesern, Händlern und Autoren schaffen.“ bücherleben | ausgabe september 2015

Die Frage nach den Geschäftsmodellen von morgen trifft ganz offensichtlich einen Nerv. So ging bookvibes die ersten Schritte in der vom Forum Zukunft im Börsenverein und dem Arbeitskreis Elektronisches Publizieren (AKEP) gestarteten Initiative protoTYPE. Ein Beispiel, das zeigt, wie zarte Projektpflänzchen zu ernsthaften Business-Ideen reifen können. Über vier Jahre konnten Vor- und Quer-

Kostenlos lesen in der Buchhandlung vor Ort oder im Linienbus: Daniel Schiebe und Claudio Preil (MediaSpot) setzen auf iBeacon-Technologie.

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denker der Buch- und Medienwelt hier ihre Ideen jeweils sechs Monate lang bis zur Projektreife vorantreiben. Mit seinem im Sommer 2014 gegründeten startup club möchte der Börsenverein jungen Unternehmen den Zugang zur Buchwelt erleichtern – und ihnen zugleich als wichtige Partner Gehör verschaffen. Letztlich geht es um ein Umfeld, in dem sich Start-ups gut aufgehoben fühlen – mit praktischen Angeboten, die ihnen Kontakte, Werkzeuge und Wissen an die Hand geben, nicht zuletzt auch darüber, wie die oft zu unrecht als konservativ gescholtene Branche tickt. Dorothee Werner, die als Leiterin der Abteilung Unternehmensentwicklung im Börsenverein protoTYPE und den startup club verantwortet, arbeitet inzwischen mit jungen Gründern und etablierten Unternehmen an der Weiterentwicklung dieser Bausteine. Entstehen soll eine Plattform, die innovationsrelevantes Wissen zur Verfügung stellt, potenzielle Kooperationspartner vernetzt, Kontakte zu Förderinstitutionen vermittelt, kurz: handfesten Mehrwert für Start-ups und klassische Unternehmen bietet.

Startkapital: Volker Oppmann (LOG.OS) weiß, was junge Gründer brauchen.

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Günter Faltin, Buchautor und Professor für Entrepreneurship in Berlin, ist, logisch, ein Start-up-Fan. Wobei er weniger die „schnellen Jungs“ im Auge hat, die „beim Entry gleich an den Exit denken“.

Faltin rät Gründern, nicht auf Wunder oder den Anruf vom Großkonzern zu warten, sondern auf die eigene Kreativität zu bauen: „Wir sind das Kapital!“ Doch gilt nicht andererseits der gute alte Spruch: Ohne Moos nix los? Seinen Verlag Onkel & Onkel finanzierte Volker Oppmann 2007 privat. Bei seinem ehrgeizigen Projekt LOG.OS, einer gemeinnützigen E-Book-Plattform, ist nicht der schnelle Return-onInvest, sondern Idealismus gefragt. Was wohl für die Buchbranche im Allgemeinen gilt: Die zu erwartenden Margen sind nicht so gewaltig, als dass VentureHeuschrecken magnetisch angezogen würden. Passen also Finanzinvestoren überhaupt in diese Landschaft? Wie findet man als Gründer private Kapitalgeber? „Das Klinkenputzen, die Suche nach den passenden Partnern dauert“, meint Samuel Ju, der als Student der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an der Entwicklung der E-Learning-Software BRAINYOO beteiligt war und Anfang 2012 zusammen mit einem Freund die E-Learning-Plattform Repetico gründete. „Das ist wertvolle Zeit, die in der kreativen Arbeit fehlt.“ Ju hatte Glück: Jonathan Beck, Geschäftsführer bei C. H. Beck, hat als privat agierender Business Angel die Gründung von Repetico begleitet. Jens Klingelhöfer, der seine Firma bookwire mit Hilfe branchenfremder Investoren gründete, verweist auf die hierzulande prinzipiell schwierige Finanzierungslandschaft: Entweder tropft der Geldhahn nur spärlich – oder er sprudelt überreich. EUProgramme sind zudem meist an eine Mindestkapitalquote gebunden – und damit für Firmen, die von null starten, wenig hilfreich. Unternehmen in der Frühphase hilft das sogenannte INVEST-Wagniskapital: Unter bestimmten Bedingungen können private

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Geldgeber 20 Prozent ihres Investments als Zuschuss erhalten – derzeit sind noch mehr als 100 Millionen Euro aus dem Bundesprogramm abrufbar. Ebenso entscheidend wie die Investmenthöhe ist allerdings auch die richtige Chemie zwischen Start-up und Geldgeber. Versteht der das Business nicht, in das er einsteigt, kann das die „Hölle auf Rädern“ sein, warnt Volker Oppmann: „Ein ausgemusterter Procter-&Gamble-Manager mag für Pampers funktionieren – aber nicht für Bücher.“ Gesucht und rar: Risikobereite Leute mit Stallgeruch, die auch branchenunerfahrenen Neulingen Türen öffnen. Von der Lehramtsstudentin zur Sozialunternehmerin: Lisa Eineter gründete das Start-up Schmökerkisten.

Auch für Lisa Eineter ist der Austausch mit anderen Gründern, die Integration in bestehende Netzwerke wichtig. In kaum zehn Jahren hat die Berlinerin mit ihren Ex-Kommilitonen ein florierendes Bildungsunternehmen geschaffen, eben wagt sie die Ausgründung eines neuen Start-ups. Mit Schmökerkisten will die studierte Mathe- und Deutschlehrerin Sprachförderung in den Fachunterricht bringen: „In unseren Kisten stecken keine Schulbücher, sondern Nachschlagewerke, Romane, Lexika, Spiele, DVDs oder CD-ROMs, die bei den Schülern die Motivation für ein Thema rauskitzeln können“, erklärt Eineter. Der Bedarf ist da: 130 Schmökerkisten wurden in der im Frühjahr 2014 gestarteten Pilotphase verkauft; im August 2014 lief der deutschlandweite Vertrieb an.

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Wenn Eineter in den SpeedDatings des startup clubs auf etablierte Player trifft, geht es nicht um den fixen Deal, eher um Vernetzung. Davon profitieren auch die klassischen Unternehmen der Branche: Gelungene Beispiele wie Bastei Entertainment, Oettinger34 oder die digitalen UllsteinImprints Midnight und Forever zeigen, dass man gelebte Start-up-Kultur nicht nebenbei in die Old Economy verpf lanzen kann. Es braucht geschützte Räume, in denen das Neue wachsen kann. „Grow or go home!“, heißt es hemdsärmelig im Silicon Valley. Doch ist es nicht vielmehr so, dass alte und neue Ökonomie voneinander lernen müssen? Rita Bollig, bei Random House verantwortlich fürs digitale Geschäft, bringt es zwischen zwei Leipziger Blitz-Dates auf den Punkt: „Für uns ist es wichtig, nicht im eigenen Saft zu schmoren. Die Vitalität, die Geschwindigkeit und Effizienz der jungen Wilden sind enorm. Wenn dazu noch gut durchdachte Geschäftsideen kommen, sollte man als traditionelles Unternehmen schon genau hinschauen.“

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Große Bühne für Gründer: Zur Buchmesse im März 2016 werden sich Start-ups und etablierte Player aus der Buch- und Medienbranche auf einer eigenen Plattform präsentieren. Ein innovatives Standbaukonzept erleichtert den Firmen den Zugang zu Publikum und Fachbesuchern. Der Buchmarkt braucht Innovationen – die Leipziger Buchmesse zeigt sie.

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* Martina Hefter Autorin & Performerin, Leipzig 28

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Auch Daniela Seel ist seit sieben Jahren Stammgästin bei uns, und ich sehe sie dann weniger als Verlegerin und Dichterin, sondern eben als Gast.*