E-Book - Leipziger Buchmesse

seltsames Mischwesen aus Schwein und Vogel: Gezeichnete Helden verändern nicht selten auch das ... sich seither mit Künstlern wie Daniel. Clowes, Chris ...
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bücherleben Das Magazin der Leipziger Buchmesse

Januar 2015

Erinnerungen neu erfinden: Der Autor und Filmemacher Ron Segal über Wahrheit, Fiktion und den Holocaust im Animationsfilm +++ Familienaufstellung: Nachwuchsautorin Madeleine Prahs und ihr langer Weg zum ersten Roman +++ Forever young! Unabhängige Verlage im Aufwind +++ Klassenzimmer der Zukunft: Sachsens Kultusministerin Brunhild Kurth im Interview

Leipziger Buchmesse

Leipzig liest

12.–15. März 2015

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bücherleben | ausgabe januar 2015

Voll das Leben: Knapp 20 Minuten dauert die Fahrt vom Hauptbahnhof zum Messegelände. Demokratie – jetzt oder nie! In der Tram-Linie 16 sind alle gleich: Verlagsmenschen in feinem Zwirn, HipHopper mit Riesen-Kopfhörern, kinderwagenschiebende Familien, Omas und Opas mit Enkel, aufgedrehte Schulklassen und Lehrer. Geben Sie bitte die Türen frei! Die Buchmesse dauert nur vier Tage, deshalb wird’s eng. In die Welt der Literatur kann man immer aufbrechen.

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Editorial

„Zweieinhalb Tage auf Händen getragen durch die Buchmesse.“ Max Frisch, Berliner Journal, 1973 In Leipzig mischen sich Ost und West, Hoch- und Subkultur, Alt und Jung. Die Stadt überrascht – und das nicht nur wegen der vielen Gründerzeithäuser, der Passagen, Parks und Kanäle, der Fabriken, hinter deren Backsteinmauern sich nun Künstler und kreative Firmengründer eingerichtet haben. Es sind die Menschen, ihre Neugier und Offenheit, die es Besuchern auf Anhieb leicht macht, sich wohl zu fühlen.

6 Autoren

Herausgeber Leipziger Messe GmbH Postfach 100720 04007 Leipzig www.leipziger-buchmesse.de Projektteam Leipziger Buchmesse Direktor: Oliver Zille Tel. +49(0)341 678-82 40 Fax +49(0)341 678-82 42 [email protected] Projektleitung: Julia Lücke, [email protected] Projektkoordination, Text: Nils Kahlefendt, Leipzig Gestaltung, Layout: Angela Schubert & Jo Schaller, Halle (S.) Abbildungen: Tobias Bohm (Titel, S. 7, 8, Rückseite), Fotolia – FotolEdhar (S. 19), Robert Gommlich (S. 15), Nils Kahlefendt (S. 11, 12, 13, 16), Karen Lemme (S. 22, 23), Gert Mothes (S. 2/3), naTo (S. 24), Nils A. Petersen (S. 27), Peyo 2014, Licensed through I.M.P.S. (S. 10), Brussels, privat, Swen Reichold (S. 25), Monique Wüstenhagen (S. 17)

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Erinnerungen neu erfinden Der Autor und Filmemacher Ron Segal über Wahrheit, Fiktion und den Holocaust im Animationsfilm.

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Wir hatten immer unsere Beziehungskrisen Sailormoon, Hellboy, die Schlümpfe oder ein seltsames Mischwesen aus Schwein und Vogel: Wie gezeichnete Helden das Leben von Comic-Fans verändern.

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Die vermutlich beste Zeit, Leipzig und seine Möglichkeiten zu erkunden, sind die vier Buchmessetage im März. Ein wenig Ausnahmezustand, eine Art fünfte Jahreszeit. Für die übrigen 361 Tage des Jahres gilt: Nach der Messe ist vor der Messe. Mit unserem neuen Magazin, das den „Leipziger Bücherbrief“ ablöst, wollen wir Sie auf den kommenden März einstimmen. Es geht, Sie ahnen richtig, um mehr als short cuts aus der Werkstatt. Natürlich wird bücherleben auch über langfristige Pläne und neue Projekte unserer Messe berichten, in gebotener Tiefe Hintergründe ausleuchten. Vor allem aber wollen wir – in unterschiedlichsten journalistischen Formaten – die eigentlichen Akteure der Buchmesse stärker in den Blick nehmen: Was treibt Autoren, Verleger, Buchhändler, nicht zuletzt unsere zahllosen Veranstaltungs-Partner? Informativ, unterhaltsam und nah am Leben wollen wir sein,

dabei so subjektiv und überraschend, wie man es von der Buchmesse erwartet. Das gedruckte Heft wird künftig von einer Online-Ausgabe flankiert werden – so können wir auch in digitalen Zeiten aktuell bleiben und Ihre Messevorbereitungen übers Jahr mit interessanten Hintergrund-Geschichten begleiten. Neugierig geworden? Wir hoffen, dass sich der Spaß, den wir am Ideenfinden und -umsetzen hatten, auf Ihre Lektüre überträgt. Halten Sie mit Anregungen und Kritik nicht hinter den Berg, beides ist uns willkommen! Lesen Sie wohl, lassen Sie sich inspirieren – und auch ein wenig auf Händen tragen. Auf bald!

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Unabhängige Verlage Forever young! In Zeiten zunehmender Marktkonzentration stehen Independents für eine bunte, vielfältige Bücherlandschaft .

Ihr Oliver Zille Direktor der Leipziger Buchmesse [email protected]

Leipzig liest Magische Orte An mehr als 400 Spielstätten wird im März gelesen, diskutiert und gefeiert. Drei MesseHotspots im Porträt.

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26 Autoren





Klassenzimmer der Zukunft Sachsens Kultusministerin Brunhild Kurth über Medienbildung in der Schule.

Familienaufstellung Schreiben, weiß Madeleine Prahs, ist ein oft einsames und langwieriges Geschäft.

www.facebook.com/leipzigerbuchmesse twitter.com/buchmesse www.leipziger-buchmesse.de/youtube

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Autoren

„Erinnerungen neu erfinden“ Kunst darf alles, meint der Autor und Filmemacher Ron Segal. Ein Gespräch über Wahrheit und Fiktion, den Holocaust im Animationsfilm und den Gaza-Streifen, mitten in Berlin.

Das kleine Kaffee am Rand des Prenzlauer Bergs ist gut gefüllt; der schmale jungen Mann mit Brille, der hinter einem Milchkaffee in sein Notebook tippt, könnte als Student durchgehen, der an seiner Hausarbeit schreibt. Doch Ron Segal, der Autor und Filmemacher, sitzt wieder einmal auf gepackten Koffern. Seine deutsche Freundin studiert in London; in wenigen Tagen fliegt er zu seiner Familie nach Tel Aviv. Seit 2009 lebt Segal, mit Unterbrechungen, in Berlin. Ein DAAD-Stipendium ermöglichte ihm die Recherche im Shoah Foundation Institute für Visual History an der Freien Universität, in dem 52.000 Interviews mit HolocaustÜberlebenden aus mehr als 50 Ländern aufbewahrt werden. Aus unzähligen dieser Puzzleteile erstand Adam Schumacher, der Held von Segals erstem Roman „Jeder Tag wie heute“: Ein 90jähriger Schriftsteller, der nach Jahrzehnten der Verweigerung wieder nach Deutschland reist, um seine Erinnerungen aufzuschreiben – im Wettlauf mit einer ausbrechenden AlzheimerErkrankung. Ron Segal hat große Pläne: Aus seinem Debütroman soll ein abendfüllender Animationsfilm werden. Im Herbst 2015, hofft er, kann die Produktion beginnen. Segal weiß, dass er ein Marathon-Projekt vor der Brust hat: „Das wird ein langer Prozess. Viel länger, als ein Buch zu schreiben.“ 6

Was bringt einen jungen, lebenslustigen Israeli von knapp 30 Jahren dazu, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen – noch dazu in Berlin? Ron Segal: Ich fand immer, dass alles, was ich über dieses Thema wusste, bereits vor mir gedacht und gesagt wurde. Ich wollte etwas eigenes sagen – und konnte das nicht. Ich musste recherchieren. Dazu kommt die Geschichte meiner Großeltern. Sie lebten in Berlin und schafften es, rechtzeitig zu fliehen. Sie waren beide sehr jung; meine Oma kam mit 16 Jahren nach Israel. An Berlin hatten sie eigentlich gute Erinnerungen, wollten jedoch nie zurück. Als ihr Mann 70 wurde, haben die beiden Deutschland noch einmal besucht. Das Tagebuch, das Großmutter damals geführt hat, hat sie mir vorgelesen. Das fand ich sehr spannend: Eine Mischung aus Hass und Liebe… Als Sie das erste Mal in Deutschland waren, haben Sie die Schuhe Ihres Opas getragen? Segal: Stimmt. Es waren sehr schöne Schuhe, vermutlich in Deutschland gearbeitet. Ich habe es gemocht, hier mit ihnen zu laufen, eine interessante Erfahrung. Die Idee, der Hauptfigur meines Romans den Namen „Schumacher“ zu geben, kam mir allerdings beim Lesen eines Märchens der Gebrüder Grimm. Sie bücherleben | ausgabe januar 2015

Ron Segal, 1980 im israelischen Rehovot geboren, studierte nach seinem Armeedienst an der Sam S p ie gel F il m an d Tele v ision School of Jerusalem; sein Abschlussfilm wurde auf vielen internationalen Festivals gezeigt und vom Goethe Institut ausgezeichnet. Seit 2009 lebt er mit Unterbrechungen in Berlin, derzeit als Stipendiat der Akademie der Künste.

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kennen es bestimmt: Der Schuster, dessen Schuhe nachts von fleißigen Wichtelmännchen besohlt werden… Ich dachte: Was, wenn wir an Stelle des Schuhmachers einen Schriftsteller hätten? Und statt der Schuhe Erinnerungen – oder Geschichte?

Erinnerungen muss man immer wieder neu erfinden. Ich versuche, eine zweite oder sogar dritte Ebene der Erinnerung zu bauen. Eine Interpretation von authentischer Erfahrung. Das darf Literatur! Kunst, die etwas nicht darf, ist für mich nicht interessant.

Wie kann Literatur mit dem Holocaust umgehen, wenn ihr nur noch die Fiktion oder die Erinnerung aus zweiter, dritter Hand bleibt? Segal: Sie schafft eine persönliche Verbindung zu den Lesern. Es ist beispielsweise sehr schwierig, eine Gedenkstätte zu besuchen – und tatsächlich etwas zu fühlen. Man weiß natürlich, wie man sich respektvoll verhält, was man spüren müsste. Aber das passiert nicht immer. Die Situation ist ein bisschen künstlich. Mit einer guten Geschichte ist der Leser gleichsam in den Schuhen der Figuren unterwegs.

Sie haben für Ihr Buch 18 Monate im Visual History Archive des Shoah Foundation Institute an der FU Berlin recherchiert. Eine einschneidende Erfahrung? Segal: Zugegeben, ich hatte Angst davor. Aber es war einfacher, als ich dachte. Vielleicht hat sich das auch auf die Stimmung des Buches ausgewirkt. In den Videos begegneten mir Männer und Frauen, die oft mit viel Humor über ihre schlimmen Erfahrungen sprechen. Auch bitterem Humor. Manchmal musste ich sogar laut lachen, was die Archivare natürlich geschockt hat. Viele der Zeitzeugen sind tatsächlich gute GeschichtenErzähler! Und genau die habe ich gesucht.

Sie nähern sich Ihrem ernsten Thema sehr leicht, mitunter mit schwarzem Humor. In Deutschland taucht da reflexartig die Frage auf: Darf man das? Segal: Das geschieht auch in Israel. Doch wenn sich nur die Generation der Holocaust-Überlebenden zu Wort melden darf, wäre die Geschichte auserzählt.

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Momentan arbeiten Sie daran, einen Animationsfilm zu Ihrem Roman fertigzustellen. Wieso gerade dieses Genre? Segal: Warum soll ein Klavierspieler nicht Trompete spielen? (lacht) Animation erscheint mir sinnvoll,

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gerade bei diesem heiklen Gegenstand: Dokumentarfilme benutzen Archivmaterial, für Spielfilme werden Locations und Geschehnisse nachgebaut. Ich würde mich dort verlieren, das ist nicht meine Welt. In der Animation kann ich mich auf die persönliche Geschichte hinter der erdrückenden Erzählung vom Holocaust konzentrieren. Sehen Sie sich in Israel mit Blasphemie-Vorwürfen konfrontiert? Oder ist so etwas spätestens seit Art Spiegelmans „Maus“ kein Thema mehr? Segal: Filme wie „Persepolis“ oder „Waltz with Bashir“ haben gezeigt, dass sich das Genre auf seriöse Weise zeitgeschichtlichen Themen annähern kann. Wir sind also nicht die ersten, die so etwas tun. Die Japaner machen es schon seit vielen Jahren: Es gibt AnimeeFilme über Hiroshima und Nagasaki. Anne Frank ist Heldin in einem Dutzend Animee-Streifen! Für uns, die wir es gewohnt sind, Pixar- und Disney-Filme zu schauen, mag es etwas Neues sein. Sie leben abwechselnd in Berlin und Tel Aviv. Was haben beide Städte gemeinsam? Segal: Die kosmopolitische Stimmung der Städte ist durchaus vergleichbar. Auch, dass man viel Fahrrad fährt. Und inzwischen gibt es hier in Berlin so viele Israelis, dass es mir manchmal tatsächlich wie ein zweites Tel Aviv vorkommt. Beide Städte sind ziemlich groß, trotzdem findet man in seinem Kietz alles, was man zum Leben braucht. Wie funktioniert das Zusammenleben mit Palästinensern, Libanesen, Syrern in dieser Stadt? Geht man sich eher aus dem Weg – oder aufeinander zu? Segal: Wir sind weit entfernt von den Konfliktzonen des Nahen Ostens. Wahrscheinlich können wir hier deshalb besser miteinander reden. Wir müssen zumindest nicht streiten. Berlin als gelobtes Land? Segal: Ich habe im Rahmen meines Stipendiums gerade zwei Monate in Moabit gelebt, wo es 40 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund gibt. Ich wohnte in einer Art Künstler-Kommune, dem Zentrum für Kunst

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& Urbanistik. Auch hier gab es ein paar Leute aus dem Iran – wir haben uns sehr gut angefreundet. Ich habe viel Arabisch auf der Straße gehört, Türkisch, ein wahres Sprachgemisch – es funktioniert irgendwie! Der Nahostkonflikt ist jedoch auch hier Thema, als junger Israeli können Sie dem nicht ausweichen. Eine Bürde? Segal: Ich glaube, kein Schriftsteller möchte auf die Rolle eines Posterboys für die israelische Politik reduziert werden. Ich bin Autor – kein Politiker. Ich verstehe die Neugier, ich schätze sie auch. Es ist gut, Fragen zu stellen. Das bedeutet ja, dass man sich auf den anderen einlässt. Manchmal würden Sie lieber nur über Filme, Musik oder Literatur reden? Segal: Literatur und Politik lassen sich nicht trennen. Man kann auch kluge politische Fragen stellen. Dann bekommt man die richtigen Antworten. Ron Segals erster Roman „Jeder Tag wie heute“ ist 2014 im Wallstein Verlag erschienen.

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Im Rahmen des Programmschwerpunkts 50 Jahre deutschisraelische diplomatische Beziehungen wird Ron Segal im März zusammen mit zahlreichen prominenten Autoren von Amos Oz bis zu Dan Diner, Chaim Noll oder der Übersetzerin Mirjam Pressler Gast der Leipziger Buchmesse sein. Im Leipziger Literaturhaus wird auch die Installation „Migrating Books“ zu sehen sein; das Projekt, an dem Segal mit einem Architekten-Team arbeitet, kreist um Zeugenschaft, Erinnerung und Schreiben.

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Comic & Manga

„Wir hatten immer unsere Beziehungskrisen“ Sailormoon, die Schlümpfe, harte Typen in den Suburbs von Los Angeles oder ein seltsames Mischwesen aus Schwein und Vogel: Gezeichnete Helden verändern nicht selten auch das Leben von Akteuren der Szene. Ein Bestiarium, so bunt wie die Welt von Comic und Manga.

Dr. Joachim Kaps, Jahrgang 1964, war freier Autor, Übersetzer, Ausstellungs-Kurator und Herausgeber der „Comixene“, 1996 wechselte er zu Carlsen Comics, wo er lange Jahre als Verlagsleiter arbeitete. Seit 2004 ist Kaps Managing Director von Tokyopop in Hamburg.

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Blaue Zwerge Man hat es bei all den Debatten über die Literaturfähigkeit der Graphic Novels fast vergessen: Comics dürfen auch ganz einfach intelligent unterhalten, ohne sich dafür schämen zu müssen. Diese Kunst beherrschte kaum einer so brillant wie der 1992 verstorbene Belgier Pierre Culliford, der unter dem Pseudonym Peyo als der geistige Vater der Schlümpfe bekannt wurde. Mich begleiten die blauen bücherleben | ausgabe januar 2015

Dirk Rehm, Jahrgang 1963, gründete 1991 in Berlin den Verlag Reprodukt, der sich seither mit Künstlern wie Daniel Clowes, Chris Ware, Barbara Yelin oder Mawil zu einer der wichtigsten Adressen für Comics abseits des Mainstreams entwickelt hat.

Zwerge schon seit meiner Kindheit, in der ich ihre Abenteuer in Rolf Kaukas „Fix und Foxi“-Heften als Fortsetzungsgeschichten verfolgen durfte. Ihre multimediale Vermarktung von Vader Abraham bis zu den Techno-Schlümpfen, die dem ersten Zeichentrickfilm in den 1970er Jahren folgte, hatte die Genialität der 16 ersten Schlumpf-Alben, an deren Entstehung Peyo selbst mitgearbeitet hat, zu Unrecht eine Weile in den Hintergrund gedrängt. Dem Splitter-Verlag aus Bielefeld ist es zu verdanken, dass man diese Abenteuer inzwischen in einer großartigen Neuausgabe wieder lesen und sich daran erfreuen kann, wie die Schlümpfe mittels ihres grandiosen Humors auch unsere Welt besser verstehen helfen: Kulturkonflikte („Rotschlümpfchen und Schlumpfkäppchen“), ausufernder Kapitalismus („Der Finanzschlumpf“) und Geschlechterrollen („Schlumpfinchen“) werden auf so großartige Weise seziert, dass man sie den RTL-Comedians unserer Zeit um die Ohren hauen müsste, falls sie sie nicht lesen können. Über all das kann ich heute noch genauso herzlich lachen wie damals in meinem Kinderzimmer. Und: Nach dem Lesen komme ich mir auch heute noch jedes Mal ein wenig klüger vor. bücherleben | ausgabe januar 2015

Hamburger Schule Ich bin, wie viele Jugendliche meiner Generation, mit „Petzi“ und „Micky Maus“ aufgewachsen, später kamen mit dem „Zack-Magazin“ franko-belgische Comics, Jean Giraud oder Hugo Pratts „Corto Maltese“ dazu. Als ich Anfang der 90er in Hamburg mein Studium abschloss, entdeckte ich amerikanische UndergoundZeichner wie Gilbert und Jaime Hernandez, die in den Achtzigern mit ihrer „Love & Rockets“-Serie eine Art Sittengemälde südkalifornischer Punks geschaffen hatten. Das traf mich wie ein Faustschlag. Zum ersten Mal dachte ich: Da schöpft jemand aus den gleichen Quellen, auch wenn er woanders lebt. Total spannend! Jugendliches Aufbegehren fühlt sich wahrscheinlich überall gleich an – egal, ob in den Suburbs von L.A. oder am Hamburger Lerchenfeld. „Der Tod von Speedy“, die deutsche Ausgabe des ersten Bands der „Love & Rockets“-Serie, ist dann meine Abschlussarbeit an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste geworden: Ich habe mich um die Rechte gekümmert, einen Übersetzer gesucht, alles handgelettert, in der Dunkelkammer der Hochschule wurden die Druckfilme hergestellt. Und plötzlich war ich Comic-Verleger. 11

Der Klempner Ich bin mit „Tim und Struppi“ oder „Lucky Luke“ aufgewachsen und kann mit richtigen Superhelden eigentlich gar nichts anfangen – selbst mit „Batman“ tue ich mich schwer. In den 90er Jahren bin ich dann bei „Hellboy“ gelandet, Carlsen hatte die Serie nach Deutschland gebracht; Anfang der Nullerjahre startete der Kleinverlag Cross Cult dann einen neuen Anlauf. Ziemlich düster, aber ich fand die Story gut. Sein Schöpfer, der Amerikaner Mike Mignola, hat Hellboy mal als „Klempner unter den Superhelden“ bezeichnet: Einer, der einfach seinen Job macht. Nur das der eben aus der Bekämpfung von Monstern, Vampiren und Nazis besteht. Sebastian Röpke, geboren 1968 und aufgewachsen im Rheinland, studierte ab 1993 an der TH Dresden. 1997 startete er in Leipzig die „Comic Combo“, der heute als dienstältester ComicLaden Ostdeutschlands gilt.

Big in Japan Angefangen hat alles mit „Sailormoon“, „Pokemon“ und den ganzen Serien auf RTL II, damals war ich sieben, acht Jahre alt. Und genau genommen ging’s wahrscheinlich noch früher los, mit „Heidi“ und „Biene Maja“: Das waren ja, so gesehen, auch schon Animes, wenn man den Begriff für in Japan produzierte Zeichentrick-Serien verwendet. Erst sehr viel später begann ich mich für japanische Kultur zu interessieren und bin bewusst auf Manga und Anime zugegangen. Mit 16 kamen die ersten Conventions – ich habe Nähkurse belegt und begonnen, meine Kostüme selber zu schneidern. Ein großer Spaß, aber auch jede Menge Arbeit. Ein besonderes Lebensgefühl? Für die meisten von uns sind Cosplay, Manga und Anime ein tolles Hobby. Nicht mehr – aber auch nicht weniger! Charline-Nana Lenzner wurde 1992 in Hamburg geboren und arbeitet dort in einer Werbeagentur. In ihrer Freizeit organisiert sie ehrenamtlich Cosplay-Wettbewerbe, so auch auf der Manga Comic Convention (MCC) in Leipzig.

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Schwarwel, geboren 1968 in Leipzig, ist Comic-Zeichner, Illustrator und Art Director von Glücklicher Montag, einem Studio für Animation, Grafik und Multimedia. Eine 25-jährige Zeitreise durch den Comic-Kosmos rund um seine berühmteste Figur ermöglichen die beiden dicken Bände „Schweinevogel Total-o-Rama“ (2010 und 2013).

Hossa! Schweinevogel, dieses seltsame Mischwesen, hat mich seit meinem 19. Lebensjahr begleitet. Ein echtes Kind der DDR, wo man nirgends legal Comics drucken konnte. 1987 habe ich mich also einfach in ein Messehaus geschlichen – und die ersten Exemplare meines Fanzines „Klump’n’Schlomp“ an einem Minolta-Kopierer vervielfältigt. 1989 erschien Schweinevogel dann als wöchentlicher Strip in der frisch gewendeten „Leipziger Volkszeitung“. Inzwischen tritt er, ganz old-fashioned, im Digitalen auf – in der „Leipziger Internetzeitung“. Ich habe immer mal wieder versucht, ihn mainstreamiger zu machen, zum Geldschwein, sozusagen. Aber Schweinevogel lässt sich nicht einfangen und verwursten. Er ist ein sperriger Charakter; jeder neue Strip eine Herausforderung, weil er sein Eigenleben nie aufgegeben hat. Wir hatten immer unsere Beziehungskrisen, Liebe und Hass, wie das in Familien so ist. Kaum zu glauben: Über der Arbeit am SchweinevogelFilm bin ich Veganer geworden, mit 39.

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Und meine beiden Kinder sind mit diesem Geschwister-Kind aufgewachsen. Es war immer klar: Da gibt’s noch jemanden, der in der zweidimensionalen Welt zu Hause ist. Der aber dazugehört.

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Comics für alle: Parallel zur Buchmesse öffnet im März die 2. Manga-Comic-Convention (MCC) ihre Tore: In Halle 1 präsentieren sich auf rund 20.000 Quadratmetern alle Größen der Branche, dazu Aussteller aus dem Games-Bereich sowie zahlreiche Händler. In die bunte Welt der Kinder-Comics können große und kleine Messebesucher in der neuen Kindercomicecke eintauchen. All das erleben Messebesucher ohne Aufpreis: Mit ihrem Ticket können sie problemlos zwischen den Hallen wechseln. Literarische Comics und Graphic Novels sind am ComicGemeinschaftsstand (Halle 5, Stand B209) oder an den Messeständen deutscher Kunsthochschulen (Halle 3) zu erleben.

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Unabhängige Verlage

Forever young! Voland & Quist, Bilger, Mikrotext: In Zeiten zunehmender Markt-Konzentration stehen unabhängige Verlage für eine bunte, vielfältige Bücherlandschaft. Das Alter spielt dabei keine Rolle. Und ob ihre Entdeckungen gedruckt oder nur noch digital erscheinen, ist egal.

Es gibt Verlage, die am Reißbrett irgendeiner Konzernzentrale erfunden werden. Andere entstehen aus einer übermütigen Weinlaune heraus oder weil da Bücher sind, die unbedingt in die Welt müssen. Die Geschichte von Voland & Quist beginnt 2001, fast drei Jahre vor der eigentlichen Gründung, als Planspiel zweier Studenten. Sebastian Wolter und Leif Greinus hatten sich während ihres Studiums an der Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur angefreundet und brüteten in ihrer WG nächtelang über einer Fallstudie fürs Fach Controlling. Das Thema: Die Gründung eines Verlags. Eigentlich unmöglich, zu diesem Schluss kommen sie. Unmöglich? Warum nicht die Literatur der Poetry Slams und Lesebühnen, die sie in ihrer Freizeit organisieren, zwischen Buchdeckel bringen? Und: Wieso nicht Bücher konsequent mit CDs kombinieren, da die Texte ihre volle Wirkung erst in der performativen Praxis erzielen? „Live-Literatur“ nennen die beiden das. „Für uns lag das Konzept auf der Hand“, erklärt Wolter. „Unsere Autoren können hervorragend vorlesen – und das soll man auch zu Hause nachhören können.“ Im Herbst 2004 erscheinen die ersten Titel von Voland & Quist. Den Ver14

lagsnamen borgen sich die Neu-Gründer in der Weltliteratur aus. Seither rätseln nicht nur Freunde, ob sich im finster-mephistophelischen Voland aus Bulgakows „Meister und Margarita“ oder dem freundlich-friedensstiftenden Quinten Quist aus Harry Mulischs „Entdeckung des Himmels“ Wesenszüge von Greinus und Wolter wiederfinden lassen. Verleger, die nicht nur Bilanzen lesen, sondern auch Bücher entdecken können, hat es immer gegeben. Trau keinem über 30? Wagenbach, Rotbuch, Stroemfeld: Viele, die ihren Weg in den politisch aufgeheizten Jahren der Alt-Bundesrepublik um 1968 begannen, feiern inzwischen runde Geburtstage. Dem Osten bescherte der Mauerfall vor 25 Jahren noch einmal einen regelrechten Gründungsboom. Mitte des neuen Jahrtausends, als Voland & Quist ihre ersten Schritte gehen, wird der Buchmarkt wieder aufgemischt: Junge, ambitionierte Nachwuchsverleger drängen aufs umkämpfte Parkett. Gegen Konzernkonkurrenz und Massenware setzen die „Independents“, wie sie sich in Analogie zur Musik-Szene nennen, auf sorgfältig zusammengestellte Programme und liebevoll gestaltetes Buchdesign. bücherleben | ausgabe januar 2015

Vom Studium zum eigenen Verlag: Sebastian Wolter und Leif Greinus

Ihre Geschichten erzählen von Freiheitsnischen, von geglückter Improvisation und fröhlichen Zufällen. Sie fürchten die Logik der Ökonomie eben so wenig wie die Konkurrenz der Großen.

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Sie wollen erfolgreich Bücher verkaufen – und doch authentisch, ganz nah bei ihren Lesern bleiben. In Leipzig, wo seit 2001 der Kurt-Wolff-Preis vergeben wird, sind die Indies mit originellen Veranstaltungsformaten und immer wieder neuen, ausgefallenen Veranstaltungs-Orten Magneten fürs Lesepublikum. Gemeinsam hat man viel erreicht: Der „Indiebookday“, vom Hamburger Mairisch Verlag in bester Graswurzel-Tradition angestoßen, hat sich im Kalender etabliert. Die „Hotlist“ lenkt das Scheinwerferlicht von den großen Literatur-Preisen auf den Reichtum der Verlagslandschaften insgesamt. Kein Zweifel: Sichtbarer sind sie geworden, die unabhängigen Verlage aus Deutschland, Österreich und der Schweiz – und das ist beileibe keine Frage des Alters. 15

Aus ganz jungen Independents werden erfahrene – wenn sie gut sind. Als Ricco Bilger 1983, wenige Gehminuten vom Zürcher Hauptbahnhof entfernt, seine Buchhandlung eröffnete, galt das Viertel noch als Problembezirk. Heute dominieren im Kreis 5 schicke Bars und Galerien. Sec 52 heißt sein Laden. Die Ziffern stehen für die Hausnummer in der Josefstraße, „sec“ meint so viel wie „astrein“, „ohne Schnickschnack“. Heute würde man vermutlich „cool“ sagen, doch damit hat Bilger nichts am Hut. „Es bedeutet so viel wie auf den Punkt gebracht“, erklärt er.

„Unprätentiös. Nicht ideologisch. Jenseits des Zentrums, den Rändern entlang.“ Eine Schlüsselformel, die auch für den Büchermacher Bilger gilt. Schon in den 1980er Jahren trat er verlegerisch in Erscheinung; 2001 gründete er mit dem Grafik-Designer Dario Benassa den Bilgerver-

Stets präsent, wo’s brennt: Buchhändler und Verleger Ricco Bilger

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lag. 1996 startete er an seinem Geburtsort im Wallis das Internationale Literaturfestival Leukerbad, das er über zehn Jahre leitete. Im Herbst 2007 war er Gründungspräsident der Plattform SWIPS. Was an eine Sektlaune denken lässt, ist ernst gemeint und steht für Swiss Independent Publishers. Ein Dach, unter dem heute knapp 30 unabhängige Deutschschweizer Verlage gemeinsame Interessen formulieren: Es geht um faire Wettbewerbsbedingungen, sinnvolle Fördermodelle und, natürlich: größere Sichtbarkeit in den Medien. Den Staffelstab des SWIPS-Präsidenten hat Bilger inzwischen abgegeben. Es zieht ihn weiter, tolle Bücher macht er immer noch. Sein Bruder im Geist ist der seefahrende Comic-Held Corto Maltese, der Käpt’n ohne Schiff, der rund um die Welt durch alle Literaturen reist. Und stets dort präsent ist, wo es brennt. Die runde Geburtstagsparty feierten Voland & Quist gerade in ihrem Dresdner Lieblings-Club, der „Scheune“. In zehn Jahren hat der Verlag rund 100 Titel veröffentlicht: Bücher mit und ohne CD, dazu DVDs, Comics und Musik-Alben. Zu Lesebühnenliteratur und Spoken-Word-Lyrik gesellten sich Kinderbücher und eine Reihe mit jungen Autoren aus Osteuropa („Sonar“). „Nach all den Umbrüchen dort liegen die Geschichten förmlich auf der Straße“, sagt Sebastian Wolter. „Die wollen wir entdecken!“ Die beiden Verleger haben Durststrecken überstanden; Liquiditätsengpässe und kaffeegedopte Lektorate bis in den frühen Morgen – und dafür mehr als nur wohlwollendes Schulterklopfen geerntet. 2010 mit dem Kurt-Wolff-Förderpreis ausgezeichnet, sind sie heute selbst Vorbild für nachwachsende junge Kollegen. Stehenbleiben gilt nicht: Mit der Kurzgeschichten-App „A story a day“ haben Voland & Quist eben ein Publikationsmodell für mobile Endgeräte gestartet. „Mit Blick auf den digitalen Wandel“, erklärt Wolter, „wollten wir etwas Neues ausprobieren. Neben dem klassischen Format Buch.“ Die Euphorie der Nullerjahre, in denen junge PrintVerlage an den Festen der Buchhandels-Welt rüttelten, ist längst in der digitalen Welt angekommen.

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Young Excellence: Verlegerin Nikola Richter setzt auf E-Book-Originale

Doch die Lage ist heute komplizierter: Im flüchtigen Raum des Digitalen versenden sich Dinge leichter. Die Vielfalt ist gewachsen – aber es ist schwieriger geworden, den eigenen Platz und die eigene Stimme zu finden. Zu den neuen Verlagen, die ihre Autoren ausschließlich digital publizieren, gehört Mikrotext aus Berlin. Gerade einmal fünf Jahre ist es her, dass Gründerin Nikola Richter an ihr erstes Smartphone kam – über einen Blogger-Wettbewerb. Heute verlegt die studierte Literaturwissenschaftlerin Autoren wie Alexander Kluge oder das Tagebuch des Syrers Aboud Saeed, der auf Facebook seine eigene kleine Revolution angezettelt hat.

Das Medium ist schnell; viele Bücher sind inspiriert von Diskussionen in sozialen Medien und dem Blick auf internationale Debatten. bücherleben | ausgabe januar 2015

Mit der Genre-Literatur, wie sie auf Internetportalen und FanForen zirkuliert, hat Richter nichts am Hut. Die mutige Seiteneinsteigerin, die im Oktober mit dem erstmals vergebenen „Young Excellence Award“ des „Börsenblatt“ ausgezeichnet wurde, setzt ganz auf klassische Verlagsarbeit. Während die Dickschiffe der Branche E-Books meist als Beiprodukt des physischen Buchs behandeln, versteht Nikola Richter ihre digitalen Ausgaben nicht als billige Kopie – sondern als Originalprodukt. Mit der von ihr im letzten Sommer mitorganisierten „Electric Book Fair“, Deutschlands erster Messe für E-Book-Verlage, hat die Netzwerkerin der digitalen Aufbruchstimmung eine neue Plattform geschaffen. Es bleibt dabei: Jede Verlegergeneration muss sich, immer wieder, neu erfinden; Programme entwickeln, die mit der Zeit gehen, ohne im „Zeitgeist“ aufzugehen. Aus ganz jungen Independents werden ältere, erfahrene – wenn sie gut sind.

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Die Unabhängigen heißt das neue Forum, das ab März 2015 das Herzstück des Auftritts der Independents in Leipzig sein wird. Gemeinsam mit der Kurt-Wolff-Stiftung organisiert, ist das Forum in Halle 5 nicht nur feste Adresse für die in der Stiftung assoziierten Verlage, sondern auch für die Hotlist-Aktivisten, SWIPS, die Arbeitsgemeinschaft der Österreichischen Privatverlage und weitere Indie-Initiativen. Neben einem attraktiven Programm der Verlage wird das Forum auch dem unabhängigen Buchhandel eine Plattform geben. Da Büchermenschen beim Lesen und Diskutieren den speziellen Kick schätzen, ist auch für gastronomische Betreuung gesorgt – guter Kaffee inklusive!

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Bildung

Klassenzimmer der Zukunft Der sächsische Weg: Für Kultusministerin Brunhild Kurth ist die Entwicklung umfassender Medienkompetenz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Frau Ministerin, Angela Merkel gilt als leidenschaftliche Twitterin, und auch Ihr Haus hat fast 1700 Follower. Twittern Sie selbst, beruflich oder privat? Brunhild Kurth: Ich kenne die technischen Möglichkeiten des Twitterns, sehe aber für meine Arbeit keine direkte Notwendigkeit. Noch immer sind mir die realen Kontakte und Begegnungen mit Menschen und Freunden wichtiger, als diese über eine begrenzte Anzahl von Buchstaben über mein Tun und meine Gefühle zu informieren. Der Deutsche Lehrertag, der im März 2014 parallel zur Buchmesse stattfand, stand unter dem Motto „Unterricht der Zukunft“. Aktuell kommt die erste internationale Vergleichsstudie zur Medienkompetenz bei Jugendlichen, auch als „Computer-Pisa“ bekannt, zu dem Schluss, dass 30 Prozent der deutschen Achtklässler nur sehr geringe computer- und informationsbezogene Kenntnisse haben. Zugespitzt heißt das: Unsere Schüler sind zwar fit bei Facebook, Twitter & Co., es fehlt ihnen aber an systematischer Medienkompetenz – macht Ihnen das Sorgen? Kurth: Die Studie sagt leider nichts darüber aus, wie die sächsischen Schüler abschneiden. Aus meiner Sicht

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wird es in unserer medial geprägten Welt für Kinder und Jugendliche immer wichtiger, sich ganz bewusst und auch kritisch mit Medien und deren Mechanismen auseinandersetzen. Eine umfassende Medienkompetenz zu entwickeln ist dabei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: Elternhaus und Schule sowie die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Kultur können das nur gemeinsam bewältigen. Medienkompetenz gehört zu den Schlüsselfähigkeiten der Zukunft. Müssen junge Leute das gezielte Recherchieren von Fakten, die Unterscheidung von Glaubhaftem und Unseriösem, das Strukturieren und Aufbereiten von Informationen nicht ebenso lernen wie Lesen und Schreiben? Kurth: Genau das ist Ziel schulischer Medienbildung. Es handelt sich dabei um einen dauerhaften, pädagogisch strukturierten und begleiteten Prozess. Die Schüler sollen sich konstruktiv und kritisch mit der Medienwelt auseinandersetzen. Dazu gehört auch, dass die Kinder und Jugendlichen lernen, sich verantwortungsvoll in der virtuellen Welt zu bewegen, die Wechselwirkung zwischen virtueller und materieller Welt begreifen und neben den Chancen

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Schule 2.0: Über die beiden Landesprogramme MEDIOS I und II hat moderne Technik Eingang in Sachsens Schulen gefunden. Neben den Medienentwicklungsplänen, die jede Schule individuell entwickelt, wurde am Sächsischen Bildungsinstitut das Mediendistributionssystem MESAX installiert, über das die Schulen Unterrichtsmedien in digitaler Form bestellen und downloaden können.

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auch die Risiken und Gefahren zu erkennen. Zeitgemäße Bildung in der Schule ist nicht ohne Medienbildung denkbar; sie ist als wichtiger Beitrag zu Lernprozessen zu sehen, die aus Wissen und Können, Anwenden und Gestalten sowie Reflektieren, Bewerten, Planen und Handeln erwachsen. Kinder, denen das Smartphone heute buchstäblich in die Wiege gelegt wird, haben einen natürlichen, gleichsam generationsbedingten Wissensvorsprung gegenüber ihren Lehrern – die im europäischen Vergleich eher zu den Ältesten gehören. Ein Problem? Kurth: Überhaupt nicht. Den generationsbedingten Wissensvorsprung gab es immer – und es wird ihn weiterhin geben. Das ist in allen Ländern so. Trotzdem schauen wir nicht tatenlos zu, sondern unterstützen unsere älteren Kollegen, in dem wir ihnen zahlreiche Möglichkeiten der Fortbildung anbieten. Aus Gesprächen mit diesen Kollegen weiß ich, dass das Interesse an Fortbildungen zu neuen technischen Möglichkeiten im Unterricht groß ist. Entsprechende Angebote der Medienpädagogischen Zentren werden zahlreich wahrgenommen.

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Einer der Gründe dafür, dass digitale Medien so selten im Unterricht genutzt werden, erklären bisherige Studien mit der eher distanzierten Einstellung der Lehrkräfte; anders als zum Beispiel in skandinavischen Ländern stellt hier nahezu die Hälfte der Pädagogen den Mehrwert des Computer-Einsatzes im Unterricht infrage. ‚Die Kids’, heißt es gern, ‚sitzen eh’ schon lange genug vor dem Bildschirm’. Wie lässt sich diese Skepsis aufbrechen? Kurth: Wir haben eine völlig gegensätzliche Erfahrung gemacht. Das Interesse der Lehrerschaft an der Nutzung der neuen technischen Möglichkeiten ist erstaunlich hoch, was diverse lokale und zentrale Fortbildungen immer wieder beweisen. Außerdem wäre ein Lehrer, der sich nicht der Realität anpassen würde, ein schlechter Lehrer und dieses würden ihm auch seine Schüler spiegeln. Müsste sich aus Ihrer Sicht auch die Lehrplangestaltung ändern? Hierzulande werden Lerninhalte häufig nach Fächern definiert, der Computer kommt also bevorzugt im Informatikunterricht zum Einsatz – dabei ließen sich doch praktisch überall mit digitalen Medien arbeiten, auch im Biologie- oder Chemieunterricht, den Fächern, die Sie einst lehrten? Kurth: Die Medienbildung ist in den sächsischen Lehrplänen aller Schularten bereits integrativer Bestandteil und wird als Querschnittsaufgabe von Unterricht verstanden. Das ist nicht in allen Bundesländern selbstverständlich. Dennoch ist es auch in Sachsen notwendig, die Lehrkräfte weiterhin in Fragen von Medienkompetenz fortzubilden und zunehmend auch die erste und zweite Phase der Lehrerbildung verstärkt in den Fokus zu nehmen. Bereits jetzt werden über die 13 Medienpädagogischen Zentren fächerspezifische Fortbildungen für alle Schularten angeboten, die den Einsatz digitaler Medien im Unterricht veranschaulichen.

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Dass das Schulbuch auf dem Tablet, das Whiteboard als Schultafel längst keine Utopie mehr sind, zeigt nicht zuletzt das sächsische Pilotprojekt „Klassenzimmer der Zukunft“. In einer ersten Projektphase werden 20 Lehrkräfte aus Oberschulen und Gymnasien in Workshops fortgebildet. Ist das, angesichts der mehr als 30.000 Lehrer im Freistaat, nur ein Tropfen auf den berühmten heißen Stein? Wie geht es weiter? Kurth: Wir haben uns ganz bewusst für diesen Ansatz entschieden. Dabei waren für uns die Ergebnisse vieler Tablet-Projekte in anderen Bundesländern entscheidend, um nicht deren Fehler zu wiederholen. Ein großes Problem liegt vor allem darin, dass man zuerst die Schulen mit Tablets ausgestattet hat und danach die Lehrer fortbildet.

Gerade für den Einsatz von Tablets im Unterricht gibt es zu Beginn viele offene Fragen zu klären. Von der ausreichenden Verfügbarkeit digitaler Schulbücher über Finanzierungs- und Versicherungsfragen bis zu didaktischen Konzepten für den Fachunterricht. Aus diesem Grund haben wir uns für den sächsischen Weg entschieden – und bilden zunächst Lehrkräfte aus unterschiedlichen Fächern aus, die auch die Wirksamkeit von Tablets in ihren jeweiligen Fachgebieten prüfen werden. Parallel dazu erarbeiten Expertenteams Vorschläge für einen landesweiten Einsatz dieser Technik. Die Experten kommen aus dem gesamten Bundesgebiet und sind hervorragende Fachleute auf diesem Gebiet. Ab dem Schuljahr 2015/16 sollen dann gemeinsam mit dem Schulträger ausgewählte Pilotschulen mit Tablets zur Erprobung ausgestattet werden. Seit Computer, Tablets und Smartphones neben das bedruckte Papier getreten sind, ist die digitale Revolution auch auf der Leipziger Buchmesse mit Händen zu greifen – dennoch hält der Ansturm von Lehrern und Lesernachwuchs ungebrochen an. Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Messe?

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Kurth: Lesen ist die Schüsselkompetenz für Bildung. Aus diesem Grund ist die Leseförderung auch von herausragender Bedeutung. Leipziger Buchmesse und Bildung gehören deshalb untrennbar zusammen. Das beweisen die zahlreichen ausstellenden Bildungsverlage, die rund 30.000 Lehrer, die jährlich die Buchmesse besuchen sowie die verschiedenen Fachveranstaltungen im Rahmen von Fokus Bildung. Ich wünsche der Leipziger Buchmesse deshalb, dass es ihr weiterhin so hervorragend gelingt, für Literatur zu begeistern und dabei die neuen Medien und das gedruckte Buch gleichermaßen einzubeziehen.

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Fokus Bildung: Zukunftsfragen zur Bildung werden in diesem Jahr aus Sachsen gesteuert; 2015 hat das Bundesland die Präsidentschaft der Kultusministerkonferenz inne. Aus diesem Anlass findet im Rahmen der Leipziger Buchmesse die Frühjahrssitzung der Kultus- und Wissenschaftsminister statt. Mit ihrem rund 200 Veranstaltungen umfassenden Fachprogramm für Lehrer und Erzieher gilt die Messe als führende Bildungsveranstaltung in den neuen Bundesländern. Zu den Höhepunkten gehören der Deutsche Lehrertag, zu dem unter dem Motto „Schüler unter Druck. Die Schule als Ventil?“ rund 1000 Pädagogen erwartet werden, ein mit dem Didacta Verband organisiertes Symposion zur frühkindlichen Bildung oder das Symposion des Arbeitskreises für Jugendliteratur e. V. zum Thema „Erstlesebücher – Türöffner oder Falltüren“. Der zum vierten Mal gemeinsam mit der Stiftung Lesen herausgegebene Leipziger Lesekompass hilft Lehrern und Eltern bei der Suche nach Titeln, die Lust am Lesen wecken. Ebenfalls zum vierten Mal kürt das Georg-Eckert Institut für internationale Schulbuchforschung (GEI) in Braunschweig das Schulbuch des Jahres: 2015 werden dabei Lehrwerke für die Sekundarstufe I ausgezeichnet.

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Leipzig liest

Magische Orte An mehr als 400 Spielstätten wird im März gelesen, diskutiert und gefeiert. Drei Messe-Hotspots im Porträt.

Im Westen was Neues! Auf der Georg-SchwarzStraße, zwischen dem alten Arbeiterviertel Lindenau und dem angrenzenden Leutzsch, atmet fast jeder Pflasterstein Geschichte: Hier, wo die Tram-Linie 7 entlangrumpelt, erinnern Jugendstilfassaden und verblasste Schriftzüge an einst florierende Geschäfte, Gaststätten oder Kinos – weniger an die soziale Not

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der Gründerzeit oder aufmüpfige JugendMeuten, die gegen das NS-Regime opponierten. Nach 1989 drohte das unangepasste, zu DDR-Zeiten immer grauer gewordene Viertel jedoch endgültig den Anschluss zu verlieren. Längst hat die wundersame Wandlung des Leipziger Westens vom ProblemKietz zum Trendquartier auch die Georg-SchwarzStraße erreicht: Ein Biotop für Lebenskünstler, Studenten und junge Familien auf der Suche nach günstigem Wohnraum ist sie geworden. Vieles ist hier in Bewegung, fast alles möglich – sogar eine eigene Internetseite. Getragen werden die Aktivitäten von einem

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Netzwerk lokaler Akteure: Das Magistralenmanagement, dazu Bürgervereine oder sozio-kulturelle Initiativen, die alte Häuser selbst in Schuss bringen und neu beleben. Die urbane Ideenwerkstatt „kunZstoffe“, die Künstlern, Manufakturisten und Handwerkern Räume für kreatives Arbeiten zur Verfügung stellt. Das „hinZundkunZ“, das in einem selbst renovierten ehemaligen Uhren- und Schmuckgeschäft zu Konzerten, Lesebühnen und Filmabenden einlädt. Das Kinderbüro „Tüpfelhausen“, aus einem Familienportal entstanden. Der „Wollzirkel“ einer Modedesignerin oder die „Autodidaktische Initiative“, die auch Deutschkurse für Migrantenfamilien anbietet. Im Mai, wenn in den grünen Höfen, vor den Läden und Lokalen der wieder wachgeküssten Schönen das Georg-Schwarz-Straßenfest swingt, mit Live-Bands, Bratwurst und veganer Schoko-Tarte, trifft man sie alle. Mit der Reihe „westwärts“ hat seit 2012 auch „Leipzig liest“ den Sprung in das immer bunter werdende Viertel gewagt. Ob Krimis im Büro des Bürgervereins, junge Dichter im „Café Schwarz“ oder ein Abend über Leipzigs „Lost Places“ in einem der selbstverwalteten Projekte-Häuser – zu den mehr als ein Dutzend Veranstaltungen kommt das Publikum längst nicht mehr nur aus der Nachbarschaft. Einmal mehr erweisen sich

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die vier Tage im März als Inspirationsquelle und Mutmacher für neue, spannende Ideen. Davon haben am Ende alle etwas: Kietz-Akteure, Büchermacher – und neugierige Leser. Leipzigs Wilder Westen: Die Fotos von Karen Lemme sind dem wunderbaren Georg-Schwarz-Straßen-Blog entnommen, den die Studentin Helena Mohr von Juni 2012 bis November 2013 betrieb. www.georgschwarzstrasse.wordpress.com

Grenzüberschreitungen Die Geschichte der naTo handelt vom mutigen Ausloten kultureller Freiräume – und sie beginnt 1982 mit einer heute fast wundersam anmutenden freundlichen Übernahme. Bis dahin hat der Geist der Ulbricht-Ära noch immer wie Mehltau über dem Saal des Kulturhauses „Nationale Front“ in der Leipziger Südvorstadt gelegen: Tanzstunden, Seniorennachmittage und Schachklub; einmal pro Woche hält der ABV, eine Art Stadtteilpolizist, seine Sprechstunde ab. Auch Reisepässe und Devisen werden im schummrigen Ambiente an westreisende Rentner ausgereicht, ein absurdes Ritual. Und nun? Fast über Nacht avanciert das Haus, von der Stasi misstrauisch beäugt, mit Lesungen, nächtlichem Jazz und genreübergreifenden Happenings zum Ort der Alternativkultur. Neben der offiziellen Bezeichnung kursiert in der Szene bald der Spitzname naTo. Ein Wortwitz, der sich nicht auf Anhieb erschließt – vermuten wir ein kleines Stück Anarchie in einem Land, das Mitglied im Warschauer Pakt ist. Die naTo wird zum Forum für junge Experimentalkünst-

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ler, Theaterprojekte, Dichter mit Auftrittsverbot, die Jazz-, Rock- und Punkszene. Unvergessen die mit Judy Lübke, dem Galeristen der Eigen+Art, eingefädelte, offiziell als „Faschingsveranstaltung“ deklarierte Verleihung des unabhängigen Kunstpreises „Prix de Jagot“. Grandios die Auftritte des „Front-Theaters“ mit Peter Turrinis „Rattenjagd“. Irrwitzig das Titanicfest, das am 30. Juni 1990 das monetäre Ende der DDR besiegelt. Der alte Schriftzug „Nationale Front“ ist von der Fassade verschwunden. Doch noch immer beweist die naTo, dass die Grenzen zwischen Musik und Theater, Profis und Amateuren, Avantgarde und Volksfest fließend sein können – ob mit den legendären Badewannen- und SeifenkistenRennen oder der Weltpremiere einer Band wie Rammstein. Neben Musik, Filmkunst und Off-Theater hat sich die naTo, gerade in Buchmesse-Zeiten, längst auch als wichtiger Literatur-Veranstaltungsort

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etabliert. Dabei blicken die Programm-Macher gern über den eigenen Tellerrand hinaus: Länder-Specials wie die Nordische Literaturnacht sind Highlights im „Leipzig liest“-Programm. Egal, ob Ost, West, Nord oder Süd: Die Mutter aller Kulturkneipen ist immer für eine literarische Weltreise gut. Immer geht es um spannende Autoren, um packende Geschichten. Wetten, dass das Licht in der naTo, wie vor 30 Jahren, erst gegen Morgen ausgeht? Unangepasst & eigensinnig: Der Band „30 Jahre naTo“ (Passage Verlag, Leipzig 2012) bietet in persönlichen Erinnerungen, Anekdoten und hunderten Fotos und Fundstücken eine beeindruckende Zeitreise durch die Geschichte dieses besonderen Kulturortes. naTo, Karl-Liebknecht-Straße 46

Im Schatzhaus der Bücher Martin Walser hat hier seinen Geburtstag gefeiert, Michael Krüger und Josef Haslinger lasen aus dem Briefwechsel zwischen Siegfried Unseld und Thomas Bernhard. Ob intime Runden im Fürstenzimmer oder großes Kino mit Margret Atwood, Dave Eggers, Christian Kracht, Franz Xaver Kroetz – Abende in der Bibliotheca Albertina sind Sternstunden im an Höhepunkten nicht eben armen Prog ramm von „Leipzig liest“. Wenn es in den prächtigen, bis auf den letzten Platz gefüllten Lesesälen, in denen tagsüber gelernt, geforscht, vielleicht auch geträumt wird, mucksmäuschenstill wird, wenn sich das Haus der Bücher in eine pulsierende Bühne der Literatur verwandelt – dann schlägt die Bibliothek lesende Autoren und Publikum gleichermaßen in Bann. bücherleben | ausgabe januar 2015

Die Halbmillionenstadt Leipzig verfügt über eine lebendige Bi b l i o t h e k s landschaft, um die sie mancher beneidet – doch die Albertina ist ein besonderer Glücksfall. Rund 64 Millionen Euro flossen von 1992 bis 2002 in den Wiederaufbau der Bibliothek. Nach zehn Jahren waren 31.000 Quadratmeter benutzbar gemacht, 750 moderne Arbeitsplätze geschaffen und 240.000 Werke in Freihand aufgestellt – auch dort, wo vorher Kohlen unter freiem Himmel lagerten. Und die Zeit steht nicht still: Mehr und mehr entwickeln sich wissenschaftliche Bibliotheken zu Lernorten, in denen

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weniger gelesen als konzentriert geschrieben wird. Die Nutzer erwarten heute lange Öffnungszeiten und unterschiedlichste Arbeitsplatzqualitäten – bis hin zum Eltern-Kind-Raum. Im Frühjahr eröffnen eine Lese-Lounge mit Café und ein neuer, großer Vortragsraum mit 250 Plätzen. Mit einem attraktiven Veranstaltungs- und Ausstellungsprogramm ist die Bibliotheca Albertina ein Kultur-Ort für alle Leipziger, nicht nur für Studierende und Wissenschaftler. Wer den Zauber des Hauses an einem Messeabend gespürt hat, kommt wieder. Universitätsbibliothek Leipzig, Bibliotheca Albertina, Beethovenstraße 6

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Autoren

Familienaufstellung Schreiben, weiß Madeleine Prahs, ist ein oft einsames und langwieriges Geschäft, vom ersten Satz bis zu ihrem reifen Roman-Debüt „Nachbarn“ sind fast zehn Jahre vergangen. Autorenwerkstätten und die „Prosa Prognosen“ der Leipziger Buchmesse bieten Freiräume für das schriftstellerische Coming-out.

„Nachbarn“ heißt die Kurzgeschichte, mit der sich Madeleine Prahs 2005 in München für die Autorenwerkstatt „Manuskriptum“ bewirbt. Die Frage des Kursleiters, ob dies der Anfang eines Romans sei, lässt sie stutzen. Doch sie merkt: Ihr Stoff lässt sie nicht los: Sechs Menschen, vom arbeitslos gewordenen Eisenbahner bis zum Intellektuellen mit IM-Vergangenheit, die ihre biografischen Wurzeln in der DDR haben – und sich mit ihren Sehnsüchten und Träumen plötzlich in einem von Grund auf veränderten Leben behaupten müssen. Prahs verließ die Industriestadt Chemnitz, die damals noch Karl-Marx-Stadt hieß, 1989 zusammen mit ihren Eltern. Und fand sich mit Neun in der Idylle Oberbayerns wieder. Die Suchbewegung ihrer Figuren ist ihr nicht fremd.

„Meine Figuren sind mit der Zeit wie Mitbewohner geworden, eine kleine Familie." Solche Verwandtschaft, weiß Prahs, kann anstrengend sein: „Man will sie aus seinem Leben schieben. Doch wenig später stehen sie wieder vor der Tür.“ Irgend26

wann ist klar: „Ich muss sie zu Ende schreiben.“ Sechs Leben, begleitet über eine Zeitspanne von 17 Jahren: Es gibt Tage, an denen Madeleine Prahs vor den Stoffmassen kapitulieren möchte. Sie arbeitet weiter, verrennt sich in Sackgassen, nimmt falsche Abbiegungen. Doch ihre Figuren kennt sie bald besser als sich selbst. Mit 40 Seiten bewirbt sie sich 2007 für die Autorenwerkstatt Prosa am Literarischen Colloquium Berlin. Als die Zusage kommt, ist sie überrascht und glücklich zugleich. Zehn Jahre zuvor war die Werkstatt begründet worden, ihre Mentoren Katja Lange-Müller und Burkhard Spinnen arbeiteten damals mit jungen, noch unbekannten Autoren wie Judith Hermann oder Georg Klein. Vier lange Wochenenden trifft Prahs im geschützten Raum der Wannsee-Villa auf Gleichgesinnte, diskutiert wird mit offenem Visier. Kritik, sagt Prahs, kann sehr produktiv sein. „Den eigenen Ton gilt es jedoch auch zu schützen – sonst landet man in der Beliebigkeit.“ Als sie im Rahmen der „Prosa Prognosen“ auf der Leipziger Buchmesse ihren Text erstmals einer größeren Öffentlichkeit vorstellt, ist sie nervös; zu wenig Schlaf in den Nächten zuvor. Es läuft gut: Mehrere bücherleben | ausgabe januar 2015

Madeleine Prahs, geboren 1980 in Karl-Marx-Stadt, ist dort und am Ammersee aufgewachsen. Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte in München und Sankt Petersburg. „Nachbarn“, ihr erster Roman, erschien 2014 bei dtv. Madeleine Prahs lebt und arbeitet in Leipzig.

Lektoren hinterlassen diskret ihre Visitenkarten. Doch Prahs will nichts Unfertiges aus der Hand geben. Irgendwann ist der Gipfel erreicht, fügen sich die Puzzleteile plötzlich zu einem Ganzen. Dann kann Schreiben wie eine Schussfahrt vom Mont Ventoux sein. „Man strampelt sich ab – und auf einmal ist alles ganz einfach.“ Am Ende ist es der Schriftsteller Michael Wildenhain, ihr Seminarleiter an der Schreibwerkstatt des Berliner Brecht-Forums, der das fertige Roman-Manuskript an den Deutschen Taschenbuchverlag empfiehlt. Ein Glücksfall, auch für Lektor Günther Opitz: „Es war sofort spürbar: Der Text ist gewachsen, sehr dicht, durchgearbeitet. Da kann jemand erzählen!“ Als Madeleine Prahs 2014 die ersten Exemplare ihres Romans in der Post findet, der eigene Name auf dem Umschlag, hat der Moment nach Jahren des Kampfes etwas Unwirkliches. Freude? Ja, natürlich. Das Buch wird nun seinen eigenen Weg nehmen. Doch auch Loslassen will gelernt sein. „Plötzlich reagiert man wie eine überbesorgte Mutter. Und möchte seinen Figuren am liebsten hinterher rufen: Bitte geht nicht bei Rot über die Kreuzung!“ bücherleben | ausgabe januar 2015

Madeleine Prahs erster Roman „Nachbarn“ ist 2014 im Deuteschen Taschenbuch Verlag erschienen.

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Die Autorenwerkstatt Prosa wird seit 1998 vom Literarischen Colloquium Berlin (LCB) ausgerichtet. Ihr Ziel ist es, jüngere deutschsprachige Autorinnen und Autoren, die noch keine eigenständige Buchpublikation vorgelegt haben, zu entdecken und zu fördern. Im Rahmen der Reihe „Prosa Prognosen“ werden die Stipendiaten auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt.

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Erinnerungen muss man immer wieder neu erfinden. Das darf Literatur! Kunst, die etwas nicht darf, ist für mich nicht interessant.*

* Ron Segal (Israel) Gast der Leipziger Buchmesse 2015 28

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