gehrock, t-shirt und talar - Buch.de

Das Evangelische Predigerseminar in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 146 ... Jahrhundert war immer wieder der Wunsch nach einer praxisnahen.
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200 Jahre Evangelisches Predigerseminar Wittenberg

Hanna Kasparick, Hartmut Kühne, Birgit Weyel (Hg.)

GEHROCK, T-SHIRT UND TALAR 200 Jahre Evangelisches Predigerseminar Wittenberg

Lukas Verlag

Abbildung auf dem Umschlag: Fotomontage von Annett Schauss und Udo Wilke aus den Jahrgangsfotos von 1976 und 1883 (Archiv Predigerseminar Wittenberg)

© by Lukas Verlag Erstausgabe, 1. Auflage 2016 Alle Rechte vorbehalten Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte Kollwitzstraße 57 D–10405 Berlin www.lukasverlag.com Lektorat: Susann Wendt, Leipzig Satz: Jörg Hopfgarten, Berlin Umschlag: Lukas Verlag Druck: Westermann Druck Zwickau GmbH Printed in Germany ISBN 978–3–86732–239–3

Inhalt

Ilse Junkermann Grußwort der Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland

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Christian Schad Grußwort des Vorsitzenden der Union Evangelischer Kirchen

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Reiner Haseloff Grußwort des Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt

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Hanna Kasparick, Hartmut Kühne, Birgit Weyel Vorwort 13 200 Jahre Evangelisches Predigerseminar Wittenberg Birgit Weyel Bildung zur Praxis Eine Rekonstruktion der Gründungsgeschichte des Predigerseminars Wittenberg im Zeichen der Kirchenverbesserung

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Karl Friedrich Ulrichs Bibel und Himmelreich Ein Kapitel aus der Geschichte des Predigerseminars Wittenberg: Karl Dunkmanns Predigtlehre und -praxis

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Stefan Rhein »Zur Ehre Luthers« Das Predigerseminar als Ort der Wittenberger Reformationsmemoria

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Tobias Schüfer Das Wittenberger Predigerseminar im Nationalsozialismus

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Gabriele Metzner Die ersten Frauen im Predigerseminar Wittenberg Beobachtungen auf dem Weg zur Gleichstellung von Frauen und Männern im Pfarrberuf 117

Biografie und Theologie, Gemeinde und Predigerseminar Ein Interview aus dem Jahre 1989 mit einer Einleitung von Peter Freybe und Hans-Wilhelm Pietz

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Peter Freybe Leben und Lernen auf Luthers Grund und Boden Das Evangelische Predigerseminar in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 146 Hanna Kasparick Im Werden Das Evangelische Predigerseminar 200 Jahre nach seiner Gründung

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Matthias Piontek Universitätsbibliothek – Seminarbibliothek – Forschungsbibliothek Die Bibliothek des Evangelischen Predigerseminars im Wandel

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Das Evangelische Predigerseminar Wittenberg in vierzig Bildern

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Anhang Literatur und Quellen zum Bildteil

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Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wittenberger Predigerseminars seit 1966

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Verzeichnis der Kandidatinnen und Kandidaten des Wittenberger Predigerseminars von 1966 bis 2015

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Inhalt

Grußwort der Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland

»Niemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott an ihm eine große Tat will.« Dieses Lutherwort fällt einem ins Auge, wenn man vom Augusteum in den Lutherhof hinausgeht und den Blick erhebt. Generationen von Seminaristen haben aus diesem Wort neuen Mut geschöpft, wenn sie von Zweifeln insbesondere an ihrer Berufung ins geistliche Amt geplagt wurden. Denn darauf sollten sie sich hier nach ihrem Theologiestudium vorbereiten: auf ihr geistliches Amt. Seit dem 16. Jahrhundert war immer wieder der Wunsch nach einer praxisnahen Vorbereitungszeit für angehende Pfarrer laut geworden. Doch erst als Wittenberg nach den Napoleonischen Kriegen im Jahr 1817 zu einer preußischen Stadt geworden war und König Friedrich Wilhelm III. verfügt hatte, die alte Wittenberger Universität mit der Universität Halle zusammenzuschließen und deshalb die Räume der alten Universität rund um den Lutherhof leer standen, erst da kam es zur Gründung eines Predigerseminars. Am Reformationsfest 1817 fand im Beisein des Königs die feierliche Eröffnung des Predigerseminars in den Räumen des Augusteums statt. Der vorliegende Band zeigt uns in einem schönen Bilderbogen mit den Begleitartikeln die wechselvolle Geschichte des Seminars seitdem. Sollte es anfangs besonders geeigneten Kandidaten zur Vertiefung ihrer Studien und religiösen Persönlichkeitsbildung dienen, so wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Besuch des Predigerseminars fester Bestandteil der Ausbildung aller Pfarrer. Die freie Luft der 1920er-Jahre wirkte auch hier: Nach dem Ersten Weltkrieg wuchs die Eigenständigkeit der Seminargemeinschaft. Der legendäre »runde Tisch« kennzeichnet diese Zeit der Kollegialität, des gemeinsamen Lesens und Studierens im besten Sinne, auch mit den Dozenten. Umso heftiger war der Bruch mit dieser geschwisterlichen Kultur, als es 1934 unter der Herrschaft der Deutschen Christen zunächst zu einer kurzzeitigen Schließung kam. Die Weiterarbeit stand unter der strikten Auflage einer nationalsozialistischen Schulung. Wie frei war die Luft wieder, als nach dieser Schreckensherrschaft 1945 der Faden der Kollegialität im Seminarbetrieb wieder aufgenommen werden konnte! Mit den Erfahrungen aus den Predigerseminaren der Bekennenden Kirche lebt seitdem die Lerngemeinschaft im wechselseitigen Gespräch und in der Tröstung der Brüder und Schwestern gemäß der Gründungsformel »per mutuum colloquium et consolationem fratrum et sororum«. Erstmals bekam das Predigerseminar eine eigene Hauskapelle für das gemeinsame geistliche Leben. Und die Gemeinschaft im Verkündigungsdienst wird bereits in der Ausbildung gelebt: Ein Kantor oder eine Kantorin gehört zum Dozententeam, auch Gemeindepädagoginnen und -pädagogen bereiten sich auf ihr geistliches Amt als Ordinierte vor. Zur Gemeinschaft gehört auch die gleich8

Grußworte

berechtigte Gemeinschaft zwischen Frauen und Männern: 1967 wurde die erste Frau im Predigerseminar aufgenommen. Seit 2003 gibt es erstmals in der Geschichte des Predigerseminars eine Direktorin. Der Gemeinschaftsgedanke prägt auch die vier Kirchen, die die Ausbildung in gemeinsamer Verantwortung – unter dem Dach der Union Evangelischer Kirchen (UEK) – tragen: die Evangelische Landeskirche Anhalts, die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz  (EKBO), die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens (EvLKS). Das gemeinsame Arbeiten in den Dekaden und mit den unterschiedlichen Prägungen ist ein Gewinn für alle, gerade in der Verschiedenheit, die ja in nichts anderem gründet als in dem, was das oben genannte Lutherwort besagt. So lernen die angehenden Geistlichen, Gemeinschaft in Verschiedenheit zu leben, wenn hier unterschiedliche Kulturen und Traditionen aus den verschiedenen Regionen aufeinandertreffen und als Kontexte für die aktuelle Verkündigungsaufgabe reflektiert werden. Mit den Sonntagsvorlesungen seit 1983 wird die Gemeinschaft mit allen Interessierten gepflegt. Mit ihnen greift das Predigerseminar die universitäre Tradition wieder auf und weckt große öffentliche Aufmerksamkeit. Nach dem Auszug aus dem Augusteum im Jahr 2012 und einer herausfordernden Interimszeit wird nun das Predigerseminar zum 200.  Jahrestag seiner Gründung und zum 500.  Reformationsjubiläum in die neu errichteten Räume des Wittenberger Schlosses ziehen, nun Tür an Tür mit seiner Ausbildungs-, der Schlosskirche. Auch die Reformationsgeschichtliche Forschungsbibliothek wird ihre Bestände in den Räumen des Schlosses der Forschung und der interessierten Öffentlichkeit präsentieren können. Eine neue Ära beginnt. Wir stellen sie unter Elisabeth Crucigers Bitte aus ihrem Lied »Herr Christ, der einig Gotts Sohn« von 1524: Lass uns in deiner Liebe und Kenntnis nehmen zu, dass wir am Glauben bleiben, dir dienen im Geist so, dass wir hier mögen schmecken dein Süßigkeit im Herzen und dürsten stets nach dir.

Magdeburg, im April 2016

Landesbischöfin Ilse Junkermann Vorsitzende des Kuratoriums des Evangelischen Predigerseminars Wittenberg

Grußworte

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Grußwort des Vorsitzenden der Union Evangelischer Kirchen

»Könnten die Orte intellektueller Bildung nicht mehr, als sie es jetzt sind, Orte religiöser Bildung werden? […] Der Korrespondent der universitären Theologie ist die Wissenschaft, nicht die Kirche. […] Unsere angehenden Pfarrer und Pfarrerinnen bräuchten […] einen Menschen, der sie in ihrer Studienzeit begleitete; der sie kennte; der sie einführte in geistliches Leben. […] Zum ersten Mal stoßen junge Menschen im Predigerseminar auf eine andere Praxis, das aber ist spät.«1 Der emeritierte Hamburger Religionspädagoge Fulbert Steffensky geht hart mit der theologischen Ausbildung unserer zukünftigen Pfarrerinnen und Pfarrer ins Gericht. Ich stimme ihm zu, dass – neben der theologischen Wissenschaft – ein spirituelles Wachsen und Lernen für die Persönlichkeit des Pfarrers/der Pfarrerin unbedingt notwendig ist. Ich möchte ihm aber dahingehend widersprechen, dass es im Predigerseminar dafür zu spät sei. Auch Theologiestudierende pflegen ihre Frömmigkeit. Und sie praktizieren sie auf je eigene Art und Weise. Auch verändert sie sich im Lauf des Lebens, ist nie statisch – aber immer schon da. Das entspricht meiner Erfahrung mit Vikarinnen und Vikaren des Protestantischen Predigerseminars in Landau, an dem ich Ende der 1990er-Jahre selbst als Dozent tätig war. Ein Predigerseminar kann nicht vollumfänglich für die Bildung eines spirituellen Lebensstils verantwortlich sein. Vielmehr ist die zweiphasige Ausbildung an Universität und Predigerseminar komplementär zu sehen, wobei das eigene geistliche Leben wie ein Cantus firmus die Persönlichkeit prägt und trägt. Dass die Rolle des Pfarrers innerhalb des Priestertums aller Gläubigen eine höhere Bildung verlangt, ist übereinstimmende Einsicht der Reformatoren. Entsprechend wurde Ende des 17. Jahrhunderts das Theologiestudium für alle verpflichtend. Bald wurde zudem der Ruf nach einer praxisnahen Ausbildung der Kandidaten laut. Theologisch hochgebildet, waren nicht alle sogleich in der Lage, die Geschäfte des Pfarramtes zu führen. 1815 forderte die Geistliche Kommission in Preußen darum Seminare für angehende Pfarrer. 1816 wurde von König Friedrich Wilhelm III. verordnet, in Wittenberg ein Predigerseminar einzurichten. Zum 300. Reformationsjubiläum 1817 wurde es feierlich eingeweiht. Die Kandidaten bildeten fortan eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, die von Konvivenz geprägt war. Dass im Predigerseminar die theologische Bildung nicht ins zweite Glied rücken muss, zeigt die beeindruckende, mit über 100 000 Bänden größte Kirchenbibliothek Deutschlands. Theorie und Praxis, Theologie und Spiritualität ergänzen und be-

1 Fulbert Steffensky: Gott loben, das Recht ehren, Gesicht zeigen. Das Wesen und die zentralen Aufgaben der Kirche, in: Ders.: Schwarzbrot-Spiritualität, Stuttgart 2006, S. 53–72, hier S. 61.

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Grußworte

fruchten sich wechselseitig. Was wäre eine Praxis ohne Theorie – oder eine Theorie ohne Praxis? Was wäre eine Theologie ohne Spiritualität – oder eine Spiritualität ohne Theologie? Es wären leere Begriffe ohne Anschauung – oder blinde Anschauungen ohne Begriff. Als Vorsitzender der Vollkonferenz der Union Evangelischer Kirchen in der Evangelischen Kirche in Deutschland freue ich mich, dass wir als Protestanten seit 200 Jahren ein so hervorragendes Predigerseminar unser eigen nennen dürfen. Es hat die Wirren der Kriege und Ideologien überstanden. Es wurde stets weiterentwickelt und den Erfordernissen der jeweiligen Gegenwart angepasst. Nach zwei Jahrhunderten der Residenz im Augusteum können jetzt die neuen Räume im und am Wittenberger Schloss bezogen werden. Die Kandidatinnen und Kandidaten aus vier Landeskirchen finden an diesem Ort exzellente Voraussetzungen vor, um ihre Ausbildung zum Pfarrberuf mit einem erfolgreichen Abschluss zu krönen. Im Vorbereitungsdienst arbeiten sie hier auch mit Gemeindepädagoginnen und -pädagogen zusammen, sodass sich beide Berufsgruppen von vornherein wechselseitig bereichern können. Den modernen Anforderungen des Pfarrberufs wird die hiesige Ausbildung ebenso gerecht wie der Lebenswirklichkeit unserer Zivilgesellschaft, in der die Kirche nur noch ein Akteur unter vielen ist. Der Modus der Konvivenz soll darum nicht nur das Leben in der Kursgruppe prägen, sondern auch die Haltung gegenüber jenen, die uns im Alltag des Pfarrberufs begegnen. Die eigene Spiritualität wird insofern noch einmal eine Transformation erleben, wenn wir lernen, von unseren Gemeindegliedern her zu denken und zu empfinden. Ich wünsche dem Predigerseminar – dieser »Zukunftswerkstatt des Protestantismus« – am und im Wittenberger Schloss Gottes reichen Segen, den Dozentinnen und Dozenten die Freude am Lehren und den Kandidatinnen und Kandidaten eine erfüllte, prägende Zeit. Ich grüße heute alle, die im Evangelischen Predigerseminar Wittenberg ein- und ausgehen, mit dem zugesprochenen Indikativ des Apostels Paulus: »So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!« (2 Kor 5,20)

In herzlicher Verbundenheit Kirchenpräsident Christian Schad

Grußworte

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Grußwort des Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt

Als der preußische König Friedrich Wilhelm III. 1816 das Predigerseminar in Wittenberg errichtete, da handelte er als Bischof der evangelischen Kirche, der unmittelbar nach der napoleonischen Zeit alle Kräfte stärken wollte, die an der christlichen Erneuerung seines Landes mitwirken sollten. Eine gründliche Ausbildung angehender Pastoren aus dem Geist der Reformation heraus war dafür unerlässlich. So konnte dieser wichtigste Erinnerungsort an die Erneuerung der Kirche zusätzliche Wirkung entfalten, und das tut er 2016 seit genau 200 Jahren. Es ist gut, dass in diesem Jahr mit der Ausstellung »Gehrock, T-Shirt und Talar« daran erinnert wird und diese Ausstellung selbst bereits hinüberreicht in das eigentliche Gedenkjahr des Thesenanschlags 2017. Auch dadurch wird deutlich, wie sehr die Reformation der Kirche ein geistiger Prozess war, der auch die Bildung der Menschen zum Ziel hatte, nach den Quellen des Glaubens forschte und Wissenschaft und Sprache nachhaltig prägte. Die protestantische Kirche lebt ganz besonders durch ihr enges Verhältnis zum Studium der Bibel, aus der Klarheit ihres Bekenntnisses und aus dem Willen, das Evangelium für die Gegenwart zu erschließen. Das Predigerseminar war und ist ein Ort, an dem an diesen Zielen unermüdlich gearbeitet wurde und gearbeitet wird. Darum danke ich allen Mitwirkenden, die diese Ausstellung möglich gemacht haben, und wünsche ihr viele interessierte Besucherinnen und Besucher.

Dr. Reiner Haseloff Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt

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Grußworte

Vorwort Gehrock, T-Shirt und Talar – 200 Jahre Evangelisches Predigerseminar Wittenberg

Die Zeit zwischen dem akademischen Studium und einer ersten Pfarrstelle ist eine berufsbiografische Schwellenzeit. Nicht nur praktisches Wissen für die konkrete Berufsgestaltung muss erworben und vertieft, sondern auch der Übergang in eine neue Lebensphase bewältigt werden. Es geht darum, Person und Amt, hohe Selbstansprüche und Erwartungen anderer in eine Balance zu bringen. Der Pfarrberuf ist kein Beruf wie jeder andere! Das Berufsbild des Pfarrers beziehungsweise der Pfarrerin ist schillernd und erfordert Selbstklärungen, die die ganze Person einschließen. Symbolträchtiges Textil für die Besonderheit des Berufs ist der Talar. Er muss auf den eigenen Leib geschneidert und anprobiert werden. Man muss sich mit seiner Traditionshaltigkeit auseinandersetzen, die gleichermaßen belasten wie entlasten kann. Vor allem aber muss man lernen, sich selbst im Spiegel zu betrachten und sich dem Blick der anderen, ihren Assoziationen und Zuschreibungen auszusetzen. Das Predigerseminar ist eine Bildungseinrichtung, die Räume eröffnet und Selbstklärungsprozesse begleitet, damit junge Theologinnen und Theologen diese Schwellenzeit konstruktiv gestalten können. Wittenberg war das erste Predigerseminar, das sich als eine Ausbildungseinrichtung im Übergang verstand. Als vor 200 Jahren die ersten Kandidaten in das Augusteum einzogen, trugen sie einen Gehrock. Heute tragen die zukünftigen Pfarrerinnen und Pfarrer eher ein T-Shirt – die Herausforderungen, denen sie sich stellen, sind dennoch nach wie vor hoch, wenn sich auch die Erwartungen und Anforderungen an die praktische Bildung zum Pfarrberuf im Laufe der Zeit verändert haben. Aus Anlass seines 200-jährigen Jubiläums blickt das Evangelische Predigerseminar Wittenberg mit einer Ausstellung auf seine Geschichte zurück. Sie ist vom 2. Oktober 2016 bis zum 29. Januar 2017 im Wittenberger Augusteum zu sehen, in jenem Gebäude also, welches das Predigerseminar fast 200 Jahre lang beherbergte. Es ist der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt dafür zu danken, dass sie das Predigerseminar mit dieser Ausstellung kurzzeitig als Gast in diese inzwischen zu Ausstellungszwecken umgenutzten Räume aufnimmt. Die Sonderausstellung im Umfeld des Reformationsjubiläums lenkt den Blick in besonderem Maße auf das Alltagsleben im Predigerseminar sowie auf die Gestaltung des Lehrprogramms. Lehrende und Lernende haben das Seminar an diesem bedeutenden Erinnerungsort der Reformation gemeinsam geprägt und prägen es noch heute. Gesellschaftspolitische Einflüsse auf das Seminar werden an prägnanten Stellen der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts anschaulich. Die Ausstellung zeigt die Sozial- und Alltagsgeschichte des Predigerseminars im Wandel der Zeit. Zugleich geht es damit auch um Einblicke in konzeptionelle Fragen der praktischen Bildung von Theologinnen und Theologen sowie um Spannungsfelder pastoraler Identität. Vorwort

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Der Begleitband zu dieser Ausstellung stellt in neun Beiträgen grundsätzliche Entwicklungen der Ausbildung zum Pfarrberuf sowie exemplarische Personen und Aspekte des Lebens und Lernens im Predigerseminar dar. Der Beitrag von Birgit Weyel ist der Gründungsgeschichte des Predigerseminars gewidmet. Die Gründung stand im Zeichen der im zeitgenössischen Sprachgebrauch sogenannten Kirchenverbesserung, die darauf zielte, das Kirchenwesen an die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse anzupassen und den Pfarrberuf zu modernisieren, indem die unmittelbar berufsbezogene, praktische Bildung verbessert wurde. Die Entstehungsgeschichte des Seminars ist mit den politischen Weichenstellungen nach den Napoleonischen Kriegen eng verwoben: Die Fusion der Universität Wittenberg mit der Hallenser Universität und die Entscheidung, Wittenberg zur Garnisonsstadt zu erklären, trugen wesentlich dazu bei, eine neue kirchliche Ausbildungsinstitution an diesem symbolträchtigen Ort der Reformation zu gründen. Der Symbolcharakter Wittenbergs wurde noch dadurch gesteigert, dass die Eröffnung des Seminars mit dem 300-jährigen Reformationsjubiläum zusammenfiel und entsprechend inszeniert werden konnte. Die Geschichte des Seminars ist wesentlich durch die Personen geprägt, die am Seminar lebten und lehrten. Karl Friedrich Ulrichs stellt in seinem Beitrag Karl Dunkmann vor, der von 1907 bis 1912 Direktor und Ephorus am Seminar war. Er ist insbesondere durch seine Predigtlehre in Erscheinung getreten. An seiner Homiletik lässt sich modellhaft die Spannung zeigen, die zur Jahrhundertwende deutlich hervortritt: Dunkmann repräsentiert einen Konservatismus, der den dynamischen Veränderungsprozessen in Kirche und Gesellschaft ablehnend gegenübersteht. Ulrichs kann aber auch anhand der Predigten Dunkmanns und ihrer sprachlichen Gestaltung zeigen, dass dieser an die moderne Lebenswirklichkeit zugleich anzuknüpfen verstand. Von Anfang an sind das Evangelische Predigerseminar und prominente Erinnerungsorte der Reformation in Wittenberg untrennbar verbunden. Stefan Rheins Beitrag rekonstruiert die Auseinandersetzung des Predigerseminars mit der Reformationsmemoria, die stets auch von Ambivalenzen bestimmt war. Die Aufmerksamkeit, die die verschiedenen Erinnerungsorte auf sich zogen, und die Gestaltung der Erinnerungskultur waren und bleiben dem Wandel zeitgenössischer Präferenzen unterworfen. Tobias Schüfer schaut in seinem Beitrag auf das Predigerseminar in der Zeit des Nationalsozialismus. Er beschreibt die ideologischen und politischen Einflussnahmen auf das Seminar, dessen geplante Neuordnung sowie die Spannungen, die sich innerhalb des Seminars ergaben. So erklärten im Anschluss an die am 19. und 20.  Oktober  1934 in Berlin-Dahlem stattfindende Synode 15 der 25  Kandidaten dem Reichsbischof per Brief, dass sie sich hinter die Beschlüsse der Bekenntnissynode stellten. Daraufhin verließen sie am 30. Oktober 1934 das Seminar. Neben dieser gern erinnerten Episode des Widerstands wird aber auch darauf aufmerksam gemacht, dass mit Hans Schomerus in den letzten Jahren vor der kriegsbedingten Schließung der Ausbildungsstätte einer der geistigen Mentoren des Reichskirchenministers das Predigerseminar leitete, und ab 1943 das Reichskirchenministerium hierher ausgelagert wurde. 14

Vorwort