Editorials 2017 - Film TV Video

und Wutausbrüche des Diktators, bei denen er sich mit ei- nem Fantasiedeutsch in Rage brüllt, wobei auch Begriffe wie. »Wiener Schnitzel«, »Sauerkraut« und »Blitzkrieg« lautmale- risch eingewoben sind. Auch die Worte aus der Überschrift dieses Artikels kommen im Film vor. KATZENJAMMER IN. BRETZELBURG.
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GESAMMELTE WERKE 2017 Bereits zum zweiten Mal können wir Ihnen mit diesem eBook die Editorials eines ganzen Jahres präsentieren. Angereichert mit Illustrationen und aufbereitet mit passender Typographie von Jacqueline Kupschus, sind hier die Themen versammelt, die uns in diesem Jahr bewegten. Möglich wurde dieses Projekt auch durch den Sponsor Annova Systems, mit dessen Unterstützung wir diese zweite Sammelausgabe umsetzen konnten. Dafür herzlichen Dank! Vor Ihnen liegen also die Editorials aus 2017. Sie zeugen von einem Jahr mit vielen interessanten, teilweise absonderlichen und bisweilen auch übertriebenen Entwicklungen. Viele der Themen dürften den meisten noch präsent sein, einiges davon ist auch mehr als nur eine Momentaufnahme und wirkt noch weiterhin fort. Die Rückschau auf ein ganzes Jahr wirft manchmal auch Fragen auf: War das wirklich erst in diesem Jahr? Wir freuen uns, wenn Sie die Zeit finden, einen Blick in das eBook zu werfen und die unterschiedlichen Themen Revue passieren zu lassen. Es sammelt sich eben doch einiges an und manches rauscht unter dem Jahr so schnell vorbei, dass ein zweiter Blick durchaus lohnend sein kann: Im Rückblick und mit etwas Abstand können so manche Trends und Themen des Jahres 2017 eine andere Wirkung entfalten. So viel scheint sicher: Einiges was in diesem eBook angesprochen ist, wird uns im kommenden Jahr — und vielleicht auch darüber hinaus — weiter begleiten, aber es kommen ganz sicher auch viele neue Themen hinzu, die wir bei filmtv-video.de behandeln und kommentieren werden. Sie werden sehen.

Christine Gebhard, Gerd Voigt-Müller

INHALT

01

Äpfelharmonie

S. 07

02

Aufbruch – wohin auch immer

S. 10

03

5 gleich 1: Gut gemeint, nicht gut gemacht

S. 13

04

»Wiederholter Zustellversuch« – Handeln Sie rasch!

S. 15

05

Do More

S. 17

06

Minenfelder

S. 20

07

Zurück zum Markenkern

S. 23

08

Katzenjammer in Bretzelburg

S. 25

09

Beste Kontakte

S. 28

10

Abschalten — und nie mehr einschalten?

S. 31

11

Grüsse aus einer anderen Welt

S. 33

12

Der Kampf um Aufmerksamkeit

S. 35

13

An Tagen wie diesen, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein

S. 38

14

Neue Technik allerorten — aber zu welchem Zweck?

S. 40

15

Rolle rückwärts

S. 42

16

Mehr von allem – und schneller als bisher

S.45

17

Kochende Affen

S. 47

18

12G SDI vs. IP?

S. 50

19

Social Media — gekommen um zu bleiben

20

10.000 News veröffentlicht — und kein Ende abzusehen

21

Die Leinwand sollte größer sein als der Stuhl, auf dem man sitzt

22

Nur noch Business-Leute und Computer-Heinis ...

23

Ob gut oder schlecht: Die Lage wird sich ändern

S. 62

24

Kauderwelsch und Fachchinesisch

S. 65



S. 52

S. 55 S. 57



S. 60

25

Werbe-Ikone, Markenbotschafter, Influencer

S. 67

26

Wiederkäuer

S. 70

27

»IM Alexa« meldet sich zum Dienst

S. 73

28

Hilfe, mein Staubsauger spioniert mich aus!

29

Perspektivfrage

S. 77

30

Netflix: Everybody’s Darling?

S. 80

31

Schallmauer durchbrochen. Die nächste bitte ...

S. 82

32

Vom Zwang, zu lesen

S. 85

33

Ja ist denn schon wieder Weihnachten?

S. 87

34

In or out?

S. 89

35

Laute und leise Jubiläen

S. 92

36

Video killed the internet star

S. 94

37

Vollformat für alle?

S. 96

38

Mehr Effizienz!

S. 98



S. 75

39

Grüne Hölle überall

S. 101

40

Bild und Ton — manchmal auch synchron

S. 104

41

Von Milch und Kühen

S. 106

42

Babylon Berlin

S. 109

43

Der Druck wächst

S. 111

44

Menschen, Medien, Maschinen

S. 113

45

Der Modetanz von gestern

S. 116

46

Das Ding mit den Updates

S. 118

47

Neue Zeitrechnung

S. 120

48

Eine ganze Gesellschaft auf Highspeed?

S. 123

49

Do it yourself

S. 126

50

Selber Regie führen: bald bei Netflix?

S. 130



Impressum

S. 133

ÄPFELHARMONIE Editorial 01

E

ndlich ist die Elbphilharmonie in Hamburg fertig und die Hoffnung wächst, dass auch andere Großprojekte in Deutschland irgendwann doch noch fertiggestellt werden. Gut, das neue Hamburger Konzerthaus hat rund zehnmal so viel gekostet wie ursprünglich veranschlagt und die Bauzeit war um schlappe sieben Jahre länger als geplant — aber nun ist aus Anlass der Eröffnung der »Elphie« dennoch viel Lob zu hören.

»DEM TON WURDE AUCH ZU HOCHZEITEN DES KLASSISCHEN FERNSEHENS SCHON VIELFACH NICHT GENUG AUFMERKSAMKEIT GEWIDMET.« Apropos hören: Vielerorts wird ja eine immer weiter fortschreitende De-Professionalisierung der Branche diagnostiziert und beklagt. Ist das nur die Klage der Altvorderen, denen man nachsagt, dass sie eben sehr häufig fänden, dass früher alles besser war? Möglicherweise spielt das eine Rolle. Aber in vielen Fällen kann man auch dann Defizite erkennen, wenn man sich um eine möglichst objektive Sichtweise bemüht. Und man kann es hören. Dem Ton wurde auch zu Hochzeiten des klassischen Fernsehens schon vielfach nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet. Das haben wir an dieser Stelle verschiedentlich thematisiert

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und beklagt. Und leider muss man sagen, dass sich die Lage hier im Zeitalter der Online-Medien nicht verbessert hat — vielmehr ist das Gegenteil eingetreten. Wenn mit dem Handy oder Fotoapparat gedreht wird, bleibt leider oft schon ganz am Anfang der Produktion jeglicher Qualitätsanspruch auf der Strecke. Wieso auch Mühe in den Ton stecken, wenn bei Dreivierteln der Videoabrufe bei Face­book der Ton deaktiviert bleibt? Und diese erschreckende Anzahl tonloser Videowiedergaben ist in der Praxis bei sozialen Medien keine Seltenheit. Also wird die Mühe lieber in die Untertitelung der Online-­ Videos gesteckt. Fernsehen zum Mitlesen: Toll! Es gibt aber noch viele andere Aspekte der De-Professionalisierung im Tonbereich, von denen hier einer herausgegriffen werden soll, um den Bogen zum Einstieg zu schließen. Dass offenkundige Sprachfehler heute selbst bei der Auswahl von Radiomoderatorinnen und -moderatoren offenbar kein Kriterium mehr sind, kann man ärgerlich finden, ist aber allem Anschein nach so. Da wird gelispelt, genuschelt und gezischelt, was das Zeug hält — und das eben nicht nur von den Experten vor Ort, die halt Fachkenntnis besitzen, aber nie ein Sprachtraining absolvierten, sondern sogar von den Anchors, die im Studio sitzen. Hat man einen Sprachfehler, kann man nichts dafür. Und wenn es Teil eines Inklusionsprogramms ist, dass ausgerechnet der oder die damit Behaftete ans Mikro gesetzt wird, muss man möglicherweise damit leben. Es kann auch Kunst sein und — bei einem Hörbuch etwa — durchaus auch Sinn ergeben. Einen Anchor mit Sprachproblemen gut finden, muss man aber nicht. Der Boden ist erreicht, wenn sich etwa Nachrichtensprecher überhaupt nicht mehr im geringsten bemühen, verständlich und klar zu reden. Dann wird eben aus der Elbphilharmonie auch mal die Äpfelharmonie — mehrfach

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hintereinander im Beitrag eines Radionachrichtensenders gehört. Soviel zum Thema De-Professionalisierung. Sie werden sehen. Und hören.

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AUFBRUCH – WOHIN AUCH IMMER Editorial 02

A

m vergangenen Donnerstag lud MCI zur achten Hamburg Open ein. Auch in diesem Jahr war das Interesse an diesem Branchentreff im Norden wieder sehr beachtlich. Viele Besucher nutzen die Veranstaltung in zwei Studios auf dem Gelände von Studio Hamburg zur Kontaktpflege, um sich über das eine oder andere Produkt zu informieren und an den Vorträgen teilzunehmen. Über die Jahre hat sich die Hamburg Open zu einer recht beliebten Kick-Off-Veranstaltung entwickelt: Das Jahr ist noch jung, man trifft sich, tauscht sich aus, pflegt sein Netzwerk, redet über Projekte und Pläne des anstehenden Geschäftsjahres. Zum regionalen Charakter kommt zunehmend auch eine überregionale Komponente hinzu.

»WAR DIE INAUGURATION EINES US-PRÄSIDENTEN IN FRÜHEREN ZEITEN MEIST NUR EIN THEMA AUF DER POLITISCHEN AGENDA, FRAGEN SICH HEUTE VIELE, WELCHE AUSWIRKUNGEN DER REGIERUNGSWECHSEL AUF WIRTSCHAFT UND WÄHRUNG HABEN WIRD.« Etliche größere und kleinere Unternehmen nutzen diesen Event, um als Aussteller einerseits Kunden aus Norddeutschland zu treffen, aber andererseits auch aktuelle Stimmungen

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und Tendenzen im deutschen Markt zu spüren: Wohin geht die Reise, welche Technologien sind virulent, welche Trends sind angesagt? In diesem Jahr trieb fast alle Gesprächspartner der Redaktion aber auch noch ein ganz anderes Thema um: Schließlich wird in den USA am heutigen Freitag der neue Präsident Donald Trump vereidigt. War die Inauguration eines US-Präsidenten in früheren Zeiten meist nur ein Thema auf der politischen Agenda, fragen sich heute viele, welche Auswirkungen der Regierungswechsel auf Wirtschaft und Währung haben wird. Und natürlich wird auch darüber spekuliert, welche Auswirkungen Donald Trumps Haltung und Verhältnis zu den Medien letztlich auf die Broadcast-Branche haben wird. Die Branche insgesamt ist — vielleicht mehr noch als viele andere — seit jeher international aufgestellt, und wer die großen Messen wie NAB in Las Vegas und IBC in Amsterdam besucht, trifft dort auf Aussteller und Besucher aus aller Welt. Auch mittelgroße und manchmal sogar kleine Firmen sind in dieser Branche global aktiv — so bauen deutsche Firmen etwa Ü-Wagen und Studios für Kunden aus den unterschiedlichsten Winkeln der Erde oder liefern Equipment zu, das hierzulande zumindest entwickelt, vielleicht sogar gebaut wurde. Wenn etwa in Pyeongchang ein Wintersport-Event produziert wird, ist es gut möglich, dass deutsche Systemplaner dafür in südkoreanische und andere asiatische Produk­ tionsfahrzeuge Technologien und Produkte aus den USA, Japan, Deutschland, Frankreich, England und vielen anderen Ländern eingebaut haben. Das gilt auch für die großen Medienzentren, die im mittleren Osten oder sonstwo entstehen. Sollten in einer solchen Branche bei der Auftragsvergabe plötzlich Fragen nach einem »Footprint« in den USA eine Rolle spielen, könnte das Probleme aufwerfen. Oder macht Ihr Unternehmen etwa Geschäfte mit einem »Schurkenstaat«, wie auch immer ein solcher jeweils definiert wird?

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Viele hoffen, dass solche Aspekte nicht die Oberhand gewinnen und stattdessen die bisher erreichte Offenheit auch künftig erhalten bleibt und vielleicht sogar noch weiter wächst. Die NABShow, die im April in Las Vegas stattfindet, dürfte ein erster Gradmesser hierfür werden. Bis dahin bleibt es in jedem Fall spannend — und natürlich auch darüber hinaus. Sie werden sehen.

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5 GLEICH 1: GUT GEMEINT, NICHT GUT GEMACHT Editorial 03

D

as kennen die meisten: Manchmal will jemand aus besten Intentionen heraus etwas Gutes tun, vermasselt es aber in der Art und Weise, wie er es tut. Wenn etwa die Erbtante an Weihnachten die Familie um sich versammelt, Geschenke verteilt und einen der Anwesenden besonders üppig beschenken will, das aber mit so ungeschickten Formulierungen begleitet, dass sich der Beschenkte als bedürftiger Loser fühlt. Alle anderen sind dann vielleicht einerseits peinlich berührt, fühlen sich aber andererseits auch irgendwie ungerecht behandelt.

»ALLEM ANSCHEIN NACH HABEN ES FRAUEN IN VERSCHIEDENEN GEWERKEN DER FILMBRANCHE SCHWERER ALS MÄNNER — ETWA AUCH ALS REGISSEURINNEN.« Oder wenn die Jury des Bayerischen Filmpreises ein Zeichen für die Gleichberechtigung setzen will. In der Umsetzung kam dabei heraus, dass der diesjährige Regiepreis an fünf Frauen verliehen wurde: an Maren Ade, Nicolette Krebitz, Maria Schrader, Marie Noëlle und Franziska Meletzky. Allem Anschein nach haben es Frauen in verschiedenen Gewerken der Filmbranche schwerer als Männer — etwa auch als Regisseurinnen. Wie sonst wäre es zu erklären,

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dass ungefähr gleich viele Frauen wie Männer Regie studieren, aber später in der Praxis nur rund 15 % der Regiearbeiten von Frauen umgesetzt werden? Eine gute Sache also, hier ein Zeichen zu setzen und die Arbeit von Regisseurinnen zu würdigen. Das tat der Bayerische Filmpreis und wollte es dabei offenbar ganz richtig machen, als die Jury gleich fünf Frauen mit einem Regiepreis auszeichnete. Kann man das machen? Die Regisseurinnen zeigten sich erfreut, wenngleich Maria Schrader, eine der Preisträgerinnen, in ihrer Dankesrede anmerkte: »Niemand käme auf die Idee, einen Preis für die beste Regie an fünf Männer zu verteilen«. Damit benennt sie den Kern der Sache, denn so kann man diese Entscheidung eben auch lesen: Es braucht fünf Frauen, um etwas vergleichbar Preiswürdiges zu schaffen, wie es ein einzelner Mann – ein echter Regietitan – bewerkstelligen kann: 5 gleich 1. Kleine Randbemerkung noch zum Thema gleicher Lohn: Das Preisgeld wurde dabei keineswegs verfünffacht, stattdessen erhalten die fünf Regisseurinnen einfach weniger Preisgeld als die Sieger anderer Kategorien, nämlich 4.000 statt 10.000 Euro. Ja, insgesamt ist das Preisgeld somit doppelt so hoch, aber nicht für die einzelne Preisträgerin. Dass wenige Tage später einer der prämierten Filme, nämlich der auch zuvor schon ausgezeichnete »Toni Erdmann« von Maren Ade, in den USA für gut genug befunden wurde, um für den Auslands-Oscar nominiert zu werden, fügt dem ganzen noch eine weitere Note hinzu. Ist das nicht allzu pingelig? Geht es nicht um die Geste an sich? Immerhin wurde das Thema damit mal aufs Tapet gebracht. Immerhin wird nun darüber diskutiert. Immerhin wurde die Arbeit von Regisseurinnen gewürdigt. Immerhin. In diesem Wörtchen kristallisiert das Problem. Es klingt nach Trostpreis. Und so läuft die gut gemeinte Geste ins Leere, sie schafft nicht, was möglich gewesen wäre. Sie weist einmal mehr den zweiten Platz zu, wo ein erster drin und verdient gewesen wäre. Sie werden sehen.

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»WIEDERHOLTER ZUSTELLVERSUCH« – HANDELN SIE RASCH! Editorial 04

K

ommt Ihnen das bekannt vor? Dann gehören Sie vermutlich zu den Empfängern einer als Behördenbrief getarnten Werbeaktion von Vodafone. Im Januar 2017 hatte das Unternehmen im gesamten Bundesgebiet Briefe und Postkarten in Altpapier-Anmutung verschickt, mit einem offiziell wirkenden Stempel »Wiederholter Zustellversuch« und umständlich formulierten Textfeldern wie »Merkmale Vorgangsdaten«, sowie dem Hinweis: »Wichtige Information«. Das wirkte — natürlich mit voller Absicht — wie von der Poststelle einer besonders sparsamen, rückständigen Behörde versendet. Viele Empfänger empfanden aber den »wiederholten Zustellversuch« von Vodafone als ziemlich dreiste, irreführende Werbeaktion: Was das Unternehmen als Informationsschreiben über »wichtige Neuerungen der Telefon- und Internettechnologie« verstanden wissen wollte, kam als Versuch rüber, die Verunsicherung von Verbrauchern in Bezug auf den bevorstehenden Wechsel von DVB-T auf DVB-T2 auszunutzen, um Kabelverträge zu verkaufen. Dass es immer wieder halbseidene Anbieter gibt, die versuchen, mit vermeintlichen Behördenschreiben andere abzuzocken, ist schlimm genug — aber gängig. Praktisch jeder Unternehmer kennt das, weil er mit hoher Wahrscheinlichkeit auch schon mal Post von irgendwelchen Firmenregistern und -verzeichnissen erhalten hat, die sich einen Behördenanstrich verleihen und damit nach Handelsregister oder Bundesanzeiger klingen wollen, in Wahrheit aber einfach nur Betrüger sind. 15

»IM TELEKOMMUNIKATIONSMARKT WIRD DERZEIT MIT BESONDERS HARTEN BANDAGEN GEKÄMPFT.« Dass sich nun ein großes Unternehmen wie Vodafone auf dieses Niveau begab, sorgte dann aber doch für einen mittelgroßen Shitstorm und rief auch Verbraucherschützer auf den Plan. Man kann an dieser missratenen WerbeAktion von Vodafone sicher einiges ablesen — auch dass im Telekommunikationsmarkt derzeit mit besonders harten Bandagen gekämpft wird. Dabei kreist offenbar alles um die Frage, auf welchem Weg man Kunden erreichen kann, die bisher möglichst kostengünstig TV-Programme sehen wollten — und ihnen dann irgendein Abo zu verkaufen. Die Grenzen zwischen den Distributionswegen verschwimmen zusehends, und jetzt wollen die klassischen Telco-Anbieter einen größeren Anteil dieses Kuchens haben. Dabei wird die Taktik angewendet, die auch bei Handy-Verträgen greift: Ein maximal undurchdringliches Dickicht aus immer neuen Tarifen und Leistungspaketen errichten, bis keiner mehr durchblickt. Die einzige Konstante dabei: wirklich günstiger wird es selten. Sie werden sehen – auf welchem Weg auch immer.

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DO MORE

DO MORE Editorial 05

V

or etlichen Jahren — um genau zu sein im Jahr 2005 — führte Avid einen neuen Slogan ein: »Do more«. Das Unternehmen nutzte diesen Slogan dann eine Weile und ließ ihn schließlich ziemlich rasch wieder in der Versenkung verschwinden. Zeit für eine abenteuerlich-abstruse Verschwörungstheorie: Mittlerweile hat dieser Slogan, der natürlich nicht in jedem Zusammenhang nur positive Assoziationen weckt, im verborgenen weiter gewirkt. Der von Avid in die Welt gesetzte Geheimbefehl hat mittlerweile allem Anschein nach fast die ganze Branche infiltriert und überrollt: Alle müssen jetzt mehr tun. Als aktuelles Beispiel dafür wollen wir hier mal die TV-Berichterstattung über das Endspiel der höchsten Football-Liga in den USA betrachten. Beim »Super Bowl« wird seit jeher ein großer Aufwand getrieben, er ist das größte Sportereignis der USA — und damit auch eine wichtige Plattform für Werbung und Show-Einlagen. Die gigantischen Einschaltquoten und die riesigen Geldsummen, die mit diesem Endspiel verbunden sind, rechtfertigen in der Logik der Rechteinhaber beinahe jeden Aufwand. Daraus ist eine Spirale entstanden: Es ist eben mittlerweile auch ein immer größerer Aufwand nötig, um die verwöhnten Zuschauer noch zu locken, zu aktivieren und zu binden. Konkrete Beispiele gefällig? Um Replays aus der Sicht von Spielern auf dem Spielfeld erzeugen zu können, installierte Intel 38 5K-Kameras im Stadion. Fox Sports hatte 36

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TV-Kameras aufgebaut, um aus dem Discovery Green Park in Houston vom Umfeld des Spiels zu berichten. Für die Produktion des eigentlichen Endspiels setzte der Sender dann mehr als 70 Kameras im NRG-Stadion ein – darunter auch eine in 8K.

»WÄHREND EINERSEITS DIE RECHTE IMMER TEURER WERDEN, SOLLEN DIE »NORMALEN« PRODUKTIONSKOSTEN IMMER WEITER SINKEN.« Aber damit ist es bei weitem nicht getan: Heute müssen neben dem klassischen TV-Programm auch noch zahlreiche weitere Kommunikationskanäle bedient werden: Apps, Websites, Streaming-Portale, Social Media — Rechner und Smartphones müssen eben auch gefüttert werden, wenn man echte Breitenwirkung erreichen will. So ist ein interessantes, letztlich auch widersprüchliches Biotop entstanden: Während einerseits die Rechte immer teurer werden, sollen die »normalen« Produktionskosten immer weiter sinken — bei weiterer Steigerung der technischen und gestalterischen Qualität. Es muss schließlich Luft bleiben für neue, ungewöhnliche On-Top-Technologien. Gleichzeitig müssen dann mit den bestehenden und neuen Angeboten immer mehr Plattformen bedient werden. »Do more« hat also in der Branche mittlerweile sehr viele Bedeutungen und ist zu einem vielschichtigen Phänomen mutiert — und ein Ende ist nicht absehbar. Sie werden sehen.

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MINENFELDER Editorial 06

E

s gibt viele mögliche Ursachen, wenn man bestimmte Dinge, Trends oder Entwicklungen nicht versteht. Wenn man die eigene Wahrnehmung der Realität mit der seiner Mitmenschen nicht in Einklang bringen kann. Wer spinnt? Ich oder die anderen? Oder ist alles nur ein Missverständnis? So leben wir in einer Zeit, in der sich große Teile der westlichen Gesellschaften letztlich grundsätzlich darauf verständigt haben, dass Menschen weder aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, Herkunft, Religion oder ihrer sexuellen Orientierung benachteiligt werden sollen. So steht es — zumindest teilweise — in zahlreichen Verfassungen, so lautet ein breiter gesellschaftlicher Konsens in Ländern, in denen die Mehrheit der Bevölkerung Zugang zu Bildung hat. Dass es dennoch auch in solchen Gesellschaften Diskriminierung, Sexismus und Rassismus gibt, dass die Realität also viel zu oft anders aussieht, soll hier nicht bestritten werden — aber wenigstens in der groben Zielrichtung besteht eigentlich seit dem Verbot der Sklaverei in der zivilisierten Welt einigermaßen Einigkeit. Derzeit scheint aber der Rückfall in einige, ganz seltsame Aspekte der Diskriminierung Hochkonjunktur zu haben — zumindest treibt er auch an solchen Stellen wilde Blüten, wo man das nicht unbedingt erwarten würde. Vielleicht eine Folge der von wenigen ausgehenden, aber um so lauter vorgetragenen Zwischenrufe und Provokationen?

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»WILLKOMMEN IM JAHR 2017, WO MODERATOREN ZWAR KEINEN GERADEN SATZ MEHR FORMULIEREN KÖNNEN, ABER MAL EBEN SO ABFÄLLIGE WIE KLISCHEEHAFTE BEMERKUNGEN ÜBER DAS AUSSEHEN VON POLITIKERINNEN RAUSHAUEN.« Beispiele gefällig? Markus Lanz stellte als Moderator seiner gleichnamigen Talkshow dem Medienberater Michael Spreng die Frage, was er Martin Schulz und Angela Merkel denn optisch raten würde. Dass Politikberater solche Fragen sehr wohl mit ihren Kandidaten diskutieren, steht außer Frage. Dann aber setzte Lanz noch eins drauf: »Mir fällt immer auf, also Frauen, Frauen verändern sich ja so — optisch — in der Politik, dass du sie irgendwann eigentlich gar nicht mehr so wirklich als Frauen wahrnimmst.« Willkommen im Jahr 2017, wo Moderatoren zwar keinen geraden Satz mehr formulieren können, aber mal eben so abfällige wie klischeehafte Bemerkungen über das Aussehen von Politikerinnen raushauen. Andere Stadt, andere Szene: In den USA wurden gerade die Grammys verliehen und den Preis fürs Album des Jahres erhielt die britische Sängerin Adele. Dass ihre amerikanische Berufskollegin Beyoncé in dieser Kategorie erneut leer ausging, verwunderte viele — und zahlreichen Medienberichten zufolge auch Adele selber. Der Grammy-Chef sah sich in der Folge bemüßigt, Rassismus-Vorwürfe zurückzuweisen. Ein Blick auf die Preisträger der vergangenen Jahre kann aber zumindest nachdenklich stimmen. Ganz ähnlich wird wohl auch die kommende Oscar-Verleihung ablaufen, die am 26. Februar 2017 stattfindet. Schon in früheren Jahren gab es hier Diskriminierungsverdacht — und ein Blick auf die Nominierten reicht, um eine 21

Vorahnung zu bekommen, dass das auch in diesem Jahr ein Thema werden könnte. Was ist da los? Das sind ganz sicher schwierige Themenfelder und Fragestellungen mit vielen Tretminen, zu denen man viele verschiedene Haltungen entwickeln kann — und es liegt der Redaktion fern, Sie als Leser in diesen Aspekten zu bevormunden. Aber wenn sich Menschen in den Medien darüber keine Gedanken machen, wer soll es denn sonst tun? Sie werden sehen.

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ZURÜCK ZUM MARKENKERN Editorial 07

I

n der amerikanischen Ausgabe der Zeitschrift Playboy gab es ein Jahr lang keine komplett nackten Frauen mehr zu sehen. Nun ist das wieder anders — und die Begründung überrascht. Männer, die sich schwertun, zu ihren Trieben zu stehen, haben in früheren Zeiten den Kauf des Playboy oft damit gerechtfertigt, dass das Heft einfach die besten Interviews mit den interessantesten Persönlichkeiten biete. Manche sprachen auch von der Ikonografie eines gewissen Lifestyles oder von höchst ästhetischer, künstlerisch wertvoller Fotografie. War das etwa gelogen? So oder so: Nun gibt es also auch im amerikanischen Playboy wieder Nacktheit. Der Grund für diesen Rollback war ganz sicher nicht, dass der Verzicht auf Nacktheit bei den Lesern besonders populär gewesen wäre und zu großen Auflagezuwächsen geführt hätte. Das Gegenteil war der Fall.

»IN DER AMERIKANISCHEN AUSGABE DER ZEITSCHRIFT PLAYBOY GAB ES EIN JAHR LANG KEINE KOMPLETT NACKTEN FRAUEN MEHR ZU SEHEN. NUN IST DAS WIEDER ANDERS — UND DIE BEGRÜNDUNG ÜBERRASCHT.« 23

Wie kam es zu dieser seltsamen Aktion? In Zeiten des Internets sei Nacktheit in einem Magazin einfach überholt, hatte der amerikanische Magazinchef im Februar 2016 verlauten lassen. Heute hingegen sagt Cooper Hefner, der Kreativchef der Zeitschrift und Sohn des Gründers sinngemäß, dass die Nacktfotos im Playboy zwar irgendwie altmodisch waren, aber dass es auch falsch war, sie komplett zu entfernen. Dazu twitterte er: »Heute nehmen wir uns unsere Identität wieder, und wir gewinnen zurück, wer wir sind.« Eine Sache des Markenmanagements also? Das ist inte­ ressant — und was würde nach dem Thema Playboy besser passen, als ein anderes Klischee zu bedienen: Kommen wir nun also zum anderen Männerthema — Autos. Aber um Enttäuschungen vorzubeugen: anders als man vermuten könnte. Der Fiat 500, der Cinquecento, das ist doch dieses kleine, rundliche, lustige Auto. Eine Ikone für das freundliche, lebenslustige, fröhliche Italien. Da Autos zu einem nicht unwesentlichen Teil über Emotionen verkauft werden, kann es da nicht verwundern, dass Fiat den Cinquecento wieder aufleben ließ, quasi im Fahrwasser des vom BMW-Konzern wiederbelebten Mini. Außer dem Namen ist aber in beiden Fällen nicht viel geblieben. Bei Fiat gibt es beispielsweise den Fiat 500L. Das ist ein Minivan, der den Namen eines Kleinwagens trägt, an den er mit sehr viel Fantasie entfernt erinnert. Zur Illustration: Der Fiat 500, wie er von 1957 bis 1975 gebaut wurde, hat eine Grundfläche von 1.320 x 2.970 mm, braucht also einen Stellplatz mit einer Fläche von 3,92 m2. Der Fiat 500L misst 1.658 x 4.147 mm, das sind 6,88 m². Es gibt also viele, ganz unterschiedliche Wege, den Kern einer Marke zu verwässern. Dass es aber schlecht und schädlich ist, wenn der Kunde nicht mehr weiß, wofür eine Marke steht, darüber muss man heutzutage wohl nicht mehr diskutieren. Sie werden sehen.

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KATZENJAMMER IN BRETZELBURG Editorial 08

K

urz nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen begann Charlie Chaplin im September 1939 mit den Dreharbeiten zum Film »Der große Diktator«. Darin spielt er in einer Doppelrolle den Diktator Adenoid Hynkel und einen jüdischen Friseur. Der Film wurde Chaplins größter Kassen­ erfolg und fast jeder Medienmensch dürfte zumindest die Szene kennen, in der Chaplin als Diktator mit einer riesigen Weltkugel durch seine Reichskanzlei tanzt. Oder die Reden und Wutausbrüche des Diktators, bei denen er sich mit einem Fantasiedeutsch in Rage brüllt, wobei auch Begriffe wie »Wiener Schnitzel«, »Sauerkraut« und »Blitzkrieg« lautmalerisch eingewoben sind. Auch die Worte aus der Überschrift dieses Artikels kommen im Film vor.

»HÄTTE CHARLIE CHAPLIN »DER GROSSE DIKTATOR« ALLERDINGS NICHT SELBST PRODUZIERT UND FINANZIERT, WÄRE DIESER FILM WOHL NIE ENTSTANDEN.« Hätte Charlie Chaplin »Der große Diktator« allerdings nicht selbst produziert und finanziert, wäre dieser Film wohl nie entstanden. Chaplin musste unzählige Hürden überwinden, um das Projekt zu stemmen. Hollywood war zur damaligen Zeit nur bedingt bereit, sich politisch zu positionieren, und viele erklärten Chaplin für verrückt, ein solches Projekt anzugehen.

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Ob »Der große Diktator« erfolgreich sein würde, bezweifelten manche auch aus ganz anderen Gründen: Charlie Chaplin betrieb damals noch eines der letzten Stummfilmstudios in Hollywood — und das, obwohl der Tonfilm längst erfolgreich war. Auch damals gab es also schon höchst disruptive Entwicklungen, mit denen sich die Filmbranche auseinandersetzen musste: Eine neue Technik hielt Einzug und verdrängte die alte. Viele Künstler, Schauspieler und Musiker verteufelten den Tonfilm als Kitsch – wohlwissend, dass er letztlich ihre Existenz bedrohte. Geholfen hat diese Haltung nichts. Der Tonfilm setzte seinen Siegeszug fort, weil das Publikum die neue Technik toll fand. Auch Charlie Chaplin gab schlussendlich seinen Widerstand auf und drehte mit »Der große Diktator« seinen ersten Tonfilm. Chaplin musste also nicht nur inhaltliche, politische und finanzielle Problemen lösen, sondern zusätzlich auch noch technische. Der Tonfilm machte vieles umständlicher, erforderte andere Abläufe, vor allem aber eine striktere Planung und Vorbereitung. Für den detailversessenen Chaplin eine große Herausforderung, die, liest man Berichte von damals, das gesamte Team oft bis an seine Grenzen brachten — und darüber hinaus. Mehrfach stand die Produktion vor dem Aus, aber Chaplin schaffte es, den Film fertig zu produzieren. Bis es soweit war, vergingen aber 168 Drehtage, in denen das Team nahezu 90 Stunden Filmmaterial drehte. Chaplin steckte die für damalige Verhältnisse überwältigende Unsumme von zwei Millionen US-Dollar in die Produktion. Schließlich schaffte es der Spielfilm aber im Oktober 1940 in die Kinos. »Der große Diktator« wurde sogar für fünf Oscars nominiert, darunter in den Kategorien »Bester Film« und »Bester Hauptdarsteller« — und bekam keinen einzigen.

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Trotz unterschiedlichster Reaktionen entwickelte sich der Film aber zum Kassenschlager, lediglich »Vom Winde verweht« spielte zu damaliger Zeit noch mehr Geld ein. Seine Europapremiere feierte der Film im Dezember 1940 in London, in Nazi-Deutschland durfte er nicht gezeigt werden. Erst viele Jahre nach dem Krieg konnte das deutsche Publikum den Film dann im Jahr 1958 in den Kinos sehen. Vielleicht stellen Sie also Mostrich und Schlagrahm bereit, setzen sich in ihren Friseurstuhl und schauen diesen Film (wieder) an: Selbst wenn man den Kitsch zu dick findet und einem an manchen Stellen das Lachen im Hals stecken bleibt — es lohnt sich aus ganz vielen Gründen. Sie werden sehen.

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BESTE KONTAKTE Editorial 09

K

ontakte sind so wichtig, dass sie sich in der Wirtschaft mit zunehmender Weiterentwicklung, Verfeinerung und Spezialisierung von Geschäftsprozessen, zu einer eigenen Währung entwickelt haben: Kunden-Kontakte, Social-Media-Kontakte, Business-Kontakte. Auch beim Lieblingssport der Deutschen, geht es ja um Kontakte — Ballkontakte eben. Und spätestens seit dem vergangenen Wochenende weiß Fußballdeutschland auch, dass selbst hier ganz genau mitgezählt wird: Beim Spiel des FC Bayern gegen Eintracht Frankfurt knackte Philip Lahm eine historische Marke und nahm zum 30.000 Mal in einem Bundesligaspiel Ballkontakt auf. Viele Beiträge in den Medien wiesen in der Nachberichterstattung ganz explizit auf dieses Ereignis hin, und in einigen Fällen konnte man die entsprechende Szene auch in Zeitlupe bewundern.

»KONTAKTE SIND SO WICHTIG, DASS SIE SICH IN DER WIRTSCHAFT MIT ZUNEHMENDER WEITERENTWICKLUNG, VERFEINERUNG UND SPEZIALISIERUNG VON GESCHÄFTSPROZESSEN, ZU EINER EIGENEN WÄHRUNG ENTWICKELT HABEN.«

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Nun kann man über den konkreten Nutzen solcher statistischer Informationen für den einzelnen Zuschauer sicher geteilter Meinung sein. Lässt man die Frage nach dem tieferen Sinn aber mal beiseite, dann offenbart ein Blick hinter die Kulissen eine beeindruckende Maschinerie — und es scheinen auch noch etliche zusätzliche Aspekte auf. Im Markt für die Erfassung solcher Daten tummeln sich mittlerweile etliche Unternehmen, wobei DeltaTre und Opta in Europa zu den Großen gehören. Sie ermitteln mit aufwändigen Verfahren statistische Daten im Sportbereich in einer enormen Breite und Tiefe. Dabei werden in aller Regel automatisiert gewonnene Daten mit solchen abgeglichen und ergänzt, die von menschlichen Spielbeobachtern erfasst werden. Jeder Ballkontakt, jedes Foul, Zweikämpfe, gelaufene Distanzen, Sprints, Pässe, gelbe und rote Karten: Das alles und noch viel mehr, wird in Zahlenwerten und Grafiken festgehalten und so eine wahre Datenflut erzeugt — sozusagen die Metadaten eines Fußballspiels. Die Sportberichterstattung greift in erheblichem Maß darauf zurück: So können etwa Live-Kommentatoren und Redaktionen mit Zugriff auf eine entsprechende Datenbank, massig zusätzliches Fachwissen einfließen lassen und Online-Pattformen können mit Heatmaps aufwarten, die Spielwege und Spielverläufe grafisch verdeutlichen. Aber auch ganz andere Bereiche bauen auf solche Statistikdaten: Die Wettindustrie etwa hat ein System geschaffen, in dem die Kunden nicht nur auf Ergebnisse und Torschützen, sondern auch auf eigentlich absurde Ereignisse und Vorkommnisse innerhalb eines Spiels wetten können: Wie viele Eckbälle wird es zwischen der 60. und der 75. Minute geben? Auch die Spieleindustrie bedient sich aus diesem Fundus: »Fifa« gehört zu den bekanntesten Spielen für Playstation oder XBox — und beide arbeiten ebenfalls mit solchen Daten, wenn sie den meist jugendlichen Konsolenspielern Informationen über ihre virtuellen Karrieren und Journeys

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anbieten und diese dann Turniere spielen, Spieler kaufen, Mannschaften zusammenstellen oder Spielsysteme auswählen. Die Lahm'schen 30.000 Ballkontakte stehen also tatsächlich für deutlich mehr, als die nackte, im Grunde nebensächliche Zahl verdeutlicht. Höchste Zeit, das auch in andere Bereiche auszudehnen, oder? Noch sind es rund vier Wochen bis zur NAB, der nächsten großen Branchenmesse: Also, ihr App-Programmierer da draußen, wie wäre es mit einer Smartphone-App, die per Fitnessarmband zuverlässig erfasst, wie viele Hände man im Verlauf eines Messetages schüttelt? Wir brauchen einfach mehr statistische Daten ... Sie werden sehen. zurück zum Inhalt

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ABSCHALTEN — UND NIE MEHR EINSCHALTEN? Editorial 10

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m 29. März 2017 wird die terrestrische TV-Ausstrahlung in vielen Regionen Deutschlands auf DVB-T2 umgestellt. Zuschauer in diesen Regionen, die via Antenne Fernsehprogramme empfangen wollen, brauchen ab dann neue Receiver, können dafür aber HD-Qualität in 1080p50 sehen. Wenn sie es denn wollen. Und Letzteres ist die entscheidende Frage: Wie viele DVBT-Nutzer werden beim Antennenempfang bleiben und entsprechend nachrüsten? Zwar lockt die bessere Bildqualität, und in den Ballungsräumen wird es auch deutlich mehr Programme geben. Es ist allerdings so, dass man nicht nur ein neues Empfangsgerät benötigt, sondern dass man auch eine Jahresgebühr von 69 Euro für das Programmpaket von Freenet TV bezahlen muss, wenn man auch die HD-Programme der Privatsender sehen will. Es bleibt also abzuwarten, wie viele der DVB-T-Zuschauer da mitgehen und ob nicht viele gleich ganz abwandern und künftig andere Wege nutzen, um Fernsehprogramme zu konsumieren. Ein kurzer Blick auf die Zahlen: In Deutschland empfangen — laut offizieller Angaben des wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestages — mehr als die Hälfte aller Zuschauer ihr Programm via Satellit (52 %). Einen weiteren, großen Anteil von rund 37 % macht das Kabelfernsehen aus. Ungefähr 5 % der Fernsehhaushalte sind auf IPTV umgestiegen. DVB-T nutzten bisher rund 6 % der TV-Zuschauer.

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Das terrestrische Fernsehen erfreut sich also eines eigentlich relativ geringen Zuspruchs. Wie viele dieser Endkunden werden nun in neue Technik für den Antennenempfang investieren? Und wie viele davon werden 69 Euro dafür zahlen, dass sie — überspitzt formuliert — die Werbung auf den Privatkanälen in HD sehen können?

»ES KÖNNTE PASSIEREN, DASS DER SCHRITT ZU DVB-T2 ZWAR TECHNISCH BETRACHTET EIN FORTSCHRITT FÜR DEN TERRESTRISCHEN TV-EMPFANG IST, DASS DAS GANZE ABER NAHEZU BEDEUTUNGSLOS VERPUFFT.« Da ist die Frage ganz sicher berechtigt, ob diese Kunden nicht viel eher auf andere Empfangswege umsteigen werden — und daran kann wahrscheinlich auch die groß angelegte Werbekampagne für DVB-T2 nichts ändern. So könnte es passieren, dass der Schritt zu DVB-T2 zwar technisch betrachtet ein Fortschritt für den terrestrischen TV-Empfang ist, dass das Ganze aber nahezu bedeutungslos verpufft — unter anderem auch deshalb, weil die Einführung von DVB-T2 im Grunde viel zu spät kommt: Welchem Endkunden erscheint der Schritt zu HD via Antenne noch verlockend, wenn er einerseits mit Mühen und Kosten verbunden ist und gleichzeitig im Netz und im Elektronikmarkt schon längst mit UHD und HDR geworben wird? Sie werden sehen.

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GRÜSSE AUS EINER ANDEREN WELT Editorial 11

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ass technische Geräte eine immer kürzere Lebensdauer haben, das sorgt in unserer Branche zwar immer wieder für Verdruss, wird aber letztlich wie ein unausweichliches Naturgesetz betrachtet. Was nicht quasi »von alleine« kaputtgeht, muss man früher oder später austauschen, weil sich die Welt drumherum verändert hat: Festplatten mit aus heutiger Sicht lächerlicher Kapazität und mit Schnittstellen, die einfach nicht mehr zum neuen Rechner passen. Apps, die eine neue Betriebssystemversion erfordern – aber das ist dann mit Smartphone oder Tablet nicht mehr kompatibel. Die Kamera, die kein Log-Gamma, kein 4K und schon gar kein HDR beherrscht. Plötzlich ist man nahezu unverschuldet in einer Sackgasse gelandet. So entstehen nicht nur Berge von Elektroschrott, sondern man ist auch mit Dingen befasst, auf die man keine Lust und für die man eigentlich auch keine Zeit hat: Daten überspielen und umformatieren, neue Geräte an die eigenen Bedürfnisse anpassen, Lösungen basteln, mit denen man aus der alten in die neue Welt wechseln kann, ohne allzu große Kollateralschäden befürchten zu müssen. Wären Cloud-Services die Lösung? In manchen der genannten Aspekte vielleicht schon, in vielen anderen löst man damit aber letztlich doch nur das eine durch ein anderes Problem ab. Und dann erhält man plötzlich ein Zeichen. Wie aus einer anderen Welt. Es gibt Menschen da draußen, die kennen all diese Sorgen gar nicht. Die leben (wahrscheinlich) glücklich 33

und zufrieden mit dem von ihnen selbst als ausreichend definierten Stand der Technik. Solche Menschen sagen Sätze wie: »Ich faxe Ihnen das mal durch.«

»KÖNNTEN WIR GANZ PROBLEMLOS MIT EINER ABSOLUTEN LOW-TECH-LÖSUNG GENAUSO UNSERE ARBEIT VERRICHTEN UND UNSERE ZIELE ERREICHEN?« Und tatsächlich rappelt plötzlich dieses uralte Gerät, das noch irgendwo im Büro sein Dasein fristet und das seit einer gefühlt unermesslich langen Zeit nicht einmal mehr Werbung für Radarwarngeräte oder Erste-Hilfe-Kästen ausgespuckt hat. Und dann hält man tatsächlich das Angebot einer Druckerei in Händen. Ist womöglich die Mehrzahl unserer Probleme in Wahrheit hausgemacht? Könnten wir ganz problemlos mit einer absoluten Low-Tech-Lösung genauso unsere Arbeit verrichten und unsere Ziele erreichen? Wir werden es wahrscheinlich nie erfahren, weil wir leider viel zu beschäftigt sind. Sie werden sehen.

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DER KAMPF UM AUFMERKSAMKEIT Editorial 12

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as Überangebot an Informationen, das heute endlos auf uns alle einströmt, wenn wir es nicht eindämmen oder uns sogar dagegen abschotten, hat mit dem Aufkommen der sozialen Medien eine neue Eskalationsstufe erreicht. Ein schon ewig tobender Kampf wurde dadurch weiter angefacht: der Kampf um Aufmerksamkeit. Vielleicht kann man im Balzverhalten von Tieren den Ursprung dafür sehen. Die konkreten alltäglichen Auswirkungen können wir jedenfalls alle jederzeit besichtigen, wenn wir ein Smartphone in die Hand nehmen oder uns vor einen TV- oder PC-Bildschirm setzen.

»DAS ÜBERANGEBOT AN INFORMATIONEN, DAS HEUTE ENDLOS AUF UNS ALLE EINSTRÖMT, HAT MIT DEM AUFKOMMEN DER SOZIALEN MEDIEN EINE NEUE ESKALATIONSSTUFE ERREICHT.« Wer in den Medien arbeitet, steckt mittendrin in diesem Getümmel — und film-tv-video.de als Medium, das über und für Menschen in den Medien berichtet, erst recht. In Bezug auf die herannahende Branchenmesse NAB setzen dabei immer mehr Unternehmen darauf, ihre Neuheiten schon weit vor der Messe anzukündigen. Es ist zwar schon immer so, dass man als Redaktion im Vorfeld der großen

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Messen mit Presseinfos bombardiert wird. Aber über die Jahre hat sich etwas an der Qualität und am Gehalt der Vorabinfos verändert. Früher waren die Bla-bla-Meldungen klar in der Überzahl: aufgeblasene Pressemitteilungen, deren Inhalt man auf die Formel reduzieren kann »wir sind da, werden tolle Sachen zeigen und die Leute sollen an unseren Stand kommen«, das Ganze garniert mit Superlativen und äußerst vagen Andeutungen. Heute geben hingegen immer mehr Unternehmen ganz konkrete Infos zu Neuheiten heraus, die sie im Rahmen der Messe präsentieren wollen — schon Wochen vor dem Messestart. Viele setzen nicht mehr auf den überraschenden Messeknaller, sondern wollen sich lieber schon möglichst früh positionieren, in Erinnerung bringen und mit konkreten Produkten locken: Bloß nicht untergehen, wenn zum Messestart alle gleichzeitig mit News kommen. Bei manchen Herstellern stellt sich dann allerdings die Frage: War's das schon? Ist die konkrete Info nur ein Appetizer vorab und der noch größere Knaller kommt dann zur Messe? Wenn die schon vorab so was raushauen, muss doch noch was ganz Großes folgen. Oder doch nicht? Schon bald wissen wir mehr. Sie werden sehen.

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AN TAGEN WIE DIESEN, MUSS DIE FREIHEIT WOHL GRENZENLOS SEIN

AN TAGEN WIE DIESEN, MUSS DIE FREIHEIT WOHL GRENZENLOS SEIN Editorial 01

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enn man zum x-ten Mal über eine Sache berichtet, dann muss man natürlich aufpassen, dass die Wortspielkasse und das Phrasenschwein am Ende des Tages nicht aus allen Nähten platzen: Sie merken schon, was gemeint ist. Dass das nicht nur uns als Fachjournalisten so geht, das hat erst kürzlich der Fernsehsatiriker Jan Böhmermann gezeigt, mit einem Schlager, der aus lauter Phrasen, Binsenweisheiten und Signalworten besteht, die von Schimpansen zu einem Liedtext kombiniert wurden. Dass der so entstandene, zutiefst ironische Schlager, es schaffte, in den deutschen Musikcharts bis auf Platz 7 aufzusteigen, muss wiederum jeden halbwegs kritischen Geist erschauern lassen: Es scheint doch sehr unwahrscheinlich, dass all diese Menschen die Ironie und das satirische Moment verstanden haben, das diesem Stück innewohnt.

»WENN MAN ZUM X-TEN MAL ÜBER EINE SACHE BERICHTET, DANN MUSS MAN NATÜRLICH AUFPASSEN, DASS DAS PHRASENSCHWEIN AM ENDE DES TAGES NICHT AUS ALLEN NÄHTEN PLATZT.«

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Das heißt aber im Umkehrschluss, dass es eben offenbar viele Menschen gibt, die Sachen gut finden, einfach weil andere sie gut finden. Oder dass Binsenweisheiten und Phrasen reichen, um erfolgreich zu sein. Wir bitten Sie also, es freundlicherweise zu ignorieren oder als Stilmittel, Hommage und Weg zum Erfolg zu betrachten, falls Ihnen das eine oder andere in der diesjährigen NAB-Berichterstattung bekannt vorkommen sollte. Aber wir versprechen, dass wir jenseits dessen auch über jede Menge interessanter Neuheiten aus Las Vegas berichten werden. Die ersten finden sich schon in diesem Newsletter wieder, und in den nächsten Tagen werden zahlreiche weitere News den Weg vom Showfloor aus Las Vegas direkt zu Ihnen finden. Sie werden sehen.

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NEUE TECHNIK ALLERORTEN — ABER ZU WELCHEM ZWECK? Editorial 14

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n Neuheiten mangelt es bei einer Messe üblicherweise nicht: Manches ist neu, manches wird als neu bezeichnet. Und so entsteht das übliche Dilemma: So viel zu sehen, so wenig Zeit. Also muss man sich entscheiden, was man sich genauer anschauen möchte. Bei der Auswahl können manchmal auch Sichtweisen helfen, die zwar in anderem Zusammenhang geäußert wurden, sich aber übertragen lassen.

»WAS IN HD KEINEN INTERESSIERT, DAS INTERESSIERT AUCH IN UHD KEINEN.« So sagte Andreas Lattmann, der CTO des Schweizer Broad­ casters TPC, kürzlich im Gespräch mit film-tv-video.de: »Was in HD keinen interessiert, das interessiert auch in UHD keinen.« Lattmann bezog sich damit klar auf die Inhalte, nach dem Motto »Content is King« – und relativierte damit die Bedeutung der Technik. Das vom Chief Technology Officer eines Broadcast-Unternehmens zu hören, mag überraschend wirken, zeigt aber, dass hier jemand weit über den eigenen Tellerrand hinaus blickt. Gedanken über die Wechselwirkungen zwischen Technik und Gestaltung macht man sich auch bei Arri. So sagte

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Franz Kraus im Interview mit film-tv-video.de: »Es reicht nicht, einfach nur mit höherer Auflösung, höherer Framerate oder höherem Kontrast so wie bisher zu drehen. (...) Heute ist die Technik so weit, dass sich eine neue Filmsprache entwickeln kann.« Solcherlei Gedanken sollte man zweifellos – auch als TechHead – immer im Hinterkopf behalten: Technik allein erzählt noch keine Geschichten. Aber es gibt natürlich Wechselwirkungen in beide Richtungen — und dafür gibt es auch ein aktuelles Beispiel: 360-Grad-Video. Schreit diese Technik nicht geradezu danach, ganz andere Inhalte und Stories auf eine ganz neue Weise zu erzählen? Sie werden sehen.

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ROLLE RÜCKWÄRTS Editorial 15

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ahrelang hat uns ein großer Teil der Branche erzählt, dass wir immer mehr Auflösung brauchen: Von SD ging es zu HD und zu UHD, von 2K zu 4K und zu 8K — und immer so fort. Und nun: Plötzlich soll die immer höhere Auflösung nur eine von vielen Optionen sein? Ja, es gibt durchaus schon lange Stimmen, die neben den immer mehr Pixeln auch höhere Bildraten (HFR) einen größeren Farbraum (WCG) und erweiterten Dynamikumfang (HDR) forderten. Statt immer nur mehr, auch immer »bessere« Pixel, wie es einige davon ganz griffig formulierten.

»HDR-HD IST EIN GRÖSSERES THEMA BEI DER DIESJÄHRIGEN NABSHOW, ALS DIE MEISTEN DAS ERWARTET HÄTTEN.« Getrieben von der Display-Industrie bewegte sich aber dennoch nahezu die gesamte Industrie bisher in der gleichen Marschrichtung: Erstmal durchgängig UHD/4K, dann kommen die anderen Aspekte, so lautete die Devise. Und überhaupt sollen erst mal Dolby, Technicolor, Samsung und die Standardisierungsgremien untereinander ausfechten, wie WCG und HDR zum Endkunden kommen. Und nun kommt die Rolle rückwarts: HDR-HD ist ein größeres Thema bei der diesjährigen NABShow, als die meisten 42

das erwartet hätten. Man kombiniert also — anders als bisher — nicht mehr nur UHD/4K mit HDR und WCG, sondern auch HD. Und für viele Anwender ergibt es durchaus Sinn, Datenraten und Workflows in HD, die man beherrscht, mit HDR und WCG zu kombinieren. Dieser Schritt erfordert geringere Investitionen, aber er wirkt sich beim Endkunden deutlich sichtbar aus. So profitieren von UHD letztlich nur diejenigen Endkunden wirklich, die ein sehr großes Display aus relativ geringem Abstand betrachten. Die klassische Wohnzimmersituation und der klassische TV-Konsum insgesamt, sind aber laut Marktforschung eher auf dem absteigenden Ast. Der Bewegtbildkonsum auf mobilen Geräten hingegen nimmt weiter zu. Da ist es natürlich ein echter, greifbarer Vorteil, dass HDR-Bilder auch auf dem Handy sichtbar besser aussehen können, während man zwischen HD und UHD auf kleinen Displays eben keinen Unterschied erkennt. Mit vertretbarem Aufwand eine große Wirkung auf einer Vielzahl von Endgeräten zu erzielen — das klingt in den Ohren vieler TV-Anbieter ganz sicher interessanter, als: Schmeiß einen Großteil des vorhandenen Equipments und der Infrastruktur raus, lebe mit momentan geringerer Empfindlichkeit bei 4K-Live-Kameras, mit sehr viel höheren Datenraten und etlichen anderen Einschränkungen, wie etwa nur noch einem Viertel der Live-Quellen am Mischer — und erreiche damit eine Bildverbesserung, die man aber leider nur bei ziemlich großen Displays sieht. Wieso kam das nicht früher? Schließlich liegen die ersten realen Ansätze in dieser Richtung schon ein paar Jahre zurück: mit der Möglichkeit einiger Kameras, statt in Rec.701 im Log-Mode aufzunehmen, war eigentlich der Boden bereitet, aber über etliche Jahre hinweg endete der erweiterte Dynamikumfang in der Postproduction. Dort schuf er größeren Spielraum, schlug aber nur indirekt bis zum Endkunden durch.

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Nun soll es also wahr werden, dass der viel größere Dynamik­ umfang, den viele moderne Kameras schon lange bieten, auch auf den Displays der Endkunden zu sehen sein wird, von denen viele ihn ebenfalls schon längst darstellen könnten. Aber dafür war offenbar die Rolle rückwärts nötig — und ehrlich gesagt ist ja auch noch gar nicht sicher, wie das im einzelnen auf dem letzten Stück der Strecke umgesetzt wird: auf dem Weg vom Sender zum Endgerät. Hier tobt nämlich noch besagter Kampf darüber, wie denn sichergestellt werden kann, dass der einzelne Zuschauer immer das jeweils beste mit seinem Gerät darstellbare Bild zu sehen bekommt. Aber ein Anfang ist gemacht: Niemand beginnt schließlich seine Turnausbildung mit dem dreifachen Salto mit Schraube, sondern mit vergleichsweise einfachen Übungen wie etwa der Rolle rückwärts. Sie werden sehen.

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MEHR VON ALLEM – UND SCHNELLER ALS BISHER Editorial 16

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s gibt — neben den technischen Trends — bei Branchenmessen auch fast immer ein anderes Thema, das dann bei den unterschiedlichsten Pressekonferenzen und in Gesprächen fast durchgängig auftaucht: Das kann ein bestimmtes Wording sein, eine angesagte Managementfloskel oder ein neues Buzzword. Auch zum Auftakt der NAB2017 ist das so. Zum einen scheint das Wort »Broadcaster« aus der Mode zu sein. Jetzt ist plötzlich überall die Rede von News-Organisationen oder Media-Corporations. An diesem Wandel der Begriffe kann man natürlich einiges ablesen – oder vielleicht auch hineindeuten, je nach persönlicher Wahrnehmung. Der Broadcaster überträgt seine Inhalte – er verteilt, sendet oder verbreitet sie. Noch vor wenigen Jahren hatte er dabei eine Art Monopolstellung. Was zu welchem Zeitpunkt in welcher Form übertragen wurde, bestimmte meist nur der Broadcaster selbst – und nicht der Zuschauer. Heute ist nun plötzlich von News-Organisationen die Rede, wenn man große Sender meint. Eine News-Organisation ist, dem dabei offenbar zugrunde liegenden Verständnis nach, mittlerweile vor allem damit beschäftigt, ihre Inhalte so schnell wie möglich nach draußen zu bringen. Fernsehen oder Radio, sind dabei nur noch zwei von vielen Kanälen. Also raus damit in die Smartphone-Apps und in alle möglichen sozialen Netzwerke, die gerade angesagt sind – und das bitteschön optimiert fürs jeweilige Endgerät.

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Von Verteilungs-Monopol kann bei der News-Organisation also keine Rede mehr sein. Die Organisation ist vor allem mit Organisieren beschäftigt, damit die »Time to Air« so kurz wie möglich wird — denn der Erste hat die bessere Quote, die höheren Klickraten, die meisten Likes. Dieser Wandel, weg vom Broadcaster hin zur Organisation, schlägt sich auch in vielen neuen Produkten nieder. Die Hersteller suchen und entwickeln Lösungen, mit denen ihre Kunden — die News-Organisationen — noch schneller werden können.

»MATERIAL AUS VIELEN QUELLEN UND IN ZAHLLOSEN FORMATEN, DIREKT VERARBEITEN ZU KÖNNEN, IST EIN THEMA, WEIL ES DIE TIME-TO-AIR VERKÜRZT.« Sam etwa zeigt mit Vibe ein System, das die Ausspielung in Apps und Social-Media-Kanäle erleichert, Vizrt, Avid — und eigentlich fast alle anderen auch, bieten oder suchen zumindest Wege und Möglichkeiten hierfür. Auch die Gegenrichtung wird immer wichtiger: Material aus vielen Quellen und in zahllosen Formaten, direkt verarbeiten zu können, ist ein Thema, weil es die Time-to-Air verkürzt. Sony etwa umschreibt seine neue Cloud-Lösung XDCAM Air mit dem Slogan »Tell your story as it’s happening«. Besser kann man diese Entwicklung kaum zusammenfassen. Sie werden sehen.

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KOCHENDE AFFEN

KOCHENDE AFFEN Editorial 17

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er Mensch, so wird es manchmal definiert, sei letztlich nur ein Affe, der das Kochen gelernt habe.

Mit dieser Aussage kann man natürlich darauf abheben, wie wichtig das Kochen als Kulturtechnik ist und dass uns als Art das Kochen auf vielfältige Weise beeinflusst hat: von den erweiterten Möglichkeiten der Ernährung, bis hin zu den Aspekten, die man auch heute noch aus den Worten »Tischsitten« und »Kochkunst« ableiten kann. Man kann diese Aussage aber natürlich auch auf diverse andere Weisen deuten und interpretieren. So leben wir in einer Zeit, in der man zwar im Fernsehen in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen Menschen beim Kochen und Backen zuschauen kann. Und »Live-Hacks« darüber, wie man Dinge zubereitet, aber auch schon darüber, wie man am besten eine Avocado oder Mango schält, erzielen monströse Klickraten. Gleichzeitig steigt aber der Konsum von Fertiggerichten, es wird also im Privatbereich immer weniger gekocht, sondern nur noch erhitzt. Wenn man so will: ein klarer Kulturverlust.

»DER MENSCH, SO WIRD ES MANCHMAL DEFINIERT, SEI LETZTLICH NUR EIN AFFE, DER DAS KOCHEN GELERNT HABE.«

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Bei den Affen geht es hingegen in die andere Richtung. Jüngere Forschungsarbeiten scheinen zu belegen, dass Schimpansen tatsächlich über ausreichend kognitive Fähigkeiten verfügen, um auch kochen zu können. Und es gibt sogar Experimente, die offenbar belegen: Affen würden gern kochen, für diesen entscheidenden Schritt fehlt ihnen aber die Beherrschung des Feuers. Die einen würden also gern tun, worauf die anderen gar keine Lust mehr haben. Würden kochende Affen als erstes eine getrüffelte Entenbrust auf einem Spiegel von Passionsfruchtgelee an einem Langustenschaum zubereiten? Eher nicht. Sollten wir also, wenn neue »Enabling Technologies« verfügbar werden, erwarten, dass damit gleich sehr ausgereifte, verfeinerte Produktionen über elaborierte Sujets produziert werden? Wohl eher nicht. Vermutlich müssen wir noch geraume Zeit warten, bis sich neben der Filmbranche, die sich in weiten Teilen nur noch in endlosen Sequels und Merchandises selbst reproduziert, eine wirklich neue Erzählform herausbildet. Vielleicht kommt das aus dem Umfeld von 360-Grad-Videos, VR- und AR-Applikationen? Interessante Ansätze dafür gibt es. Sie werden sehen.

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12G SDI VS. IP? Editorial 18

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n den Hochzeiten der Magnetbandtechik lieferten sich die Hersteller große Schlachten um die Vormachtstellung am Markt: Welches Format würde sich jeweils durchsetzen und zum Defacto-Standard entwickeln? War diese Frage erst einmal geklärt, klingelte beim Gewinner die Kasse. Das — und nicht nur das — ist heute anders. Diese Art der großen Formatschlachten gehört mittlerweile längst der Vergangenheit an. Aus der Außensicht kann man mitunter den Eindruck gewinnen, dass einige Hersteller stattdessen heutzutage mehr mit sich selbst beschäftigt sind, als mit der Konkurrenz. Nach Abschluss der Digitalisierung und mit zunehmender IP-Vernetzung und Cloudifizierung der Medienbranche, haben sich zudem ganz plötzlich viele neue Baustellen aufgetan, die sehr viel Aufmerksamkeit erfordern, wenn man als Hersteller nicht abgehängt werden will. Manche, die früher die Maßstäbe setzten, hecheln nun hinterher und müssen darum kämpfen, weiter mitspielen zu dürfen. Wenn man aber genauer hinschaut, dann werden in der Branche immer noch etliche Schlachten geschlagen. Beim Thema HDR stehen sich verschiedene Lager unversöhnlich gegenüber. Und auch so elementare Dinge wie Schnittstellen sind kampfumtost. Die einen halten den vollständigen Wechsel hin zur IP-Technik für richtig, sinnvoll und letztlich sogar unabdingbar, wenn man mit höheren Auflösungen, höheren Bildraten, erweiterten Farbräumen, höherer Dynamik und höherer

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Quantisierung (statt 8 Bit lieber 10, 16 oder noch mehr Bit) umgehen will. Andere wiederum befürchten durch die IP-Technik einen technischen Overkill, einen unnötig hohen Level von Komplexität, besonders wenn es um kleinere Installationen oder mobile Produktionen geht. Außerdem geht es einigen auch mit der Standardisierung im IP-Bereich nicht schnell genug voran. Aus dieser Betrachtungsweise könnte es vielleicht doch ganz sinnvoll sein, zumindest in Teilbereichen weiter auf SDI zu setzen – wenn auch in der gepimpten 12G-SDI-Variante.

»ES GIBT HERSTELLER, DIE SICH GANZ KLAR FÜR IP POSITIONIEREN. UND ES GIBT ANDERE, DIE SDI NOCH LÄNGST NICHT FÜR TOT ERKLÄREN.« Und so sind in den vergangene Monaten Projekte aus beiden Welten Realität geworden, die also jeweils unterschiedliche Ansätze verfolgen. Derzeit scheinen beide Wege zu funktionieren und ihre Berechtigung zu haben. Das spiegelt sich auch bei der NAB wider: Es gibt Hersteller, die sich ganz klar für IP positionieren und entsprechende Produktpaletten präsentieren. Und es gibt andere, die SDI noch längst nicht für tot erklären und durchaus noch Potenzial für weitere Produkte sehen. Auch ein drittes Lager formiert sich: die Pragmatiker, die sagen, dass es längere Zeit beides geben wird und deshalb auch bei den Produkten diese Funktionalität integriert werden müsse: mit 12G-SDI- auf der einen und IP-Interfaces auf der anderen Seite. Zumindest die Option dazu müsse der Kunde haben. Sie werden sehen. zurück zum Inhalt 51

SOCIAL MEDIA — GEKOMMEN UM ZU BLEIBEN Editorial 19

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as man unter dem Oberbegriff Social Media versteht, war einem großen Teil der klassischen Medien lange Zeit suspekt, wurde — und wird teilweise immer noch — kritisch beäugt und als Modeerscheinung betrachtet. Die kritische Beobachtung ist aus verschiedenen Aspekten heraus ganz sicher richtig und begründet, aber die grundlegende Skepsis hat sich bei den meisten mittlerweile doch gelegt oder zumindest relativiert: Man versucht, wenigstens mitzuschwimmen. Manche klassische Medien setzen sogar sehr stark auf die neuen, zusätzlichen Kanäle und sehen darin ein Mittel, die eigene Zukunft zu sichern. Kein Wunder, dass sich das auch in den Werkzeugen und Arbeitsweisen der klassischen Medien niederschlägt. Schon länger ist es dabei ein Thema, Funktionen zu integrieren, die es vereinfachen, vorhandenen oder neu produzierten Content auf einfache Weise auch in den sozialen Medien zu verbreiten. Statt komplizierter manueller Aufbereitung und individueller Transcoding-Schritte läuft das zunehmend automatisiert auf Basis cleverer Algorithmen ab.

»ZEITGEMÄSSE TV-PRODUKTIONSLÖSUNGEN, UM EIN KONKRETES BEISPIEL ZU NENNEN, MÜSSEN ETWA AUCH IN DER LAGE SEIN, HOCHKANT-VIDEOS ZU VERARBEITEN.« 52

Zur NAB2017 nun war Social Media aber auch unter einem anderen Aspekt ein Thema: nicht mehr nur als Output oder simpler Feedback-Kanal, sondern als Quelle. Natürlich ist das nicht ganz neu und es werden etwa schon lange Tweets oder Facebook-Inhalte auch in der TV-Berichterstattung zitiert und verwendet. Nun aber hat das Ganze ein anderes technisches Niveau und eine tiefere Integrationsstufe erreicht. So müssen zeitgemäße TV-Produktionslösungen, um ein konkretes Beispiel zu nennen, etwa auch in der Lage sein, Hochkant-Videos zu verarbeiten. Das klingt so banal, wie es im Grunde auch widersinnig ist, aber es ist in der Praxis nun mal oft so, dass die aktuellsten oder einzigen Bilder eines Ereignisses Hochkant-Handy-Videos sind. Werden diese aber vom Produktionssystem automatisch in 16:9-Bilder umgewandelt — mit unscharfer Randergänzung, vor einem Verlauf oder einer Grafik — und nur so verarbeitet und weitergereicht, hat man spätestens dann ein Problem, wenn man am Ende selbst wieder die sozialen Kanäle damit füttern will: Man hat nur briefmarkengroße Zappelbildchen oder einen x-fach transkodierten und ausgeschnittenen Clip zur Verfügung. Viel besser ist es natürlich, wenn der Clip im System in Originalqualität erhalten bleibt und jeweils bei Bedarf gewandelt und angepasst wird — auch wenn das Original ein Hochkant-Video ist. Diese Funktionalität muss aber erst mal integriert und gut bedienbar bereitgestellt werden — und das ist nun zunehmend der Fall. Die Broadcast-Systeme werden in dieser Beziehung offener und leistungsfähiger. Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine neue Funktion im Redaktionssystem OpenMedia von Annova, das in Deutschland unter anderem in der ARD weit verbreitet ist. Hier gibt es nun Funktionalität, die helfen soll, »Fake News« zu identifizieren — oder zumindest erste Anhaltspunkte für eine Einordnung zu geben, ohne dass jeder Redakteur das wieder von Null an recherchieren müsste. Bei Meldungen aus dem Social-Media-Spektrum wird hierfür

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geprüft, aus wie vielen Quellen die Meldung ursprünglich kommt, es gibt Bewertungen der Quellen, der Redakteur kann sehen, ob die Quellen in der Regel neutral berichten oder eine klare politische Ausrichtung haben. Auch das ein Indiz dafür, dass sich die Sichtweise etabliert, Social Media sei gekommen, um zu bleiben. Sie werden sehen.

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10.000 NEWS VERÖFFENTLICHT — UND KEIN ENDE ABZUSEHEN Editorial 20

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eute mal ein Editorial ganz in eigener Sache: Laut unserem Content-Management hat film-tv-video.de in dieser Woche die 10.000ste Meldung veröffentlicht. Ob der Wert ganz exakt ist, das wissen wir ehrlich gesagt nicht so genau — aber die Größenordnung sollte stimmen.

»ES KOMMT EBEN EINIGES ZUSAMMEN, WENN MAN SO ÜBER DIE JAHRE AM BALL BLEIBT.« Wir sind seit Herbst 1999 online und haben seither mehrfach das Content-Management und auch das Online-Design grundlegend verändert. Dabei haben wir aber stets Wert darauf gelegt, die Inhalte mitzunehmen, auch wenn das teilweise mit durchaus nennenswertem Aufwand verbunden war. Insofern sollte die Zählung des aktuellen CMS zumindest näherungsweise stimmen. Es kommt eben einiges zusammen, wenn man so über die Jahre am Ball bleibt: Neben den 10.000 veröffentlichten Meldungen sind das mehr als 30.000 Fotos in unserer Online-Datenbank und insgesamt rund 750 Videos, davon 655 in unserem Youtube-Kanal. Mal sehen, wie weit wir insgesamt noch kommen. Bisher ist kein Ende abzusehen — auch wenn es bisweilen eine Herausforderung ist, film-tv-video.de weiter zu entwickeln und zu betreiben. 55

Aber wenn es mal ein kleines Jubiläum gibt, dann ist es doch auch erlaubt, ganz kurz inne zu halten und sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen. Der nächste Wechsel beim Online-Design steht übrigens in Bälde bevor, das CMS behalten wir dieses mal aber bei … Sie werden sehen.

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DIE LEINWAND SOLLTE GRÖSSER SEIN ALS DER STUHL, AUF DEM MAN SITZT

DIE LEINWAND SOLLTE GRÖSSER SEIN ALS DER STUHL, AUF DEM MAN SITZT Editorial 20

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er spanische Regisseur Pedro Almodóvar ist derzeit Jurypräsident des Filmfestivals in Cannes. Bei einer Presse­konferenz betonte er, dass es wichtig für ihn sei, dass man Filme im Kino sehen könne, auf einer großen Leinwand, vor der man sich klein und demütig fühle. Das spitzte er zu einem Statement zu, das diesem Text als Titel dient. Hintergrund ist ein Konflikt darüber, dass auf dem Festival zwei von Netflix mitproduzierte Filme laufen, die der Streaming-Anbieter aber gar nicht in französischen Kinos zeigen wird. Das geschieht, um eine gesetzliche Regelung zu umgehen, die das Kino in Frankreich schützen soll: Filme dürfen dort erst mehrere Jahre nach dem Kinostart per Streaming angeboten werden. Den Preis eines Filmfestivals an einen Film zu verleihen, der gar nicht im Kino läuft, das will Almodóvar nicht mitmachen. Er schließt damit letztlich die von Netflix mitproduzierten Filme vom Gewinn eines Filmpreises in Cannes aus: keine goldene Palme für Netflix also. Konkret betroffen sind die Filme »Okja« von Bong Joon-ho und »The Meyerowitz Stories« von Noah Baumbach, die in diesem Jahr in Cannes laufen.

»MIT SEINEM ANGRIFF AUF NETFLIX SETZT SICH ALMODÓVAR AN DIE SPITZE DER NETFLIX-KRITIKER.«

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Dass Almodóvar sich auch mal über gängige Konventionen hinwegsetzt, überrascht die Kenner seines Werks ganz sicher nicht. Der spanische Regisseur hat sich immer was getraut und ein Leben lang Filme gemacht, die sehr oft nicht der gängigen Norm entsprachen. Für »Alles über meine Mutter« erhielt er aber dennoch höchste Weihen und wurde mit einem Oscar ausgezeichnet. Mit seinem Angriff auf Netflix setzt sich Almodóvar an die Spitze der Netflix-Kritiker. Er ist aber keineswegs allein mit seiner Haltung: Ab kommendem Jahr werden im Wettbewerb in Cannes keine Filme mehr berücksichtigt, für die es keine Filmverleihvereinbarung für Frankreich gibt. Ist das richtig? Nach Widerspruch muss Pedro Almodóvar nicht lange suchen, schon sein Jury-Kollege, der Schauspieler Will Smith, sieht das alles ganz anders. Er betrachtet Netflix als Ergänzung, nicht als Ersatz fürs Kino. Er glaubt nach seinen eigenen Worten nicht daran, dass das Kino unter Streaming-Diensten leide. Vielleicht liegt die wahre Quelle des nun aufgebrochenen Konflikts ohnehin an ganz anderer Stelle, ist vielleicht vielmehr ein Generationen-Konflikt, der sich teilweise auch aus einer verklärenden Sicht dessen nährt, was man jeweils unter »Kino« versteht. So haben etwa Streaming-Dienste bislang bei ihren Produktionen in sehr vielen Fällen deutlich mehr Mut und Experimentierfreude gezeigt, als die Fernseh-, aber auch als weite Teile der Filmindustrie. Während Hollywood fast nur noch Sequels und endlos aufgewärmte FranchiseProduktionen zuwege bringt, laufen bei den Stream­ ingDiensten auch Serien und Filme, die neue Wege beschreiten und auch mal etwas wagen. Wenn es statt eines Superhelden-Epos nach dem anderen, auch noch andere Stoffe schaffen, verfilmt zu werden, kann man das auch positiv finden. Sie werden sehen. zurück zum Inhalt 59

NUR NOCH BUSINESS-LEUTE UND COMPUTER-HEINIS ... Editorial 22

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eute beginnt in Los Angeles die Cine Gear Expo: eine Messe, die sich schwerpunktmäßig mit Filmtechnik beschäftigt. Einige Kamerahersteller halten diese Messe mittlerweile für wichtiger als etwa die NAB, wenn es darum geht, ihre neuesten Modelle vorzustellen.

»EINER VERANSTALTUNG IN LOS ANGELES, IM HERZEN DES HOLLYWOOD-SYSTEMS, WIRD ALSO GANZ OFFENBAR EINE BESONDERE STRAHLKRAFT FÜR DEN KAMERA­ BEREICH ZUGESCHRIEBEN.« So wird Canon etwa dort seine brandneu angekündigte C200 erstmals öffentlich zeigen. Auch Panasonic hat sich die Cine Gear Expo ausgesucht, um seine zur NAB noch recht vage angekündigte und in einer Vitrine am Stand unter einem Tuch versteckte Mystery-Cam zu präsentieren. Von Sony sind ebenfalls Neuheiten für den Cine-Bereich zu erwarten, so hört man. Einer Veranstaltung in Los Angeles, im Herzen des Holly­ wood-Systems, wird also ganz offenbar eine besondere Strahlkraft für den Kamerabereich zugeschrieben. Wahr ist natürlich, dass es kaum sonstwo in der Welt so viele Filmemacher auf einem Haufen gibt wie dort.

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Gleichzeitig wird aber viel gejammert: Die Branche insgesamt und auch die Cine Gear Expo seien eben schon längst nicht mehr, was sie mal waren. Überall würden nur noch Computer gezeigt, manche davon eben in Form von Kameras. In Zeiten, in denen ganze Filme nahezu vollständig vor Greenscreen gedreht werden, ist an dieser Sichtweise tatsächlich etwas Wahres dran. Trotz solcher Bedenken bietet eine Messe wie die Cine Gear Expo im Vergleich zu großen Messen wie NAB oder IBC möglicherweise tatsächlich ein besseres Forum für Hersteller, die gezielt den Filmmarkt bedienen wollen. Und so kommt es, dass die einen den früheren Ausgaben der Cine Gear Expo nachweinen und die aktuelle Ausgabe nicht mehr besuchen, weil sie dort die Exklusivität einer eingeschworenen Gemeinde vermissen — während gleichzeitig andere wieder verstärkt hinreisen, weil sie hoffen, dort endlich wieder mal echte, professionelle Filmemacher als Besucher an den Ständen zu haben. Alles eine Frage der Perspektive. Sie werden sehen.

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OB GUT ODER SCHLECHT: DIE LAGE WIRD SICH ÄNDERN Editorial 23

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er ständige Wandel aller Dinge, er lässt sich natürlich auch in unserer Branche trefflich beobachten — besonders deshalb, weil er hier vergleichsweise zügig vor sich geht. Da liegt es durchaus nahe und ist verständlich, nach einfachen Leitlinien zu suchen. Sprichwörter, Binsen- und Branchenweisheiten helfen aber meist nicht weiter, besonders dann nicht, wenn ein größerer Wandel stattfindet und man eben in einer schnelllebigen Branche unterwegs ist.

»WAS FRÜHER MIT DEDIZIERTER HARDWARE ERLEDIGT WURDE, HAT SICH IN WEITEN TEILEN IN RICHTUNG SOFTWARE VERLAGERT.« Also muss man versuchen, aus Fehlern in der Vergangenheit zu lernen und die Gegenwart richtig zu deuten und zu analysieren. Nur so kann man etwas mehr Sicherheit bei Entscheidungen für die Zukunft gewinnen — und abschätzen, wie sich wohl die allgemeinen Trends auf die eigenen Aktivitäten auswirken. Dabei ist eine wichtige Grundlinie in unserer Branche klar zu erkennen: Was früher mit dedizierter Hardware erledigt wurde, hat sich in weiten Teilen in Richtung Software verlagert. Der nächste Schritt ist das, was meist als Cloud beschrieben wird. 62

So mancher zuckt dabei zurück — und natürlich gibt es Aspekte, die einem dabei Schauer über den Rücken jagen können. De facto wird es aber nichts nutzen, einfach nur in Abwehrhaltung zu gehen — außer man steht kurz vor der Rente und die Zukunft des Unternehmens ist einem gleichgültig. In allen anderen Fällen wird man sich damit beschäftigen müssen — selbst wenn man nur nach Auswegen und Alternativen suchen will. Natürlich wird es auch weiterhin spezialisierte Hardware geben: Mischpulte etwa kann man im Live-Einsatz nicht so einfach ersetzen und ein Smartphone ist ganz sicher auch nicht die richtige Kamera für jeden Zweck. Aber selbst bei den gewählten Beispielen hat sich der Schwerpunkt verschoben: Die Software bestimmt und verändert auch hier heutzutage viel stärker die Funktionalität, als die Hardware — auch bei Mischern und Kameras. Und auch in anderen, eher signaltechnischen Bereichen wird es noch geraume Zeit spezialisierte Hardware geben. Die Frage wird aber sein, ob diese notwendigerweise auch dort stehen muss, wo man ihre Funktionalität nutzt. Unter diesem Aspekt bekommt der Cloud-Begriff für unsere Branche einen neuen Klang. Früher hieß das Stichwort mal Rechenzentrum, heute werden flottere Begriffe verwendet, aber die Grundidee ist gleich: Man trennt Bedienoberfläche und Processing-Leistung — und vielleicht muss man die Hardware gar nicht mehr besitzen, sondern mietet lediglich die Leistung, die damit erbracht wird. Natürlich birgt das auch Risiken, das soll hier keineswegs verschwiegen werden. Nur so kann man aber verteilte Strukturen aufbauen, deren Leistung sich bei Bedarf bündeln und effizient nutzen lässt. Das geht auf dem eigenen Firmengelände, aber natürlich letztlich auch über große Entfernungen. In vielen IT-Bereichen ist das längst Standard. Wenn aber in einem »Rechenzentrum« Broadcast-Plattformen zur Verfügung stehen, auf die man — quasi wie bei

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einem Smartphone — jeweils die passende App laden kann, dann macht das auch Broadcast-Installationen sehr viel flexibler, als sie das heute sind. Der Sender braucht UHD statt HD? Sie wollen ihre Inhalte in einem anderen Format oder Codec als bisher anbieten? Ach so, nicht als Ersatz, sondern zusätzlich? Was heute ein teurer Alptraum werden kann, der einen nicht enden wollenden Rattenschwanz nach sich zieht, wird in Zukunft zwar in den allermeisten Fällen auch nicht einfach auf Knopfdruck und kostenlos möglich sein, aber wesentlich schneller und günstiger. Die ersten Schritte in dieser Richtung sind gemacht — und wer am Ball bleiben will, muss mitgehen. Sie werden sehen.

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KAUDERWELSCH UND FACHCHINESISCH Editorial 24

A

ls Fachjournalist wandelt man in seinen Texten mitunter auf schmalen Pfaden: Wer alles und jedes bis ins Detail erklärt und erläutert, der schreibt letztlich langatmige, nur schwer lesbare Texte, die zudem den Insider — also die wichtigste Lesergruppe eines Fachmediums — in weiten Teilen langweilen, weil sie redundant sind und zum x-ten mal erzählen, was der Leser eh schon weiß. Taucht man aber zu tief in die Fachwelt ein, wirft mit zahllosen Fachbegriffen um sich und setzt sehr viele Kenntnisse beim Leser voraus, dann wird der Zugang erschwert, man wird unverständlich und beschränkt seine Zielgruppe sehr stark. Ein ewiger Kampf also, bei dem wir zwar im OnlineBereich über eine zusätzliche Waffe verfügen, weil wir etwa ins Lexikon, auf frühere Artikel oder andere, externe Quellen verlinken können, was aber wiederum ebenfalls den Lesefluss stören kann und neue Fehlerquellen öffnet.

»ALS FACHJOURNALIST WANDELT MAN IN SEINEN TEXTEN MITUNTER AUF SCHMALEN PFADEN.« Im gleichen, ewig währenden, redaktionellen Kampf wurzeln auch viele Entwicklungen in anderen Medien. Eine der Ausgeburten ist etwa ein schon lange virulenter Trend hin zur vermeintlich lustigen Präsentation von Wetterinformationen, der sich mittlerweile allem Anschein nach

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verselbständigt hat. Da lesen etwa bei vielen Radiosendern die Moderatoren in albernem Duktus die Wetterinfos vor und versuchen krampfhaft, lustige und ungewöhnliche Formulierungen zu finden. Wie man dazu steht, ist ganz sicher Geschmacksache — und eine gewisse Individualität in der Präsentation ist sicher nicht falsch. Wenn aber in einem Wetterreport die Fakten untergehen, weil die Vorhersage glucksend und pseudo­ fröhlich vorgetragen wurde, dürfte das an den Bedürfnissen der meisten Hörer und Zuschauer vorbeigehen. Das grundlegende Problem der Wettervorhersagen: Das Wetter an sich ist leider gar nicht lustig. Es ist halt das Wetter — das man am besten mit ein paar dürren Zahlen und Fakten beschreiben kann. Ein anderes Beispiel: »Der MDAX notierte vorbörslich etwas leichter.« Eine letztlich so gut wie nichtssagende Kauderwelsch-Information. Wer sich wirklich für die Börse interessiert, dem nutzt das gar nichts — und ganz genauso ist der Nutzwert für alle, die sich nicht für die Börse interessieren. Vielleicht könnte man hier mal ganz generell die Frage anschließen, welche Berechtigung Börsennachrichten heute noch im normalen TV- und Radioprogramm haben: Wer seine Börseninfos daraus bezieht, der ist definitiv nicht wirklich an der Börse aktiv — so viel ist sicher. Und interessiert es vom großen Rest irgendjemanden? Sorry Anja Kohl und Valerie Haller, ist nicht persönlich gemeint ... Zurück zum ewigen Kampf.

Sie werden sehen. zurück zum Inhalt

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WERBE-IKONE, MARKENBOTSCHAFTER, INFLUENCER Editorial 25

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n den 60er- und 70er Jahren trat Mr. Pithey in Werbespots von Tchibo auf. Unermüdlich testete er auf der ganzen Welt Bohnen, um die Qualität des Kaffees sicherzustellen. Tante Tilly, Klementine, Dr. Best und der Marlboro-Mann sind andere Werbefiguren dieses Typs, die im Lauf der Zeit ikonischen Charakter erreichten. Parallel dazu wird auch schon immer mit Promis geworben: An Marika »Hormocenta« Rökk und Marianne »Goldkante« Koch werden sich die meisten nicht mehr erinnern, aber dass Steffi Graf genüsslich Barilla-Nudeln huldigte, Boris Becker im AOL-Werbespot »schon drin« war im Internet und Franz Beckenbauer kurzzeitig nicht mehr wusste, ob schon wieder Weihnachten ist, das dürften viele Leser noch in Erinnerung haben.

»HEUTE SIND WIR ABER AN ANDERER STELLE AN EINEM PUNKT ANGEKOMMEN, WO DAS, WAS FRÜHER SCHLEICHWERBUNG WAR, DER NORMALFALL IST.« Das zieht sich bis heute durch: Nespresso trinken, Burger essen, Autos umparken. Dass es sich dabei um eine Scheinwelt handelt und die »Markenbotschafter« bezahlt werden, ist letztlich jedem klar, der nicht mehr sehr, sehr jung und/oder unfassbar naiv ist. Schließlich gab und gibt es ja auch immer einen gesetzten Rahmen: die Plakatwand im Stadtbild, den Werbeblock im Radio und Fernsehen. 67

Heute sind wir aber an anderer Stelle an einem Punkt angekommen, wo das, was früher Schleichwerbung war, der Normalfall ist. Social Media hat diesen Trend massiv befeuert: Youtuber und Instagram-Stars mit Millionen Followern oder Abonnenten in einer meist jungen Zielgruppe sind nun mal optimal geeignet, um Werbebotschaften unters Volk zu bringen. Und so kommt es, dass neben Schauspielern, Sportlern und anderen Promis nun eben auch Social-Media-Stars für Produkte werben: Heute das Bild einer neuen Handtasche und morgen ihre neuen Fußballschuhe posten – und schon klingelt die Kasse beim Hersteller und bei der Werbefigur. Was wissen die Eltern schon, weshalb es nun genau dieses Paar Fußballschuhe, der spezielle Einhorn-Lipgloss, oder der superteure Gangster-Kapuzenpulli sein muss? Die Waffengleichheit ist dabei ausgehebelt: Die Zielgruppe erkennt Werbung nicht mehr als solche, der Rahmen fehlt, alles ist eins. Instagram etwa verzichtet komplett darauf, gekaufte Posts zu kennzeichnen. Und nur die wenigsten »Influencer« setzen auf Transparenz — ganz im Gegenteil: Sie werden für ihre Lobpreisungen bezahlt, tun aber so, also gäben sie nur ihre ganz persönlichen Testergebnisse oder praktische Shopping-Tipps weiter. Eine sehr schöne Form, dieses Thema aufzugreifen, hat das Manager Magazin gefunden, als es dieser Tage ein Interview mit dem Instagram-Star Caro Daur veröffentlichte. Dazu muss man wissen, dass Caro Daur rund 1,1 Millionen Follower auf Instagram hat und einen geschätzten Jahresumsatz von einer Million Euro damit macht, dass sie bestimmte Markenklamotten trägt, bestimmte Kosmetik verwendet, sich damit bei Festivals und Promi-Events sehen und ablichten lässt und das Ganze dann ausführlich auf Instagram dokumentiert. Caro Daur wollte im Interview nicht beantworten, wie viele ihrer Posts denn bezahlt seien und ob sie ihre bezahlten Posts auch markiere. Das Manager Magazin löste das so,

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dass es sowohl das freigegebene Interview, wie auch die unbeantworteten Fragen veröffentlichte. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten: Die einen freuten sich darüber, dass endlich mal jemand kritisch beim Thema Influencer-Marketing nachfragte, die anderen ärgerten sich über das Influencer-Bashing, das hier stattgefunden habe. Eine Frage muss aber in jedem Fall erlaubt sein: Wieso müssen TV-Sender, Printmagazine, Online-Plattformen und Radiosender Werbung und Product Placement kennzeichnen, während viele Social-Media-Stars und Influencer das nicht tun — und auch gar nicht müssen? Höchste Zeit für klare Regeln in der Rechtsprechung. Sie werden sehen.

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WIEDERKÄUER

WIEDERKÄUER Editorial 26

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eht es Ihnen auch so, dass Sie phasenweise immer wieder die gleichen Inhalte vorgesetzt bekommen? Mitunter wortgleich, von verschiedenen Seiten, immer nochmal? Dann wird ein Fehler im System sichtbar, der sich wie eine Seuche im Internet verbreitet. Bei vielen Plattformen, die sich einen journalistischen Anstrich geben, besteht die Hauptarbeit mittlerweile nur noch darin, andere Plattformen zu überwachen, Trends zu identifizieren und sich dann möglichst rasch dranzuhängen. Es wird geschaut, was »Trending« ist und was viele Zugriffe generiert — und das wird dann schnell nachgebaut.

»DIGITALE WIEDERKÄUER, DIE ALLES NIEDERTRAMPELN UND DABEI IMMER LAUTER »ME TOO« RUFEN, BEFINDEN SICH MASSIV AUF DEM VORMARSCH.« Dass erfolgreiche Ideen, Konzepte, Inhalte und Produkte kopiert werden, ist absolut nichts Neues. In Zeiten des Internets haben sich hierbei eben erweiterte, einfach nutzbare Möglichkeiten eröffnet. Das Ganze lässt sich teilweise sogar automatisieren und so kommt es, dass mittlerweile auf manchen Plattformen fast gar nichts anderes mehr gemacht wird, als zu kopieren und zu reproduzieren. Digitale Wiederkäuer, die alles niedertrampeln und dabei immer lauter »Me Too« rufen, befinden sich massiv auf 71

dem Vormarsch. Das hat mindestens zwei Konsequenzen: Das Netz wird geflutet mit den immer gleichen, vielfach multiplizierten, geteilten und weitergeleiteten Infos. Und gleichzeitig wird immer weniger echter, eigener Content produziert, weil es viel einfacher und billiger ist, sich bloß an etwas dranzuhängen und daran mit zu lutschen, als selbst etwas zu schaffen. Das wird manchmal als »Reduktion der Verschwendung journalistischer Ressourcen« umschrieben — meint aber in vielen Fällen leider nichts anderes als »Leute rauswerfen, Kosten reduzieren, mit kleineren Teams mehr Masse generieren« – und dabei alles per »cut, copy, paste« an Inhalten nehmen, was kommt – und bevorzugt natürlich solcherlei Inhalte, mit denen man direkt Geld verdienen kann. Diese Entwicklung killt langfristig weite Teile der Recherche und des Journalismus. Wieso noch Geld und Mühe in echte Inhalte investieren, wenn man durch ein bisschen Software und ein paar billige Praktikanten, die zusammen das Wiederkäuen erledigen, Traffic generieren kann? Einfach Vorgefertigtes posten und weiterleiten, ohne es zu hinterfragen, zu relativieren, in einen Zusammenhang zu stellen — das spiegelt Informationsvielfalt nur vor. Zudem werden so oft Themen mit einer Relevanz aufgeladen, die ihnen eigentlich gar nicht zukommt, denn ob ein Thema »Trending« wird, hängt eben auch davon ab, wie oft es wiedergekäut wird. Warum sollte Sie das als Leser interessieren? Hauptsache, Sie bekommen die Infos, die Sie brauchen und haben wollen, gleichgültig, wie es im Einzelnen dazu kommt, oder? Wiederholungen sind zwar ein bisschen lästig, aber was soll's? Was aber am Ende all des Wiederkäuens übrig bleibt, das können Sie ziemlich gut bei Bergwanderungen besichtigen: eine wunderschöne Landschaft, aber gespickt mit unzähligen Kuhfladen, an denen sich Myriaden von Fliegen weiden. Sie werden sehen.

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»IM ALEXA« MELDET SICH ZUM DIENST Editorial 27

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eit einigen Monaten verkauft Amazon ein Produkt namens Echo: Das ist ein Lautsprecher, der dank integrierter Mikrofone auch zuhören kann. Das Besondere an Echo ist Alexa: eine eingebaute Spracherkennung, die als digitale Assistentin vermarktet wird — ganz ähnlich wie Siri in Apple-Produkten. Alexa »beantwortet Fragen, liest Hörbücher, liefert Nachrichten, Verkehrs- und Wetterinformationen, informiert Sie über örtliche Geschäfte, Sportergebnisse, Spielpläne und mehr mithilfe des Alexa Voice Service«. So umschreibt Amazon die Fähigkeiten seines Produkts. Um das zu schaffen, nutzen Assistenten wie Siri, Alexa und Cortana in Rechnern, Smartphones und Produkten wie Echo, Home Pod, Bixby und Google Home, eine permanente Online-Verbindung und die Server-Leistung des jeweiligen Anbieters. Um das Ganze noch weiter zu verbessern und zu verfeinern, haben die Entwickler begonnen, neben der reinen Spracherkennung auch immer mehr Intelligenz in diese Systeme zu packen. Fragen oder Befehle etwa, die Alexa hört und versteht, gibt sie ans Amazon-Rechenzentrum weiter, von wo sie nicht nur mit möglichst schnellen, genauen Antworten versorgt wird, sondern wo die Anfragen natürlich auch unter anderem Aspekten ausgewertet werden. So lässt sich Alexa sukzessive verbessern und sich individueller an den jeweiligen Besitzer anpassen, so dass das System seinen Nutzer akustisch immer besser versteht und auch seine Vorlieben besser kennenlernt. Noch, so berichten Kunden, hört Alexa manchmal ziemlich schlecht. Etliche Fragen kann sie nicht beantworten und manchmal hat sie auch schlichtweg Probleme, sich mit dem 73

Router zu verbinden. Aber insgesamt scheint Alexa bei den Kunden gut anzukommen – ungeachtet der Bedenken von Datenschützern und Verbraucherzentralen, die den Dauerlauschern ausgeklügelte Überwachung attestieren.

»WER ENTSCHEIDET, AUS WELCHEN QUELLEN DIE SYSTEME IHRE INFOS BEZIEHEN, WENN SIE ZU AKTUELLEN POLITISCHEN THEMEN BEFRAGT WERDEN? « Völlig gleichgültig, wie man insgesamt zu diesem Thema steht, wirft es zahlreiche Fragen auf, darunter auch einige, die für den Medienbereich essenzielle Bedeutung erlangen können. Wer entscheidet, aus welchen Quellen die Systeme ihre Infos beziehen, wenn sie zu aktuellen politischen Themen befragt werden? Oder zu Gesundheitsfragen? Ein Blick ins Internet kann uns auch hier schlauer machen: Wer am meisten zahlt, dem gehören die Keywords, dessen Werbung steht oben. So läuft das — und im Grunde wissen wir das auch alle. Alles nicht so schlimm? Dann nehmen wir mal als Beispiel ein Thema, bei dem die Nerven rasch blank liegen: »Alexa, soll ich meine Kinder impfen lassen?« Oder: »Alexa, soll ich mich vegan ernähren?«. Auch interessant: »Alexa, wie baut man einen Molotow-Cocktail?« Können wir die Antworten auf solche Fragen einem Google­ Algorithmus, der Zahlungskraft eines Konzerns oder den Vorgaben einer möglicherweise undemokratischen Regierung überlassen? Oder wollen wir riskieren, dass bei »falschen Fragen« statt des Pizzaboten eine Spezialeinheit vor der Tür steht? Oder dass schnell mal unsere Kreditkarten gesperrt werden? Sie werden sehen. zurück zum Inhalt 74

HILFE, MEIN STAUBSAUGER SPIONIERT MICH AUS! Editorial 28

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iesenskandal: Der Staubsaugroboter eines amerikanischen Anbieters speichert heimlich die Grundrisse der von ihm gesaugten Wohnungen, und der Hersteller will diese Daten nun weiterverkaufen. Wie bitte? Wer käme denn dafür als Käufer in Frage? Die internationale Vereinigung der Staubmilben, die einen Einzug in größere Objekte plant? Das Online-Portal, das Reinigungskräfte vermittelt und potenzielle Kunden direkt ansprechen möchte? Oder die Partnervermittlung, die besonders reinliche Kunden sucht? Auch wenn man eine skeptische und vorsichtige Haltung beim Umgang mit persönlichen Daten für sinnvoll und richtig hält: Der eingangs geschilderte »Skandal« klingt doch eher nach einer geschickten PR-Aktion des Herstellers. Klar, Verschwörungstheorien haben mehr denn je Hochkonjunktur, und die Angst vor Datenkraken ist sicher vielfach nicht unbegründet. Aber das? Vermutlich reiben sich derzeit die Marketingstrategen des Herstellers einfach nur die Hände, denn immerhin hat das Unternehmen erreicht, dass sein Name und der seines Produkts derzeit sehr präsent sind. Es handelt sich übrigens um den Staubsauger Roomba des Herstellers iRobot (was Sie bitte am besten gleich wieder vergessen oder Ihrer persönliche Negativliste hinzufügen, um diesen PR-Stunt zu konterkarieren ...) Trickreich und raffiniert ist es in jedem Fall, mit so einer Aktion jede Menge Gratis-PR zu generieren, indem man die Ängste und Vorbehalte vieler Leute füttert. 75

»SO ODER SO, UNS KOMMT DEFINITIV KEIN SAUGROBOTER INS BÜRO ... « Und wenn wir schon bei Ängsten sind: iRobot empfiehlt Besitzern eines Saugroboters, die auch einen Hund besitzen, den Putz-Roboter nicht für die Nachtarbeit zu programmieren. Wenn sich der kleine Welpe nämlich noch nicht ganz an die Hausordnung halten kann, könnte es mit Roomba zur »Poopocalypse« kommen. Und wie die aussieht, hat Jesse Newton aus Little Rock sehr eindrucksvoll geschildert. Sein Facebook-Post war übrigens ebenfalls ein Viralhit. So oder so, uns kommt definitiv kein Saugroboter ins Büro ... Sie werden sehen.

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PERSPEKTIVFRAGE

PERSPEKTIVFRAGE Editorial 29

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ie Welt soll gefälligst so sein, wie ich mir das vorstelle. Ganz offenbar hat diese Haltung in verschiedenen Ausprägungen im menschlichen Denken ihren festen Raum. Beim einen stärker, beim anderen schwächer. Mal direkter und naiver, mal indirekter und komplexer, bricht sie sich immer wieder auf verschiedene Weise Bahn. Und das findet natürlich auch in den sozialen Medien seinen Ausdruck. So kommt es etwa immer wieder mal vor, dass film-tv-­ video.de dort beispielsweise freundlich aufgefordert wird, seine Inhalte zu übersetzen. Und immer öfter findet das auch weniger freundlich statt. Mitunter auch in kyrillischen, arabischen, thailändischen Schriftzeichen oder mit dem eindeutigen Befehl »ENGLISH!!!!« Wer könnte nicht prinzipiell nachvollziehen, dass man Inhalte, die irgendwie interessant wirken, auch ganz gern verstehen möchte? Unterschiede gibt es eben darin, was man aus diesem Wunsch ableitet: »Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt«, oder »Service bitte, aber zackig«. Das Beispiel Sprache ist dabei sicherlich nochmal ein besonderes: Die Perspektive auf die jeweils eigene Muttersprache kann natürlich niemals objektiv sein. Aber selbst da können vielleicht ein paar Zahlen die Perspektive ändern: Weltweit gibt es laut Wikipedia rund 105 Millionen deutsche Muttersprachler. Das nachzuprüfen ist natürlich kaum möglich, aber gehen wir der Einfachheit halber mal davon aus, dass die folgenden Zahlen, die ebenfalls von Wikipedia stammen, ähnlich genau oder ungenau sind.

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Muttersprachler in aufsteigender Reihenfolge: französisch: 80 Mio, deutsch: 105 Mio, russisch: 150 Mio, portugiesisch: 240 Mio, englisch: 330 Mio, spanisch: 570 Mio, chinesisch (Mandarin): 955 Mio. Hut ab, wenn Sie das genau so eingeschätzt haben. Für alle anderen: Da zeigt sich, dass fast alles eine Frage der Perspektive ist. Und ja — natürlich verändert sich die Reihenfolge, wenn man nicht nur die Zahlen der Muttersprachler nimmt, sondern die der Sprecher. Dann machen etwa französisch und russisch deutliche Sprünge nach oben. Aber um eine Rangfolge der Wichtigkeit von Sprachen geht es ja in diesem Editorial gar nicht.

»DIE WAND DER FILTERBLASE BIETET EBEN BEIM EINEN MEHR UND BEIM ANDEREN WENIGER GUTEN DURCHBLICK — ABER GANZ TRANSPARENT IST SIE HALT FAST NIE.« Eine Überlegung noch: Vielleicht hat beim eingangs geschilderten Verhalten auch die personalisierte, digitale Filterblase, in der sich mittlerweile jeder von uns bewegt, einen Effekt. Die Wand der Filterblase bietet eben beim einen mehr und beim anderen weniger guten Durchblick — aber ganz transparent ist sie halt fast nie. Man hat also stets einen mehr oder weniger milchigen, getrübten Blick auf alles, was jenseits der Blase liegt. Das führt dazu, dass der Aufwand und die Anstrengung, über den Tellerrand hinauszublicken, immer größer werden. Wir versuchen es dennoch. Sie werden sehen.

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NETFLIX: EVERYBODY’S DARLING? Editorial 30

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er Streaming-Anbieter Netflix ist — wenn sich nicht grade Pedro Almodóvar als Jury-Präsident in Cannes über dessen Geschäftsgebaren aufregt — immer gut für positive Schlagzeilen: Mal ist es ein sagenhafter Abonnentenzuwachs, mal ein tolles Filmprojekt mit großen Namen, mal ein unerwartet hoher Quartalsgewinn und mal ein fettes Aktienplus. Läuft bei Netflix – könnte man meinen.

»LAUT LOS ANGELES TIMES SIND NEBEN DEN HOHEN LIZENZKOSTEN ABER AUCH DIE PRODUKTIONSKOSTEN DER NETFLIX-PRESTIGEPROJEKTE FÜR DEN SCHULDENBERG VERANTWORTLICH.« Dieser Tage machte allerdings eine andere Meldung die Runde. Laut eines Beitrags in der Los Angeles Times hat Netflix inzwischen 20 Milliarden US-Dollar Schulden angehäuft — und zwar unter anderem in Form langfristiger Verbindlichkeiten, etwa durch Lizenzvereinbarungen, die über lange Zeiträume laufen. So blieb demnach die Bilanz des börsennotierten Unternehmens strahlend, während die Wahrheit vielleicht etwas anders aussieht. Laut Los Angeles Times sind neben den hohen Lizenzkosten aber auch die Produktionskosten der Netflix-Prestigeprojekte für den Schuldenberg verantwortlich. 80

Dass Lizenzkosten für einen weltweit operierenden Stream­ ing-Anbieter ein großes Thema sind, kann man leicht nachvollziehen: Abzuklären, in welchem Land welche Serie oder Produktion für welchen Zeitraum und zu welchen Kosten angeboten werden darf – oder eben auch nicht – und die Einhaltung dieser Rechte sicherzustellen, erfordert ein leistungsfähiges Lizenzmanagement. Es entstehen als hohe Kosten für die Rechte selbst und für den Apparat, der sie aushandelt und umsetzt. Vielleicht ist auch das einer der Gründe dafür, dass Netflix ein großes Interesse daran hat, mehr eigenproduzierte Inhalte anzubieten. Aber auch das funktioniert nicht ohne Risiko: Die eigenproduzierten Hochglanz-Produktionen sind teuer – erfordern also ebenfalls hohe Investitionen. Ein anderer Aspekt: Serien zu produzieren, die sowohl lokale wie auch globale Märkte ansprechen, war niemals trivial, sondern schon immer sehr anspruchsvoll. Das gilt auch in Zeiten von Netflix noch. Was in Asien gut läuft, lockt in Europa vielleicht deutlich weniger Zuschauer. Europäische Filme, die hierzulande funktionieren, bleiben in den USA oft erfolglos. Mit solchen Themen muss sich auch Netflix intensiv auseinandersetzen. Dabei experimentiert der Anbieter in allen Richtungen. So kaufte das Unternehmen unlängst die Rechte an einem Dutzend Animes. Sie sollen im kommenden Jahr erscheinen – und beileibe nicht nur in Japan, dem Mutterland dieser Art von Animationsfilmen. Eine wachsende Zahl von Freunden dieses Genres fände sich weltweit, so Netflix. Animes haben aber noch einen weiteren, entscheidenden Vorteil: Sie lassen sich zu einem Bruchteil der Kosten realisieren, die etwa eine Hochglanzproduktion wie »House of Cards« verschlingt. Keine teuren Schauspieler, keine teuren Produktionsmittel — und dazu die Möglichkeit, leicht und vergleichsweise billig lokalisierte Sprachversionen zu produzieren. Vielleicht ist das ein Ansatz, den Netflix weiter verfolgen wird. Sie werden sehen.

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SCHALLMAUER DURCHBROCHEN. DIE NÄCHSTE BITTE ... Editorial 31

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nde vergangenen Jahres wechselte der 25-jährige brasilianische Fußballspieler Oscar für eine Transfersumme von rund 60 Millionen vom FC Chelsea zu Shanghai SIPG. Noch nie was von diesem Verein gehört? Das dürfte auf viele Clubs der chinesischen Liga zutreffen, aber weil es nicht nur superreiche Scheichs und Oligarchen, sondern auch superreiche Chinesen gibt, zahlen nun halt auch chinesische Vereine Rekordsummen für Spielertransfers. Fußballspieler, die nach China wechseln, müssen derzeit zwar meist noch viel Häme einstecken, aber die Tränen darüber können sie ganz gewiss mit ihren Kontoauszügen trocknen: Wo große Transfersummen aufgerufen werden, stehen schließlich auch große Gehälter im Raum. 60 Millionen sind natürlich fast noch überschaubar im Vergleich zu den 222 Millionen, die Anfang August 2017 über den Tisch gingen, als der brasilianische Nationalspieler Neymar vom FC Barcelona zu Paris Saint-Germain (PSG) wechselte. Ein neuer Transferhammer! Bis dahin war die höchste Ablösesumme für Paul Pogba bezahlt worden, als der von Juventus Turin zu Manchester United wechselte — für 105 Millionen Euro. Über solche Transfersummen herrscht auf verschiedenen Levels eine mitunter recht heftige Erregung. Fußball ist eben für viele — vor allem auf der Fanseite — eine Herzenssache, ein emotionales Ding. Interessant ist aber dennoch, dass nun manch einer so tut, als träfe es ihn völlig überraschend, dass es im Profifußball zu wesentlichen Teilen auch ums Geld geht. Als hätte es bis 82

»DIE HEILE WELT DES VEREINSFUSSBALLS, DIE SICH DIE FANS WÜNSCHEN, GIBT ES IN DEN HOHEN LIGEN SCHON LÄNGST NICHT MEHR. FUSSBALL IST EINFACH NUR EIN GROSSES BUSINESS GEWORDEN.« gestern noch eine vollkommen heile Welt des Vereinsfußballs gegeben, in der sich eben hin und wieder ein paar Freunde zum Kicken trafen. Mitunter wird auch gern die Frage gestellt, ob solche Summen noch in irgendeiner Relation zur Leistung der Spieler stünden. Das ist natürlich eine scheinheilige, fast alberne Frage, die in Wahrheit lauten muss: Lohnt sich das Invest­ ment, kann also mit dem Transfer mehr Geld generiert werden, als er kostet? Und hier kommt in letzter Konsequenz jeder einzelne Fan ins Spiel: Mit jedem Trikotkauf, jedem Pay-TV-Abo, jeder Eintrittskarte, jedem Merchandising-Artikel entscheidet er nämlich mit, ob und wie diese Geldmaschine weiter läuft. Die heile Welt des Vereinsfußballs, die sich die Fans wünschen, gibt es in den hohen Ligen schon längst nicht mehr. Fußball ist einfach nur ein großes Business geworden — wenn auch mit einer emotionalen Seite. Das mag der Fan nicht hören und bezichtigt die DFL, den DFB oder die großen Vermarktungs-Organisationen wie Fifa oder Uefa, den Fußball nur auszunutzen. Kritik ist in vielen Bereichen ganz sicher angebracht. Aber leider lauten die Gründe dafür, dass dieses Konzept aufgeht: Alle machen mit, viele finden es toll — und viele verdienen auch sehr gut daran. Auch Teile unserer Branche profitieren direkt oder indirekt von der Übertragung von Fußballspielen im Fernsehen und im Internet: Sollte man da nicht den Ball ganz besonders flach halten, wenn solche Themen diskutiert werden?

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Schließlich dreht sich eben auch in der Produktion der Spiele die Spirale immer weiter: 40 Kameras bei einem Fußballspiel? Her damit. VR und 360 Grad? Unbedingt. Für die Premiumspiele ist das Beste nun mal gerade gut genug — solange es jemanden gibt, der dafür bezahlt. Sie werden sehen.

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VOM ZWANG, ZU LESEN Editorial 32

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anche Menschen können nicht lesen. Das ist meistens ein großer Nachteil. Andere hingen müssen lesen. Immerzu, ständig und überall. Kaum tauchen irgendwo Buchstaben auf, lesen diese Menschen mit. Ein Nachteil muss das nicht sein, aber es kann durchaus mal lästig werden. Ein Beispiel: Kaum kommt ein Film mit Untertiteln, lesen viele Menschen zwanghaft mit — auch wenn der Ton eingeschaltet ist und sie die gesprochene Sprache verstehen. Das lenkt von den Bildern ab und es kann auch nerven, wenn gesprochenes und geschriebenes Wort voneinander abweichen. Selbst bei Plakaten fällt es den Betroffenen schwer, den Text zu ignorieren. Und bei den Headlines auf Zeitungskästen — und, und, und. Keine Sorge, wir wollen hier nicht zur Gründung von Selbsthilfegruppen aufrufen oder Spendengelder einwerben. Wir fühlen uns auch, obwohl hier in der Redaktion teilweise massiv betroffen, nicht besonders benachteiligt und hilfsbedürftig — zumindest nicht in dieser Sache. Obwohl man das Lesen erlernen muss, scheint die damit als mögliche Nebenwirkung einhergehende Zwangshandlung, ständig alles mitlesen zu müssen, tief verwurzelt zu sein: Schließlich bleibt dieses Verhalten oft auch bei demenzkranken Menschen erhalten, die schon viele andere Fähigkeiten eingebüßt haben: Die Chance, dass einem auf einer Demenzstation die Beschriftung des eigenen T-Shirts vorgelesen wird, scheint gar nicht so gering zu sein. 85

Auch Wiederholung stumpft die schwer vom Lesezwang Betroffenen ganz offenbar nicht ab, sondern kann sogar alles noch verschlimmern: Weil man sich unter Umständen Dinge einprägt, die man gar nicht lesen oder wissen wollte. Graffitis oder Parolen, die man schon hundertmal gelesen hat, liest man eben auch zum hundert und einten mal.

»AUCH IM DIGITALZEITALTER BLEIBT DER LESEZWANG NATÜRLICH VIRULENT. SCHAUEN SIE EINFACH MAL, WAS SMARTPHONES MIT MENSCHEN MACHEN.« Aber dennoch ist Lesen natürlich insgesamt eine absolut positive und gute Sache, sonst hätten Sie ja gar nicht bis zu diesem Punkt des aktuellen Newsletters vordringen können — und wir müssten unser Geld ganz anders verdienen. Also müssen wir eben alle versuchen, mit all den Nebenwirkungen des Lesens zu leben, den positiven, wie den negativen. Auch im Digitalzeitalter bleibt der Lesezwang natürlich virulent. Schauen sie einfach mal, was Smartphones mit Menschen machen. Sie werden sehen. zurück zum Inhalt

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JA IST DENN SCHON WIEDER WEIHNACHTEN? Editorial 33

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m Supermarkt ist natürlich fast schon Weihnachten, denn seit Ende August steht dort schon wieder Lebkuchen und anderes Weihnachtsgebäck in den Regalen. Aber vor der Wintersaison kommt natürlich noch eine Phase, in der etwa München von Menschen bevölkert wird, die ihre persönliche Interpretation von zünftiger Bajuwaren-Kluft vorzeigen und sich dabei mit Bier zu Wucherpreisen in 1-Liter-Krügen zuprosten: Oktoberfest halt. Amsterdam hingegen wird zeitgleich von Menschenmassen heimgesucht, die zu großen Teilen in winzigen Zimmerchen zu Wucherpreisen nächtigen, um tagsüber an einer Broadcast-Messe teilnehmen zu können: IBC halt. Alles ganz normal also: Jeder sucht nach Wegen, sich damit abzufinden und zu arrangieren, dass der Sommer in Mitteleuropa definitiv vorbei ist — und das führt teilweise zu skurrilem Verhalten, das Außenstehende nur schwer nachvollziehen können. Der Übergang muss halt irgendwie gestaltet werden. Letzteres wiederum gilt auch für die Branche insgesamt: Der Technologiewandel und auch der Wandel im Medienkonsum müssen gestaltet werden. Wie sich die Unternehmen dabei positionieren, welche Lösungen auf dem Vormarsch sind, wo die Hoffnungen und Trends liegen, das zeigt die IBC als größte europäische Broadcast-Messe — weshalb große Teile der Branche regelmäßig zum Herbstauftakt dorthin pilgern.

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»LANGWEILIG WAR DIE IBC IN DEN VERGANGENEN JAHREN EIGENTLICH NIE, NUR EIN BISSCHEN ERSCHÖPFT WIRKTE SIE PHASENWEISE.« In diesem Jahr, so deutet sich an, können die Anbieter neben vielen neuen Produkten, auch zahlreiche größere Installationen präsentieren, die sie in jüngerer Zeit bei namhaften Kunden weltweit realisiert haben: Viele Medienunternehmen modernisieren derzeit ihre Infrastrukturen, bauen um, investieren in moderne, schnellere Workflows, richten sich auf andere Zielmärkte ein. Langweilig war die IBC in den vergangenen Jahren eigentlich nie, nur ein bisschen erschöpft wirkte sie phasenweise, vom ständig schneller werdenden Takt der Erneuerung. Wo es in diesem Jahr definitiv viele Neuheiten geben wird, das ist der Kamerabereich: Sony, Panasonic und Canon hauen — in unterschiedlichen Bereichen — größere Neuheiten raus. Wird 2017 das IBC-Jahr der Kameras? Zumindest gibt es endlich auch mal wieder Neuheiten, die man anfassen kann. Und genau das wollen wir tun: film-tv-video.de wird wie gewohnt von der IBC berichten, Produkte in Augenschein nehmen und versuchen, Trends zu erspüren — auch so etwas wie ein Herbstritual. Mit dem kommenden Newsletter beginnt also die IBC-Berichterstattung: Ein paar Tage lang werden wir Ihnen dann in höherer Frequenz Informationen anbieten. Sie werden sehen.

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IN OR OUT? Editorial 34

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ieses Editorial handelt von einem Artikel, der nicht zustande kam und von einem noch sehr viel größeren Desaster, das im Hintergrund steht. Kurz nach dem Brexit-Votum im vergangenen Jahr befragte film-tv-video.de etliche international tätige Firmen in unserer Branche, die ihren europäischen Hauptsitz in England haben, zu Ihrer Meinung zu diesem Thema und zu möglicherweise zu erwartenden Konsequenzen des Votums für ihr Unternehmen. Es war klar, dass zu diesem frühen Zeitpunkt die meisten noch nichts Konkretes zu möglichen Plänen und Szenarien sagen wollten oder konnten, die daraus resultieren könnten. Es ging uns eher um ein Stimmungsbild der Branche. Von einem guten Dutzend angefragter Firmen erreichte film-tv-video.de gerade mal eine einzige ausführlichere Antwort. Sie kam von Ross, beleuchtete die Entscheidung von unterschiedlichen Seiten und bedauerte die möglichen Konsequenzen des Brexit. Alle anderen antworteten entweder gar nicht oder wiegelten in sehr knappen E-Mails ab: Der Brexit betreffe das Business aktuell nicht, die beteiligten Länder würden schon Lösungen finden, die den Handel förderten. Generell werde man alles tun, um die Kunden zufriedenzustellen. Das war's: Bloß nichts Konkretes sagen. So landete der geplante Beitrag sehr rasch auf unserem nicht gerade klein bemessenen Ideenfriedhof. Das meiste, was dort zur Endlagerung kommt, vergisst man im

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immer betriebsamen und mitunter sogar recht hektischen Redaktionsalltag ziemlich rasch wieder. Manche Themen haben aber eine Zombie-Qualität: Sie kommen immer wieder hoch, treiben einen um und verfolgen einen — aber so rechte Lust, sie nochmal anzufassen, hat man auch nicht mehr. Beim Brexit besteht das eigentliche Problem aber natürlich weiterhin: Es lässt sich nicht einfach begraben — und es könnte riesig werden. Mehr als ein Jahr ist seit dem Votum schon vergangen — und auf politischer Ebene ist immer noch so gut wie alles unklar.

»EINIGE BRANCHENVETERANEN WERDEN SICH NOCH AN ZEITEN ERINNERN, IN DENEN ETWA JAPANISCHE STUDIOKAMERAS VON DER EU MIT STRAFZÖLLEN BELEGT WURDEN.« Unternehmen, die weltweite Märkte bedienen, müssen aber immer dringender agieren, um sich auf diverse Eventualitäten vorbereiten zu können. Einige britische Medienunternehmen tun das, indem sie Niederlassungen auf dem EU-Festland gründen. Viele in der Branche – vielleicht die Mehrheit – sehen den Brexit eher skeptisch. Manche in der Branche – diesseits und jenseits des Kanals — erhoffen sich hingegen vom Brexit positive Umverteilungseffekte, die ihnen höhere Marktanteile bringen, etwa weil der eine oder andere lästige Konkurrent durch mehr Bürokratie, etwa umständliche Zoll-Formalitäten, ausgebremst werden könnte. Ob diese Rechnung aufgeht, ist fraglich. Einige BranchenVeteranen werden sich noch an Zeiten erinnern, in denen etwa japanische Studiokameras von der EU mit Strafzöllen belegt wurden. Dazu war es gekommen, weil Thomson und Philips damals bei der EU eine Anti-Dumping-Klage

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eingereicht hatten. Am Ende, soviel ist aus heutiger Sicht sicher, gab es bei dieser Auseinandersetzung letztlich keinen echten Gewinner. Ob das beim Brexit — zumindest aus der Sicht unserer Branche — anders sein wird, daran kann man berechtigte Zweifel haben. Sie werden sehen.

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LAUTE UND LEISE JUBILÄEN Editorial 37

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rri wurde dieser Tage 100. Klar, dass man das als Unternehmen zelebriert. Auch im Rahmen der IBC wurde das gefeiert und Arri lud hierzu zahlreiche Gäste ins Amsterdamer Filmmuseum ein. Recht so: Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Neben solchen eher lauteren Jubiläen, gibt es aber auch sehr viel leisere. Solche, die man sogar leicht auch mal vergessen und übersehen kann. Eines davon haben wir für dieses Editorial rausgekramt und abgestaubt: Die IBC feiert in diesem Jahr ihr 50jähriges Bestehen. Seit 1967 gibt es diese Veranstaltung schon. Und mit der aktuellen Ausgabe findet die IBC — wenn wir richtig gezählt haben — bereits zum 25. mal im Amsterdamer Messezentrum RAI statt. Erstmals wagte die Messe 1992 den Sprung von Großbritannien in die Niederlande, zunächst mit zweijährigem Rhythmus — sonst wären wir 2017 ja schon bei Ausgabe 26. Die heutige Redaktion von film-tv-video.de war seither stets mit mindestens einem Kopf dabei — bei jeder einzelnen IBC in Amsterdam. Die IBC in Amsterdam hat sich innerhalb dieser Zeit für viele in der Branche zu einem festen Ankerpunkt im Jahresablauf entwickelt: Man plant um diese Messe herum, man hat Rituale vor Ort. Man verbindet Erinnerungen mit dem Ereignis selbst und mit bestimmten Orten im Umfeld.

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»RITUALE UND ERINNERUNGEN SIND EINERSEITS SCHÖN UND HABEN ETWAS FÜR SICH, ANDERERSEITS KÖNNEN SIE AUCH ZU EINEM IMMER GLEICHFÖRMIGEREN TROTT BEITRAGEN.« Das gilt natürlich auch für film-tv-video.de: Zur IBC1999 ging film-tv-video.de online und berichtet seither jährlich von dieser Messe, mittlerweile zum 18. mal also. Rituale und Erinnerungen sind einerseits schön und haben etwas für sich, andererseits können sie auch zu einem immer gleichförmigeren Trott beitragen, zur Abstumpfung führen und den Blick verstellen. Das gilt es in einer Branche wie der unseren natürlich zu vermeiden und das muss durchbrochen werden, um offen zu bleiben für Neuerungen, Innovationen und Trends, um am Ball zu bleiben und nicht abgehängt zu werden. Und so gilt es für die Redaktion von film-tv-video.de in den nächsten Tagen — an für uns fast schon historischem Ort — die Augen und Ohren offen zu halten, mit wachem Verstand die IBC2017 zu erfassen und aufzubereiten. Das wollen wir tun. Auch wenn wir während der bisherigen Ausgaben der IBC schon zahllose Firmen und Trends kommen und gehen sahen, sind wir sicher: Auch die 25. IBC in Amsterdam wird Neues bringen und einiges davon wird auch längeren Bestand haben. Sie werden sehen.

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VIDEO KILLED THE INTERNET STAR Editorial 36

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acebook-Chef Mark Zuckerberg sagte Anfang des Jahres 2017: »I see video as a mega trend, same order as mobile. That's why I'm going to keep putting video first across our family of apps.« Bisher hat er Wort gehalten, denn seither pusht sein Konzern das Thema Video an allen Fronten: etwa mit diversen Möglichkeiten, Videos auf den verschiedenen Plattformen des Unternehmens einfacher und komfortabler einzubinden und auch mit Live-Videofunktionalität. Für den Anteil von Videoinhalten im Internet und speziell in den Angeboten seines Firmenimperiums sieht Zuckerberg bis zum Jahr 2020 dramatisches Wachstum. Dass Video in den kommenden Jahren noch weitaus wichtiger wird, als es heute schon ist, sagen auch andere: Streaming-Dienstleister, Soft- und Hardware-Entwickler — aber ganz offenbar auch die Konsumenten. Sie alle wollen — aus ganz unterschiedlichen Beweggründen — immer mehr Online-Video. So setzt sich ein Trend fort und beschleunigt sich, der schon länger virulent ist: Bewegtbild wurde in den vergangenen Jahren immer wichtiger und erlebt heute, in Zeiten des Smartphones und der mobilen Endgeräte, in unterschiedlichen Ausprägungen, völlig neue Höhen.

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»SO VERSCHMELZEN IT- UND VIDEOTECHNIK NUN DOCH SCHNELLER, ALS MANCHE ERWARTET UND ANDERE BEFÜRCHTET HABEN.« Die Infrastruktur, die dafür nötig ist, das für den Endkunden komfortabel zu gestalten, ist gewaltig. Deshalb kooperieren mittlerweile viele klassische Videoanbieter einerseits mit großen IT-Firmen wie Microsoft, HP oder IBM, und andererseits mit Providern, um die entsprechenden cloud-basierten Systeme anbieten zu können. So verschmelzen IT- und Videotechnik nun doch schneller, als manche erwartet und andere befürchtet haben. Dabei ist — wie so oft — der Konsument die treibende Kraft. Eines aber bleibt in der alten wie in der neuen Welt ein ebenfalls entscheidender Faktor: Die Monetarisierung der Inhalte wird nicht einfacher, wenn es einfach immer noch mehr von allem gibt. So könnte sich in einer moderneren Form das wiederholen, was im Hit »Video killed the radio star« der Band »The Buggles« aus dem Jahr 1980 besungen wird. Die Bedrohung alter durch neue Technologien hört eben niemals auf — auch, oder schon gar nicht, im Internet-Zeitalter: Was heute noch ein gutes Online-Modell ist, kann morgen schon obsolet sein. Sie werden sehen.

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VOLLFORMAT FÜR ALLE? Editorial 37

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er Trend zu immer größeren Sensoren ist im Kamera­ bereich immer noch ungebrochen virulent. Dabei ist bei 1-Zoll- und S35-Sensoren schon lange nicht mehr Schluss, sondern auch bei den Vollformat-Sensoren gibt es ja in jüngerer Zeit neue Entwicklungen: Sony zeigte schon im Vorfeld der IBC2017 die neue Cine-Kamera Venice, die mit einem Full-Frame-Sensor mit 6K-Auflösung ausgestattet ist – und markierte damit innerhalb der eigenen Produktpalette ein neues Kapitel. Die neue Cine-Kamera steht, wie andere High-End-Kameras – namentlich Alexa, Weapon oder Varicam – für eine neue Generation digitaler Kameras, die in der Lage sind, den Film-Look – etwa in puncto Umgang mit der Schärfentiefe – auch in der digitalen Welt neu auferstehen zu lassen.

»DER TREND ZU IMMER GRÖSSEREN SENSOREN IST IM KAMERABEREICH IMMER NOCH UNGEBROCHEN VIRULENT.« Statt wie früher etliche Zeit für die Auswahl des richtigen Filmmaterials und der passenden Objektive zu verwenden, sucht man heute – wenn es das Budget erlaubt – nach der jeweils passenden Kamera, den passenden Objektiven und dem richtigen Workflow.

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Der Wunsch, Footage mit filmischem Look hinzubekommen, hat dabei mittlerweile nahezu alle Bereiche und Ebenen der Bewegtbildproduktion erfasst – lediglich in der Live-Produktion, wo man gern etwas mehr Schärfentiefe zur Verfügung hat und meist auch Zoomobjektive nutzt — oft auch mit längeren Brennweiten — können sich Kameras mit großen Sensoren noch nicht auf breiterer Basis durchsetzen, sondern stellen weiterhin eher die Ausnahme dar. In den Produktionsbereichen jenseits der Live-Produktion aber, etwa im klassischen TV-Business, in der szenischen Produktion und selbst bei Dokus, hat der Markt allerdings längst anders entschieden. Ohne einen größeren Sensor und Slomo-Funktionalität geht dort bei neuen Kameras nur noch wenig. Das hat zur Folge, dass die meisten Kamerahersteller selbst in klassische EB-Camcorder und Handhelds immer größere Sensoren einbauen. Sony etwa zeigt bei IBC2017 drei Handheld-Camcorder mit größeren Sensoren, Canon präsentiert ebenfalls neue, kompakte Camcorder in dieser Kategorie und auch Panasonic schreitet in dieser Geräteklasse unaufhaltsam in dieser Richtung voran. Was vor einer knappen Dekade damit begann, dass einige Freaks die ersten verfügbaren DSLR-Kameras für Videoproduktionen einsetzten, entwickelte eine große Eigendynamik und erfasste sukzessive die ganze Branche. Am oberen Ende des Marktes geht diese Entwicklung nun in Richtung Vollformat-Sensor weiter. Kameras mit Full-Frame-Sensor sind aktuell zwar immer noch eher die Ausnahme, wenn man in die Breite des Marktes blickt, dennoch gibt es definitiv einen Trend in dieser Richtung. Auch die Objektivhersteller haben ihn natürlich aufgegriffen und setzen im Cine-Bereich bei Neuentwicklungen mittlerweile fast ausnahmslos auf Full-Frame-Objektive. Der Weg ist also geebnet, die ganz großen Sensoren auf immer breiterer Basis in neue Kameras einzubauen. zurück zum Inhalt

Sie werden sehen. 97

MEHR EFFIZIENZ!

MEHR EFFIZIENZ! Editorial 38

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chneller und effizienter arbeiten zu können, wünscht sich wohl jeder, der im Arbeitsleben steht: Sei es, um dadurch schneller die Welt zu retten – oder einfach nur, um sich früher in den Feierabend oder ins Wochenende verabschieden zu können. Kein Wunder also, dass einem dieses Thema auch bei der IBC an ganz unterschiedlichen Stellen begegnet: Immer scheint es darum zu gehen, Abläufe zu optimieren oder Prozesse zu vereinfachen – gleichgültig, ob das nun am Filmset, in der Postproduktion oder in den Technikabteilungen der Broadcaster ist.

»IM ARBEITSLEBEN DER MEISTEN MENSCHEN GEHT ES VORRANGIG UM EFFIZIENZ.« Alles soll schnell, möglichst einfach und automatisiert vonstatten gehen. Alles muss Zeit und Arbeit sparen. Das wirft aber auch Fragen auf: Was geschieht mit der gesparten Zeit? Geht es auch mal darum, etwas Schönes, Künstlerisches zu machen – und wusste in diesem Zusammenhang nicht schon Karl Valentin: »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.« So oder so: Im Arbeitsleben der meisten Menschen geht es vorrangig um Effizienz. Und um diese möglich zu machen und zu vergrößern, gibt es unterschiedlichste Tools: Soft- und Hardware spielen dabei heute oft die wichtigste

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Rolle. So sollen dafür sorgen, dass wiederkehrende Aufgaben, aber auch Abläufe, die sich leicht automatisieren lassen, von Maschinen, Programmen und Algorithmen übernommen werden. Das greift mittlerweile schon in vielen Gewerken, wenngleich die Medienindustrie noch ein Stück davon entfernt ist, fabrikähnliche Optimierungsgrade zu erreichen, wie sie etwa in der Automobilindustrie schon Realität sind. Ansätze hierfür gibt es aber auch im Kommunikations- und Medienbereich. Wer etwa in der ein oder anderen Hotline schon das Gefühl hatte, nicht mehr mit einem Menschen zu sprechen, sondern mit einem schwer greifbaren, undefinierbaren »Etwas«, ist vielleicht an einen Chat-Bot geraten, der die sogenannte Kommunikation mit dem Kunden übernommen hat. Diese Art künstlicher Intelligenz oder kognitiver Systeme wird in Zukunft wohl auch in anderen Systemen und Lösungen eine immer wichtigere Rolle spielen – um etwa das, was der Störfaktor Mensch in den unterschiedlichen Gewerken verbocken könnte – möglichst von vornherein zu verhindern. Die Industrialisierung 4.0 macht eben auch vor der Medienindustrie nicht halt, so das Resümee einiger Panels und Diskussionen der diesjährigen IBC. Broadcaster sehen hierin die Chance, sich fit zu machen für die Zukunft. Sie ahnen es: mit effizienteren Workflows, niedrigeren Personalkosten und höherem Output. Aber mit immer weniger Kunstanspruch, denn die Kunst macht halt einfach zu viel Arbeit. Sie werden sehen. zurück zum Inhalt

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GRÜNE HÖLLE ÜBERALL Editorial 39

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n diesem Jahr konnte man bei der IBC wieder sehr viele virtuelle Sets sehen. Vielleicht waren es nicht ganz so viele, wie damals, als diese Technologie ganz neu war, aber es waren wieder mehr, als in den letzten drei, vier Jahren. In ganz unterschiedlichen Zusammenhängen stachen die Greenscreens in den Messehallen ins Auge: mal mit 360-Grad-Kameras, mal mit automatisierten Studiokameras, mal mit Menschen, die VR-Headsets trugen, oder solchen, die auf einem Stuhl saßen, während sie auf dem Display nebenan tollkühn in irgendwelche eindrucksvollen Hintergründe einmontiert wurden oder mit grafischen Elementen oder virtuellen Personen interagierten. Kurzum: Virtuelle Sets sind mittlerweile auf ganz verschiedenen Ebenen in der Produktionswelt angekommen.

»IN DIESEM JAHR KONNTE MAN BEI DER IBC WIEDER SEHR VIELE VIRTUELLE SETS SEHEN.« Als in der zweiten Hälfte der 90er Jahre die ersten virtuellen Sets antraten, konnte man bei IBC und NAB ebenfalls sehr viele Greenscreens entdecken: Damals flutete die virtuelle Studiotechnik geradezu die Branchenmessen. Für zwei, drei Messejahre konnte man den Eindruck gewinnen, dass klassisch ausgestattete Studios dem Untergang geweiht wären.

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Heute wissen wir: Es kam alles ganz anders. Firmen wie Silicon Graphics, die damals als Inbegriff leistungsfähiger Grafik-Workstations galten, brachten es für damalige Verhältnisse zwar auf eine enorme Rechenleistung, aber das reichte noch nicht aus, um all die Herausforderungen virtueller Sets zu bewältigen. Die Technik musste erst noch reifen, sowie preisgünstiger und einfacher nutzbar werden. Die Software musste noch verbessert, flexibler und betriebssicherer gestaltet werden. Der Virtual-Set-Markt musste sich insgesamt noch konsolidieren. Und so folgte dem ersten VR-Hype – wie so oft bei neuen Technologien – die große Ernüchterung: Die Ergebnisse aus den virtuellen Sets dieser Zeit sahen meist ziemlich künstlich aus, und die Rechenleistung der Systeme reichte vielfach nicht aus, um in Echtzeit die gewünschten, detailreichen Hintergründe zu liefern und mit dem Realbild zu kombinieren. Wenn dann noch Bewegungen der Kameras oder der Moderatoren hinzukamen, waren die meisten Systeme überfordert – obwohl es sich damals in den meisten Fällen nicht mal um HD-, sondern um SD-Studios und -Kameras handelte. Schon bald hatten sich die Zuschauer an den oft recht ruckeligen Kunstwelten erstmal sattgesehen, und auch Moderatoren und Techniker waren letztlich insgesamt nur mäßig begeistert. Heute nun ist die Technik deutlich weiter fortgeschritten und längst den Kinderschuhen entwachsen – auch weil es andere Entwicklungen gab, die den Einsatz von VR-Sets plötzlich wieder attraktiver machten und technisch massive Fortschritte brachten. Probleme beim Tracking der Kameras sind heute weitgehend gelöst und mit den Entwicklungen im Bereich Augmented Reality ist es möglich geworden, reale und grafische Element mit neuen Softwares auf attraktive Weise zu kombinieren – und vor allem sehr viel kostengünstiger und flexibler als früher – sowohl in der Installation, wie im laufenden Betrieb. Gerade der Sportbereich hat erfolgreich damit experimentiert und mit solchen Sets viel Akzeptanz bei den Zuschauern geschaffen. 102

Darauf lässt sich aufbauen – und bei der IBC2017 konnte man sehen, dass diese Technologie noch lange nicht an ihrem Ende angekommen ist, sondern in ganz unterschiedlichen Richtungen weiterentwickelt wird. Sie werden sehen.

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BILD UND TON — MANCHMAL AUCH SYNCHRON Editorial 40

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n jüngster Zeit gab es wieder viele Ereignisse, bei denen lineares Fernsehen seine unschlagbaren Vorteile ausspielen und mit brandaktueller Live-Berichterstattung vor Ort punkten konnte. So wollten wohl die meisten Bundesbürger die Prognosen und Hochrechnungen der Bundestagswahl live verfolgen – und vermutlich eher selten erst sehr viel später abends aus der Mediathek abrufen. Damit diese Art von hochintensiver, schneller Live-Berichterstattung funktioniert, treiben die Sender einen hohen Aufwand, um die Bilder und Töne von den unterschiedlichsten Standorten zum Zuschauer nach Hause zu bringen. Zahlreiche Quellen, zahlreiche Schalten, alles live und unter dem Druck sich wandelnder Ereignisse: eine Herausforderung für die beteiligten Personen und für die Technik. Bis auf den unglücklichen Fall, dass die Sender den ganzen Abend Grafiken zu möglichen Regierungsmehrheiten zeigen mussten, die durch den raschen Rückzug der SPD auf die Oppositionsrolle eigentlich schon obsolet waren, hat das meiste senderseitig bei der Bundestagswahl recht gut geklappt, soweit man das an den Bildschirmen verfolgen konnte. Bei der Wahlberichterstattung konnte man allerdings auch einen Effekt beobachten, der sich in jüngster Zeit zu häufen scheint. Sehr oft gibt es nämlich einen Bild/Ton-Versatz, der mal stärker, mal schwächer ausgeprägt ist – aber eigentlich immer stört. Sind Bild und Ton asynchron, dann ist man als Zuschauer irritiert und aus dem Konzept geworfen.

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»SYNCHRONITÄTS- UND LAUFZEITPROBLEME GIBT ES PRAKTISCH SCHON IMMER, SEIT DAS FERNSEHEN ERFUNDEN WURDE.« Auch beim gestrigen Champions-League-Spiel der Bayern konnte man das einmal mehr verfolgen, als Arjen Robben den Auftritt der Bayern nach dem Spiel kommentierte. Synchronitäts- und Laufzeitprobleme gibt es praktisch schon immer, seit das Fernsehen erfunden wurde. So ist dieses Problem auch bei den Schaltungen zu Korrespondenten recht häufig zu beobachten – und ganz offenbar hat die durchdigitalisierte IT-Produktionswelt hier keinerlei positiven Effekt, eher im Gegenteil. Vielleicht muss man das Ganze so sehen: Wenn man sich erst mal an die Hochkant-Videos mit seitlichem Blur-Effekt gewöhnt hat, dann stört es auch nicht weiter, wenn Bild und Ton auseinanderlaufen. Oder vielleicht auch nicht: Es gibt eben Beiträge, bei denen die Asynchronität dazu führt, dass man als Zuschauer wie gebannt auf die Lippen der sprechenden Person starrt, deren Bewegung aber beim besten Willen nicht mit dem gehörten Ton zur Deckung bringen kann – und darüber dann die Inhalte völlig untergehen. Sie werden sehen.

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VON MILCH UND KÜHEN Editorial 41

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er Milch trinken will, der muss dafür nicht zwangsläufig eine Kuh besitzen. Auf diese einfache Erkenntnis lassen sich viele moderne Spielarten des Handels und der Dienstleistung reduzieren. Und in jüngster Zeit – so scheint es zumindest – etablieren sich die Modelle, die sich auf dieser Basis entwickelt haben, immer breiter und in immer mehr Lebensbereichen. Was früher gekauft wurde, wird heute geleast, gemietet, per Lizenz auf Zeit freigeschaltet: Autos, Stadtfahrräder, Filme, Musik, Software – all das müssen wir heute nicht mehr physisch kaufen und besitzen, um es nutzen zu können. Eine Spielart davon, die in unserer Branche längst Schule gemacht hat: Kameras, deren Funktionalität man je nach Bedarf wochenweise freischalten kann. Oder Softwares, die man nicht mehr kauft, sondern deren Nutzungsrechte man per Abo jeweils für einen bestimmten Zeitraum aktiviert. Sind wir also auf dem Weg in eine immaterielle, virtuelle, letztlich im physischen Sinne besitzlose Wirtschaft – und vielleicht sogar Gesellschaft? Hat die Virtualisierung somit schon längst ein Maß erreicht, das uns vielleicht gar nicht wirklich bewusst ist? Beim Thema Virtualisierung sprechen wir natürlich letztlich auch über die Cloud. Was man darunter versteht und wie man die Cloud nutzen will, das unterscheidet sich durchaus. Ein praktisches Beispiel dafür: Cloud-Lösungen für die Medienbearbeitung.

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Die radikalste Lösung: Man hat auf dem Rechner nur noch einen Browser, über den man ein virtualisiertes Schnittsystem nutzt. Die komplette Funktionalität des Schnittsystems kommt aus der Cloud und auch das Material ist dort gespeichert. Wer es weniger virtuell mag, kann auch das Schnittsystem lokal installieren und damit auf Material zugreifen, das in der Cloud gespeichert ist. Auch die umgekehrte Verteilung ist denkbar: Material lokal, Funktionalität via Cloud. Klingt Ihnen zu abgefahren? Gibt es aber auch in unserer Branche schon: Zwar nicht im Schnittbereich, aber etwa in den Bereichen Transcoding und Messtechnik.

»DIE CLOUD GIBT ES EIGENTLICH GAR NICHT, DAS IST NUR DER RECHNER VON JEMAND ANDEREM.« Das Ganze funktioniert aber nur — und hier sind wir wieder bei der Milch und den Kühen – wenn die einen etwas besitzen und anbieten, was die anderen nutzen wollen — und die Handelswege existieren, die Kunden und Anbieter verbinden. Wir sprechen also heute in unserer Branche darüber, dass man flächendeckende, schnelle, breitbandige Datenverbindungen braucht, wenn man sich ernsthaft in diese Richtung bewegen will. Klingt banal, ist aber außerhalb von Ballungsräumen in Deutschland leider immer noch ein großes Thema. Außerdem gilt nach wie vor: Die Cloud gibt es eigentlich gar nicht, das ist nur der Rechner von jemand anderem. Was man in diesem Zusammenhang vielleicht auch nicht vergessen sollte: Wer die Produktionsmittel besitzt, der hat in der modernen Industriegesellschaft auch weiterhin eine große Macht. Wenn Ihnen die Software gar nicht mehr gehört, die Sie täglich nutzen, haben Sie sich in eine große Abhängigkeit begeben – selbst wenn es noch alternative Anbieter gibt. »Denial of Service« kann in einem solchen Umfeld das Licht eines Unternehmens sehr rasch ausknipsen.

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Begeben wir uns durch die vermeintlich größere Freiheit, die uns die Virtualisierung eröffnet, nicht auf anderer Ebene in eine viel tiefere Abhängigkeit – um nicht zu sagen Knechtschaft? Vielleicht ist es eben doch ganz sinnvoll, ein paar wichtige Dinge weiterhin auch physisch zu besitzen ... Sie werden sehen.

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BABYLON BERLIN Editorial 42

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eute startet auf dem Pay-TV-Sender Sky die neue Serie »Babylon Berlin«, eine aufwändige, teure Produktion aus Deutschland. Es wurden zunächst 16 einstündige Folgen produziert, das Budget dafür lag bei 38 Millionen Euro. »Babylon Berlin« ist damit die bis dato teuerste deutsche Serie, die jemals hergestellt wurde. Auch in etlichen anderen Kategorien stellt die Serie Rekorde auf. Dabei geistern viele, teilweise auch recht stark voneinander abweichende Zahlen durch die Presse. Eine Auswahl: 180 bis 200 Drehtage werden genannt, 300 Drehorte, 50 Sprechrollen, 500 Komparsen, 70 Requisiteure und Ausstatter. Und irgendwie kann man den Eindruck gewinnen, dass auf dieser Produktion auch große Hoffnungen ruhen, die weit über diese Produktion selbst hinausgehen. Ganz nach dem Motto: Damit schafft Deutschland den Anschluss an die ganz großen, erfolgreichen aufwändigen Serien. Endlich wieder Weltniveau!

»»BABYLON BERLIN« IST DIE BIS DATO TEUERSTE DEUTSCHE SERIE, DIE JEMALS HERGESTELLT WURDE.« Solche Hoffnungen können eine Produktion natürlich auch überfrachten und belasten. Ob das Publikum auf diesen »Tanz auf dem Vulkan« aus der Zeit zwischen den Weltkriegen anspringt, in dem ein Kommissar gegen das organisierte Verbrechen kämpft, das weiß man frühestens ab heute Abend.

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Die Hoffnungen der Branche heizt die Vertriebsfirma Beta Film jedenfalls schon mal weiter an: Die Serie sei bereits in 60 Länder verkauft, unter anderem hat sich demnach Netflix die Rechte für die USA gesichert. Das ambitionierte Projekt haben ARD, Sky, X-Filme und Beta Film koproduziert. Die Macher betrachten diese Art der Finanzierung als Modell, das auch künftig hochwertige deutschen Serienproduktionen ermöglichen könnte. Das Besondere an dem Setup: Zuerst läuft die Serie auf Sky und erst ab Herbst 2018 ist sie auch im ARD-Programm zu sehen – also mit einem Jahr Zeitversatz. Doch dafür muss die ARD eben auch deutlich geringere Kosten schultern. Die Serie soll inhaltlich, wie auch technisch neue Maßstäbe setzen. Das war den Produzenten sowie den Regisseuren Tom Tykwer, Hendrik Handloegten und Achim von Borries offenbar auch besonders wichtig. Entsprechend aufwändig wurde die Serie ausgestattet — aber nicht einfach mit den üblichen, längst bekannten Schauspielern, sondern zu einem großen Teil mit frischen Gesichtern – und eben auch beim Set- und Licht-Design und bei den VFX. Gedreht wurde vorwiegend mit Alexa Minis und PVintage-Objektiven von Panavision, was einen besonderen, filmischen Look ausmacht. Wird man man das Geld und den Aufwand im positiven Sinne sehen? Bei einem Budget von rund 2,5 Millionen Euro pro Folge liegt die Messlatte hoch. Zum Vergleich: der »Tatort«, immer noch eine Vorzeige-Produktion der ARD, kostet im Schnitt etwa 1,3 Millionen Euro und holt in der Regel zwischen neun bis zehn Millionen Zuschauer vor die Schirme. Für alle, die ein Sky-Abo haben, heißt es ab heute Abend schon, für alle anderen in einem Jahr: Sie werden sehen.

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DER DRUCK WÄCHST Editorial 43

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ass der öffentlich-rechtliche Rundfunk kritisiert wird, ist nichts Neues. Die Gründe dafür sind sehr vielschichtig und verschieden: Wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche Aspekte spielen eine Rolle. Einerseits werden sachliche Argumente ins Feld geführt, andererseits gibt es aber auch viel Emotion und sogar Hass. Es allen recht zu machen, das ist ganz zweifellos auch für die Öffentlich-Rechtlichen ein Ding der Unmöglichkeit. Dass es aber Veränderungen geben muss, das sehen mittlerweile auch innerhalb der Sender viele als unausweichlich an. In der Schweiz gibt es nun eine Initiative, die sich mit Reformen nicht lang aufhalten, sondern gleich die Axt an die Wurzeln des öffentlich-rechtlichen Systems legen will. Am 4. März 2018 wird die Schweiz in einer Volksabstimmung über die »No-Billag«-Initiative abstimmen. Die Billag ist in der Schweiz das, was in Deutschland mal GEZ hieß, bevor das Beitragssystem umgestellt wurde. No-Billag will die Abschaffung der Gebühren für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der Schweiz, die SRG.

»DASS DER ÖFFENTLICH-RECHTLICHE RUNDFUNK KRITISIERT WIRD, IST NICHTS NEUES. DIE GRÜNDE DAFÜR SIND SEHR VIELSCHICHTIG UND VERSCHIEDEN.«

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Die Diskussionen um dieses Thema schwelen in der Schweiz schon seit geraumer Zeit – und mit der nahenden Volksabstimmung im kommenden März dürfte sich die Tonlage weiter verschärfen. In Deutschland gibt es eine ähnliche Entwicklung, auch wenn der Diskurs aufgrund anderer politischer Voraussetzungen mit anderem Instrumentarium geführt wird. Ein aktuelles Beispiel: In dieser Woche meldete sich etwa Rainer Robra (CDU), der für Medien zuständige Staatskanzleichef aus Sachsen-Anhalt, in der Mitteldeutschen Zeitung zu Wort. Er forderte, »Das Erste« in seiner jetzigen Form abzuschaffen. Das ZDF reiche als nationaler Sender aus, während sich die ARD-Sender als »Schaufenster« der Regionen positionieren sollten. Die »Tagesschau« etwa würde Robra in diesem Schritt gleich mit abschaffen, weil aus seiner Sicht obsolet. So wird die Diskussion angeheizt, ob und in welcher Form das gebührenfinanzierte Fernsehen noch seine Berechtigung habe, befeuert von Meldungen, an welcher Stelle gerade mal wieder Gebührengeld »verbrannt« werde. Vielleicht kann man die Lage auch so sehen: Außer denen, die davon profitieren, will sicher niemand einen verschwenderischen, parteiischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk – den es in Teilaspekten durchaus gibt. Aber ihn deshalb mit Stumpf und Stiel auszureißen, das würde letztlich nur die Tür für Verhältnisse öffnen, wie wir sie aktuell in Polen und der Türkei entstehen sehen und in etlichen anderen Ländern schon haben: Wo die Mächtigen sich ganz direkt oder indirekt über Partner und Strohfirmen den Medienbereich einverleiben, ihn beherrschen, dominieren und lenken – in einer Form, die bei uns zum Glück (noch) undenkbar ist. Vielleicht sollte uns diese Gefahr dazu motivieren, an das Gute in Form von Reformen zu glauben und dafür weiter Rundfunkbeiträge zu bezahlen. Sie werden sehen. zurück zum Inhalt 112

MENSCHEN, MEDIEN, MASCHINEN Editorial 44

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m ersten Stock: Massen von Männern in modischen, knapp geschnittenen, dunkelblauen Anzügen, dazwischen Business-Frauen in hochhackigem Schuhwerk und mit teuren Handtaschen. Im Erdgeschoss das gleiche Bild, aber ergänzt um extrem gechillte, junge Medienmacher aller Geschlechter mit großflächigen Tattoos, massig Piercings und innovativen Frisuren. Das Ganze im Kongresszentrum der Messe München: So stellte sich bei den Medientagen München der Blick aufs Publikum dar. Die Medientage München sehen sich selbst als Plattform für den »medienübergreifenden Dialog«, für Networking und Businesskontakte – und das stimmt in sehr vielen Aspekten auch. Vorträge und Panels gibt es bei den Medientagen ebenfalls in reicher Zahl, um sich dort über aktuelle Trends und Tendenzen zu informieren und mit wichtigen Medienmachern ins Gespräch zu kommen oder ihnen zumindest zuzuhören. Im Fokus standen dieses Mal Digitalisierung, künstliche Intelligenz, das Dauerthema Regulierung, aber auch Fake News und – natürlich mal wieder – neue Erlösmodelle für die Branche. Niemand schafft es, alle Vorträge zu hören und deshalb fällt es schwer, ein gut begründetes, fundiertes Resümee zu ziehen. Was man aber aus eigener Erfahrung der Redaktion und aus Gesprächen mit anderen Kongressteilnehmern destillieren kann: Es gibt durchaus Highlights in den Vorträgen und Podiumsdiskussionen, aber die meisten kochen dort eben auch nur mit Wasser.

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Einig waren sich viele der Vortragenden darin, dass in der neuen Medienwelt Aspekte wie Automatisierung, Algorithmen und Datenauswertung eine wichtigere Rolle denn je spielten. Das berge aber auch Gefahren: »Wir ertrinken in Daten, aber der zentrale Schlüssel zum Erfolg von datenbasiertem Marketing liegt darin, aus den vorhandenen Daten die richtigen Schlüsse zu ziehen«, sagt etwa der Medienwissenschaftler Meitz. Auch sei das Publikum wichtiger denn je geworden – nicht zuletzt deshalb, weil es über die sozialen Medien nun selbst Kommunikator sei. Journalisten hätten ihre Rolle als »Gatekeeper« verloren. Der Newsroom der Zukunft sei ein Ort, an dem auf der Basis journalistischer Grundsätze mit der »Community« neue Werkzeuge, aber auch neue Formen der Aufbereitung entwickelt würden, folgerten die Teilnehmer eines der Panels. Inmitten dieser Gemengelage müssten alle Beteiligten ihre Rollen neu definieren – und dabei glaubwürdig bleiben. Interessanter Randaspekt: Auch Vertreter von Google und Facebook waren zu den großen Panels geladen – und mussten dabei einiges an mitunter heftiger Kritik einstecken. Burda-Mann Philipp Welte etwa betonte, dass Google und Facebook dank journalistischer Angebote, für die sie nichts bezahlen müssten, Geld verdienten, und zwar nicht wenig: Er rechnete vor, dass allein Google in Deutschland jährlich auf einen Nettoumsatz von vier Milliarden Euro komme.

»DIE MEDIENTAGE SIND VORBEI UND MAN KÖNNTE WIE EINST MARCEL REICH-RANICKI EIN BRECHT-ZITAT ALS FAZIT VERWENDEN: VORHANG ZU UND ALLE FRAGEN OFFEN.« Auch Anke Schäferkordt, die Geschäftsführerin der Mediengruppe RTL Deutschland, kritisierte, dass die US-Konzerne Alphabet (Google, Youtube) und Facebook aufgrund un114

gleicher regulatorischer Bedingungen das Werbegeschäft mittlerweile dominierten. Die Politik verstehe offenbar nicht, welche Wirtschaftskraft hinter dieser Branche stecke, und versäume es, etwa eine schnelle Entscheidung bezüglich Plattformregulierung zu fällen. Technisch konkret wurde es bei den Medientagen in punc­ to einiger neuer Technologien, bei denen die Medientage den Schwerpunkt Augmented und Virtual Reality setzten. Zahlreiche Speaker beleuchteten das Thema und zeigten Chancen und Möglichkeiten auf. Man attestierte AR und VR großes Potenzial, aber die meisten Vortragenden waren sich auch einig darin, dass man erst am Anfang einer Entwicklung stehe. Die Medientage sind vorbei und man könnte wie einst Marcel Reich-Ranicki ein Brecht-Zitat als Fazit verwenden: Vorhang zu und alle Fragen offen. Aber vielleicht haben die Gespräche, die während der Medientage stattfanden, mittelfristig auch konkrete Auswirkungen. Sie werden sehen.

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DER MODETANZ VON GESTERN Editorial 45

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ünf Jahre ist es her, dass der koreanische Rapper Psy mit »Gangnam Style« einen weltweit erfolgreichen Megahit landete und sich der zugehörige, alberne Modetanz verbreitete. Dabei wollen wir es vollkommen Ihnen überlassen, ob das nun »schon« oder »erst« fünf Jahre sind, denn diese Einschätzung hängt natürlich von vielen individuellen Faktoren ab. Damals haben wir uns schon einmal mit Psy und dem »Gangnam Style« befasst, denn an diesem Beispiel konnte man zur damaligen Zeit besonders anschaulich zeigen, welches Potenzial in Youtube und anderen sozialen Medien steckt: Wie ein viraler Netzhit es schaffte, auch in zahllosen anderen Medien und auf Online-Verkaufsplattformen Niederschlag zu finden und einen globalen Erfolg zu befeuern. Damals hatte »Gangnam Style« innerhalb relativ kurzer Zeit rund 620 Millionen Aufrufe bei Youtube geschafft. Mittlerweile notiert das offizielle Video bei fast 3 Milliarden Aufrufen — ebenfalls rekordverdächtig. Seit der Veröffentlichung von »Gangnam Style« hat sich natürlich viel verändert. So hat sich etwa unter anderem bei manchen Menschen der unerschütterliche Glaube herausgebildet, man könne eine solche Geschichte einfach klonen und es gebe ein Rezept, das automatisch zu solchen Erfolgen in der Netzvermarktung führe. Natürlich ist das ein tragischer Irrtum, denn selbst wenn man alle Zutaten genau kennen würde, und der nach dem exakt kopierten Rezept gebackene Kuchen ganz sicher ge-

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länge, wüsste man immer noch nicht, ob er dem Publikum heute genauso schmecken würde, wie damals. Es gehört eben immer noch ein Quäntchen Magie dazu — oder wenn man es rationaler will: ein bestimmtes Zeitfenster und bestimmte Co-Faktoren, die man nicht kennt.

»MAN FRAGT SICH, OB HIRNSCHMALZ, GELD UND ARBEIT NICHT BESSER INVESTIERT WÄREN, WENN MAN IN DEN ENTSCHEIDERETAGEN AUCH MAL WAS NEUES ÜBER LEGEN UND ZULASSEN WÜRDE.« Das Formelhafte hat dennoch in vielen Bereichen um sich gegriffen: Aktuelle Kinoblockbuster etwa, sind ein Beispiel hierfür. Oder die Idee, aus erfolgreichen Kinofilmen nun eben auch noch eine Serie zu stricken. Ein weiterer Testfall für letzteren Ansatz könnte »Herr der Ringe« werden, denn es gibt Gerüchte darüber, dass Amazon und Netflix darüber nachdenken, diesen Stoff auch nochmal als Serie aufzukochen. Besonders kreativ ist das alles jedenfalls nicht und man fragt sich, ob Hirnschmalz, Geld und Arbeit nicht besser investiert wären, wenn man in den Entscheideretagen auch mal was Neues überlegen und zulassen würde. Sie werden sehen.

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DAS DING MIT DEN UPDATES Editorial 46

A

us der Computerindustrie kennen wir das Thema schon viele Jahre: Im Prinzip kann die jeweilige Software alles was wir wollen – allerdings immer erst in der nächsten, kommenden Version. Mit der Digitalisierung und dem Einzug der IT-Technik in die Audio- und Videowelt ist dieser Zustand nun auch hier schon längst allgegenwärtig. Kaum stellt ein Hersteller einen neuen Codec vor, ist er — zumindest in der Theorie — schon in alle Postproduktions-Softwares dieser Welt implementiert. In Wahrheit können aber noch Jahre vergehen, bis das wirklich zutrifft.

»IM PRINZIP KANN DIE JEWEILIGE SOFTWARE ALLES WAS WIR WOLLEN – ALLERDINGS IMMER ERST IN DER NÄCHSTEN, KOMMENDEN VERSION.« Selbst im Kamerabereich ist es mittlerweile so. Ein Hersteller kündigt eine neue Kamera an, die praktisch alles kann, was momentan angesagt ist. Was aber genau »Alles« zu welchem Zeitpunkt bedeutet und wann genau das jeweilige Feature auch tatsächlich verfügbar wird, das kann sehr stark variieren. Dass wirklich mal alle Features zum Lieferstart schon verfügbar sind, ist heutzutage eigentlich eher die Ausnahme. Normaler ist heute fast, dass schon vor dem Lieferstart verlautet, dass zukünftige Firmware-Updates bestimmte Features nachliefern werden. 118

Der Kunde muss sich also die Fakten mühselig zusammensuchen und selbst darüber informieren, wann seine Kamera denn nun was können soll. Das ist in der Regel so umständlich, dass der Kunde eigentlich schon gar keine Lust mehr dazu hat, sich darüber beim Hersteller zu informieren, sondern lieber gleich bei einem Händler nachfragt. Von den Herstellern mit ihren immer weiter ausgedünnten Personaldecken sind solche »Spezialinformationen« kaum noch zu bekommen. Die »Kleinarbeit« müssen in erster Linie die Händler erledigen, solange es die noch gibt. Oder eben der Kunde selbst — durch Online-Recherche. An die Stelle von Kundenpflege und Support im ursprünglichen Sinn ist ein ganz anderes Modell getreten: Markenbotschafter, Influencer und Social-Media-Experten, die zwar von den Herstellern bezahlt werden, aber keine Mitarbeiter sind und keine Verantwortung tragen, helfen bei der Produkteinführung und Vermarktung. Sie bereiten den Boden, indem sie etwa schon Monate vor der tatsächlichen Verfügbarkeit einer Kamera eindrucksvolles Demomaterial damit drehen und ausgiebig davon berichten, wie effizient sie mit der Kamera arbeiten konnten. Wenn der Rest der Welt gerade erst neu erfährt, was kommen soll, legen sie schon ein 24-seitiges Sonderheft voll kondensierter Begeisterung zum Download vor. Like. Tolles Produkt. Darauf haben wir gewartet. Endlich. Love. Shut up and take my money! Und was kann die Kamera nun nochmal ganz genau, wenn ich sie jetzt bestelle und hoffentlich in vier Monaten bekomme? Egal. Sie kann alles. Irgendwann. Sie werden sehen.

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NEUE ZEITRECHNUNG Editorial 47

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eute ist in den USA Thanksgiving, ein staatlicher Feiertag, das Fest mit dem Truthahn, das man hierzulande überwiegend aus amerikanischen Spielfilmen und Serien kennt. Und was kommt nach Thanksgiving? Eine Shoppingorgie am sogenannten »Black Friday«, an dem der Handel dann mit besonderen Rabattaktionen lockt. So läuft das heute mit den Feiertagen: Sie sind Anlass für Geschenke- und andere Großeinkäufe. Und wenn es keinen passenden Feiertag gibt, dann erfinden wir eben einen. So ist der 11.11. in Deutschland zwar kein offizieller, staatlicher Feiertag, aber er hat eine lange Tradition als besonderer Feiertag der Karnevalisten. In China wird dieser Tag hingegen erst seit ein paar Jahren gefeiert: Wegen der vielen Einsen wurde er zum Singles’ Day erkoren. Ursprünglich – und das heißt in diesem Kontext seit Beginn der 90er Jahre – nutzten vor allem junge Chinesen den Singles’ Day für Partys, Blind Dates und andere Pickup-Events. Doch seit einigen Jahren hat der Singles’ Day noch eine weitere, viel »größere« Bedeutung bekommen. Daran hat die chinesische Online-Handelsplattform Alibaba kräftig mitgewirkt: Sie hat den Singles’ Day zu einem riesigen Shopping-Event und einer sagenhaften Rabattschlacht gemacht. Mit großem Erfolg: In diesem Jahr übertraf sich Alibaba erneut selbst und meldete mit umgerechnet 22 Milliarden Euro am Ende des Singles’ Day einen neuen Umsatzrekord.

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»SO LÄUFT DAS HEUTE MIT DEN FEIERTAGEN: SIE SIND ANLASS FÜR GESCHENKE- UND ANDERE GROSSEINKÄUFE. UND WENN ES KEINEN PASSENDEN FEIERTAG GIBT, DANN ERFINDEN WIR EBEN EINEN.« Diese Woche können wir dieses Konzept auch in den hiesigen Breiten hautnah mitverfolgen. Falls es irgendjemandem tatsächlich entgangen sein sollte, vielleicht weil er gerade eine rigorose Social-Media-Diät oder ein Media-Detoxing in einer weltfernen Einöde verlebt: Wir befinden uns aktuell – unter anderem – in der »Black Week«, der »Cyber Week« und der »Cyber Monday Woche«. Albert Einstein hätte sich darüber möglicherweise gefreut, denn die Relativitätstheorie ist ganz offenbar Allgemeinwissen geworden und die Zeit fließt in viele Richtungen: In der »Cyber Monday Woche« werden alle Wochentage eins. Wir reisen schneller als Licht zurück zum Montag und hin zum Donnerstag, um dem Red Friday, dem Beauty Friday, dem Crazy Friday, dem Black Friday entgegenzufiebern. Auch anderweitig wird die Relativität der Zeit greifbar: Beim Discounter Penny verschmelzen hierzulande Freitag und Samstag allwöchentlich zum Framstag. Andere Lebensmittelhändler bieten schon ab Donnerstag ihre Wochenend-Specials feil. Wir brauchen aber definitiv noch mehr Feiertage. Auch aus anderen Anlässen. Außerdem: Weg mit bundeseinheitlichen Feiertagen. Schließlich leben wir in einem Föderalstaat. Kulturelle Unterschiede fördern unsere Flexibilität und stärken unsere Identität.

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Es gibt schon vielversprechende Ansätze: Während der Bußund Bettag am Mittwoch in Sachsen Feiertag war, galt das in Bayern zwar nicht, aber er war ein unterrichtsfreier Tag. Ein Feiertag für Schüler also (und vielleicht auch den einen oder anderen Lehrer). Ein tolles Konzept. Es sollte auch offizielle arbeitsfreie Feiertage für einzelne Berufsgruppen geben: Sorry, das Schwimmbad bleibt geschlossen, heute ist Bademeistertag. Apropos: Wann ist in diesem Jahr eigentlich Weihnachten in Bremen? Sie werden sehen.

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EINE GANZE GESELLSCHAFT AUF HIGHSPEED? Editorial 48

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eht das nicht schneller? Wir haben keine Zeit. Effizienz ist unser höchstes Gut. Es zählt letztlich nicht das Ergebnis, sondern, wie schnell wir da hin kommen. Sieht man mal von Großprojekten wie Stuttgart 21, dem Flughafen Berlin-Brandenburg oder der Bildung einer handlungsfähigen Bundesregierung ab, scheint dies das Credo unserer Gesellschaft zu sein. Das schlägt sich nicht nur im Geschäftsleben Bahn, sondern reicht bis weit in den Privatbereich hinein. Nach Speed­ reading kam Speeddating, aber die Entwicklung geht natürlich immer weiter: Streaming-Dienste bieten heute die Möglichkeit, Hörbücher auch mit erhöhter Geschwindigkeit abzuspielen. Dabei werden einerseits die Pausen zwischen den Worten verkürzt und andererseits wird zusätzlich die Abspielgeschwindigkeit erhöht. Das klingt dann zwar einigermaßen hektisch und reduziert die gestalterische Arbeit der Hörbuchregisseure und der Sprecher auf Automatenstimmenniveau, aber man spart eben wahnsinnig viel Zeit, die man anderweitig nutzen kann. Etwa, um auf Youtube Videos in bis zu doppelter Geschwindigkeit anzusehen. Einfach auf das Zahnrädchen am unteren Bildrand klicken und unter dem Menüpunkt Geschwindigkeit auswählen: Es stehen 1,25-, 1,5- und 2-fache Beschleunigung zur Verfügung. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten: Durch Binge­ Watching mit doppelter Geschwindigkeit können Sie ganz einfach andere Serien-Junkies überholen. Klar, die Arbeit 123

von Regisseuren, Kameraleuten und Cuttern kann man so nicht mehr würdigen oder genießen, aber was soll's: Hauptsache effizient. Teilweise wird aber auch schon in der Produktion an der Uhr gedreht: Bei vielen Video-Tutorials etwa wird so schnell gesprochen, dass man sicher sein kann, dass hier in der Postproduction beschleunigt wurde.

»NACH SPEEDREADING KAM SPEEDDATING, ABER DIE ENTWICKLUNG GEHT NATÜRLICH IMMER WEITER: STREAM­ ING-DIENSTE BIETEN HEUTE DIE MÖGLICHKEIT, HÖRBÜCHER MIT ERHÖHTER GESCHWINDIGKEIT ABZUSPIELEN.« Das Video ist drei Minuten lang, aber die Statistik zeigt, dass die meisten Nutzer nach zwei Minuten aussteigen? Kein Problem, lass es schneller laufen, dann kriegen wir das schon auf zwei Minuten. Dass das ganze Video dann klingt wie der Warnhinweis in der Medikamentenwerbung: »schudel-diwudel-di Packungsbeilage, Arzt oder Apotheker«? So what? Wo soll das hinführen? So können eigentlich nur rückwärtsgerichtete Oldies fragen — und wer will da schon dazugehören? Andererseits kann man aber schon den Eindruck gewinnen, dass die Speed-Sucht unserer Gesellschaft immer mehr Menschen zu viel wird und sie auf die eine oder andere Weise aus dem Hamsterkäfig aussteigen wollen: Immer öfter hören wir etwa in der Redaktion von film-tv-video. de von Geschäftsführern und Firmengründern, die sich eigentlich weit vor der Zeit in den Ruhestand begeben. An einer anderen Stelle zeigt sich ebenfalls, dass Speed vielleicht doch nicht alles ist:

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Das Turbo-Abi, als G8 bekannt, ist ja mittlerweile in einigen Bundesländern schon wieder Geschichte – und in vielen anderen in der Diskussion. Gut Ding will Weile haben? Könnte sein, dass dieses Sprichwort doch einen wahren Kern hat – auch wenn Speed in anderen Bereichen natürlich zweifellos absolut erstrebenswert ist: in puncto schneller Lieferung, rascher Heilung und kurzer Wartezeit etwa. Wahrscheinlich brauchen wir beides: Rush and relax. Sie werden sehen.

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DO IT YOURSELF

DO IT YOURSELF Editorial 49

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s gibt die Wandersage, dass ein Frosch im Wasser einfach sitzen bleibe, wenn man es ganz langsam immer weiter erhitze. Wenn der Temperaturanstieg nur langsam genug sei, merke es der Frosch erst, wenn es schon zu spät sei. Das ist aber eben nur eine Wandersage: In Wahrheit spürt der Frosch sehr genau, wann es Zeit wird, das Wasser zu verlassen und er wird dann alle Anstrengungen unternehmen, das auch zu tun. Bei uns Menschen hingegen funktionieren die Instinkte und Sensoren ganz offenbar nicht mehr so gut und es ist für uns viel schwieriger und komplexer, es zu erkennen und richtig zu reagieren, wenn jemand beginnt, uns ganz langsam abzukochen. Ein Beispiel: Über die Jahre haben die Fluggesellschaften ihren Service — außer vielleicht in den höchsten Klassen — schrittweise immer weiter reduziert und immer mehr Tätigkeiten auf den Kunden verlagert. Mittlerweile führen wir selbst online die komplette Buchung durch, dann checken wir mit dem Handy oder einem von uns selbst ausgedruckten Ticket an einem Automaten ein, wir wiegen unser Gepäck selbst, machen den Kleber dran und legen den Koffer eigenhändig aufs Band. Das Lamento über die Zustände im Flieger selbst wollen wir uns an dieser Stelle sparen: Die allermeisten Leser dieses Textes kennen das ohnehin selbst zur Genüge. Wir fragen uns aber: Wie geht das weiter? Sollen wir demnächst auf Flugreisen noch unser eigenes Klopapier mitbringen?

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»ES WIRD IMMER MEHR AUF DEN KUNDEN AUSGELAGERT: UNFREIWILLIGES DO IT YOURSELF WIRD VORSCHRIFT.« Aber auch in anderen Bereichen kann man ähnliche Tendenzen beobachten: Es wird immer mehr auf den Kunden ausgelagert: Unfreiwilliges Do it yourself wird Vorschrift. Sagen wir mal, sie nutzen Online-Dienstleistungen. Bezahlen ist ganz einfach, das Geld wird ruckzuck elektronisch abgebucht, da sind Google, Apple, Amazon, Dropbox und wie sie alle heißen, ganz fix. Sie brauchen eine Rechnung? Geht Ihnen per E-Mail zu, bitte selbst ausdrucken. Oder in der nächsten Stufe: Es gibt keine E-Mail mehr, gehen Sie stattdessen online, suchen sie in einem umständlichen, überfrachteten Bedienmenü die Rechnungsübersicht, beachten sie in puncto Mehrwertsteuer bitte, dass der Leistungserbringer in Irland sitzt, finden sie die richtige Rechnung, wählen sie den passenden Zeitraum aus und laden Sie dann die Rechnung als PDF herunter und drucken Sie diese aus. Easy und komfortabel geht definitiv anders. Wie konnte es bloß passieren, dass wir unseren Rechnungen hinterherrennen und sie uns letztlich selbst ausstellen müssen? Wir bezahlen mit von uns selbst durchgeführten Buchhaltungsaufgaben dafür, dass der Verkäufer es möglichst angenehm hat. Ist das Service? Auf der einen Seite werden Buchhaltungs- und Dokumentationspflichten selbst für kleine Unternehmen immer zahlreicher, aufwändiger und umständlicher, auf der anderen Seite wird der Aufwand, um eine simple Rechnung zu bekommen, immer größer. Das passt nicht zusammen.

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Vielleicht ist es also an der Zeit, in solchen Fällen immer öfter und auch viel früher als bisher, unser physikalisches Wissen zu nutzen und kund zu tun: Auch wenn man Wasser ganz, ganz langsam erhitzt, dann erreicht es irgendwann den Siedepunkt und kocht. Sie werden sehen.

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SELBER REGIE FÜHREN: BALD BEI NETFLIX? Editorial 50

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etflix hat dieser Tage angekündigt, im neuen Jahr interaktive Serien und Filme auch für Erwachsene anzubieten. Die Zuschauer können dabei während des Films entscheiden, in welche Richtung sich die Story weiterentwickeln soll – und somit letztlich aus mehreren Handlungssträngen wählen. Erste Erfahrungen mit diesem Genre hat der Streaming-Anbieter schon selbst gesammelt: Mit »Der gestiefelte Kater« hat Netflix eine Kinderserie im Programm, bei der die jungen Zuschauer den weiteren Verlauf der Geschichte beeinflussen können, indem sie Entscheidungen für eine Figur treffen. Interaktivität ist beim Spielfilm kein völlig neues Thema: Schon sehr früh hatten Kreative im Filmbereich die Idee, den Zuschauern alternative Handlungsverläufe oder alternative Enden eines Films anzubieten.

»SCHON SEHR FRÜH HATTEN KREATIVE IM FILMBEREICH DIE IDEE, DEN ZUSCHAUERN ALTERNATIVE HANDLUNGSVERLÄUFE ODER ALTERNATIVE ENDEN EINES FILMS ANZUBIETEN.«

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Solche interaktiven Ansätze sind bei Filmen oder Serien allerdings mit erheblich höherem Aufwand verbunden. Man muss mehrere Versionen produzieren und es gibt gestalterische und auch technische Hürden in der Aufbereitung und auch in der Vorführung. So unterstützen eben nicht alle Endgeräte die elegantesten Formen dieser Funktionalität. Netflix selbst sagt auf seiner Website zum derzeit verwirklichten, eigenen Ansatz: »Auf der Netflix-Website sowie auf Android-Geräten, Chromecast und Apple TV werden interaktive Inhalte derzeit nicht unterstützt.« Trotz solcher Einschränkungen sieht Netflix offenbar dennoch Potenzial in der interaktiven Erzählform und will im kommenden Jahr nun auch einige interaktive Filme und Serien für Erwachsene anbieten. Mehr Details dazu hat Netflix noch nicht verraten – vielleicht auch deshalb, weil es möglicherweise noch gar nicht so viele Details dazu gibt? Es dürfte in jedem Fall aber ein spannendes Projekt für die Filmemacher werden, die das bei den ersten Serien und Filmen umsetzen sollen. Dabei können sie auf die Erfahrungen etlicher Tests und Versuche aus der Vergangenheit zurückgreifen, denn wie schon erwähnt: Vollkommen neu ist das Thema Interaktivität im Spielfilm nicht, es poppte schon im Kinobereich, im Fernsehen, im Video- und im Spielemarkt immer mal wieder hoch. So initiierten etwa der WDR und das ZDF schon Ende der 80er Jahre mit dem TV-Film »Mörderische Entscheidung«, eine Variante des interaktiven Films mit zwei unterschiedlichen Filmversionen, die jeweils die Sicht eines der beiden Hauptprotagonisten wiedergab. Der damals noch relativ unbekannte Regisseur Oliver Hirschbiegel führte Regie. ARD und ZDF strahlten den Film zeitgleich in den unterschiedlichen Fassungen aus, man konnte hin- und herzappen und befand sich immer am selben Punkt der Handlung. Mit neuen technischen Möglichkeiten tauchte das Konzept hie und da immer wieder auf: etwa bei »Make My Day«, einem interaktiven Spielfilm, der 2004 auf DVD erschien und zahlreiche Eingriffsmöglichkeiten in die Handlung bot.

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Einen interaktiven Ansatz verfolgten 2012 die polnische Produktion »Sufferrosa« oder 2016 die Schweizer Produktion »Late Shift«, die es nach Erscheinen des Films auch als App sowie als Spiel für gängige Konsolen gab. Spielte hier die Anbindung weiterer Plattformen eine zentrale ein Rolle, verfolgte der Fernsehfilm »Terror – Ihr Urteil« im vergangenen Jahr einen anderen Ansatz: Nachdem ARD, ORF und SRF den Film ausgestrahlt hatten, konnten die Zuschauer gewissermaßen »ihr Urteil« fällen und für einen Frei- oder einen Schuldspruch des Hauptdarstellers votieren. Im Anschluss wurde das gefällte und verkündete Urteil dann in Talkshows bei den Sendern kontrovers diskutiert – und natürlich auch auf den Social-Media-Kanälen. Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Neue technische Möglichkeiten können auch interaktive Filme beflügeln und neue und vielfach spannende Möglichkeiten für die Filmproduktion schaffen. Ob Netflix daraus ein Massenprodukt machen kann und will, wird sich zeigen. Doch immerhin: Offenbar ist man beim Streaming-Anbieter Netflix auch bereit, ein Risiko einzugehen. Von den etablierten, großen US-Studios etwa, kann man das hingegen derzeit ganz sicher nicht behaupten ... Sie werden sehen. zurück zum Inhalt

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IMPRESSUM AUTOREN, HERAUSGEBER, VISDP Christine Gebhard, Gerd Voigt-Müller

ILLUSTRATIONEN, GRAFIK Jacqueline Kupschus VERLAG Nonkonform GmbH, Konradinstr. 3, 81543 München, HRB 121673, USt.-Id.-Nr. DE 195857299 © Nonkonform GmbH, Gerichtsstand: München, alle Rechte vorbehalten 2017