Stadtgespräche aus Leipzig

Fayçal Hamouda pflegt den Dialog in der Hermann-Löns-Straße .... Rahmen seiner Bürotür lange Zeit ein »Beat-Box«-Schildchen hing. Eher wie »Beate«, ohne ...
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Leipzig Lene Hoffmann Volly Tanner

Stadtgespräche aus

Leipzig Lene Hoffmann Volly Tanner

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© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0 [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2014 Lektorat /Redaktion: Ricarda Dück Satz: Julia Franze Bildbearbeitung / Umschlaggestaltung: Alexander Somogyi Kartendesign: Mirjam Hecht Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany ISBN 978-3-8392-4557-6

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Dialektologie mit Hochdeutschsprechern /// Beat Siebenhaar erforscht das Sächsische im GWZ . . . . . . . . . . . . 11 Bedrohliche Einsamkeit in der Fremde /// Peter Schneider sinniert im Café Puschkin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 »Mir Sachsen« /// Die Mundartdichterin Lene Voigt heute auf dem Südfriedhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Mein musikalischer Lehrmeister /// Sebastian Krumbiegel erzählt von seiner Thomaskirche . . . . . . 25 Sportlich sind alle Träume erfüllt /// Heike Fischer-Jung betrachtet Leipzig vom Panorama Tower . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Die Geschichte meiner Welt illustrieren /// Schwarwel ist an der Spitze im Freizeitpark Südost . . . . . . . . . . . 35 Pendeln zwischen Kunst und Alltag /// Mandy Kämpf fotografiert beim Völkerschlachtdenkmal .. . . . 41 Der Poetenladen als Kulturförderung /// Andreas Heidtmann verlegt Literatur in der Blumenstraße .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Das Theaterkollektiv FormLos /// Maria Schmidt probt in der Alten Baumwollspinnerei . . . . . . . . 53 Im Grünen mit einem Republikflüchtling /// Axel Starke blüht am Kulkwitzer See auf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Ich verkaufe keine Träume /// Fayçal Hamouda pflegt den Dialog in der Hermann-Löns-Straße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Eine wunderbare Form von Solidarität /// Margot Dietz startete bei der DHfK durch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Mehr als nur ein Namensgeber /// Karl Liebknecht wurde in der Braustraße geboren .. . . . . . . . . . . 71

14 Kinderstudien zu besten Bedingungen /// Cornelia Schulze forscht am Max-Planck-Institut . . . . . . . . . . . . 75 15 Durchboxen /// Marie-Luise Görtz fand im Westwerk zu sich . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 16 Sonnenuntergang mit einer Flasche Wein /// Alex Huth erklärt den Aussichtsturm im Rosental . . . . . . . . . . . . 83 17 Meine Sehnsucht nach dem bewegten Meer /// Gesa Pankonin tanzt am Palmgartenwehr .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 18 Mehr Bewegung, bitte! /// Stefan Sörgel sorgt bei Mrs. Sporty für schwitzende Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 19 Die Gothic-Tagesmutti /// Peggy Römer arbeitet als Tagespflegerin im Nußbaumweg .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 20 Im Kiez der Phantasten /// Dichter Markus Böhme in seiner Kneipe Helheim . . . . . . . . . . 101 21 Ich habe mich in Leipzig verliebt /// Küf Kaufmann berichtet im Ariowitsch-Haus . . . . . . . . . . . . . . . 107 22 Eine Ost-West-Liebe zwischen Medizinern /// Familie Glasser im Gesundheitszentrum in den Leutzsch-Arkaden .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 23 Boykott ist eine tägliche Lebensform /// Rainer Müller reflektiert im Lindenauer Stadtteilverein e. V. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 24 Ich mach mein Ding! /// Mia Lippold baut die Kulturfabrik L21 in der Lilienstraße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 25 Triumph der Kunstborte /// WGT-Veteran Peter Matzke textet in der Theaterkneipe Skala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

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Industrie- und Kulturgeschichte bewahren /// Annelis Tienelt erinnert auf dem Gelände der Firma Swiderski .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Verzaubern, begeistern, inspirieren /// Redakteur Mark Daniel trifft den Bock im Café Zum Wilden Heinz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Mit Udo Lindenberg nach Kenia /// Arno Köster und das Wasser am Markkleeberger See . . . . . . . 29 Gründung der ersten Frauenhochschule /// Henriette Goldschmidt in der heutigen Friedrich-Ebert-Straße .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 »Todtschlagen, die Philister!« /// Robert Schumann revoltierte im Café Zum Arabischen Coffe Baum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Mein Übersetzungstool ist die Malerei /// Aris Kalaizis in seinem Atelier im Grafischen Hof . . . . . . . . . . 32 Die Welt zu Gast in Leipzig /// Der frühe Traum des Martin Buhl-Wagner von der Messe Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Ausschließlich Kriminelles /// Mit Hans Kohlmann in seiner Krimibuchhandlung whodunnit??? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Hilfe für die Unschuldigsten /// Gabi Edler gründete die Straßenkinder Leipzig e. V. . . . . . . . 35 Schrebers Entdeckung /// Moritz Schreber und das Deutsche Kleingärtnermuseum .. .

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Bildverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Quellenverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

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Dialektologie mit Hochdeutschsprechern Beat Siebenhaar erforscht das Sächsische im GWZ

Im Grünen gelegen, an eben der Stelle, an der früher das Gewandhaus stand, umringt von prominenten Gebäuden wie dem Bundesverwaltungsgericht, erhebt sich das Geisteswissenschaftliche Zentrum der Universität Leipzig (GWZ). Im Angesicht der Bibliotheca Albertina wird es täglich von Hunderten Hochschülern besucht, von Lehrpersonal besetzt und in Club-Mate ertränkt. Im Sommer blockiert permanent eine Traube Studenten mit Glimmstängeln zwischen den Fingern die Eingänge, im Winter schafft es der Schnee nicht, die futuristische Bauweise zu verdecken. Leipziger Geisteswissenschaftler nennen das GWZ ihr Zuhause, die Orientwissenschaften haben ebenfalls ihren Platz, und die Prüfungsämter wurden in den hintersten Winkel verbannt. Auf dem Weg zu Professoren und Dozenten, Hilfskräften und Computerpools muss man an zahlreichen Büros vorbei, um zu den Räumen der Germanistik zu gelangen. Das unübersichtliche System verschachtelter Gebäude trägt zur absoluten Verwirrung bei. Im vierten Stock im letzten Haus, das jedoch die Nummer Eins trägt und somit eigentlich das erste ist, gehört das letzte Büro vor der Feuertreppe 1.4.10 ihm: Prof. Dr. Beat Siebenhaar. Nein, sein Vorname wird nicht wie das Englische »beat« ausgesprochen, auch wenn am Rahmen seiner Bürotür lange Zeit ein »Beat-Box«-Schildchen hing. Eher wie »Beate«, ohne »e«. Genau, der Sprachwissenschaftler ist Schweizer, trotzdem in Deutschland Beamter und somit schon einmal auf dem besten Wege ins Kuriose. Unwillentlich, versteht sich, denn ganz versteht er es selbst nicht, wie ihm das gelungen ist. Doch offenbar geht es, lassen wir es demnach so stehen. Kurios, um bei diesem Begriff zu bleiben, ist ebenfalls sein Wirkungsbereich. Der Schweizer Professor untersucht den Leipziger Dialekt – spricht allerdings hörbar den Akzent der Alpenrepublik. »Darf der das überhaupt?«, fragt er seine Bachelor-Studenten gern herausfordernd in der Einführungsvorlesung. Er darf. Natürlich. Eines seiner verschiedenen Forschungsprojekte nannte der Professor »Erstellen eines Sächsischen Dialektatlanten im Sinne der Dia11

Beat Siebenhaar im Universitätsgebäude

lektologie«  – das Katalogisieren und Systematisieren verschiedener Dialektformen, verteilt auf deren jeweiliges geografisches Vorkommen im Sprachgebiet. Dazu sind auch verschiedene Sprachebenen zu erfassen und alles, was es braucht, um festzustellen, was der Sachse in Dresden sagt, vor allem wie er es sagt und was der Sachse wie in Chemnitz sagt. Solche Atlanten existieren bereits, teilweise sind sie von beachtlichem Ausmaß und in jahrzehntelanger Arbeit erstellt worden. Doch das Sächsische bildet in dieser Atlanten-Landschaft eine Lücke. Auch wenn im 20. Jahrhundert einige umfangreiche Studien zum Sächsischen erschienen sind, ebenso wie ein schöner sprachgeografischer Überblick, gibt es keinen modernen Sprachatlas, der die unterschiedlichen Dialektformen in Sachsen exakt dokumentiert. Diese Lücke wollte Siebenhaar schließen. In der Schweiz, wo ein solcher Atlas bereits besteht, wäre ihm das um einiges leichter gefallen, erklärt Prof. Dr. Siebenhaar: »Ich kenne mich dort genauestens mit den dialektalen Formen aus, kann ziemlich genau sagen, aus welchem Ort mein Gegenüber kommt.« In Leipzig allerdings, so der Wissenschaftler, sei die Situation eine völlig andere: Während in der Schweiz 12

Beat Siebenhaar erforscht das Sächsische im GWZ

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die Menschen stolz auf ihren Dialekt sind, Standarddeutsch gar erst in zweiter Linie lernen, und sich schon in kleinen Radien Unterschiede in der Lautbildung und Grammatik zeigen, diese auch kultiviert werden, scheint dem Sachsen seine dialektale Aussprache häufig peinlich zu sein – was dem Linguisten die Arbeit erschwert. »Kaum jemand hier spricht in der Öffentlichkeit Dialekt. Das ist die Heimatsprache, die wird zu Hause gesprochen und nur da. Mit mir, einem Fremden, spricht niemand Dialekt. Und dann ist der Fremde auch noch Professor. Da gibt man sich offenbar besondere Mühe.« Dieses Verhalten beeinträchtigt die Auseinandersetzung mit dem Dialekt, der eben in seiner grammatischen Vielfalt nahezu nicht mehr vorkommt. Ein Atlas kann deshalb wohl kaum mehr erstellt werden. Deshalb gilt Siebenhaars Interesse jetzt mehr der aktuellen Alltagssprache. Worin besteht eigentlich der sprachliche Unterschied zwischen Dresden und Leipzig? Außer »nu« und »Modschegiebschen« fällt den wenigsten dazu auf Anhieb etwas ein. Und wie ist die Wahrnehmung von Dialekten? Werden Differenzen innerhalb desselben Dialekts überhaupt noch bemerkt? Spricht der Sachse in Leipzig noch so, wie die Mundartdichterin Lene Voigt es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dichterisch verarbeitete? Nein, meint Siebenhaar, und fügt hinzu, dass eine solche Dialektliteratur für das Sächsische heute gar nicht mehr möglich sei. Es fehle die Grundlage, aus linguistischer Sicht seien viele der damals bekannten Dialektmerkmale eingeebnet. Pauschale »Regeln«, wie sie Voigt verwendet hat, werden gegenwärtig in Leipzig kaum mehr systematisch genutzt. »Sächsisch hat keine Umlaute!«, generalisierte die Mundartdichterin einst in ihren Texten, schrieb »Biicher« statt »Bücher«. Aber was macht dann das jetzige Leipziger Sächsisch aus, und wie ließe sich das für die Literatur verschriftlichen? »Dialektliteratur mit literarischem Anspruch finden Sie heute allein in starken Dialektgebieten wie der Schweiz, Österreich und teilweise in Bayern. In Sachsen finden Sie Dialekt fast nur noch im Kabarett, wo er jedoch weniger literarischen als politischen Charakter besitzt, zudem ist er eben kaum geschrieben«, antwortet 13