Ich wollte es so normal wie andere auch - PDFDOKUMENT.COM

durch meine neugierigen Fragen, berichtete mir von seinem Leben in. Israel, aber auch über seine Zeit davor: 1938, nach der Reichspogrom- nacht, kam er als ...
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edition

waldschlösschen

Michael Bochow, Andreas Pretzel [Hg.]

Ich wollte es so normal wie andere auch Walter Guttmann erzählt sein Leben

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edition waldschlösschen Die Edition Waldschlösschen ist eine Schriftenreihe der Akademie Waldschlösschen bei Göttingen. Sie wird herausgegeben von Dr. Rainer Marbach. Bisher erschienen (Auswahl): Rainer Herrn: Anders bewegt. 100 Jahre Schwulenbewegung in Deutschland Stefan Mielchen / Klaus Stehling (Hg.): Schwule Spiritualität, Sexualität und Sinnlichkeit Michael Bochow / Rainer Marbach (Hg.): Homosexualität und Islam. Koran - Islamische Länder - Situation in Deutschland Lüder Tietz (Hg.): Homosexualität verstehen. Kritische Konzepte für die psychologische und pädagogische Praxis Michael Bochow: Ich bin doch schwul und will das immer bleiben. Schwule Männer im dritten Lebensalter Volker Weiß: ... mit ärztlicher Hilfe zum richtigen Geschlecht? Zur Kritik der medizinischen Konstruktion der Transsexualität Andreas Pretzel / Volker Weiß (Hg.): Ohnmacht und Aufbegehren. Homosexuelle Männer in der frühen Bundesrepublik Das vollständige Programm: http :// www . maennerschwarm . de / waldschloesschen http :// www . waldschloesschen . org / publikationen http :// www . maennerschwarm . de / ebooks

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michael bochow , andreas pretzel (hg . )

ich wollte es so normal wie andere auch walter guttmann erzählt sein leben Mit einem Nachwort von Thomas Rahe

Männerschwarm Verlag Hamburg 2011 3

Diese Publikation wurde gefördert aus Mitteln der Hannchen-Mehrzweck-Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Michael Bochow / Andreas Pretzel (Hg.) Ich wollte es so normal wie andere auch Walter Guttmann erzählt sein Leben. Mit einem Nachwort von Thomas Rahe Edition Waldschlösschen / Band 10

© Männerschwarm Verlag, Hamburg 2011 Umschlaggestaltung: NEUEFORM, Göttingen 1. Auflage 2011 Buchausgabe: ISBN 978-3-86300-102-5 PDF-Ebook: ISBN 978-3-86300-103-2

Männerschwarm Verlag Lange Reihe 102 – 20099 Hamburg www.maennerschwarm.de 4

inhalt vorworte der herausgeber

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Michael Bochow Andreas Pretzel

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walter guttmann erzählt sein leben

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Also damit fing’s an Vorerst ging das Leben einfach weiter Im Lager Odyssee in die Freiheit Heimat Holland Vorbereitung auf Israel Israel In Rente

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nachwort von thomas rahe

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vorworte der herausgeber

michael bochow Das erste gemeinsame Abendessen und das ausführliche Gespräch im Anschluss daran dauerten bis Mitternacht: Walter Guttmann und ich fanden sofort eine gemeinsame Wellenlänge und Walter, angespornt durch meine neugierigen Fragen, berichtete mir von seinem Leben in Israel, aber auch über seine Zeit davor: 1938, nach der Reichspogromnacht, kam er als Zehnjähriger in die Niederlande, wurde 1943 ins KZ Westerborg deportiert, überlebte auch das KZ Bergen-Belsen und kehrte nach dem Krieg zunächst nach Holland zurück. Erst 1959 zog er dann nach Israel. Ich erzählte von meinen Jugenderlebnissen in Ägypten. Mein Vater war von Ende 1956 bis Anfang 1969 Lotse der Suez-Kanal-Gesellschaft und ich verbrachte meine Jugend bis 1966 in Ismailia (Verwaltungszentrum des Suez-Kanals) und in Kairo. Zu den für mich bedeutsamen Erlebnissen in dieser Zeit gehörte das (in Ägypten damals verbotene) Abhören von Sendungen von Radio Israel in englischer und jiddischer Sprache. Vollkommen ahnungslos was historische Kontexte anbelangte, faszinierte mich als naiver 12-Jähriger die jiddische Sprache. Diese Begegnung legte den Grundstein für unsere Freundschaft. Sie fand bereits 2006 statt, und wir beschlossen, miteinander in Kontakt zu bleiben. Zustande gekommen war diese erste Begegnung eher zufällig. Ein gemeinsamer Freund aus Tel-Aviv hatte mir gemailt, dass Walter nach Berlin kommen würde und ich ihn unbedingt kennenlernen müsste. Den Freund aus Tel-Aviv (ein pensionierter israelischer Psychologe) 7

hatte ich durch einen australischen Künstler kennen gelernt, der mir wiederum von einem Londoner Freund und Kollegen (einem Sozialwissenschaftler) ans Herz gelegt worden war. Meine Bekanntschaft mit Walter Guttmann verdanke ich demzufolge einem schwulem Netzwerk, in dem ich der einzige «Gojim» (das hebräische Wort für NichtJude) war. 2008 kam Walter Guttmann dann erneut, diesmal für einige Wochen, nach Deutschland. Der Anlass zu diesem Deutschland-Besuch war das Vorhaben der Gedenkstätte Bergen-Belsen, ihn als Überlebenden des Lagers ausführlich vor der Video-Kamera zu interviewen. Als Walter mich fragte, ob wir uns in Celle oder Hannover sehen könnten, reagierte ich sofort mit einem nachdrücklichen Ja. Diese Zusage war verbunden mit einer Bitte an Walter. Als in der sozialwissenschaftlichen AIDS-Präventionsforschung engagierter Soziologe hatte ich mittlerweile über 150 schwule Männer in unterschiedlichsten thematischen Kontexten interviewt. Walter wusste davon, unter anderem hatte ich ihm von meinen niedersächsischen Interviews mit schwulen Männern im Dritten Lebensalter1 berichtet. Ich bat ihn ebenfalls um ein Interview: das Interview, das schließlich Grundlage dieses Lebensberichts wurde, zunächst aber einen eher «nicht-professionellen» Charakter hatte. Ich hatte zwar zum Thema Nationalsozialismus nicht geforscht, mir war aber durchaus bewusst, in welchem Ausmaß homosexuelle Überlebende der Nazi-Zeit im Kontext ihrer weiter anhaltenden Verfolgung Opfer einer aktiven kollektiven Verdrängung in den 1950er und 1960er geworden sind. Deshalb interessierte mich seine Geschichte. Walters positive Antwort auf meine Interview-Bitte kam postwendend. Am 16. Juli 2008 besuchte Walter zunächst die Gedenkstätte in Bergen-Belsen für das Video-Interview. Am 18. Juli führte er mich dann erst durch die Gedenkstätte und das sie umgebende Gelände. Am späten Nachmittag begann dann unser Gespräch, das wir am nächsten Vormittag fortgesetzten. Während Walter in seinem sehr ausführlichen Interview in der Gedenkstätte noch nicht bis zur Befreiung des Lagers durch die Briten im April 1945 gekommen war, gelangte ich in unserem 1 Michael Bochow: Ich bin doch schwul und will das immer bleiben. Schwule Männer im dritten Lebensalter, Hamburg: Männerschwarm Verlag 2005

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Interview bis zu Walters Übersiedlung aus den Niederlanden nach Israel im Jahre 1959. Anfang September 2009 setzte Walter sein Interview in der Gedenkstätte Bergen-Belsen fort. Am 9. September 2009 konnten wir in Berlin unser Gespräch zum Leben in Israel fortführen und abschließen. Walter ließ es sich nicht nehmen, mich am Tag darauf zu einer Aufführung der Zauberflöte in der Deutschen Oper, Berlin, einzuladen; ich revanchierte mich mit einem gemeinsamen Besuch des St. Matthäus-Friedhof, auf dem er mit gebührendem Respekt die Grabmäler der Gebrüder Grimm und von Rudolf Virchow betrachtete, mit gebührender Verachtung dagegen das Grabmal von Heinrich von Treitschke, dem antisemitischen deutschnationalen Historiker. Ich bin Walter Guttmann zu großem Dank verpflichtet, dass er mehrere Tage mit mir verbracht hat, um das insgesamt fast siebenstündige Gespräch mit mir zuführen. Seine große Offenheit und Mitteilungsbereitschaft erleichterten den Fortgang des Interviews. Walters Erzählstil ist durch seine langjährigen Erfahrungen geprägt, in unterschiedlichsten Kontexten über die Zeit zwischen 1938 und 1945 zu berichten. Später stellte Walter für dieses Buch in großzügiger Weise Fotos von seinen Eltern und seinem kleinen – in Auschwitz ermordeten – Bruder, zur Verfügung: Fotos, die er in einem Versteck während der deutschen Besatzung in den Niederlanden hatte retten können. Ich hoffe nun, dem großen Vertrauen, das er in mich gesetzt hat, mit der Veröffentlichung dieses Buchs gerecht geworden zu sein. Besonderer Dank gebührt Andreas Pretzel für die gelungene Umarbeitung der 142-seitigen Interview-Transkription in einen gut lesbaren Lebensbericht und seine Recherchebeit zu den historischen Kontexten. Mein Dank gilt auch Detlef Grumbach vom Verlag Männerschwarm, der den mehrmonatigen Herstellungsprozess begleitete; schließlich geht ein herzlicher Dank an Rainer Marbach für die Unterstützung des Projekts sowie an die Hannchen-Mehrzweck-Stiftung für ihren finanziellen Beitrag.

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andreas pretzel

Als Michael Bochow mich fragte, ob ich Interesse hätte, die Transkription seiner Interviews zu lesen und mich an einem Veröffentlichungsprojekt zu beteiligen, war ich erfreut und voller Erwartung: Wie war es einem Heranwachsenden in einer fast ausschließlich jüdisch geprägten Umgebung möglich, homosexuelle Erfahrungen zu sammeln und welcher Art waren sie? Wie haben sie ihn geprägt? Gab es eine Jugenderfahrung, zwei gesellschaftlichen Minderheiten anzugehören? Oder konnte es möglich sein, dass die homosexuellen Neigungen kaum ins Gewicht fielen angesichts einer Verfolgungsgeschichte als Jude? Wie überlebte er die KZ-Haft und welche Rolle spielten währenddessen sein Alter, soziale Kontakte, der Zionismus und seine Homosexualität? Wie schaffte er es nach der Befreiung im Alltag wieder Fuß zu fassen – nach den KZ-Erfahrungen von Überlebenskampf und massenhaftem Tod? Wie hat er es in der Folgezeit geschafft, ein selbstbestimmtes homosexuelles Leben in den Niederlanden und in Israel zu führen? Wie gelang ihm der berufliche Wiedereinstieg und wie ist es ihm angesichts der in beiden Staaten bis in die 1970er Jahre stark ausgeprägten Homophobie gelungen, Beruf und Privatleben auseinander zu halten? So habe ich mich daran gesetzt und aus Michael Bochows Interviews den vorliegenden Lebensbericht erarbeitet. Was Walter Guttmann in diesem Buch erzählt und mitteilt, beruht nahezu ausschließlich auf seinen eigenen Worten. Bereits nach dem ersten Lesen der Abschrift der Tonband-Interviews war es, als ob Walter neben mir säße und wir uns schon lange kennen würden. Da hatte ich noch kein Bild vor Augen. Das habe ich erst gewonnen, als ich mir in Bergen-Belsen die Videos mit den Gesprächen dort angeschaut habe: Ein sonnengebräunter Herr saß da vor der Kamera, um die 80 mit einem gewinnenden Lächeln und einem unaufhaltsamen Redefluss, zwischen den Erinnerungen und Familiengeschichten zeitlich und örtlich springend, manchmal verwirrend, dann wieder erklärend. Die Schilderungen von Lebensstationen und Ereignissen stimmen in beiden Gesprächen – hier in Bergen-Belsen 10

und in dem mit Michael Bochow – im Wesentlichen überein, ergänzen sich manchmal durch weiterführende Beschreibungen. Es war immerhin das erste Mal, dass er nicht nur über die Verfolgungserfahrungen, sondern über sein gesamtes Leben und so ausführlich berichtete. Walter erzählte Michael Bochow mehr aus seinem Privat- und Intimleben, aber auch gegenüber Diana Gring von der Gedenkstätte bekannte er sich zu seiner Homosexualität. Das war Ausdruck von gewonnenem Vertrauen und dennoch außerordentlich mutig, denn der Adressat war das Archiv der Gedenkstätte. Ebenso mutig war seine Zustimmung, die mit Michael Bochow geführten Interviews der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ich habe hier aber auch einige Passagen aus dem Gespräch in Bergen-Belsen eingearbeitet. Ich hoffe, mit dem entstandenen Text nicht nur seinen Erzählton getroffen zu haben und seinem Lebensbericht gerecht geworden zu sein. Darüber hinaus wünsche ich mir, dass dieses Buch dazu beiträgt, eine nach wie vor spürbare Lücke in der Überlieferung schwulen Lebens im 20. Jahrhundert zu schließen. Denn gerade als ich im Jahr 2009 an einem Workshop zu «Queer Experiences during the Third Reich and the Holocaust» an der Universität in Haifa2 teilgenommen habe, um über die staatliche Verfolgung homosexueller Männer jüdischer Herkunft zu referieren, wurde mir das Fehlen individueller Lebensberichte wieder einmal schmerzlich deutlich. Ich hatte für meinen Vortrag auf Quellen der Verfolger in Berliner Archiven zurückgegriffen und befreundete Forscher nach ihren Recherchen gefragt. Aber mit Ausnahme Hamburgs, wo zeitgleich Ulf Bollmann, Bernhard Rosenkranz und Gottfried Lorenz den Schicksalen jüdischer Homosexueller im dortigen Staatsarchiv nachspürten, damit zur Erinnerung an die Getöteten Stolpersteine verlegt werden konnten, war das bislang kein Forschungsthema gewesen.3 Die Holocaust2 International Workshop: Queer Experience during the Third Reich and the Holocaust. University of Haifa, Buccerius Institute for Research of Contemporary German History and Society, May 7, 2009. Die eingereichten Paper und gehaltenen Vorträge wurden nicht publiziert. 3 Bernhard Rosenkranz, Ulf Bollmann, Gottfried Lorenz: Homosexuellenverfolgung in Hamburg 1919-1969, Hamburg: Lambda 2009, S. 74-78.

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Forschung hatte, obgleich sie mittlerweile ganze Bibliotheken füllen könnte, Schicksale und Erfahrungen Homosexueller jüdischer Herkunft unberücksichtigt gelassen und gemieden. In den deutschen Medien hat das Thema Homosexualität und Holocaust erstmals 1995 mit der Veröffentlichung der Erinnerungen Gad Becks4 und den darauf folgenden Fernsehinterviews Beachtung gefunden. Als Jugendlicher hatte er die Zeit der Deportationen in Berlin überstanden, konnte nach einer zeitweiligen Verhaftung untertauchen, durch ein Netzwerk der jüdischen Jugendbewegung überleben und zugleich für das Überleben anderer Juden sorgen. Gad Beck machte aus seiner Homosexualität kein Geheimnis, sondern berichtete mit Charme und Chuzpe auch von Liebesabenteuern in den Zeiten tödlicher Bedrohung. 1999 weckte der Film «Aimée und Jaguar» erneut öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema. Das berührend inszenierte Liebesverhältnis zwischen einer Jüdin und einer Deutschen rückte auch die Frauen, die zuvor im Schatten der systematischen Verfolgung männlicher Homosexueller geblieben waren, ins öffentliche Bewusstsein. Der Film beruhte auf einer wahren Geschichte und erwies sich zugleich als Fiktion. Er erzählt die Geschichte der Deutschen Lilly Wust und ihre Liebe zu Felice Schragenheim, die 1944 als Jüdin ins KZ Theresienstadt deportiert und in Auschwitz getötet wurde. Aus den Erinnerungen von Lilly Wust hat die Journalistin Erica Fischer einen autobiographischen Roman gemacht, der wiederum zur Vorlage für eine kinogerechte melodramatische Verfilmung wurde. Die fiktionalen Bearbeitungen und der Umstand, dass die nicht-jüdischen Lilly Wust die Rolle der Autorin einnahm, führten jedoch zu einer Auseinandersetzung über die Rolle und Erfahrungen ihrer Geliebten Felice Schragenheim.5 Nahezu unbemerkt blieb dagegen der im Jahr 2005 veröffentlichte au4 Und Gad ging zu David. Die Erinnerungen des Gad Beck 1923 bis 1945, Berlin: Edition Diá 1995. 5 Zur Kritik an der Fiktionalität des Buches und des Films siehe u.a. Esther Dischereit: Die Geschichte hinter der Geschichte von Aimée und Jaguar: Zwischen Abhängigkeit, Prostitution und Widerstand. 1999. Online: http://www.hagalil.com/archiv/99/10/ jaguar.htm, Download 7/2011.

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tobiographische Roman von Harry Raymon «Einmal Exil und zurück».6 Darin erzählt der Autor, der unter seinem damaligen Namen Benjamin Goldbach seine Kindheit im Rheinland verlebte, von der Emigration seiner Familie 1936 in die USA und seiner Rückkehr nach dem Ende der NS-Zeit. Er gründete eine Theatergruppe in Deutschland, verliebte sich in einen jungen Deutschen und entschied sich fürs Hierbleiben. Auch dieses Buch thematisiert Homosexualität und Holocaust, wenngleich auf weniger explizite Weise, indem es anhand eines individuellen Lebensweges einen Blick aufs Exil und die Zeit nach dem Ende der NSDiktatur richtet. Die Erinnerungen von Gad Beck begrenzten sich ja auf die Zeit davor. Ob die Selbstzeugnisse von Gad Beck und Benjamin Goldbach als repräsentativ anzusehen sind, lässt sich nicht beantworten. Schwierig ist auch die Frage nach der Authentizität zu beantworten. Die Erinnerungen sind nicht fiktiv, haben jedoch eine Fiktionalisierung erfahren, die der «autobiographische Roman» offenkundig auch verdeutlicht. Bei Gad Beck brachte ein Dokumentarfilm nachträglich eine Dramatisierung des Erzählten zum Vorschein.7 Aber dies waren die einzigen Selbstzeugnisse, die bislang von jüdisch-homosexuellen HolocaustÜberlebenden veröffentlicht worden waren. Was Klaus Müller in Hinblick auf die verfolgten Homosexuellen während der NS-Zeit generell konstatierte, trifft im besonderen Maße auch auf homosexuelle Juden zu: «Mehr als 99% aller homosexuellen Überlebenden haben uns ihre Geschichte nicht erzählt und werden uns ihre Geschichte nicht erzählen. Sie blieben allein mit der Erinnerung und starben allein mit der Erinnerung.»8 6 Harry Raymon: Einmal Exil und zurück. Autobiographischer Roman, München: forum homosexualität und geschichte 2005. 7 Die Freiheit des Erzählens. Das Leben des Gad Beck. Dokumentarfilm von Carsten Does und Robin Cackett, 2006. Die Autoren kommentieren dazu: «Es scheint, dass Gad Beck um der Pointierung seiner Geschichten willen gelegentlich den Boden historischer Wahrheit verlässt. Er erfüllt damit vor allem ein Bedürfnis seiner Zuhörerschaft bzw. all jener Erinnerungsinstanzen, die, auf der Suche nach dem Dramatisch-Spektakulären und der Einschaltquote, Geschichte auf besondere Weise erzählt bekommen wollen.» Online: http://www.gad-beck.de/gad_web/statement_de.html, Download 7/2011. 8 Klaus Müller: Totgeschlagen, totgeschwiegen? Das autobiographische Zeugnis ho-

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Homosexuelle jüdischer Herkunft waren eine Minderheit innerhalb einer Minderheit. Nur sehr wenige von jenen, die wegen homosexueller Beziehungen verfolgt wurden und in die Fänge von Polizei und Justiz gerieten, konnten noch aus Deutschland entkommen, bevor ihre Verfolgung und Deportation als Juden begann. In meinem o.g. Vortrag an der Universität Haifa habe ich anhand von Fallstudien einerseits ein Bild schrittweiser Radikalisierung nachgezeichnet, um den zunehmenden Antisemitismus in den Verfolgungsinstitutionen bei Polizei und Justiz aufzuzeigen. Andererseits habe ich anhand von Verfolgungsschicksalen Einblicke in die vielfältigen und unterschiedlichen Erfahrungen ermöglicht, die jene Homosexuelle während der NS-Zeit in Berlin machen mussten, die als Juden identifiziert, klassifiziert und auf besondere Weise verfolgt wurden. In Berlin haben nach vorläufiger Schätzung etwa 90 % der strafverfolgten Homosexuellen jüdischer Herkunft die Nazizeit nicht überlebt. Ein Drittel von ihnen starb als jüdische Homosexuelle in Konzentrationslagern in Deutschland, 60 % der Männer wurden als Juden in die Vernichtungslager des Ostens deportiert. – Individuelle Zeugnisse haben wir nur von jenen, die überlebt haben, weil sie im Untergrund und in der Illegalität die Zeit überstanden oder ihnen die Emigration und Flucht aus Deutschland gelang. Das macht die Erinnerungen von Gad Beck und Benjamin Goldbach so einmalig, trotz der Fiktionalisierungen, die sie erlebt haben. Mit dem Lebensbericht von Walter Guttmann kommt nun ein einzigartiges Zeugnis hinzu. Wie Gad Beck vermag Walter Guttmann auf einnehmende und erfrischende Weise zu erzählen. Freizügig berichtet auch er über sein homosexuelles Leben. Sein Lebensbericht reicht allerdings weit über die Zeit des Holocaust hinaus. Seine Erinnerungen versuchen zugleich den Strategien einer authentischen dokumentarischen Erzählung zu folgen. Walter Guttmann vermag beides weitgehend in Einklang zu bringen. Er ist ein wunderbarer Erzähler mit einem erstaunlichen Gedächtnis für Namen und familiäre Verwandtschaftsbeziehungen, Orte und Ereignisse. Freilich erzählt er seine Geschichte so, wie er sie erinnert und mosexueller Überlebender, in: Burkhard Jellonnek, Rüdiger Lautmann (Hg.): Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle, verdrängt und ungesühnt, Paderborn: Schöningh 2002, S. 401.

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im Gedächtnis bewahrt haben möchte, überlagern sich auch damaligen Erfahrungen mit nachträglichen Erklärungen. Denn sie ist auch seine individuelle Erklärung für das, was er durchlitt und durchstand, überstand und bewältigte. Welches Recht hätten wir Historiker sie anzuzweifeln, wenn wir darum wissen? Mein Dank gilt Marita Keilson-Lauritz, die mir Hinweise auf weitere Quellen in den Niederlanden gab und mit Informationen weiterhalf, Diana Gring, die mir bei Fragen zur Geschichte und Ereignissen im Lager Belsen-Belsen hilfreich zur Seite stand sowie Klaus Tätzler, Archivar der Gedenkstätte Bergen-Belsen, für den Zugang, den er mir zu den Archiv-Interviews ermöglichte. Für eine kritische Durchsicht des Manuskripts danke ich nicht zuletzt meiner Kollegin Carola Gerlach.

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walter guttmann erzählt sein leben

also damit fing ’ s an

Seit 1934 ging ich in die Schule Mein Name ist Walter Siegfried. Ich wurde mit einem germanischen National-Mythos im Zweitnamen ausgestattet. Denn mein Vater war ein Deutschnationaler. Geboren bin ich in Duisburg, am 5. Juni 1928, und meine Mutter hat mir immer erzählt, dass man in dem Säuglingsheim nie Mühe hatte, mich zu erkennen, denn ich hatte sofort schwarze Haare. Ich war natürlich der Einzige. Also damit fing’s an. Und dann kam der kalte Winter. Meine Mutter erzählte auch, sie sei mit mir Schlittschuh gelaufen übern Rhein, mit ’nem Kinderwagen. Ich nehme nicht an, dass das wahr ist, aber so fing die Geschichte an, wenn sie über mich geredet hat. Meine Eltern waren schon fünf Jahre verheiratet, bevor ich überhaupt geboren wurde. Das war schon ein ganz großes Ereignis. Ich hatte meine eigene Tasse zu Pessach, um die Matze, das ungesäuerte Brot zum Osterfest, darein zu tauchen. Da stand drauf, das erinnere ich noch genau: Dem Vater zur Freude, der Mutter zum Glück. Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit. Meine Eltern haben sich und mich geliebt. Mein Bruder, der fast drei Jahre jünger war, wurde im Februar 1931 geboren. Alfred und ich durften jeden Sonntagmorgen in das Bett unserer Eltern. Er war immer bei unserer Mutter, ich war immer ein Vaterkind, obwohl, ich hab meine Mutter sehr geliebt, aber irgendwie hat das wahrscheinlich auch mit meiner geschlechtlichen Beziehung zu 17

Der Vater Hermann Guttmann 7. Januar 1888 – 29. Dezember 1938

Männern zu tun. Meine Eltern haben dann über uns die Hände gehalten, um zu zeigen, wie glücklich sie waren. Also ich hab das als Kind so aufgefasst, und das war später schrecklich wichtig für mich, gerade weil ich meine Eltern so früh verloren hab. 1933 kam Hitler, ab 1934 ging ich in die Schule, und meine Eltern waren natürlich so klug, mich sofort in eine jüdische Schule zu schicken. Duisburg besaß eine gute jüdische Schule, die war eigentlich gegründet worden nach dem Ersten Weltkrieg, weil damals sehr viele polnische Juden kamen, wegen der Pogrome in Polen. Dadurch entstand eine 18

Die Mutter Selma Guttmann, geb. Loewenwaerter 26. Mai 1893 – 19. Juni 1937

große ostjüdische Gemeinde, und die Schule war bis 1933 fast vollständig belegt mit Ostjuden. Die deutschen Juden gingen vorher in die gewöhnliche Schule. Aber dann kamen sie zwangsläufig hinzu. Ich hab dort deutsch und hebräisch Lesen und Schreiben gelernt. Deutsch fiel mir viel leichter. Außerdem wurde in der Schule das Judentum gelehrt, auch der Zionismus, ein bisschen so im Untergrund, denn das war ja eigentlich schon nicht mehr erlaubt, glaub ich. Wir bekamen Palästinafilme zu sehen, haben hebräische Lieder gelernt. Wir sind erzogen worden, um nach Palästina zu gehen. Also ich habe eigentlich 19

Duisburg 1933. Walter Guttmann (Jg. 1928) (rechts) mit seinem Bruder Alfred (Jg. 1931) 20