Es gibt kein englisches Wort für Rabenmutter (Mai 2008)

der kommt dieses Jahr in Zeiten einer heftigen "Kinder-oder-Karriere"-. Debatte. Natürlich kennt jeder den Muttertag. Das ist der Tag, an dem einen die Kinder ...
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Es gibt kein englisches Wort für Rabenmutter (Mai 2008) Unterscheiden sich deutsche Mütter sehr von englischen, französischen oder amerikanischen Müttern? Gibt es so etwas wie eine typisch deutsche Mutti? Ich frage ja nur, weil bald Muttertag ist (11. Mai). Und der kommt dieses Jahr in Zeiten einer heftigen "Kinder-oder-Karriere"Debatte.

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Natürlich kennt jeder den Muttertag. Das ist der Tag, an dem einen die Kinder sechs Uhr in der Früh mit Zeichnungen in der Hand wecken1. An dem einen der 11-jährige Sprössling2 verkohlten Toast ans Bett bringt. Und an dem einem der Ehemann etwas außer Atem3 Blumen schenkt, die er vor ein paar Minuten an der Tankstelle4 gekauft hat. Den Rest des Tages verbringt man mit einem fröhlichen Lächeln auf dem Gesicht, um zu zeigen, wie dankbar man ist, dass keiner ihn vergessen hat. Später stellt man die Waschmaschine an, packt den Kindern die Schulsachen, räumt die Küche auf, ohne dass jemand Notiz5 davon nimmt und so leise, dass man nicht den Ehemann stört, der auf dem Sofa Formel 1 schaut. Ist man alt geworden, hat man es erst richtig gut, denn nun besucht einen der Sohn kurz nach dem Mittagessen (Hühnerfrikassee!) im Seniorenheim, schiebt einen im Rollstuhl durch die Gegend und erzählt dabei eine halbe Stunde lang von seinen Problemen im Büro. Mütter haben schlechte Karten. In Deutschland werden sie häufig zwischen ihren Pflichten6, den steigenden Kosten für die Kinderbetreuung7 und der Pflege8 ihrer vom Staat zunehmend vernachlässigten9 Eltern aufgerieben. Deutsche Frauen müssen nicht nur gute Mütter, sondern auch gute Töchter und, da Altenpflege als Frauensache gilt, auch gute Schwiegertöchter sein. Ganz zu schweigen von guten Hausfrauen. Ach ja, und Karriere sollen sie auch noch machen. Das ist natürlich nicht nur ein rein deutsches Dilemma. Moderne Gesellschaften und setzen Frauen unter Druck. Aber die Deutschen machen sich das Leben unnötig schwer. Schulen schließen beispielsweise schon am frühen Nachmittag. Französische und britische Mütter liefern ihre Kinder auf dem Weg zur Arbeit ab und sehen little Charles oder petit Nico erst nach fünf Uhr abends wieder. Sie werden nicht wie in Deutschland als schlechte Mütter beschimpft. Und wenn sie ihre Arbeitsstelle eher verlassen, um eine Schultheater-Aufführung zu besuchen, werden sie nicht als miserable Arbeitskräfte herabgewürdigt. Das geschieht in Deutschland leider zu oft. Es gibt kein englisches Wort für Rabenmutter. In britischen Büros versteht man es, die Bedürfnisse10 junger Mütter zu berücksichtigen; das ist mehr Teil einer natürlichen Fairness als eines von der EU-Gesetzgebung11 aufgezwungenen Korsetts. Ich will nicht behaupten, dass im britischen Arbeitsalltag paradiesische Zustände herrschen. Aber die Kälte und kaum versteckte12 1

réveiller la progéniture 3 hors d'haleine 4 la station d'essence 5 prendre note de 6 les devoirs 7 la garde des enfants 8 la prise en charge, les soins 9 délaissés 10 les besoins 11 la législation européenne 12 caché, dissimulé 2

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Feindseligkeit, die einer Freundin von mir entgegenschlugen, als sie neulich mit ihren kranken Zwillingen zu Hause bleiben musste, sind in Großbritannien nahezu unbekannt. In deutschen Büros fehlt es an Flexibilität; ein Angestellter 13 muss sich viel starreren Abläufen unterwerfen, als das in anderen Ländern der Fall ist. Ich weiß, dass es Chefs, Ehemänner und Kollegen gibt, die flexibler in ihrer Zeiteinteilung und im Kopf sind. Und doch ist die Kälte, mit der die "Kinder-oderKarriere"-Debatte in Deutschland geführt wird, deutlich spürbar. Man muss sich nur einmal ansehen, wie schnell Eva Herman14 als konservativ dargestellt wurde, nachdem sie argumentierte, dass dem Muttersein ein besserer Stellenwert in der deutschen Gesellschaft gebühre. Als ob Frau Herman versucht hätte, die in den vergangenen 30 Jahren hart erkämpfte Emanzipation der Frau über den Haufen zu werfen, obwohl sie lediglich das Gleichgewicht15 zwischen Familie, Heim und Arbeit wiederherstellen wollte. Die Vorstellung, dass eine Familie befreiend, eine Form der Selbstverwirklichung16 sein kann, ist kaum verbreitet17 und gilt als politisch diskutabel. Die Deutschen sollten sich mal entspannen18: wenn man sich für die Gründung einer großen Familie entscheidet, hat man es nicht gleich aufs Mutterkreuz abgesehen. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass 47 Prozent aller Deutschen gern Supermodel Heidi Klum als Familienministerin hätten, aber ich denke, Amtsinhaberin Ursula von der Leyen macht ihre Sache gut. Mehr Kitas19, Elterngeld als Ansporn20 für Männer, sich um ihre Kinder zu kümmern (statt ins nächste Fitnesszentrum zu gehen, sobald es Zeit für das Bad der Kleinen ist). Das ist eine vernünftige Politik, reicht jedoch nicht, um das Vertrauen der Nation in die Vorteile des Mutterseins wiederherzustellen. Es muss gelingen, die damit verbundenen Freuden wieder populär zu machen. Im Moment scheint Mutterschaft für viele Frauen eher einem furchtbaren Opfer21 gleichzukommen: der Verlust sozialen Ansehens, die Verarmung durch Kindererziehungskosten, das Ende von Freiheit, vielleicht die Torpedierung der beruflichen Laufbahn. Die deutsche Mutti hat’s schwer.

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Trotzdem alles Gute zum Muttertag. Lassen Sie sich durch mich nicht entmutigen. Roger Boyes ist Deutschland-Korrespondent der The London Daily Times. Er lebt seit 13 Jahren in Deutschland und schreibt die Kolumne My Berlin im Tagesspiegel. In seinem Buch "My dear Krauts" beschreibt er mit typisch britischem Humor die Eigenheiten des täglichen Lebens in Deutschland.

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employé Eva Herman ist eine deutsche Autorin und ehemalige Fernsehmoderatorin. Drei ihrer Bücher zum Selbstverständnis von Frauen, über Geschlechterrollen und Familienpolitik führten zu Kontroversen in den Medien. 15 équilibre 16 "réalisation de soi"  épanouissement 17 peu répandu 18 se décontracter 19 Kindertagesstätten 20 encouragement 21 sacrifice 14