Kilian Graf
Der Transnistrien-Konflikt Produkt spätsowjetischer Verteilungskämpfe und Zerfallskonflikt der implodierten Sowjetunion
disserta Verlag
Kilian Graf
Der Transnistrien-Konflikt Produkt spätsowjetischer Verteilungskämpfe und Zerfallskonflikt der implodierten Sowjetunion
Graf, Kilian: Der Transnistrien-Konflikt: Produkt spätsowjetischer Verteilungskämpfe und Zerfallskonflikt der implodierten Sowjetunion, Hamburg, disserta Verlag, 2010 ISBN: 978-3-942109-31-4 Herstellung: disserta Verlag, ein Imprint der Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2010
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D 188
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Ich danke meinen beiden Betreuern Prof. Dr. Hajo Funke von der Freien Universität Berlin und Prof. Dr. Dr. h. c. Winfried Böttcher vom Europa Institut Klaus Mehnert in Kaliningrad für ihre Unterstützung während des gesamten Promotionsprozess. Dr. Steffen Hagemann und Dr. Anneli Ute Gabanyi, die mir während des Bearbeitungszeitraumes mit wertvollen Anregungen weiterhalfen, gilt mein besonderer Dank. Zudem danke ich meiner Frau Oksana für ihre Geduld und meinen Eltern für ihre Unterstützung. In besonderer Weise bin ich meiner Mutter Karin Graf zu Dank verpflichtet, ihr ist diese Arbeit gewidmet.
5
INHALTSVERZEICHNIS
Seite Einleitung
12
I
Transformation
31
Transformationstheorien
36
Besonderheiten der postsowjetischen Transformation
45
Zwischenfazit
62
II
64
Historischer Hintergrund
Bessarabien im russischen Herrschaftsbereich (1812-1917)
75
Die Revolution und der Anschluss an Rumänien (1917/ 18)
82
Die Zwischenkriegsphase (1918-1944)
91
Die Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik (MSSR) (1944-1991)
104
Zwischenfazit
123
III
125
Der Transnistrien-Konflikt
Die Perzeption des Transnistrien-Konflikts als ethnischer Konflikt
125
Sowjetische Nationalitätenpolitik
142
Chronologie des Konfliktes
154
Perestrojka – Untergang durch Umbau
166
Die sowjetischen Streitkräfte beim Zerfallsprozess
174
Die moldauische Nationalbewegung
184
Gegenbewegungen
198
Der Zerfall des politischen Systems der MSSR
207
Die transnistrische Autonomiebewegung
217
Der territoriale Zerfall der MSSR
225
Chisinaus Weg in die Unabhängigkeit
234 6
Bewaffnete Auseinandersetzungen
248
Die Rolle der 14. Armee
261
Das Umfeld des Transnistrien-Konflikts
269
Zwischenfazit
276
IV
281
Fortbestehen des Transnistrien-Konflikts
Entwicklungen in der Republik Moldau
283
Strukturelle Schwächen der Republik Moldau
284
Machtkampf in Chisinau
289
Konsolidierung der Republik Moldau
299
Bilanz der Republik Moldau im Hinblick auf den Transnistrien-Konflikt
317
Entwicklungen in Transnistrien
320
Instrumente des Machterhalts
329
Bilanz der PMR
344
Einfrieren des Konflikts durch Verhandlungen
346
Der Waffenstillstand 1992
351
Die Nachkriegsperiode 1992 - 1996
355
Gleichheit der Konfliktparteien 1997-2000
360
Konfrontation 2001-2005
362
Internationalisierung des Verhandlungsprozesses ab 2005
376
Die Abkehr vom multilateralen Verhandlungssystem
383
Perspektiven der Konfliktlösung
387
Fazit
402
Literatur
414
7
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1
Chronologie der moldauischbessarabischen Geschichte (1352-1988)
S. 68
Tabelle 2
Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung der MSSR und Transnistriens 1941, bzw. 1936 und 1989
S. 106
Tabelle 3
Transnistrien in der Wirtschaft der MSSR
S. 115
Tabelle 4
Nationale Zusammensetzung der Moldauischen Kommunistischen Partei
S. 121
Tabelle 5
Erste Sekretäre der Moldauischen Kommunistischen Partei 1941-1991
S. 122
Tabelle 6
Chronologie des Transnistrien-Konflikts (1988 – Juni 1992)
S. 156
Tabelle 7
Sprachkenntnisse der ethnischen Gruppen in der MSSR
S. 189
Tabelle 8
Folgekonflikte der nicht-gelösten ethnischen-nationalen Konfliktlinie (sic!)
S. 277
Tabelle 9
Überblick über die Wahlergebnisse der Parlamentswahlen in der Republik Moldau 1994-2009
S. 304
Tabelle 10
Chronologie des Einfrierens (1992-2007)
S. 347
Landkarten
Karte 1
Die Republik Moldau
S. 30
8
Liste der verwendeten Abkürzungen
BIP
Bruttoinlandsprodukt
EU
Europäische Union
FBIS-SOV
Foreign Broadcast Information Service
GASSR
Gagausische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik
Gosplan
Komitee für Wirtschaftsplanung in der Sowjetunion
GSSR
Gagausische Sozialistische Sowjetrepublik
GUS
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, Nachfolgeorganisation der UdSSR
ITERA-Gruppe
Eine 1992 gegründete, private sich auf den Export spezialisierte Erdgasgesellschaft in den GUS
IMF
Weltwährungsfonds
KGB
Sowjetischer Geheimdienst (Komitet Gosudarstvenoi Besopasnosti)
KPdSU
Kommunistische Partei der Sowjetunion
MASSR
Moldauische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (1924-1940)
MIK
Militärisch-industrieller Komplex
MKP
Moldauische Kommunistische Partei (zu Sowjetzeiten)
9
MSSR
Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik
MSW
Moldovan Steel Work in Rybnitsa
MVD-Truppen
Binnenstreitkräfte des sowjetischen Innenministeriums; Truppen des Ministerstvo Vnutrennikh del (Ministerium des Inneres)
OGRF
Operationelle Gruppe der Russischen Streitkräfte (Verbliebene ehemalige 14. Armee in Transnistrien)
OMON
Otrjad Milizii Osobogo Nasnaenija (Einheit der Miliz besonderer Bestimmung) ist eine Spezialeinheit der russischen Polizei
OSTK
‚Vereinigter Rat der Arbeiterkollektive’, von Igor Smirnov geführte politische Bewegung in Transnistrien
OSZE
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, ehemals: KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa)
PASSR
Pridnestrovische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik
PCRM
Partidul Comunitilor din Republic Moldova, Kommunistische Partei der Republik Moldau
PDAM
Moldauische Agrardemokratische Partei
PMR
Pridnestrovische Moldauische Republik
PMSSR
Pridnestrovische Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik
10
RGW
Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe: wirtschaftlicher Zusammenschluss der sozialistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion
RF
Russische Föderation
RFE/ RL
Radio Free Europe/ Radio Liberty
RM
Republik Moldau
SOVSET
Elektronisches Netzwerk, das Informationen zu Osteuropa und zur ehemaligen Sowjetunion bereitstellt
STK
Sovet Trudovych Kollektivov (Arbeiterräte)
UdSSR
Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, Sowjetunion
UNO
Vereinte Nationen
WHO
World Health Organisation/ Weltgesundheitsorganisation
11
Einleitung Erkenntnisinteresse Nicht die Aktualität des Transnistrien-Konflikts war der ausschlaggebende Faktor, ihn in den Mittelpunkt dieser Dissertation zu stellen, vielmehr war es die persönliche Verbundenheit des Autors zu einer Stadt in Transnistrien und den dort lebenden Menschen, die das Erkenntnisinteresse der erfolgten Analyse erklärt. Die Eskalation des Konfliktes ist nun fast 20 Jahre her, zahlreiche Autoren haben sich mit den Geschehnissen am Dnjestr als Symptom für diese oder jene Entwicklung auf postsowjetischem Territorium auseinandergesetzt, aber noch nie stand der Transnistrien-Konflikt im Mittelpunkt einer großangelegten Untersuchung. Deshalb war es an der Zeit, die Entstehung des Konflikts, seine Ursachen, sein Umfeld wie seine Akteure grundsätzlich zu analysieren, Urteile zu hinterfragen und Kategorien zu prüfen. 20 Jahre nach der stillen Revolution in Osteuropa, die gravierende Systemwechsel und die Neugründung zahlreicher Staaten mit sich brachte, sollen die komplexen Entwicklungen der Transformationsphase in der Republik Moldau einer erneuten Analyse unterzogen und neu bewertet werden. Die durch die Perstrojka-Politik Gorbaevs ermöglichte Erosion der sowjetischen Herrschaft in Osteuropa, die die Sowjetunion implodieren ließ, prägten das Ende des 20. Jahrhunderts in Europa und der Welt.1 Der den Niedergang des Ostblocks begleitende politische Neuordnungsprozess Anfang der 90er Jahre zeigte sich einerseits in der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, andererseits im Auseinanderfallen von Staaten wie Jugoslawien und der Tschechoslowakei. Ein neues politisches und wirtschaftliches System ersetzte den bisherigen autoritären und zentral gelenkten Modus der Sowjetunion. Der Zerfall der UdSSR war jedoch nicht nur Ausdruck der Krise des sozialistischen Systems und endgültiger Zusammenbruch eines als Alternative zum westlichen Kapitalismus entworfenen Modernisierungsmodells2, sondern gleichzeitig Teil eines universalen Prozesses der Auflösung polyethnischer Imperien und ihrer Aufsplitterung in Nationalstaaten, wie er in Europa durch den Zer-
1
Implosion bezeichnet in der Physik den Vorgang, wenn ein Hohlkörper durch äußeren Überdruck schlagartig zerstört wird. Auch der kontrollierte Selbstauflösungsprozess der Sowjetunion im Dezember 1991 kann als solche bezeichnet werden, weil das fragile Sowjetsystem dem äußeren Druck der Modernisierung und des Wettrüstens nicht mehr gewachsen war. Die wachsende Unzufriedenheit der sowjetischen Bevölkerung und eine erstarkende Opposition, die sich aus den Eliten rekrutierte, können daneben als Hauptfaktor für den Untergang des Sowjetreichs gesehen werden. 2
Vgl. Ott, Thomas: Angleichung, nachholende Modernisierung oder eigener Weg? Beiträge der Modernisierungstheorie zur geographischen Transformationsforschung, in: Europa Regional Jg. 8, Heft 3-4 2000. S. 20-27. S. 25.
12
fall des Habsburger und des Osmanischen Reichs nach dem 1. Weltkrieg oder durch die Auflösung der Kolonialimperien nach dem 2. Weltkrieg bereits erfolgt war. Seit den 90er Jahren beherrscht eine geostrategische Unübersichtlichkeit den postsowjetischen Raum, die es den westlichen Beobachtern erschwert den ehemals als monolithischen sozialistischen Block wahrgenommenen Vorhof Russlands differenziert zu beurteilen und zu analysieren. Die Zerfallskonflikte der implodierten Sowjetunion fanden im Westen nur punktuell Aufmerksamkeit.3 Die Aufmerksamkeit von Osteuropa und seinen oftmals als ethnisch klassifizierten Konflikten wandte sich angesichts ihrer Unlösbarkeit, aber auch angesichts ihrer mangelnden Bedrohung für den Westen, resignierend ab. Diese Dissertation möchte das Zeitfenster eine Generation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nutzen, um einen Blick auf einen der ‚eingefrorenen und vergessenen’ Konflikte4 im postsowjetischen Raum, den Transnistrien-Konflikt zu werfen. Sie macht es sich zur Aufgabe, einen Überblick über postsowjetische Transformation zu geben, gleichzeitig mit einem Einblick in ihre Abgründe. 20 Jahre nach Beginn der Zeitenwende kann der postsowjetische Transformationsprozess keinesfalls als abgeschlossen betrachtet werden. Die politische, wirtschaftliche, militärische und geostrategische Neuausrichtung der Region ist nach wie in vollem Gange, wie die Diskussionen um die Osterweiterung der NATO oder die Westausdehnung von Gasprom immer wieder verdeutlichen. Die nach dem Ende der Sowjetunion aufgebrochenen Konflikte5 – Abchasien, Nagorno-Karabach, eenya – zeigen, dass das Sowjetsystem das in der Gesellschaft vorhandene Konfliktpotenzial nur eingefroren, aber nicht gelöst hat. Nach dem Wegfall der disziplinierenden Hand in Form der Kommunistischen Partei brachen diese oftmals vorschnell als ethnoterritorial oder ethnopolitisch klassifizierten,6 in Wahrheit aber mehrdimensionalen, polykausalen und multivektoriellen Konflikte auf. Der anspruchsvolle Transformationsprozess
3
Der kurze Gewaltausbruch mit seinem Höhepunkt im Juni 1992 zwischen der Republik Moldau und den separatistischen Kräften Transnistriens, die von Kosaken aus Russland und der Ukraine unterstützt wurden, erhielt im Westen nur sehr wenig Aufmerksamkeit. Die zeitgleichen und ähnlich gelagerten Konflikte im ehemaligen Jugoslawien (Bosnien und Kroatien) standen weit mehr im Fokus des westlichen Interesses. 4
Vgl. Lynch, Dov: Engaging Eurasia’s Separatist States: Unresolved Conflicts and de facto States. United States Institute of Peace Press, Washington, D. C. 2004. 5
Vgl. Limberg, Wayne P.: World Turned Upside Down: Ethnic Conflict in the Former Soviet Union, in: Duncan, Raymond W./ Holman, Paul G. Jr. (Hrsg.): Ethnic Nationalism and Regional Conflict: The Former Soviet Union and Yugoslavia. Boulder, Co 1994. S. 53-76. 6
Vgl. Chinn, Jeff/ Kaiser, Robert: Russians as the New Minority: Ethnicity and Nationalism in the Soviet Successor States. Boulder, Co./ Oxford 1996; Chinn, Jeff/ Roper, Steven: Ethnic Mobilization and Reactive Nationalism: The Case of Moldova, in: Nationalities Papers Jg. 23 Heft 2 1995. S. 291-325; Kaufman, Stuart J.: Spiralling to Ethnic War. Elites, Masses, and Moscow in Moldova’s Civil War, in: International Security Jg. 21 Heft 2. S. 108-138; Lamont, Neil V.: Territorial Dimensions of Ethnic Conflict: The Moldovan Case, 1991-March 1993, in: The journal of Slavic military studies. Philadelphia, Pa. Jg. 6, Heft 4 1993. S. 576-612; Lamont, Neil V.: Ethnic Conflict in the Transdniester, in: Military Review Jg. 74-75 Heft 12-1 1994. S. 56-69;
13
einer Sowjetrepublik in einen europäischen Nationalstaat umfasst sehr viele machtpolitische und ökonomisch relevante Aspekte, die für Spannungen in der Gesellschaft wie auch der Eliten verantwortlich sind. Im Falle der Republik Moldau war der Zusammenbruch der Sowjetunion das entscheidende Ereignis, das zum Konflikt führte.7 Vor 1991 hatte es in der Moldauischen SSR und Transnistrien im Gegensatz zu den anderen Beispielen keine ethnischen Konflikte gegeben.8 Das macht die Besonderheit dieses Konflikts aus, weshalb es sinnvoller ist, ihn mit dem Etikett postsowjetisch als ethnisch zu versehen, da er mehrdimensional ist und ethnische Aspekte, Fragen der Sicherheit, der Aufteilung von Eigentum, Aspekte der nationalen Identitäten und Eigenheiten, Pluralismus, Ideologie, Religion und Macht, sowie weitere Faktoren umfasst.9 Vereinfachende Zuspitzungen in den moldauischen Medien, wonach Transnistrien insgesamt kein eigener Staat sei, sondern „eine triviale russische Militärbasis, die ein Medienkonglomerat beschäftigt, um sich als abtrünnige Republik zu tarnen, zusammen mit einer entmachteten Bevölkerung, die als Statisten dienen“10 sind wenig hilfreich. Ebenso der ständige Verweis von moldauischen Vertretern auf „die illegale Präsenz russischer Truppen auf dem nationalen Territorium der Republik Moldau“11 oder die „bolschewistischen Traditionen“12 des Regimes in Tiraspol, die nur einer einseitigen Schuldzuweisung bei der Suche nach einer Lösung des Konflikts dienen.
7
Vgl. Kolossov, Vladimir/ O’Loughlin, John: Pseudo-States as Harbingers of a New Geopolitics: The Example of the Trans-Dniester Moldovan Republic (TMR), in: Newman, David (Hrsg.): Boundaries, Territory and Postmodernity. London/ Portland, Or. 2001. S. 151-176. S. 164. 8
Vgl. O’Loughlin, John/ Kolossov, Vladimir/ Tchepalyga, Andrei: National Construction, Territorial Separatism, and Post-Soviet Geopolitics in the Transdniester Moldovan Republic, in : Post-Soviet Geography and Economics Jg. 39, Heft 6 1998. S. 332-358.
9
Vgl. Lamont, Neil V.: Territorial Dimensions of Ethnic Conflict: The Moldovan Case, 1991-March 1993, in: The journal of Slavic military studies. Philadelphia, Pa. Jg. 6, Heft 4 1993. S. 576-612. S. 606. 10
Sofransky, Octavian: Three Transnistrian Vectors, in: moldova azi 1. Dezember 2009. S. 4. Abgerufen am 17. Januar 2010: http://www.azi.md/en/print-story/7355. Zitate, die aus der englischsprachigen Literatur übernommen wurden, wurden vom Autor ins Deutsche übersetzt. Dies gilt für die gesamte Dissertation. 11
Chirtoaca, Nicolae: Moldova within an Emerging Euro-Atlantic Security Order, in: Südosteuropa Mitteilungen Heft 2-3 2004. S. 108-117.
12
Chirtoaca, Nicolae: Juridical Study of the Documents signed in the course of the Negotiation Process in the Transnistrian Conflict Settlement. Institute for Public Policy, Chisinau 2001. S. 18.
14
Methodik In dieser Dissertation sollen der politikwissenschaftliche Ansatz der Transformationsforschung und der regionalwissenschaftliche Blick der Osteuropaforschung zusammengeführt werden. Denn die Auseinandersetzung der 90er Jahre, welcher Ansatz zur Erklärung der Entwicklungen in der implodierten Sowjetunion sinnvoller sei, muss als endgültig überwunden betrachtet werden.13 Es darf kein Entweder-oder als Antwort auf diese Frage geben, vielmehr ein Sowohl-als-auch. Nur ein regionalwissenschaftlich geschultes Auge kann die in Osteuropa ablaufenden Transformationsprozesse richtig einordnen, aber systematisieren und analysieren, in eine politikwissenschaftliche Fragestellung gießen, gelingt dem Politologen besser. In dieser Arbeit wird versucht mit einem aus der Politischen Kulturforschung geschulten Auge den Ethnizitätsbegriff der Nationalbewegung zu dekonstruieren und damit offen zu legen, dass er ein Mobilisierungsinstrument in den Händen der Eliten war. Scheinbar objektive Fakten wie die ethnische Zugehörigkeit der Bevölkerung der Republik Moldau werden kritisch hinterfragt, um damit einseitige Interpretations- und Analysemodelle zu vermeiden. Die Dissertation bewegt sich also nicht nur zwischen Regional- und Politikwissenschaft, sondern innerhalb der Politikwissenschaft auch zwischen den Bereichen Politische Theorie und Internationale Beziehungen. Sie bedient sich einer wissenssoziologisch gelehrten hermeneutischen Schule, die erkenntnistheoretische Ansätze in der Tradition Michel Foucaults bündelt. „Ich will verstehen, wie wir zu dem geworden sind, was wir heute sind“14 war der wissenschaftliche Anspruch, der mich durch mein Studium an der FU Berlin begleitete. Nach mehrmaligen Aufenthalten und engen Kontakten als ersten Berührungspunkten mit der komplexen Transnistrien-Problematik war dieser Gedanke Leitgedanke dieser Dissertation: Ich wollte den Ursachenkomplex begreifen, der hinter diesem Konflikt steht. Die Komplexität des Untersuchungsgegenstands Postsowjetische Konflikte verlangt prinzipiell einen interdisziplinären Ansatz, der zu einem Methodenpluralismus bzw. zu einem von Derrida15 und Bourdieu16 angeleiteten methodologischen Individualismus, d. h. einer Theorie-
13
Vgl. King, Charles: Post-postcommunism. Transition, Comparison, and the End of “Eastern Europe”, in: World Politics, 53. Jg. Oktober 2000. S. 143-172.
14
Roth, Klaus: Politische Ideengeschichte. Warum es sich lohnt, sich mit Ideengeschichte auseinander zu setzen. Ms. Berlin 2005. Roth bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den Gedanken Foucaults „ [...] glaube ich, dass wir auf sehr viel entferntere Vorgänge zurückgehen müsse, wenn wir verstehen wollen, kraft welcher Mechanismen wir zu Gefangenen unserer eigenen Geschichte geworden sind.“ (Foucault, Michel: Das Subjekt und die Macht, in: Dreyfus, Hubert L./ Rabinow, Paul (Hrsg.): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Chicago 1982/ 83. Dt. Erstausgabe Frankfurt/ M. 1987. S. 243-264. S. 245).
15
Vgl. Bonacker, Thorsten: Die politische Theorie der Dekonstruktion: Jacques Derrida, in: Brodocz, André/ Schaal, Gary S.: Politische Theorien der Gegenwart II. Opladen 2001. S. 89-129.
15
synthese aus verschiedenen Quellen, führt.17 Von Jacques Derrida wird das Verständnis von Dekonstruktion übernommen, die zwei Ziele verfolgt: Erstens geht es der Dekonstruktion darum, scheinbar feste Oppositionen und Begrifflichkeiten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Zweitens will sie die damit verbundenen und für selbstevident gehaltenen Werte hinterfragen. Dadurch entzieht eine zielgenaue Dekonstruktion solchen Werten den vorschnell bewilligten Kredit. Der Begriffskomplex ethnische Identität soll in dieser Dissertation in diesem Sinne dekonstruiert werden. Auf den Soziologen Pierre Bourdieu geht vor allem die mikrosoziologische und mikropolitische Perspektive dieser Dissertation zurück, da neben der gesamtgesellschaftlichen Makroebene auch der Einbezug der individuellen Mikroebene, in diesem Fall der mentalen postsowjetischen Altlasten der konfliktrelevanten Akteure, zum besseren Verständnis des Transnistrien-Konflikts in seinem Entstehungsprozess wie seiner Festgefahrenheit beitragen kann. Der in dieser Arbeit verwendete Begriff von Kausalität orientiert sich an der Kritik Immanuel Kants am Kausalitätsbegriff von David Hume. Im Gegensatz zu Hume sieht Kant den Kausalgedanken als Notwendigkeit der inneren Struktur unserer Erkenntnis an, der eine Ordnung innerhalb unseres Erfahrungschaos ermöglicht. Jedes Geschehen ist nicht verursacht, sondern von einer unendlichen Gesamtheit verschiedenwertiger Bedingungen bedingt, deren Gewichtung vom Auge des Betrachters abhängt. Das vielfach in der Politikwissenschaft verwendete Schema von unabhängiger und abhängiger Variable greift für die vorliegende Arbeit zu kurz, vielmehr übersteigt die Komplexität der Realität das monokausale Erklärungsmuster des Modells. Auch wenn eine möglichst exakte Definition der verwendeten Begriffe angestrebt wird, so ist jeglicher Versuch letztlich zum Scheitern verurteilt. Nach der wahren Bedeutung der Wörter zu fragen, ist einem Bonmot von John Austin gemäß ähnlich naiv, wie die Frage nach der wirklichen Farbe des Chamäleons.18 Es gibt – wie der vom Neukantianismus inspirierte jüngere Nominalismus lehrt – keine Korrespondenz zwischen Begriffen und nichtbegrifflicher Wirklichkeit. Das gilt es immer zu bedenken, wenn von Begriffen wie Identität, Nation, Ethnie oder Gesellschaft die Rede ist, die keine reale Entsprechung haben, sondern gedankliche Konstrukte darstellen, die die erlebte Realität19 von Akteuren und Betrachtern zum Ausdruck 16
Vgl. Behr, Hartmut: Die politische Theorie des Relationalismus: Pierre Bourdieu, in: Brodocz, André/ Schaal, Gary S.: Politische Theorien der Gegenwart II. Opladen 2001. S. 377-402.
17
Vgl. auch: Tishkov, Valery: Ethnicity, Nationalism and Conflict in and after the Soviet Union. The Mind Aflame. London 1997. S. XI.
18
Vgl. zu diesem Absatz auch: Roth, Klaus: Genealogie des Staates. Prämissen des neuzeitlichen Politikdenkens. Berlin 2003. S. 19 ff.
19
Die Realität oder Wirklichkeit ist kein eindimensionales Abbild der Welt, sondern die Realität umfasst die Gesamtheit aller Aussagen bezüglich eines realen oder abstrakten Gegenstandes, die nach einer vorherigen Defi-
16