Das Leben, ein Rätsel

04.06.2016 - Diogenes Verlag, Euro 24,70. 6 (NEU) Karin Slaughter, Schwarze Wut,. Blanvalet Verlag, Euro 20,60. 7 (5). Mario Giordano, Tante Poldi und.
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SAM ST A G, 4. JUNI 201 6

BESTSELLER Belletristik 1 (NEU) Donna Leon, Ewige Jugend, Diogenes Verlag, Euro 24,70 André Heller, Das Buch vom Süden, Zsolnay Verlag, Euro 25,60 3 (4) Jonas Jonasson, Mörder Anders und seine Freunde . . ., Carl’s Books, Euro 20,60 4 (3) Andrea Camillieri, Das Labyrinth der Spiegel, Bastei Lübbe Verlag, Euro 22,70 5 (2) Martin Walker, Eskapaden, Diogenes Verlag, Euro 24,70 6 (NEU) Karin Slaughter, Schwarze Wut, Blanvalet Verlag, Euro 20,60 7 (5) Mario Giordano, Tante Poldi und die Früchte des Herrn, Ehrenwirth Verlag, 15,50 8 (NEU) Sophie Bonnet, Provenzalische Intrige, Blanvalet Verlag, Euro 15,50 9 (6) Jojo Moyes, Ein ganz neues Leben, Wunderlich Verlag, Euro 20,60 10 (WE.) John Irving, Straße der Wunder, Diogenes Verlag, Euro 26,80 2 (1)

Sachbücher 1 (5)

Giulia Enders, Darm mit Charme, Ullstein Verlag, Euro 17,50 Reinhard Haller, Die Macht der Kränkung, Ecowin Verlag, Euro 21,95 (WE.) Alexander van der Bellen, Die Kunst der Freiheit, Brandstätter, Euro 22,50 (NEU) Alexander von Schönburg, Weltgeschichte to go, Rowohlt Berlin, Euro 18,50 (8) Wolfram Pirchner, Nur keine Krise, Amalthea Verlag, Euro 19,95 (1) Thilo Sarrazin, Wunschdenken, DVA, Euro 25,70 (4) Lotte Tobisch, Alter ist nichts für Phantasielose, Amalthea Verlag, Euro 24,95 (WE.) Michael Dangl, Grado abseits der Pfade, Braumüller Verlag, Euro 14,90 (7) Hera Lind, Kuckucksnest, Diana Verlag, Euro 20,60 (2) Antoine Leiris, Meinen Hass bekommt ihr nicht, Blanvalet Verlag, Euro 12,40

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Ermittelt von GfK Entertainment. © GfK Entertainment

Das Leben, ein Rätsel Was heißt schon Normalität? Bei dem britischen Schriftsteller Graham Swift gibt es sie ohnehin nicht. ANTON THUSWALDNER

Kein Leben ist gewöhnlich, jede Biografie birgt ihre eigenen Dramen, Absonderlichkeiten und Geheimnisse. Jemanden wirft es aus der Bahn, dabei hat er nie damit gerechnet, dass ihm je etwas Böses oder Unvorhergesehenes geschehen könnte. So kontrolliert SwiftFiguren ihre Biografien auch gestalten, etwas kommt dazwischen, und es bleibt unberechenbar, wie es weitergeht. Dabei bedarf es gar keiner besonderen Umwälzungen, dass jemand zur Besinnung kommt. Graham Swift beweist nämlich das absolute Gehör für das Unausgesprochene, das sich dräuend zwischen Menschen auftut. Er erzählt von einfachen Menschen, die in eine Lage geraten, die sie aus dem Gleichschritt ihrer alltäglichen Verrichtungen herausreißt. Dann stehen sie wie erstarrt im Raum, taumeln kurz und überdenken, was ihnen widerfährt. Momente der unsäglichen Erhellung umfangen sie, Fragen über das Rätsel der Existenz, ihrer eigenen Existenz, brechen über sie herein. Das kann ungemütlich werden, aber sie kommen nicht aus, sie müssen sich den Anforderungen der unheimlichen Wirklichkeiten des Ichs stellen. Es bedarf keiner Sensationen, dass einem unsere Regeln zu denken, zu sprechen, zu handeln fragwürdig erscheinen. In der Frühstückspause verfallen zwei Männer in ein Gespräch über die inflationäre Verwendung des Begriffs „tragisch“. Kaum ist von einem Todesfall die Rede, wird er als „tragisches Ereignis“ gewertet. Diese Wendung ist der Not geschuldet, auf den Tod angemessen zu reagieren. „Ich verstand, dass die Leute tragisch sagen, weil sie nicht wissen, was sie sonst sagen sollen – wenn jemand tot umfällt.“ Und der Erzähler, an seine frühere Comic-Lektüre erinnert („Baff! Bum! Krach! Ich habe so gelacht“), gesteht sich etwas Ungeheures ein, das er gar nicht auszusprechen wagt. „Komisch. Das sollte man sagen. Aber das kann man nicht.“ Und er denkt dabei an einen erfahrenen Bergsteiger, der auf „einem kleinen, pissleichten

Spezialist für wunde Herzen: Graham Swift.

Berg“ zu Tode kommt. Graham Swift schafft es, auf kleinem Raum von den leichten Verschiebungen in den Geröllfeldern des Herzens zu erzählen, von der Kluft, die sich auftut zwischen dem, was jemand für sein Ich hält, und wie er von den anderen wahrgenommen wird. In den Erzählungen werden die Figuren von ihrem Zwang zur Maskenpflicht enthoben. Sie fallen auf sich selbst zurück, sind kurzfristig etwas näher an der Wahrheit ihres Lebens, das sie für sich allein zu behalten bestrebt sind. Ein ganzes Leben komprimiert in einer knappen Geschichte, so meisterhaft wie Graham Swift schafft es kaum jemand sonst in unserer Zeit. Er ist der Spezialist für wunde Herzen und der Verwalter ungebührlicher Gedanken. Getragen sind seine Geschichten vom Erschrecken darüber, dass sich das Unheimliche mitten unter uns befindet und die Wirklichkeit weitermacht, als wäre nichts geschehen.

BILD: SN/DTV/GUARDIAN NEWS & MEDIA LTD 2015

ries. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. Geb., 303 S. dtv, München 2016. Verlosung: Fünf Exemplare des Romans „England und andere Stories“ von Graham Swift, 304 Seiten, DTV, München 2016, werden unter Abonnenten der „Salzburger Nachrichten“ verlost. Zuschriften bzw. E-Mails bis Montag, 6. Juni 2016 (Einsendeschluss), unter www.salzburg.com/gewinnspiele oder per Postkarte, Kennwort „Buch des Monats“, an „Salzburger Nachrichten“, LeserMarketing, Karolingerstraße 40, 5021 Salzburg. Die Verlosung gilt nur für SN-Abonnements, die zum Zeitpunkt der erstmaligen Bekanntmachung dieses Angebots bereits bestanden haben. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Buch: Graham Swift: England und andere Sto-

Ein Roman erweitert den Radius ins Internet Juli Zeh wagt sich in „Unterleuten“ an das Spiel mit mehreren Wirklichkeiten. Die Schriftstellerin Juli Zeh stellt einen achtbaren Anspruch an sich. Sie schreibt einen Gesellschaftsroman, der einen Seitenzweig der politischen Literatur bildet. In Unterleuten, einem Kaff in Brandenburg, treffen die verwegensten und deprimiertesten Gestalten aufeinander: Berliner ziehen aufs Land, weil sie die Idylle zu finden hoffen. Enttäuschte Kleinbürger erkennen erschrocken, dass sie in Zeiten der DDR nichts galten und im neuen Kapitalismus erst recht nicht. Reiche Westler kaufen Land auf, weil damit Geschäfte zu machen sind. Ein Windpark soll errichtet werden, und der spaltet die Gemeinde. Die einen sehen in ihm die Chance, damit dem Dorf die Infrastruktur abzusichern, die anderen sehen einen schädlichen Eingriff in die Natur und vermeinen, sich damit in den Klammergriff kapitalistischer Abhängigkeit zu begeben. Wie ticken die Leute dort? Um das klarzustellen, wechselt Juli Zeh von Kapitel zu

Kapitel die Perspektive. Damit werden die jeweiligen Verbohrtheiten eines jeden sichtbar. Es besteht kaum je die Möglichkeit, einem anderen verständlich zu machen, was man denkt, denn der will gar nicht aus seinem Käfig der Voreingenommenheit. Es bilden sich Zweckbündnisse in der Hoffnung, dass jeder sein Interesse gewahrt sieht. Aus Unwissenheit wächst Angst, daraus entsteht Hysterie. Die Politik in der Nussschale – Juli Zeh knackt sie, dass wir sie übersichtlich ausgebreitet vor uns sehen. Das ist unangestrengt zu lesen. Ein Kapitel reißt gern dann ab, wenn etwas offenbleibt, sodass die Geschichte rätselhaft bleibt. Also auf ins nächste Kapitel! Wir treffen auf skurrile Persönlichkeiten. Sie stehen für Typen in der Gesellschaft. Damit wird es eng für einen politischen Roman. Bei Julie Zeh erkennen wir nicht Strukturen von Macht oder Spielregeln von Überwachung, alles bleibt eine Sache verschrobener Charaktere.

Juli Zeh hat ihren Aktionsradius ins Internet ausgeweitet. Alles ist erfunden, eine zweite Wirklichkeit also. Die ist aber abgesichert durch Informationen im Netz. Häufig zitiert Julie Zeh aus einem Buch von Manfred Gortz, das Anleitungen zum Erfolg bietet. „Liebe die Feinde deiner Gegner wie dich selbst“, lautet eine der neoliberalen Parolen daraus. Linda, eine junge Frau, die in Unterlinden einen Pferdehof errichten will, bezieht ihr Durchsetzungsvermögen aus diesem dubiosen Ratgeber. Juli Zeh hat über ihren Verlag verlauten lassen, ihn, der bei Goldmann als Taschenbuch erschienen ist, selbst verfasst zu haben. Das ist bemerkenswert, weil sie in die Haut eines Charakters geschlüpft ist, der ihrem eigenen Wesen widerspricht. Sie denkt gleichermaßen aus dem Kopf des Feindes und macht dessen Ideen markttauglich. Wie real ist das Erfundene und wie erfunden ist unsere Realität? Dass die Un-

terleutener mit der Wirklichkeit auf Kriegsfuß stehen, bekommen wir mit. Uneinsichtig reimen sie sich zusammen, wie die Welt aussieht und liegen damit grundsätzlich falsch. Ihre Wahrheit ist ein Missverständnis, ein Selfmade-Produkt aus Eigensinn und Unverstand. Wenn Juli Zeh ihrer Romanwelt einen Internetauftritt verschafft, tut sie so, als wären ihre Geschichten den Menschen vom Leib geschrieben. Eigentlich stimmt das auch. Literatur ist ein ernsthaftes Spiel mit vielen Wirklichkeiten in uns und um uns herum. Anton Thuswaldner

Juli Zeh: Unterleuten, Roman, 635 Seiten, Luchterhand, München 2016.