7 Die Zukunft des öffentlichen Personennahverkehrs 7

Zuschussleistungen durch den Vorhabenträger als Beihilfe i . S . d . Art . 87 EGV. 1 . ÖPNV im grenzüberschreitenden Wettbewerb. 2 . De-Minimis-Ausnahmen.
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7_URG_Umschlag#1

13.08.2009

21:17 Uhr

Seite 1

Schriftenreihe Umwelt-Recht-Gesellschaft

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www.lexxion.de € 44,80 ISBN 978-3-86 965-017-3

9 783869 650173

4. Greifswalder Forum Umwelt und Verkehr 2008

Die Zukunft des öffentlichen Personennahverkehrs Privatisierung, Wettbewerb, öffentliche Verkehrs- und Umweltinteressen

4. Greifswalder Forum Umwelt und Verkehr 2008 Die Zukunft des öffentlichen Personennahverkehrs

Der öffentliche Personennahverkehr und seine zukünftige Entwicklung sind gegenwärtig Gegenstand grundlegender Diskussionen. Die Europäische Kommission versucht seit Längerem, diesen bedeutenden Wirtschaftszweig für mehr privaten Wettbewerb zu öffnen. Insbesondere die bisherigen öffentlichen Anbieter sehen hierdurch wichtige öffentliche Verkehrsinteressen, den staatlichen Daseinsvorsorgeauftrag und Umweltbelange gefährdet. Die neue Verordnung 1370/2007 der Europäischen Union versucht, diese Kluft mit einer Kompromissformel zu überbrücken. Die Tragfähigkeit dieser Brücke und alternative Wege hin zu einem zukunftsfähigen ÖPNV werden im vorliegenden Band von namhaften Fachleuten aus den Bereichen Verkehrsökologie, Verkehrswissenschaft, Verkehrsökonomie und Verkehrsrecht sowie aus verschiedenen Ländern kritisch beleuchtet. Das Greifswalder Forum „Umwelt und Verkehr“ ist eine Fachtagung des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs und wird durch die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung gefördert.

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Schriftenreihe Umwelt-Recht-Gesellschaft Michael Rodi (Hrsg.)

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Die Zukunft des öffentlichen Personennahverkehrs

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7 4. Greifswalder Forum Umwelt und Verkehr 2008

Die Zukunft des öffentlichen Personennahverkehrs Privatisierung, Wettbewerb, öffentliche Verkehrs- und Umweltinteressen

Schriftenreihe Umwelt-Recht-Gesellschaft Michael Rodi (Hrsg.)

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben vorbehalten. Das Werk wurde mit größter Sorgfalt zusammengestellt, dennoch übernimmt der Verlag keine Haftung für inhaltliche und drucktechnisch bedingte Fehler.

ISBN: Print 978-3-869 65-017-3 E-Book 978-3-869 65-018-0 © 2009 Lexxion Verlagsgesellschaft mbH · Berlin www.lexxion.de Satz: typossatz GmbH, Berlin Umschlag: Christiane Tozman

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Das Greifswalder Forum „Umwelt und Verkehr“ ist inzwischen fester Bestandteil des verkehrsrechtspolitischen Diskurses. Der vorliegende Band und die zugrunde liegende Tagung vom 3. bis 5. April 2008 knüpfen inhaltlich an die vorangegangene im Jahr 2007 an. Damals wurde die Kontroverse über „Die Zukunft der Bahn“ nachgezeichnet; Tagung und der dazu veröffentlichte Tagungsband trugen dazu bei, dass die Politik von einer überstürzten Privatisierung der Bahn, insbesondere auch des Schienennetzes, Abstand nahm (vgl. Band 6 der Schriftenreihe, Die Zukunft der Bahn. Privatisierung, Wettbewerb, öffentliche Verkehrs- und Umweltinteressen, Berlin 2008). Eher am Rande schienen die vielfältigen aktuellen Rechtsprobleme auf, die den öffentlichen Nahverkehr auf der Schiene kennzeichnen. Es zeigte sich, dass dieses Thema einer eigenständigen Untersuchung harrt. In beiden Bereichen wird deutlich, dass die Diskussion über eine materielle Privatisierung nicht abreißt, die Politik aber „Angst vor der eigenen Courage“ zu haben scheint. In dieser Situation ist der neutrale Rat von Fachleuten aus verschiedenen Disziplinen bedeutsam, um schwer zu korrigierende Fehlentscheidungen zu vermeiden. Diese Handreichung möchten über die Grenzen hinaus bekannte und wirkende Wissenschaftler, Rechtspolitiker und Praktiker leisten, die der Einladung zum 4. Greifswalder Forum „Umwelt und Verkehr“ folgten. Dem Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald gebührt herzlicher Dank dafür, dies durch großzügige Unterstützung ermöglicht zu haben. Wertvolle Hilfe bei der Umsetzung des Projektes in die vorliegende Buchform leisteten insbesondere Frau Ass. iur. Antje Seppelt, Herr Dipl.-Kfm., Dipl.-Jurist Jörg Scharrer, der auch die Diskussion zusammenfasste, und Frau Dorothee Andrzjewski, LL.B. sowie Frau stud. iur. Franziska Peetsch, die die Übersetzungen aus dem Schwedischen und Englischen übernahmen. Greifswald, im Juli 2009 Prof. Dr. Michael Rodi

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Inhaltsübersicht Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Europarechtliche Vorgaben für den öffentlichen Personennahverkehr. . . .

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Prof. Dr. Stefan Storr

Grundzüge der europäischen Nahverkehrspolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Peter Faross und Prof. Dr. Michael Rodi

Grundkonzept eines nachhaltigen öffentlichen Personennahverkehrs. . . . 47 Prof. Dipl.-Ing. Dr. Gerd Sammer

Öffentlicher Personennahverkehr als öffentliche Aufgabe . . . . . . . . . . . . . 79 Prof. Dr. Michael Ronellenfitsch

Privatisierung des ÖPNV – Gestaltungsoptionen und Praxis . . . . . . . . . . . 105 Dr. jur. Lorenz Wachinger

Öffentlicher Verkehr und Umwelt: Grundsätzliche Zusammenhänge und Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Prof. Dr.-Ing. Udo Becker

Grundfragen des öffentlichen Nahverkehrs auf der Schiene. . . . . . . . . . . . 139 Prof. Dr. Michael Fehling, LL.M. (Berkeley)

Mehr Effizienz durch Wettbewerb im SPNV: Illusion oder Wirklichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Prof. Dr. Rafael Lalive und Prof. Dr. Armin Schmutzler

Die Privatisierung öffentlicher Verkehrsbetriebe am Beispiel Großbritanniens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Prof. Chris Nash, PhD

Neue Ausgestaltung des finanziellen Ausgleichs im öffentlichen Verkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Roger Pyddoke, Jan-Eric Nilsson und Torbjörn Eriksson

Diskussionsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Jörg Scharrer VII

Europarechtliche Vorgaben für den öffentlichen Personennahverkehr Prof. Dr. Stefan Storr*

I. Die Sonderstellung der gemeinsamen Verkehrspolitik im Binnenmarkt 1. Öffentliche Dienste im Primärrecht 2. Die Gemeinschaftskompetenz aus Art. 70 ff. EGV II. Inhalt und Anwendungsbereich der mit dem öffentlichen Dienst verbundenen Verkehrsverordnungen 1191/69, 1893/91 und 1107/70 1. Die Verordnung 1191/69 2. Die Verordnung 1893/91 a. Der „Vertrag über Verkehrsdienste“ b. Der Anwendungsbereich der Verordnung 1191/69 i. d. F. der Verordnung 1893/91 in Deutschland c. Abgrenzungsanforderungen nach „Altmark-Trans“ d. Die Entscheidung des BVerwG vom 19. Oktober 2006 3. Die Verordnung 1107/70 III. Zuschussleistungen durch den Vorhabenträger als Beihilfe i. S. d. Art. 87 EGV 1. ÖPNV im grenzüberschreitenden Wettbewerb 2. De-Minimis-Ausnahmen 3. Die „Altmark-Trans“-Entscheidung IV. Die Ausschreibungspflicht von Verkehrsdiensten 1. Allgemeine Voraussetzungen – unter Berücksichtigung des straßengebundenen Linienverkehrs a. Grundlegende Anforderungen der Richtlinie 2004/18 b. Gemein- und eigenwirtschaftliche Verkehre als Dienstleistungsaufträge c. Gemeinwohlverpflichtung durch Dienstleistungskonzession * Der Verfasser ist Professor für Öffentliches Recht und Wirtschaftsrecht am Institut für Österreichisches, ­Europäisches und vergleichendes Öffentliches Recht, Politikwissenschaft und Verwaltungslehre an der KarlFranzens-Universität Graz.

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Europarechtliche Vorgaben für den öffentlichen Personennahverkehr

d. Die In-House-Vergabe e. Gemeinwohlverpflichtung durch Auftragsvergabe aufgrund ausschließlichen Rechts 2. Der Eisenbahnverkehr im Vergaberecht a. Zur Verpflichtung, ein Vergabeverfahren durchzuführen b. Zur Ausschreibungspflicht außerhalb des Vergaberechts V. Der nicht vergabepflichtige Verkehr mit Bezuschussung VI. Die neue Verordnung 1370/2007 1. Der öffentliche Dienstleistungsauftrag 2. Ausnahmen vom Vergabeverfahren a. Möglichkeiten der Direktvergabe b. Ausnahmen für Tarifpflichten c. Lange Laufzeitregelungen

I. Die Sonderstellung der gemeinsamen Verkehrspolitik im Binnenmarkt Der Verkehrssektor nimmt im Binnenmarkt eine Sonderstellung ein. Art. 3 Abs. 1 lit. f EGV nennt „eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet des Verkehrs“ als ein eigenes Tätigkeitsfeld der Gemeinschaft neben „einem Binnenmarkt, der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist“ (Art. 3 Abs. 1 lit. c EGV). Art. 51 Abs. 1 EGV flankiert das Sonderrechtsregime, indem die Dienstleistungsfreiheit für den Verkehr ausgeschlossen und auf die Kompetenz der Gemeinschaft nach Art. 70 ff. EGV zur Verwirklichung einer gemeinsamen Verkehrspolitik verwiesen wird.1 Auch die Dienstleistungsrichtlinie 2006/1232, die einen erheblichen Liberalisierungsschub auslösen wird, ist auf Verkehrsdienstleistungen nicht anwendbar (Art. 2 Abs. 2 lit. d der Richtlinie). Diese Sonderstellung des Verkehrs erstaunt, sind Transport und Verkehr doch fundamentale Voraussetzungen, um den Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Personen und damit einen Binnenmarkt zu bewerkstelligen, ja 1 Zur Geltung des vertraglichen Wettbewerbsrechts außerhalb der Art. 70 ff. EGV: EuGH, Urteil vom 4. April 1974, Rs. 167/73 – „Arbeitsgesetzbuch Seeschiffahrt“. 2 Richtlinie 2006/123/EG vom 12. Dez. 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. L 376/2006, S. 36 f.).

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verdankt Europa seine Identität letztlich dem Verkehrswesen.3 Der heftige Widerstand der Mitgliedstaaten gegen eine Europäisierung und Liberalisierung des Verkehrssektors lässt sich wohl nur mit der Bedeutung erklären, die der Verkehr für den modernen Industrie- und Wohlfahrtsstaat hat: Verkehr ist nicht nur ein Instrument der Raumordnung zur Verbindung von Stadt und Land und ein Mittel der Wirtschaftsförderung. Die Möglichkeit, sich mit modernen Verkehrsmitteln fortbewegen zu können, gehört nach allgemeiner Auffassung zur existenziellen Grundsicherung, für die der Staat Vorsorge zu leisten hat. Auf dieser Überlegung hat Forsthoff4 bekanntlich seine Konzeption eines Rechts der Daseinsvorsorge für das deutsche Verwaltungsrecht entwickelt, in der die Gewährleistung von Verkehr eine notwendige Staatsaufgabe ist; mit dieser soll ein individueller Teilhabeanspruch der Bürger korrespondieren. Das schließt aber nicht aus, dass die Aufgabe der Daseinsvorsorgegewährleistung auch durch den europäischen Staatenverbund wahrgenommen werden könnte. Die folgende Analyse wird zeigen, dass es ein europäisches ÖPNV-Recht lange Zeit nur in Ansätzen gegeben hat. Versuche der Kommission, eine gemeinsame europäische Verkehrspolitik zu entwickeln, steht eine Abwehrphalanx der Mitgliedstaaten entgegen, den ÖPNV als Reservatzone zu erhalten. Jahrzehnte waren nur „kleine Schritte“ möglich, der „große Wurf“ ist bis heute ausgeblieben.

1. Öffentliche Dienste im Primärrecht Seit Inkrafttreten des Gründungsvertrages besteht kein Konsens darüber, ob und wie die Zukunft der Daseinsvorsorge – nicht nur für den ÖPNV – auf europäischer Ebene organisiert werden soll. Die unterschiedlichen Positionen setzen sich in normativen Formelkompromissen fort, die in den Vertrag reichen: Art. 86 EGV zielt auf einen möglichst unverfälschten Wettbewerb und unterwirft öffentliche Unternehmen und solche mit ausschließlichen oder besonderen Rechten den Wettbewerbsvorschriften der Gemeinschaft – und zwar auch dann, wenn diese Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse anbieten. Daseinsvorsorge ist grundsätzlich im Wettbewerb zu erbringen. Art. 86 Abs. 3 EGV weist der Kommission die Kompetenz zu, diese Verpflichtungen zu konkretisieren und zu kontrollieren.

3 Ronellenfitsch, Der ÖPNV im europäischen Binnenmarkt, VerwArch 92 (2001), 131, 300. 4 Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959, S. 38.

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Europarechtliche Vorgaben für den öffentlichen Personennahverkehr

Mit dem Amsterdamer Vertrag war Art. 16 EGV als „normatives Widerlager“ eingefügt worden. Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten sollen in die Pflicht genommen werden und dafür Sorge tragen, dass die Grundsätze und Bestimmungen für das Funktionieren der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse so gestaltet sind, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können. Aus diesem kompetenzrechtlichen Spannungsverhältnis der Art. 86 und Art. 16 EGV lässt sich ein primärrechtliches Konzept einer möglichst im Wettbewerb zu erbringenden Grundversorgung der Bevölkerung mit einer spezifischen Dienstleistung der Daseinsvorsorge herleiten. In diesem sind die Regulierungskompetenzen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten ineinander verschränkt und je nach Sektor davon abhängig, inwieweit sich Wettbewerb entwickeln kann. Aus dem Subsidiaritätsprinzip folgt, dass grundsätzlich die Mitgliedstaaten darüber entscheiden, welche Dienstleistungen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse erbracht werden und wie sie erbracht werden sollen. Die Gemeinschaft muss aber kontrollieren können, ob die Festlegung einer Dienstleistung im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse nicht missbräuchlich und ob eine allfällige Privilegierung einzelner Unternehmen durch die Mitgliedstaaten nicht unverhältnismäßig erfolgt ist.5 Dieses Konzept soll in der Verfassung für Europa fortgeschrieben werden, die Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten wird aber verschoben: Art. 16 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der EU) wird ausdrücklich eine Kompetenz von Parlament und Rat enthalten, durch Verordnung die Grundsätze und Bedingungen, insbesondere jene wirtschaftlicher und finanzieller Art, für das Funktionieren dieser Dienste zu regeln. Diese Kompetenzerweiterung der Union soll durch ein eigenes Protokoll über die Dienste von allgemeinem Interesse abgefedert werden, in dem als gemeinsame Werte der Union genannt werden: –– die wichtige Rolle und der weite Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden in der Frage, wie Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse auf eine den Bedürfnissen der Nutzer so gut wie möglich entsprechende Weise zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren sind, –– die Vielfalt der jeweiligen Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und die Unterschiede bei den Bedürfnissen und Präferenzen 5 Storr, Zwischen überkommener Daseinsvorsorge und Diensten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, DÖV 2002, 357, 364.

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der Nutzer, die aus unterschiedlichen geografischen, sozialen oder kulturellen Gegebenheiten folgen können, –– ein hohes Niveau in Bezug auf Qualität, Sicherheit und Bezahlbarkeit, Gleichbehandlung und Förderung des universellen Zugangs und der Nutzerrechte. Inwieweit dieses primärrechtliche Spannungsverhältnis für das Sekundärrecht maßstabsbildend sein wird, muss sich erst noch herausstellen. Das wird nicht nur davon abhängen, ob es gelingen wird, die Kompetenzen von Mitgliedstaaten und Union schärfer abzugrenzen, sondern vielmehr auch davon, ob und wie der EuGH die Änderungen durch den Reformvertrag für die Auslegung des Sekundärrechts berücksichtigen wird. Dabei stimmt es nicht hoffnungsvoll, dass Art. 16 EGV, dem die Funktion einer stärkeren Kompetenzabgrenzung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten zukommen sollte, in der EuGH-Rechtsprechung kaum Bedeutung erlangt hat.

2. Die Gemeinschaftskompetenz aus Art. 70 ff. EGV Im ÖPNV-Bereich ist die Kommission mit ihren Liberalisierungsbemühungen schon immer auf Granit gestoßen. Über Jahrzehnte hat sich der Rat, in dem die Mitgliedstaaten vertreten sind, geweigert, Vorschriften für eine gemeinsame Verkehrspolitik zu erlassen. Obwohl Art. 75 Abs. 1 EWGV (jetzt Art. 71 Abs. 1 EGV) bereits in der Fassung von 1957 die Gemeinschaft verpflichtet hatte, für den internationalen Verkehr aus oder nach dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder für den Durchgangsverkehr gemeinsame Regeln aufzustellen sowie die Bedingungen für die Zulassung von Verkehrsunternehmern zum Verkehr innerhalb eines Mitgliedstaates, in dem sie nicht ansässig sind, festzulegen, und obwohl Art. 75 Abs. 2 EWGV a. F. hierfür eine Übergangszeit von zwölf Jahren (vgl. Art. 8 EWGV a. F.) vorgesehen hatte, blockierte der Rat bis in die achtziger Jahre entsprechende Kommissionsvorschläge. Erst zehn Jahre später hatte das Parlament eine Untätigkeitsklage gegen den Rat angestrengt, auf die der EuGH in seinem grundlegenden Urteil am 22. Mai 1985 eine Vertragsverletzung des Rates festgestellt hatte.6 Zwar verfüge der Rat über einen weiten Ermessensspielraum hinsichtlich der Einzelheiten der gemeinsamen Verkehrspolitik; zur Einführung der Dienstleistungsfreiheit im Verkehrssektor sei er aber verpflichtet.

6 EuGH, Urteil vom 22. Mai 1985, Rs. 13/83 – „Untätigkeitsklage“, Rn. 68.

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Europarechtliche Vorgaben für den öffentlichen Personennahverkehr

Daraus folgte aber nicht, dass die Dienstleistungsfreiheit mit Ablauf der Übergangsfrist im Verkehrssektor vereinheitlicht war.7 Der EuGH verwies darauf, dass die Gemeinschaft eine Kompetenz zur schrittweisen Einführung der Dienstleistungsfreiheit habe.8 Umgekehrt bedeutete der Umstand, dass eine gemeinsame Verkehrspolitik noch nicht verwirklicht worden war, nicht, dass die Mitgliedstaaten Regeln erlassen konnten, die die bestehende Lage zulasten der Verkehrsunternehmen der anderen Mitgliedstaaten verschlechterten. Dies wäre ein Verstoß gegen die Stand-Still-Klausel des Art. 72 EGV gewesen.9 Auf sekundärrechtlicher Ebene wurde die Dienstleistungsfreiheit z. B. erst durch die Verordnung 684/9210 über den grenzüberschreitenden Personenverkehr mit Kraftomnibussen und die Kabotage-Verordnung 12/9811 partiell eingeführt.

II. Inhalt und Anwendungsbereich der mit dem öffentlichen Dienst verbundenen Verkehrsverordnungen 1191/69, 1893/91 und 1107/70 1. Die Verordnung 1191/69 Im Personennahverkehr waren die ersten Regelungen der Gemeinschaft äußerst bescheiden. Die – bis heute geltende – Verordnung 1191/69 regelt nur rudimentär das Vorgehen der Mitgliedstaaten „mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes verbundener“ Verpflichtungen auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und

  7 EuGH, Urteil vom 13. Dez. 1989, Rs. C-49/89 – „Corsica Ferries“, Rn. 14.   8 EuGH, Urteil vom 7. Nov. 1991, Rs. C-17/90 – „Wieger“, Rn. 11; krit. Epiney, Verkehrsrecht, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 2007, L Rn. 185.   9 EuGH, Urteil vom 19. Mai 1992, Rs. C-195/90 – „Straßenbenutzungsabgabe“, Rn. 33. 10 Verordnung (EWG) Nr. 684/92 vom 16. März 1992 zur Einführung gemeinsamer Regeln für den grenzüberschreitenden Personenverkehr mit Kraftomnibussen (ABl. L 74/1992, S. 1 f.); auf bloße Regelungen für Genehmigungen beschränkt: Verordnung Nr. 117/66/EWG des Rates vom 28. Juli 1966 über die Einführung gemeinsamer Regeln für den grenzüberschreitenden Personenverkehr mit Kraftomnibussen (ABl. 147/1966, S. 2688) und die Verordnung (EWG) Nr. 517/72 des Rates vom 28. Feb. 1972 über die Einführung gemeinsamer Regeln für den Linienverkehr und die Sonderformen des Linienverkehrs mit Kraftomnibussen zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 67/1972, S. 19 f.). 11 Verordnung (EG) Nr. 12/98 vom 11. Dez. 1997 über die Bedingungen für die Zulassung von Verkehrsunternehmern zum Personenkraftverkehr innerhalb eines Mitgliedstaats, in dem sie nicht ansässig sind (ABl. L 4/1998, S. 10 f.); Verordnung (EWG) Nr. 2454/92 des Rates vom 23. Juli 1992 zur Festlegung der Bedingungen für die Zulassung von Verkehrsunternehmen zum Personenverkehr mit Kraftomnibussen innerhalb eines Mitgliedstaats, in dem sie nicht ansässig sind, wurde durch das Urt. des Gerichtshofs vom 1. Juni. 1994, Rs. C-388/92 für nichtig erklärt.

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Binnenschiffsverkehrs.12 Mit dieser umständlichen Formulierung sind Betriebs-, Beförderungs- und Tarifpflichten gemeint, die das Verkehrsunternehmen im eigenen wirtschaftlichen Interesse nicht oder nicht im gleichen Umfang und unter den gleichen Bedingungen übernehmen würde.13 Die Stammfassung der Verordnung 1191/69 bestimmt, dass ein Verkehrsunternehmer die völlige oder teilweise Aufhebung einer Verpflichtung verlangen kann, die mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes verbunden ist, wenn ihm wirtschaftliche Nachteile erwachsen. Entgegen der Formulierung des Art. 1 Abs. 1 Verordnung 1191/69, dass die Mitgliedstaaten, die den öffentlichen Dienst betreffenden Verpflichtungen „aufheben“, soll daraus – so der EuGH14 – keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten folgen und zwar selbst dann nicht, wenn der Verkehrsunternehmer nachweist, dass die Aufrechterhaltung der Verpflichtung für ihn wirtschaftlich nachteilig ist. Allerdings darf eine Verpflichtung nur damit begründet werden, dass eine ausreichende Verkehrsbedienung sicherzustellen ist.15 Für die Beurteilung der Erforderlichkeit einer ausreichenden Verkehrsbedienung kommt den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen zu.16 Ihre Entscheidung haben sie aber unter Zugrundelegung bestimmter Kriterien zu treffen: dem öffentlichen Interesse, der Möglichkeit der Substitution durch geeignete alternative Verkehrsmittel sowie den Beförderungsentgelten und -bedingungen, die den Benutzern angeboten werden können.17 Kommen mehrere Lösungen unter gleichartigen Bedingungen in Betracht, hat die zuständige Behörde diejenige zu wählen, die die geringsten Kosten mit sich bringt.18 Entgegen Stellungnahmen in der Literatur ist eine Ausschreibungspflicht damit nicht festgelegt;19 die Ver-

12 Verordnung (EWG) Nr. 1191/69 vom 26. Juni 1969 über das Vorgehen der Mitgliedstaaten bei mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes verbundenen Verpflichtungen auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs (ABl. L 156/1969, S. 1 ff.). 13 Art. 2 Abs. 1 Verordnung 1191/69 (Fn. 12). 14 EuGH, Urteil vom 17. Sept. 1998, Rs. C-412/96 – „Kainuun Liikenne Oy“, Rn. 29. 15 Art. 1 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 1 Verordnung 1191/69 (Fn. 12), vgl. später: Art. 1 Abs. 4 und 3 Verordnung 1191/69 (Fn. 12) i. d. F. Verordnung 1893/91. 16 EuGH, Urteil vom 17. Sept. 1998, Rs. C-412/96 – „Kainuun Liikenne Oy“, Rn. 35. 17 Art. 3 Abs. 2 Verordnung 1191/69 (Fn. 12). 18 Art. 3 Abs. 1 Verordnung 1191/69 (Fn. 12). 19 Vgl. Resch, in: Holoubek/Potacs, Öffentliches Wirtschaftsrecht II, 2. Aufl. 2007, S. 1090; „mittelbare“ Ausschreibungspflicht annehmend Albrecht/Gabriel, Die geplante EU-Verordnung zum ÖPNV, DÖV 2007, 907, 909.

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Europarechtliche Vorgaben für den öffentlichen Personennahverkehr

ordnung 1191/69 regelt aber das Verfahren zur Berechnung der ausgleichsfähigen Kosten.20 Entscheidet sich die Behörde für eine befristete, vollständige oder teilweise Aufrechterhaltung oder Aufhebung einer Verpflichtung des öffentlichen Dienstes,21 folgt daraus für das Verkehrsunternehmen noch kein Anspruch auf einen Ausgleich für die spezifischen Belastungen. Die wirtschaftlichen Nachteile sind vielmehr unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Verpflichtung auf die Gesamttätigkeit des Unternehmens zu ermitteln.22 Der EuGH leitet daraus einen Bemessungsspielraum der Behörde ab: Sie kann für das Vorliegen von Nachteilen eine Zeitspanne ansetzen, die über ein Jahr hinausgeht und gegebenenfalls einen Ausgleich ablehnen, wenn sich die Nachteile als vorübergehend oder gelegentlich erweisen und sich in einer längerfristigen Periode ausgleichen.23 Selbst diese Minimalregelung fand in der Stammfassung keine uneingeschränkte Anwendung. Die Verordnung galt zunächst nur für ausgewählte staatliche Eisenbahnunternehmen und für Unternehmen anderer Verkehrsarten, wenn sie nicht hauptsächlich Beförderungsleistungen mit örtlichem oder regionalem Charakter durchführten.24

2. Die Verordnung 1893/91 a. Der „Vertrag über Verkehrsdienste“ Die wichtigste Neuerung der Verordnung 1893/9125 war die Einführung des „Vertrags über Verkehrsdienste“ als alternatives Steuerungsinstrument neben der hoheitlichen, einseitigen Verpflichtung. Damit können die Einzelheiten für die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen im Interesse der wirtschaftlichen Eigenständigkeit der Verkehrsunternehmen 26 im Gegenseitigkeitsverhältnis festgelegt werden.27 Dies gilt auch für die Sicherstellung ausreichender Verkehrsbedienung 20 Art. 5 ff. Verordnung 1191/69 (Fn. 12). 21 Art. 6 Abs. 2 Verordnung 1191/69 (Fn. 12). 22 Art. 5 Abs. 1 UAbs. 5 Verordnung 1191/69 (Fn. 12). 23 EuGH, Urteil vom 27. Nov. 1973, Rs. 36/73 – „NV Nederlandse Spoorwegen“, Rn. 21. 24 Art. 19 Abs. 2 Verordnung 1191/69 (Fn. 12). 25 Verordnung (EWG) Nr. 1893/91 vom 20. Juni 1991 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1191/69 über das Vorgehen der Mitgliedstaaten bei mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes verbundenen Verpflichtungen auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs (ABl. L 169/1991, S. 1 ff.). 26 Erwägungsgrund Verordnung 1893/91 (Fn. 25). 27 Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 Verordnung 1191/69 i. d. F. der Verordnung 1893/91 (Fn. 25).

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unter Berücksichtigung sozialer, umweltpolitischer und landesplanerischer Faktoren oder um Sondertarife für bestimmte Gruppen von Reisenden anbieten zu können.28 Inhaltlich sollen im Vertrag über Verkehrsdienste bestimmte Anforderungen an die Kontinuität, Regelmäßigkeit, Leistungsfähigkeit und Qualität, zusätzliche Verkehrsdienste, Verkehrsdienste zu besonderen Tarifen und Bedingungen sowie eine Anpassung der Dienste an den tatsächlichen Bedarf, ferner der Preis für die vereinbarten Dienstleistungen geregelt werden. Die vertragliche Vereinbarung hat für die Parteien eine wichtige Konsequenz: Der Unternehmer hat sich verpflichtet, eine Verkehrsleistung für einen bestimmten Preis zu erbringen. An dieser Verpflichtung muss er sich nun festhalten lassen. Weitere staatliche Zuschüsse an den Verkehrsunternehmer können nicht mehr auf der Grundlage der Verordnung 1191/69 als Ausgleich für die Übernahme öffentlicher Dienste geleistet werden.29 Allerdings hinkt die Verordnung in Bezug auf den öffentlichen Personennahverkehr erneut hinterher. Zwar bezieht sie nun sämtliche Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrsdienste ein und damit auch Stadt-, Vorort- und Regionalverkehrsdienste, doch lässt Art. 1 Abs. 1 UAbs. 2 den Mitgliedstaaten nach, Unternehmen vom Anwendungsbereich auszunehmen, „deren Tätigkeit ausschließlich auf den Betrieb von Stadt-, Vorort- und Regionalverkehrsdiensten beschränkt ist“.30

b. Der Anwendungsbereich der Verordnung 1191/69 i. d. F. der Verordnung 1893/91 in Deutschland Deutschland nahm diese Option wahr, zunächst allerdings nur befristet bis zum 31. Dezember 1995.31 Mit Wirkung zum 1. Januar 1996 wurde die Unterscheidung in eigenwirtschaftliche und gemeinwirtschaftliche Verkehre eingeführt. Die Abgrenzung ist für den Anwendungsbereich der Verordnung 1191/69 wesentlich und bis heute aber eine der umstrittensten Fragen des öffentlichen Personennahverkehrs. 28 Art. 1 Abs. 4 Verordnung 1191/69 i. d. F. der Verordnung 1893/91 (Fn. 25). 29 EuG, Urteil vom 16. März 2004, Rs. T-157/01 – „Danske Busvognmaend“, Rn. 77 f. 30 Zur Definition: Art. 1 Abs. 2 Verordnung 1191/69 i. d. F. der Verordnung 1893/91 (Fn. 25); zur Ausschließlichkeit: VG Karlsruhe, Urteil vom 5. Sept. 2006 – 5 K 1367/05; zu Auslegungsfragen: Lenz, Genehmigung eigenwirtschaftlicher Verkehre im ÖPNV, NJW 2007, 1181, 1183. 31 Verordnung des Bundesministers für Verkehr vom 31. Juli 1992 zur Festlegung des Anwendungsbereiches der Verordnung (EWG) Nr. 1191/69 in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 1893/91 (Fn. 25) im Straßenpersonenverkehr (BGBl. I S. 1442).

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