Wortlaut der Rede des Präsidenten Evo Morales zur ... - Bolivia.de

14.06.2014 - Um diese würdigen Aufgaben im Dienste der Völker der Welt voranzubringen, laden wir Ruß- land und andere Länder, die unsere Brüder im Geiste in puncto Bedürfnisse und Verpflichtun- gen sind, ein, sich der G77-Gruppe anzuschließen. Unser G77-Bündnis verfügt nicht über eine eigene Institution, die ...
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Wortlaut der Rede des Präsidenten Evo Morales zur Eröffnung des Gipfeltreffens der Gruppe 77 + China am 14. Juni 2014 in Santa Cruz: “FÜR EINE NEUE WELTORDNUNG UM IN WÜRDE ZU LEBEN” (Konzept des „ Vivir Bien”)

FÜR EINE WELTWEITE BRÜDERSCHAFT DER VÖLKER Vor 50 Jahren erhoben großartige Führer die Banner des Kampfes gegen den Kolonialismus und beschlossen, gemeinsam mit ihren Völkern den Weg der Souveränität und Unabhängigkeit zu beschreiten. Das geschah zu einer Zeit, als Weltmächte und transnationale Konzerne um die Vorherrschaft über Gebiete und Naturreichtümer stritten, um ihre Macht auf Kosten der Armut der Völker des Südens zu vergrößern. Es war in diesem Zusammenhang, daß sich am 15. Juni 1964 zum Abschluß der UNO-Konferenz über Handel und Entwicklung 77 Staaten des Südens sich zusammentaten (jetzt sind wir 133 + China), um ihre gemeinsame Verhandlungsposition bei Handelsgesprächen zu stärken als ein Block, der seine kollektiven Interessen unter Respektierung souveräner Entscheidungen einfordert. Im Verlaufe dieser 50 Jahre erweiterten diese Länder ihre Auffassungen und brachten in der UNO Beschlüsse sowie gemeinsame Aktionen zugunsten der nachhaltigen Entwicklung bei der Süd-SüdZusammenarbeit, einer neuen Weltwirtschaftsordnung, der Verantwortlichkeit für den Klimawandel und der Wirtschaftsbeziehungen im Rahmen der Vorzugsbehandlung auf den Weg. Eine herausragende Stelle auf diesem Weg nahm der Kampf um die Entkolonialisierung der Welt, um die Selbstbestimmung und Souveränität der Völker über ihre Naturreichtümer ein. Trotz all dieser Anstrengungen und Kämpfe der Völker der Welt um Gleichstellung und Gerechtigkeit haben die Hierarchien und Ungleichheiten in der Welt zugenommen. Heute kontrollieren 10 Länder der Welt 40% des Reichtums des ganzen Planeten; 15 transnationale Unternehmen kontrollieren 50% der Weltproduktion. Heute wie vor 100 Jahren fällt eine Handvoll imperialer Mächte im Namen des freien Marktes und der Demokratie in andere Länder ein, blockiert den Handel, auferlegt dem Rest der Welt die Preise, stranguliert nationale Volkswirtschaften, heckt Verschwörungen gegen fortschrittliche Regierungen aus und maßt sich das Ausspähen aller Bewohner dieses Planeten an. Eine kleine Elite von Ländern und transnationalen Unternehmen herrschen autoritär über die Geschicke der Welt, der Wirtschaft der Länder und ihrer Naturressourcen. Die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit zwischen den Weltregionen, zwischen den Ländern, zwischen den gesellschaftlichen Klassen und zwischen den Bürgern hat in übermäßiger Weise zugenommen. 0,1% der Weltbevölkerung besitzt 20% des Menschheitsvermögens. Wenn 1920 in den USA der Geschäftsführer eines Unternehmens das 20-Fache des Lohns eines Arbeiters einstrich, so ist es heutzutage das 331-Fache. Aber diese ungerechte Konzentration des Reichtums, diese räuberische Art der Zerstörung der Natur erzeugt auch eine strukturelle Krise, die sie mit der Zeit unhaltbar macht.

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Es handelt sich um eine Strukturkrise, denn sie betrifft alle Bestandteile der Entwicklung des Kapitalismus selbst, d.h. es ist eine Finanzkrise, eine Energiekrise, eine Klimakrise, eine Wasserkrise, eine Ernährungskrise, eine Krise der Institutionen und der Werte, die sich gegenseitig aufschaukeln. D.h., es handelt sich um eine Krise, die die kapitalistische Zivilisation selbst betrifft. Die Finanzkrise hat ihre Ursache in der Gier des Finanzkapitals nach immer größeren Gewinnen. Dadurch wurde eine weitreichende internationale Finanzspekulation ausgelöst, aus der einige Gruppierungen, transnationale Körperschaften bzw. Machtzentren Nutzen zogen, die auf diese Weise Reichtümer anhäuften. Es handelt sich um Finanzblasen, die Spekulationsgewinne erzeugen, aber letztendlich platzen und dabei die Werktätigen in die Armut stoßen, denen man billige Kredite gewährt hatte, den Sparern aus den Mittelschichten, die ihre Guthaben raffgierigen Spekulanten anvertraut hatten, die von heute auf morgen entweder bankrott waren oder ihr Kapital in andere Länder verlagerten und dabei den Bankrott ganzer Nationen provozierten. Wir sehen uns auch einer Energiekrise gegenüber, die vom exzessiven Verbrauch in den entwickelten Ländern geprägt ist, von der Kontaminierung der Energiequellen und von der Anhäufung von Energie seitens der transnationalen Unternehmen. Parallel dazu beobachten wir eine Abnahme der Reserven weltweit, hohe Förderkosten bei Erdöl und Erdgas bei einer gleichzeitig geringeren Produktionskapazität aufgrund der allmählichen Erschöpfung der fossilen Brennstoffe und den globalen Klimawandel. Die Klimakrise hat ihre Ursache in der anarchischen kapitalistischen Produktionsweise. Deren unkontrollierte Konsum- und Industrialisierungsausmaße haben zu einem übermäßigen Ausstoß von Abgasen geführt und dadurch zu einer globalen Erwärmung und zu Naturkatastrophen, von denen die ganze Welt heimgesucht wird. In dem Zeitraum von vor 15.000 Jahren bis zur kapitalistischen Industrialisierung überstieg der Anteil von Treibhausgasen nie die Anzahl von 250 Partikeln pro 1 Million Moleküle in der Atmosphäre. Ab dem 19. Jahrhundert, insbesondere im 20. Und 21. Jahrhundert, sind wir - im Ergebnis des räuberischen Kapitalismus – bei 400 Partikeln angelangt, was zu einer unumkehrbaren Erwärmung der Erdatmosphäre mit all ihren Folgeerscheinungen in Form von Klimakatastrophen geführt hat, unter denen in erster Linie die ärmsten und gefährdetsten Völker des Südens zu leiden haben, insbesondere die Inselstaaten durch das Abschmelzen der Gletscher. Die globale Erwärmung verursacht ihrerseits eine Wasserkrise, die durch Privatisierung, Erschöpfung von Quellen und Vermarktung des Süßwassers verschärft wird, wodurch in fortschreitendem Maße immer mehr Leute keinen Zugang zu Trinkwasser haben. Die Wasserknappheit in verschiedenen Regionen unserer Erde führt zu bewaffneten Auseinandersetzungen und Kriegen, die die Verfügbarkeit dieser als nicht erneuerbar angesehenen Ressource noch mehr erschweren. Zudem ist eine tendenzielle Zunahme der Bevölkerung sowie eine Verringerung der Nahrungsmittelproduktion zu verzeichnen, was in eine Ernährungskrise mündet. Dazu kommen eine Abnahme der Anbauflächen für Lebensmittel, die Ungleichgewichtigkeit zwischen Stadt und Land, das Monopol von transnationalen Unternehmen bei der Kommerzialisierung von Saatgut und landwirtschaftlichen Verbrauchsgütern und die Spekulation mit Lebensmittelpreisen. Das imperiale Modell der Konzentration und Spekulation führte seinerseits zu einer institutionellen Krise, die von ungleichen und ungerechten Struktur der Machtverteilung in der Welt gekennzeichnet ist, insbesondere innerhalb des Systems der Vereinten Nationen, des Internationalen Währungsfonds, der Welthandelsorganisation, u.a. Im Ergebnis all dessen sind die sozialen Rechte der Völker in Gefahr. Das Versprechen einer weltweiten Gleichheit und Gerechtigkeit verliert sich in immer weiterer Ferne, und selbst der Existenz -2-

der Natur droht das Ausgelöscht werden. Wir sind an eine Scheidelinie gelangt, und es müssen dringend weltweite Maßnahmen ergriffen werden, um die Gesellschaft, die Menschheit und Mutter Erde zu retten. Wir hier in Bolivien haben damit begonnen, Schritte in diese Richtung zu tun. Bis zum Jahr 2005 befolgte man eine neoliberale Politik, die zur Konzentration des Reichtums, zu sozialer Ungleichheit und Armut führte, und die Marginalisierung, Diskriminierung und gesellschaftliche Ausgrenzung zunahmen. In Bolivien hat der historische Kampf der sozialen Bewegungen, insbesondere der originären bäuerlichen Indigenenbewegung, uns gestattet, auf friedlichem Wege mittels Wahlen und ohne Gewaltanwendung eine demokratische und kulturelle Revolution in die Wege zu leiten, die Ausgrenzung, Ausbeutung, Hunger und Haß verbannt, um den Weg der Ausgewogenheit, der Komplementarität, der Übereinstimmung mit der eigenen Identität, des Vivir Bien – des Lebens in Würde – zu erbauen. Seit dem Jahre 2006 hat die bolivianische Regierung eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik angewandt, die in einem neuen Wirtschafts-, Sozial-, Gemeinschafts- und Produktionsmodell ihren Ausdruck findet, dessen grundsätzliche Achsen folgende sind: Nationalisierung der natürlichen Ressourcen, Wiedererlangung eines Wirtschaftsüberschusses zum Wohle aller Bolivianer, Umverteilung des Reichtums und aktive Teilnahme des Staates an der Wirtschaft. 2006 haben der Staat und das Volk die bedeutendste politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entscheidung getroffen: die Nationalisierung der fossilen Brennstoffe, die die zentrale Achse unserer Revolution darstellt. Mit dieser Maßnahme ist der Staat Teilhaber und Kontrolleur des Eigentums an den fossilen Brennstoffen und verarbeitet das Erdgas. Ganz im Gegensatz zur neoliberalen Losung eines Wirtschaftswachstums auf der Grundlage der Auslandsnachfrage ("exportieren oder sterben"), steht das neue Modell für eine Kombination von Export und dem Wachstum des Binnenmarktes, der hauptsächlich durch die Umverteilungspolitik bei den Einkünften, Aufhebung des Einfrierens und schrittweise Erhöhung des nationalen Mindestlohns, jährliche Lohnsteigerungen über der Inflationsrate, Quersubventionen und Transferleistungen für die Bedürftigsten. Das alles führte dazu, daß die bolivianische Wirtschaft in den vergangenen acht Jahren ihr Bruttoinlandprodukt von 9 Milliarden auf 30 Milliarden Dollar steigern konnte. Dank der Nationalisierung der fossilen Brennstoffe , des Wachstums der bolivianischen Wirtschaft und der Sparpolitik bei den Ausgaben konnten wir in acht aufeinander folgenden Jahren einen Haushaltsüberschuß erzielen, der ganz im Gegensatz zu den rückläufigen Staatseinnahmen steht, die Bolivien länger als 66 Jahre vermelden mußte. Als wir die Regierung übernahmen, betrug die Differenz zwischen den Reichsten und den Ärmsten das 128-Fache. Jetzt wurde die Differenz auf das nur 46-Fache verringert. Gegenwärtig zählt Bolivien zu den sechs Ländern in der Region mit der besten Einkommensverteilung. Das zeigt, daß die Völker Optionen haben, und daß wir den Schicksalen Paroli bieten können, die uns vom Kolonialismus und Neoliberalismus auferlegt werden. All diese Errungenschaften in so kurzer Zeit schulden wir dem gesellschaftlichen und politischen Bewußtsein des bolivianischen Volkes. Wir haben das Vaterland für alle wiedererlangt, Ein Vaterland, das uns durch das neoliberale Modell entfremdet wurde, ein Vaterland, das wegen des alten Systems der politischen Parteien ein erniedrigtes Leben führte und von außen regiert wurde, als ob wir eine Kolonie wären. Wir sind kein undurchführbares Land mehr, wie uns die internationalen Finanzinstitutionen weismachen wollten, und wir sind kein unregierbares Land mehr, wie uns das nordamerikanische Imperium glauben machen wollte.

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Heute haben wir Bolivianer die Würde und den Stolz wiedererlangt, und wir glauben an uns selbst, an unsere Kraft und an unsere Bestimmung. Ich möchte der ganzen Welt in größter Bescheidenheit sagen, daß die einzigen klugen und zur Änderung ihrer Zukunft fähigen Architekten die Völker selbst sind. Aus diesem Grunde schlagen wir vor, eine andere Welt zu errichten: Aufgaben, um eine Gesellschaft des Lebens in Würde zu errichten.

1) Von einer nachhaltigen Entwicklung zu einer integralen Entwicklung, um in Würde zu leben, in Harmonie und Ausgewogenheit mit der Mutter Erde. Wir benötigen eine neue Vision, die sich von der westlichen kapitalistischen Entwicklung unterscheidet. Dabei müssen wir übergehen vom Paradigma einer nachhaltigen Entwicklung zu einer integralen Entwicklung für ein Leben in Würde, wobei nicht nur nach der Ausgewogenheit zwischen den Menschen gestrebt wird, sondern auch das Gleichgewicht und die Harmonie mit unserer Mutter Erde. Keine Entwicklung ist nachhaltig, wenn die Produktion die Mutter Erde zerstört, denn sie ist die Quelle unseres Lebens und unserer Existenz. Keine Wirtschaft ist dauerhaft, wenn sie Ungleichheit und Ausgrenzung hervorbringt. Kein Prozeß ist gerecht und wünschenswert, wenn das Wohlergehen der einen auf Kosten der Ausbeutung und dem Elend der anderen beruht. Die integrale Entwicklung für ein Leben in Würde bedeutet, Wohlstand für alle zu erzeugen, ohne jegliche Ausgrenzung; bedeutet, die Unterschiedlichkeit der Wirtschaft in unseren Gesellschaften zu respektieren; bedeutet, die örtlichen Kenntnisse und Mutter Erde sowie ihre biologische Vielfalt zu respektieren, von der künftige Generationen genährt werden. Integrale Entwicklung für ein Leben in Würde bedeutet, zu produzieren, um wirkliche Bedürfnisse zu befriedigen und nicht, um die Profite ins Unermeßliche zu steigern; bedeutet , den Reichtum zu verteilen und die Wunde der Ungleichheit zu schließen, und nicht, die Ungerechtigkeiten zu vergrößern; bedeutet, die gegenwärtige Wissenschaft mit der uralten technologischen Weisheit der indigenen Völker, der Bauern und Ureinwohner zusammenzuführen und einen respektvollen Dialog mit der Natur zu führen; bedeutet, an die Völker zu denken und nicht an die Finanzmärkte; bedeutet, die Natur ins Zentrum des Lebens zu rücken und den Menschen als eine Kreatur neben anderen dieser Natur anzusehen. Die integrale Entwicklung für ein Leben in Würde unter Respektierung der Mutter Erde ist keine ökologische Ökonomie für die armen Länder, während die reichen Länder die Ungleichheit vergrößern und die Zerstörung der Natur vorantreiben. Die integrale Entwicklung ist nur auf globaler Ebene gangbar, wenn die Staaten gemeinsam mit ihren Völkern die Kontrolle über alle ihre energetischen Ressourcen ausüben. Wir brauchen Technologien, Investitionen, Produktion, Kredite und Märkte, aber nicht, um sie der Diktatur des Profits und des Luxus zu unterwerfen, sondern um sie in den Dienst für die Bedürfnisse der Völker zu stellen, für die Vergrößerung der gemeinsamen Güter und Dienstleistungen.

2) Souveränität über die natürlichen Ressourcen und strategische Sektoren Die Rohstoffe besitzenden Länder müssen und können die souveräne Kontrolle über die Pro-4-

duktion und auch die Verarbeitung unserer Rohstoffe übernehmen. Die Nationalisierung von Unternehmen und strategischen Sektoren gestattet es, daß der Staat die Leitung der Produktion und die souveräne Kontrolle des Reichtums übernimmt sowie die Planung für die industrielle Weiterverarbeitung der Rohstoffe in die Wege leitet und die Gewinne unter der Bevölkerung verteilt. Die Ausübung der Souveränität über die natürlichen Ressourcen und strategische Sektoren bedeutet nicht, sich von den Weltmärkten zu isolieren, sondern mit diesen Märkten Verbindungen zum Wohle unserer Länder einzugehen und nicht zum Wohle einiger weniger Privateigentümer. Souveränität über die natürlichen Ressourcen und strategische Sektoren bedeutet nicht, die Beteiligung ausländischen Kapitals und ausländischer Technologien, sondern vielmehr die Unterordnung dieser Investition und Technologie unter die Bedürfnisse des jeweiligen Landes.

3) Wohlstand für alle durch die Umwandlung der Vorsorgeleistungen in ein Menschenrecht. Die schlimmste Tyrannei, der sich die Menschheit gegenüber sieht, ist es zu gestatten, daß die grundlegenden Dienstleistungen unter der Kontrolle der transnationalen Konzerne stehen. Das bedeutet, die Menschheit, das Leben und die Sicherheit der Bürger den Privatinteressen und merkantilen Absichten einer reichen und mächtigen Minderheit auszuliefern. Deshalb sagen wir, daß die Grundvorsorge dem Menschsein inhärent ist. Denn wie kann ein Mensch gut und in Würde leben ohne Trinkwasser, ohne elektrische Energie oder ohne Kommunikation? Wenn die Menschenrechte uns alle gleich machen, so ist es doch erst der universelle Zugang zu diesen grundlegenden Dienstleistungen, der diese Gleichheit verwirklicht. Das Wasser macht uns gleich, so wie das Licht oder die Kommunikationsmöglichkeiten. Um die sozialen Ungleichheiten zu beseitigen, ist es erforderlich, in die internationale Gesetzgebung und in die nationalen Vorschriften aller Länder aufzunehmen, daß die Grundvorsorge (Wasser, Elektrizität, Kommunikation und medizinische Grundversorgung) ein grundsätzliches Menschenrecht aller Personen darstellt. Das bedeutet, daß alle Staaten gesetzlich verpflichtet sind, die Universalität der Grundvorsorge zu garantieren, gegen alle Kosten oder Gewinne.

4) Emanzipation des gegenwärtigen internationalen Finanzsystems und Errichtung einer neuen Finanzarchitektur Wir schlagen vor, uns vom internationalen Finanzjoch zu befreien, indem ein neues Finanzsystem geschaffen wird, das den Erfordernissen der Produktionsaktivitäten der Länder des Südens im Rahmen der integralen Entwicklung Vorrang einräumt. Wir müssen Banken des Südens gründen und stärken, die Industrieprojekte voranbringen, die die regionalen Binnenmärkte stärken, die den Handelsaustausch zwischen unseren Ländern fördern, jedoch auf der Grundlage der Komplementarität und Solidarität. Es ist zudem nötig, die souveräne Regulierung der Weltfinanzaktivitäten voranzubringen, die die Stabilität der Volkswirtschaften gefährden. Wir müssen einen internationalen Mechanismus für die Umstrukturierung der Schulden entwickeln, die die Abhängigkeit der Völker des Südens vertieft, indem ihre Entwicklungsmöglichkeiten abgewürgt werden. Wir müssen Finanzinstitutionen wie den IWF durch andere ersetzen, die eine bessere und größere Teilnahme der Länder des Südens bei der Entscheidungsfindung erlauben, die die im-5-

perialen Mächte heutzutage an sich gerissen haben. Es müssen Obergrenzen für Spekulationsgewinne und für übermäßige Anhäufung von Reichtum gesetzt werden.

5) Errichtung einer großen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technologischen und kulturellen Allianz der G77-Länder + China. Nach Jahrhunderten des Kolonialismus, der Verbringung des Reichtums in die imperialen Mutterländer und der Verarmung unserer Wirtschaften, haben die Länder des Südens begonnen, wieder eine entscheidende Bedeutung bei der Entwicklung der Weltwirtschaft einzunehmen. Asien, Afrika und Lateinamerika stellen nicht nur 77% der Weltbevölkerung, sondern auch annähernd 43% der Weltwirtschaft, und dieser bedeutende Anteil ist im Wachsen begriffen. Wir Völker des Südens sind die Zukunft der Welt. Um diese unausweichliche Tendenz in der Welt zu stärken und zu planen, müssen wir unverzüglich Maßnahmen ergreifen. Der Handelsaustausch zwischen den Ländern des Südens muß ausgebaut werden, und unsere Produktionsaktivitäten müssen auf die Erfordernisse der anderen Volkswirtschaften des Südens ausgerichtet werden, und zwar auf der Grundlage der Komplementarität bei den Bedürfnissen und Kapazitäten. Wir brauchen Programme für den Technologietransfer zwischen den Ländern des Südens. Die Souveränität und die technologische Führerschaft sind unentbehrlich für eine neue gerechte Weltwirtschaft, jedes Land für sich alleine kann das nicht erreichen. Die Wissenschaft sollte ein Gut der ganzen Menschheit sein und dem Wohlergehen aller dienen, ohne Ausgrenzungen und ohne Hegemonismus. Für eine würdige Zukunft aller Völker dieser Erde brauchen wir eine Integration für die Befreiung; keine Zusammenarbeit für eine Beherrschung. Um diese würdigen Aufgaben im Dienste der Völker der Welt voranzubringen, laden wir Rußland und andere Länder, die unsere Brüder im Geiste in puncto Bedürfnisse und Verpflichtungen sind, ein, sich der G77-Gruppe anzuschließen. Unser G77-Bündnis verfügt nicht über eine eigene Institution, die die Vorstellungen, Erklärungen und Aktionspläne unserer Länder effektiv gestaltet. Deshalb schlägt Bolivien die Errichtung eines Instituts für Entkolonialisierung und Süd-Süd-Zusammenarbeit vor. Dieses Institut sollte damit beauftragt werden, den Ländern des Südens technische Assistenz zu gewähren, um die Vorschläge der G77 + China in die Tat umzusetzen. Es sollte auch technische Unterstützung und institutionelle Stärkung für die Entwicklung und die Selbstbestimmung vermitteln sowie Untersuchungen und Studien betreiben. Wir schlagen vor, dieses Entkolonialisierungsinstitut in Bolivien anzusiedeln.

6) Den Hunger der Völker der Welt ausrotten Es ist ein Imperativ, den Hunger in der Welt auszurotten und dahin zu wirken, daß das Menschenrecht auf Ernährung angewandt und voll durchgesetzt wird. Die Priorisierung der Lebensmittelproduktion muß auf die Beteiligung der Kleinproduzenten und der bäuerlichen indigenen Gemeinschaften zählen, denn sie sind es, die in Bezug auf die Lebensmittelproduktion uralte Kenntnisse bewahrt haben.

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Um die Ausrottung des Hungers zu erreichen, müssen wir Länder des Südens Bedingungen für einen solchen demokratischen und gleichberechtigten Zugang zu Landbesitz schaffen, der kein Monopol dieser Ressource mittels Großgrundbesitz zuläßt, der aber zugleich auch nicht die unproduktive Zersplitterung in Miniparzellen fördert. Über den Zugang zu gesunden und gesundheitsfördernden Lebensmitteln für das Wohlergehen der Bevölkerung muß die Nahrungssouveränität und –sicherheit gefestigt werden. Die transnationalen Monopole bei der Versorgung mit landwirtschaftlichen Gütern müssen gebrochen werden, um die Nahrungssicherheit mit Souveränität zu gewährleisten. Jedes unserer Länder sollte die Grundnahrungsmittel und die aus eigener Produktion garantieren, die die jeweilige Bevölkerung konsumiert, ausgehend von einer Stärkung ihrer produktiven, kulturellen und ökologischen Praktiken und Sitten sowie des solidarischen Austausches zwischen den Völkern. Ihrerseits müssen die Staaten Verantwortung dafür übernehmen, die Versorgung mit elektrischer Energie, die verkehrsmäßige Integration, den Zugang zu Wasser und die Versorgung mit organischen Düngemitteln zu gewährleisten.

7) Festigung der Souveränität der Staaten, ohne Interventionspolitik, ohne Einmischung und ohne Spionage Im Rahmen der Vereinten Nationen eine neue Institutionalität für eine neue Weltordnung des Lebens in Würde fördern. Die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Institutionen wie die Vereinten Nationen verlangen eine tiefgreifende Umgestaltung. Es werden internationale Organe benötigt, die den Frieden fördern, die globalen Hierarchien abschaffen und die Gleichheit zwischen den Staaten fördern. Deshalb muß der UNO-Sicherheitsrat verschwinden, denn anstatt den Frieden zwischen den Nationen zu sichern, hat er den Boden bereitet für Krieg und Invasionen der imperialen Mächte, damit diese sich der natürlichen Ressourcen der überfallenen Länder bemächtigen können. Statt eines Sicherheitsrates gibt es heutzutage einen Rat für Unsicherheit und imperiale Invasion. Kein Land, keine Institution oder sonstige Interessen können den Überfall eines Landes auf ein anderes rechtfertigen. Die Souveränität der Staaten und die innere Lösung von Konflikten in jedem Land ist das grundsätzliche Fundament für Frieden und die Vereinten Nationen. An dieser Stelle prangere ich das ungerechte Wirtschaftsembargo gegen Kuba an, die aggressive und illegale Politik der Vereinigten Staaten gegenüber Venezuela, wobei ich die Gesetzesinitiative des Komitees für Auswärtige Beziehungen des Senats einbeziehe, die darauf abzielt, Sanktionen gegen dieses Land zu verhängen, die seine Souveränität und politische Unabhängigkeit beeinträchtigen, und das unter klarer Verletzung der Prinzipien und Ziele der Charta der Vereinten Nationen. Das ist die Hatz und die internationale Staatsstreichpolitik, die den modernen Kolonialismus, den Kolonialismus dieser neuen Epoche ausmachen. In dieser neuen Zeit, in diesen Zeiten des Südens, müssen wir dazu fähig sein, die von durch -7-

ausländische kapitalistische Interessen getragenen Bruderkriegen ererbten Wunden zu überwinden und zu heilen; wir müssen Integrationsschemata festigen, die unser friedliches Zusammenleben, unsere Entwicklung und unseren Glauben an von uns geteilte, gemeinsame Werte wie Gerechtigkeit ermöglichen und erleichtern. Nur gemeinsam können wir ein Leben in Würde für unsere Nationen erreichen.

8) Demokratische Erneuerung der Staaten Die Zeiten der Imperien, der kolonialen Hierarchien und der Finanzoligarchien gehen ihrem Ende zu. Überall können wir beobachten, wie die Völker ihre aktive Beteiligung an der Geschichte einfordern. Das 21. Jahrhundert muß das Jahrhundert der Völker, der Arbeiter, der Bauern, der Indigenen, der Jugend, der Frau werden, d.h. der Unterdrückten. Die aktive Teilhabe der Völker bedeutet die Erneuerung und Vertiefung der Demokratie. Wir müssen die Wahldemokratie mit der mitwirkenden Demokratie und der gemeinschaftlichen Demokratie ergänzen. Von der begrenzten parteiischen Staatsführung und parlamentarischen Regierungsfähigkeit müssen wir übergehen zu einer gesellschaftlichen Staatsführung der Demokratie. Das bedeutet, daß bei Entscheidungen des Staates die Debatten im Parlament berücksichtigt werden müssen, aber auch die Erörterungen in den sozialen Bewegungen, was es gestattet, die lebendige Energie unserer Völker einfließen zu lassen. Die Erneuerung der Demokratie in diesem neuen Jahrhundert erfordert politische Aktionen, die völlig und ständig einen Dienst für das Leben darstellen, was seinerseits eine ethische, humanistische und moralische Verpflichtung gegenüber unseren Völkern, mit den einfachen Leuten ist. Und dafür müssen wir die Gesetzestafeln unserer Vorfahren wieder zur Geltung bringen: nicht stehlen, nicht lügen, nicht faul sein und nicht lobhudeln. Demokratie bedeutet auch Verteilung des Reichtums und Vergrößerung des Gemeinguts, über das die Gesellschaft verfügt. Demokratie bedeutet Unterordnung der Regierenden unter die Entscheidungen der Regierten. Demokratie bedeutet nicht persönliche Pfründe für die Regierenden und noch viel weniger Machtmißbrauch: Sie ist vielmehr ein uneigennütziger Liebesdienst am Volk, ist Zuwendung von Zeit, Kenntnissen, Anstrengungen und selbst des eigenen Lebens, um das Wohlergehen der Völker und der Menschheit zu erreichen.

9) Eine neue Welt aus dem Süden für die gesamte Menschheit Die Zeit der Nationen des Südens ist angebrochen. Früher waren sie kolonisiert und versklavt, und mit der uns geraubten Arbeitsleistung wurden die Imperien des Nordens errichtet. Heute verfallen die Imperien mit jedem Schritt, den wir für unsere Befreiung tun, immer mehr der Dekadenz und beginnen zusammenzukrachen. -8-

Aber unsere Befreiung ist nicht nur die Befreiung der Völker des Südens, sie ist zugleich die Befreiung der gesamten Menschheit, denn wir kämpfen nicht darum, andere zu beherrschen, wir kämpfen darum, daß keiner einen anderen beherrscht. Und nur wir können zugleich auch die Quelle alles Lebens und der ganzen Gesellschaft retten: die Mutter Erde, die heute mit dem Tode bedroht ist durch die Habsucht eines räuberischen und verrückt gewordenen Kapitalismus. Heute ist eine andere Welt nicht nur möglich, sondern sie ist unentbehrlich. Diese andere Welt ist heute unumgänglich, denn wenn nicht, wird es keinerlei mögliche Welt geben. Und diese andere Welt der Gleichheit, der Komplementarität, des organischen Zusammenlebens mit der Mutter Erde kann nur aus den tausend Sprachen, aus den tausend Farben, aus den tausend verbrüderten Kulturen aller Völker des Südens heraus entstehen. Übersetzung: Gerhard Mertschenk

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