Wer hat Angst vor einer Völkerwanderung?*

07.10.2015 - Und in Athen entstand die Idee der einen Wahrheit, die notwendigerweise ... Krieg miteinander leben. ... An die Stelle der einen Wahrheit und ...
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Wer hat Angst vor einer Völkerwanderung?* Dirk Baecker

Schon die Frage ist falsch gestellt. Weder gab es in den fraglichen Jahrhunderten zwischen Christi Geburt und dem Jahr 1000 die Völker, deren Wanderung behauptet wird, noch gab es die große Wanderungsbewegung von Osten nach Westen, die dann auch gleich mit dem Überrennen und Untergang des römischen Reiches assoziiert wird. Beides sind Erfindungen einer Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, die in erster Linie für Germanen, aber auch für Franken und Slawen nach einem "völkischen" Ursprung ihrer andernfalls allzu arbiträren "Nationen" suchte. Dennoch ist die Frage interessant. Denn ein Blick darauf, was in diesen Jahrhunderten tatsächlich geschah, enthält Lehren zum Verständnis dessen, was wir heute in Europa erleben. Und die Angst, die sich mit dem Mythos der Völkerwanderung ihre Adresse sucht, verschwindet nicht schon dann, wenn man diesen Mythos auflöst. Die Angst ist real. Wir benötigen eine andere Erklärung für sie, wenn sie mit der Völkerwanderung nicht zu erklären ist. Was also geschah in den Jahrhunderten vor der ersten Jahrtausendwende und welche Lehren könnten wir heute daraus ziehen? Die neuere, vor allem angelsächsische Geschichtsschreibung spricht von dramatischen, auch gewalttätigen Jahrhunderten, in denen sich an der Peripherie des römischen Reiches ein tiefgreifender Wandel von kleinen, subsistenzwirtschaftlich organisierten politischen Einheiten, die eher germanisch sprechen, zu größeren, kulturell relativ homogenen Einheiten, die eher slawisch sprechen, vollzog. Die Quellenforschung ist schon aus sprachlichen Gründen und auch deswegen, weil diese germanischen und slawischen Gruppen keine eigenen Aufzeichnungen anfertigten, sondern wir auf römische und kirchliche Quellen angewiesen sind, schwierig. Dennoch entsteht in dieser jüngeren Forschung ein relativ klares Bild von Männergruppen, die kulturell heterogen zusammengesetzt waren, sich eher spontan, also nicht dynastisch, Könige (warlords) wählten, und nicht etwa von Ost nach West unterwegs waren, sondern die Peripherie des römischen Reiches kreuz und quer erkundeten. Von Stämmen kann schon deswegen keine Rede sein, weil die kulturelle Homogenität und auch Frauen meist fehlten. Abgesehen von Raubzügen zur Sicherung der Subsistenz war man mit zwei Dingen beschäftigt, nämlich damit, sich der römischen Armee als Rekrut zu *

Manuskript zum Vortrag an der Theaterakademie Hamburg im Rahmen des Theater Festivals Hamburg, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 7. Oktober 2015.

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verdingen, und damit, den großen Landeigentümern am Rande des römischen Reiches einen Schutz anzubieten, der mit geringeren Steuerabgaben verbunden war als jenen, die gegenüber Rom zu entrichten waren. Das römische Reich wurde nicht überrannt, sondern seine Finanzierungsschwäche wurde ausgebeutet, indem man billigere Soldaten und geringere Steuerabgaben zu bieten hatte. Interessanterweise spricht dieselbe historische Forschung trotz der Auflösung des Mythos der Völkerwanderung dennoch davon, dass in diesen Jahrhunderten Europa geboren wurde. Doch was ist Europa? Die erste Lehre, die man aus den Vorgängen an der Peripherie des römischen Reiches ziehen kann, ist, dass Europa keine geographische, sondern eine kulturelle, politische und ökonomische Einheit darstellt, die aus Zerfallsprodukten eines Reiches besteht, die zu unterschiedlichen Formen der Machausübung, der wirtschaftlichen Orientierung und der demographischen Reproduktion je nach Gelegenheiten und Umständen zusammengesetzt werden konnten. Europa ist keine Einheit bestimmter Völker, kein definiertes Territorium, sondern ein intelligentes Kalkül von Netzwerkeffekten zur Ausbeutung des Zerfalls zentraler Macht. Der kalifornische Politikwissenschaftler John W. Meyer hat bei Gelegenheit darauf hingewiesen, dass der Wertekanon Europas an zwei Orten entstanden ist. In Rom entstand die Idee der einen Macht, die im Zentrum behauptet wird und an den Rändern des Reiches notwendigerweise bröckelt. Und in Athen entstand die Idee der einen Wahrheit, die notwendigerweise umstritten ist, weil sie etwas mit der Aufdeckung des Verborgenen zu tun hat und daher mit der Möglichkeit des Irrtums und der Interessen belastet ist. Die Wahrheit, könnte man sagen, sucht den Streit, den die Macht nicht schlichten kann. Das ist der kulturelle Code Europas. Und dieser kulturelle Code, so Meyer, diente nicht zuletzt dazu, jener Erfindung an einem dritten Ort, Jerusalem, entgegenzutreten, an dem der eine Gott erfunden wurde und dies gleich dreimal, durch die Juden, die Christen und die Moslems, die seither mal im besten Einverständnis ihrer heiligen Schriften und mal im erbittertsten heiligen Krieg miteinander leben. Angesichts der nicht zu klärenden und dennoch immer wieder neu aufgeworfenen Frage, an welchen Gott zu glauben wäre, ist Europa die politische und kulturelle Praxis des Verzichts auf die eine Wahrheit und die eine Macht. Meyer zögert nicht, den von ihm untersuchten weltweiten Siegeszug der westlichen Werte auch mit diesem doppelten Verzicht zu erklären, so sehr die lokalen Praktiken dank des Prinzips der losen Kopplung von diesen weltweit adoptierten Werten auch wieder abweichen. Ein Verständnis Europas als lebendige Heterogenität, als kulturelle und politische Formation, deren Zentrum "leer" ist, würde Ernesto Laclau vielleicht sagen, ist die erste Lehre aus einer Völkerwanderung, die nicht stattfand. An die Stelle der einen Wahrheit und

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der einen Macht treten eine politische Klugheit und Klugheitslehre, die nicht auf Blut und Boden eines Volks (ethnos), sondern auf Entscheidungen bezüglich der Zugehörigkeit einer bestimmten Gruppe von Bürgern (demos) referiert. Eine zweite Lehre besteht darin, sich für historische Ereignisse jeglicher Art weniger mit Mythen als vielmehr mit Netzwerkeffekten zu beschäftigen. Die keltischen, fränkischen, germanischen und slawischen Stämme an der Peripherie des römischen Reiches sind eine Suggestion dieses Reiches, das außerhalb seiner Grenzen zwar "Barbaren", aber doch Barbaren mit der Tendenz oder dem Potential zur Bildung einer vergleichbaren politischen Struktur, wie man sie aus Rom kannte, identifizierte und adressierte. Die Könige dieser Stämme sind Leute, die mit römischen Generälen und Latifundienbesitzern auf Augenhöhe kommunizieren konnten. Herumziehende Horden beobachten diese Entstehung politischer Einheiten und geben sich eine ähnliche Struktur, um mithalten zu können. Die historische Forschung spricht für diese Jahrhunderte von einem Elitentransfer, der die politische Kommunikation sicherstellte. Dieser Netzwerkeffekt auf der Ebene von Makrostrukturen musste jedoch von Netzwerkeffekten auf der Ebene von Mikrostrukturen begleitet werden, das heißt es musste konkrete Anlässe für diese politische Kommunikation geben, und die fand man im Austausch von Rekruten und steuerlichen Abgaben (Schutzgeldern). Nahkausale und fernkausale Effekte müssen zusammentreffen. Erst beides zusammen ergibt ein Netzwerk, an dem sich Handlungen orientieren und so zur Bildung von Strukturen beitragen können. Das gilt auch für die aktuelle Völkerwanderung, die ebenfalls keine ist. Auch heute sollte man sich für die auslösenden Effekte in den unzureichend finanzierten Flüchtlingslagern des Nahen Ostens ebenso wie für die ausgelösten Effekte in den Willkommenskulturen des Westens interessieren, um genauer untersuchen zu können, wer wann mit welchen Erwartungen kommt und wie und wo von wem mit welchen Versprechungen und Hilfestellungen aufgenommen werden kann. Doch woher kommt diese Angst, die sich in der Völkerwanderung ihre Adresse sucht? Diese Angst ist wegen ihrer menschlichen und politischen Effekte ernst zu nehmen, auch wenn sie sich eine historisch falsche Begründung gibt. Vermutlich können wir diese Angst nur erklären, wenn wir auch hier annehmen, dass nahkausale und fernkausale Effekte zusammentreffen. Die Angst, die immer auch eine Faszination ist, wird nahkausal durch den Anblick der Fremden ausgelöst und fernkausal entweder durch Annahmen einer verlorenen Heimat, ihrer Arbeitsplätze, Kindergärtenplätze, Rentensicherheiten und politischen Wiedererkennbarkeit, bestätigt oder durch Annahmen einer beweglichen, lebendigen und wandlungsfähigen Gesellschaft aufgefangen. So oder so jedoch haben wir es, wenn wir nahund fernkausale Effekte zusammenrechnen, mit der Beobachtung der Heimatlosigkeit der

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anderen zu tun. Das ist es, was die Angst auslöst. Die Angst vor einer Völkerwanderung ist nur oberflächlich eine Angst davor, überrannt und überfremdet zu werden. Viel tiefer reicht die Angst, dass die eigenen Orientierungen nicht mehr stimmen, weil andere mit ihren Orientierungen mindestens so erfolgreich oder erfolgreicher sind. Man kann das Überfremdung nennen, aber entscheidend ist, dass man spürt, dass man nicht weiß, wie sich Heimatlose an ihren Ankunftsorten verhalten werden, ja noch nicht einmal weiß, ob diese Ankunftsorte Durchgangsorte auf der weiteren Flucht oder Orte der Niederlassung mit oder ohne Familie sind. Man beobachtet Menschen, von denen man nicht weiß, was sie als Nächstes tun. Sie überschwenglich willkommen zu heißen, ist eine Reaktion, die aus derselben Unsicherheit stammt wie die spontane Ablehnung. Der Willkommensgruß ist eine Form der sozialen Einbettung, wie es die Ablehnung ebenfalls ist, auch wenn das Vorzeichen im einen Fall positiv und im anderen Fall negativ ist. In beiden Fällen, das wäre hier die Lehre, bedarf es politischer, wirtschaftlicher und kultureller Strategien der Aufnahme und Einbettung der Flüchtlinge und Migranten, wenn man die Willkommenskultur in eine gewisse Kontinuität übersetzen und die Ängste vor der Überfremdung widerlegen will. Das Schicksal nicht nur der Flüchtlinge, sondern auch ihrer Freunde und Gegner entscheidet sich in Sprachkursen, in der weiteren Ausbildung bis hin zum Besuch der Universität, auf dem Arbeitsmarkt, in Unternehmensgründungen, in der politischen Teilnahme (mit und ohne Wahlrecht) und in der Anerkennung kultureller Differenz und ihres künstlerischen Ausdrucks. Die politische Klugheit Europas besteht erneut darin, auf die eine Wahrheit und die eine Macht zu verzichten. Europa kann das, andernfalls bräuchte man von Demokratie und Marktwirtschaft, freier Wissenschaft und autonomer Kunst, freier Religionsausübung und gleichem Recht für alle nicht zu reden. Aber es mag nicht überflüssig sein, an diese politische Klugheit und ihre Verankerung in einem kulturellen Code zu einem Zeitpunkt zu erinnern, an dem viele befürchten, dass eine ganz andere, nämlich christliche kulturelle Einheit bedroht sein könnte.

PS: Und was kann das Theater in dieser Situation ausrichten, um an einer Lösung der Flüchtlingsfrage mitzuarbeiten? In akuten Situationen der Not kann das Theater Räume anbieten, dank engagierter Schauspieler, Mitarbeiter und Praktikanten auch Hilfestellung bei Behördengängen, bei der Kinderbetreuung, bei der kulturellen Beratung. Das versteht sich von selbst. Darüber hinaus sollte das Theater jedoch tun, was es immer tut, vielleicht jedoch mit einer entschlosseneren Öffnung gegenüber fremden Sprachen, kulturellen Gewohnheiten

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und ästhetischen Erwartungen. Es sollte den kulturellen Code Europas in seinen Stücken und Inszenierungen erinnern, vorführen und stärken und dabei an Texten, Vorurteilen, Ängsten, an Haut und Haar der Schauspieler auf der Bühne deutlich machen, welche Errungenschaft dieser Code der politischen Klugheit eines Verzichts auf die eine Wahrheit und die eine Macht darstellt und welche Ansprüche er an jeden einzelnen stellt. Intellektuell ebenso wie emotional kann das Theater vorführen, dass die Arbeit im Kontext dieses Codes und die Arbeit an diesem Code immer wieder einen kleinen oder großen Schritt über die Evidenz der eigenen Neigungen, Gefühle und Reaktionen hinaus erfordert. Die Psychologen mögen uns erklären, warum wir nahkausal immer wieder zu Ängsten neigen, hinter denen wir uns barrikadieren, oder zu Willkommensgesten, die wir nicht durchhalten können. Dass diese nahkausalen Effekte nur durch eine Form der Beobachtung und Reflexion in auch längerfristige kluge Reaktionen umgesetzt werden können, kann man in einem Theater erleben, das an Körper und Gemüt, an Gesten und Sprachen vorführen kann, dass die intellektuelle Einsicht das eine, das Ernstnehmen und Mitnehmen unserer Affekte jedoch etwas anderes ist. Das Theater ist darauf spezialisiert, zu beobachten und erfahrbar zu machen, wie es uns gelingt, andere und uns selber zu täuschen. Nicht umsonst ist es historisch zusammen mit dem Markt entstanden, wie Jean-Christophe Agnew gezeigt hat, und jahrhundertelang auch immer wieder nicht nur bei religiösen Ritualen, sondern eben auch auf Jahrmärkten gezeigt worden. Das Theater ist eine Form der Aufklärung einer Gesellschaft über sich selbst, die weiß, wie leicht und schnell es ihr immer wieder gelingt, sich über sich selbst zu täuschen. Dieses Wissen ist und bleibt aktuell.

Literatur: Jean-Christophe Agnew, Worlds Apart: The Market and the Theater in Anglo-American Thought, 1550–1750, Cambridge: Cambridge University Press, 1986. Dirk Baecker, Der unbestimmte Demos: Form und Krise der Demokratie im Prozess der Selbstfindung Europas, in: Lettre International 100, Frühjahr 2013, S. 169-175. Thomas S. Burns, Barbarians Within the Gates of Rome: A Study of Roman Military Policy and the Barbarians, ca. 375–425 A.D., Bloomington, IN: Indiana University Press, 1994 Patrick J. Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter: Zur Legende vom Werden der Nationen, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer Tb, 2002.

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Walter André Goffart, Barbarian Tides: The Migration Age and the later Roman Empire, Philadelphia, PA: Pennsylvania University Press, 2006 (eine Überarbeitung des Buches Barbarians and Romans A.D. 418–584: The Techniques of Accomodation, Princeton, NJ: Princeton University Press, 1980) Peter J. Heather, Empires and Barbarians, London: Macmillan, 2009, dt. Die Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus, Stuttgart: Klett-Cotta, 2011. Ernesto Laclau, The Rhetorical Foundations of Society, London: Verso, 2014. John W. Meyer, Weltkultur: Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, hrsg. von Georg Krücken, dt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005.