Utopie und Illusion. Zur Förderung von

ISBN 978-3-942158-63-3 (Printausgabe). ISBN 978-3-942158-64-0 (E-Book). Satz UVRR. Druck und Bindung Format Publishing, Jena. Printed in Germany.
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####Ute Fischer studierte nach ihrer Ausbildung als Erzieherin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg für das Lehramt. Sie unterrichtete mehrere Jahre an verschiedenen Grund- und Hauptschulen, war Konrektorin und als Fortbildnerin für das Schulamt tätig. Seit 2004 arbeitet sie als akademische Rätin im Fach Deutsch an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Zu ihren Schwerpunkten gehören insbesondere Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb.###

Daniela Schwarz

Utopie und Illusion

Schwarz •   Utopie und Illusion. Zur Förderung von Lesekompetenz

###Seit der ersten PISA- und IGLU-Studie ist das Lesen von Schülerinnen und Schülern verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit von Bildungsforschern, Didaktikern und Lehrenden gerückt. Allerdings wurde die Phase des frühen Lesens dabei meist wenig beachtet. Aus der Forschung weiß man jedoch, dass Leseschwierigkeiten bereits im Laufe der ersten Klasse diagnostiziert werden können und dass sie bei einem erheblichen Teil der betroffenen Kinder persistent sind und zu den späteren Leseproblemen beitragen. Von einer frühen Diagnose der verschiedenen Teilleistungen des Lesens, verbunden mit einer darauf abgestimmten Förderung, sollten vor allem schwache Kinder profitieren. In der hier vorliegenden Studie wurde dazu ein valides und reliables Testverfahren konzipiert, das die Grundlage für einen an den verschiedenen Fähigkeitsniveaus ausgerichteten differenzierten Anfangsunterricht bildete. Verschiedene Gruppen, die in der Forschung oft als Risikogruppen betrachtet werden, wurden dabei untersucht. Die berichteten Ergebnisse hinterfragen teilweise gängige Betrachtungsweisen und zeigen, dass von einem differenzierten Unterricht, der das Fähigkeitsniveau der Kinder berücksichtigt, insbesondere die schwachen Leser profitieren können.####

Zur Förderung von Lesekompetenz in der Erprobungsstufe

ISBN 978-3-942158-63-3

9 783942 158633

UVRR Universitätsverlag Rhein-Ruhr

Daniela Schwarz

Utopie und Illusion Zur Förderung von Lesekompetenz in der Erprobungsstufe

Universitätsverlag Rhein-Ruhr, Duisburg

Die vorliegende Studie wurde als Dissertation von Daniela Schwarz, geboren in Hilden, zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) von der Fakultät für Geisteswissenschaften (Institut für Germanistik/ Linguistik) an der Universität Duisburg-Essen angenommen. Gutachter waren: Prof. Dr. Ulrich Schmitz und Prof. Dr. Albert Bremerich-Vos. Die Disputation fand statt am 24. September 2012.



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UVRR / Mike Luthardt Magic words © Brian Jackson, 2012

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ISBN

978-3-942158-63-3 (Printausgabe)



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978-3-942158-64-0 (E-Book)



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Dank Grenzenlos Zeit und Raum Bilder durch Lesen leben Miteinander verstehen Verlässt den eingesperrten Traum (Ralph Siegmund)

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen denjenigen bedanken, die mich bei meiner Promotion auf unterschiedliche Weise unterstützt haben: Zwei Menschen haben während der gesamten Zeit meiner Promotion durch ihren unerschütterlichen Glauben an mich ganz wesentlich zu dieser Arbeit beigetragen: Mein Freund Ralph Siegmund, der mir immer wieder Mut gemacht und mir zur Seite gestanden hat, und Herr Prof. Dr. Ulrich Schmitz, der mich während der langen Jahre meiner Arbeit betreut und damit sowohl auf inhaltlicher als auch auf menschlicher Ebene in großem Maße unterstützt hat. Ein weiteres Dankeschön gilt Herrn Prof. Dr. Albert Bremerich-Vos, der mir ebenfalls wertvolle Ratschläge inhaltlicher Art gegeben hat. Bedanken möchte ich mich bei meiner ehemaligen Schulleiterin Frau Erika Winkler für ihr großes Entgegenkommen seitens der Schule sowie bei meinem ehemaligen Kollegen Herrn Ernst Breuer für sein unermüdliches Korrekturlesen. Ohne meine SchülerInnen und ihr Entgegenkommen bei meinen Fördermaßnahmen hätte diese Arbeit nicht entstehen können. Es hat mir unendlich viel Freude bereitet, mit ihnen zusammen verschiedene Fragestellungen zu überprüfen und meine Konzeption durchzuführen. Ihre Motivation und Begeisterung für das Lesen haben mir häufig gezeigt, dass auch gemessene schlechte Ergebnisse nichts darüber aussagen, wie viel Freude ihnen das Lesen tatsächlich bereitet. Ein besonderer Dank gilt meinen Eltern, die mich stets gefördert und mir dadurch vieles ermöglicht haben. Ratingen, im Dezember 2012

Daniela Schwarz

Inhalt Einleitung Teil I: Lesekompetenz in unserer Gesellschaft – kommentierender Forschungsbericht ....................................................... 19 1

Die Relevanz des Leseverstehens................................................................. 21

1.1

Bildungsideale: Die Richtlinien und Kernlehrpläne in Bezug auf das Leseverstehen....................................................................... 21

1.2

Leseverstehen als gesellschaftliche Teilhabe des Einzelnen...................... 26

2 Lesen...................................................................................................................... 29 2.1

Definition des Begriffes ‚Lesen‘....................................................................... 30

2.2

Modelle des Lesenlernens................................................................................. 30

2.3 Leseprozesse.......................................................................................................... 33 2.4 Lesestrategien....................................................................................................... 35 3 Lesesozialisation................................................................................................ 41 3.1

Begriffsdefinition und Grundlagen................................................................ 41

3.2

Sozialisationsphasen und -instanzen.............................................................. 43

4 Lesekompetenz.................................................................................................. 49 4.1

Begriffsdefinitionen und Voraussetzungen................................................... 50

4.2

Theoretische Modelle......................................................................................... 52

4.3

Psychologische Determinanten der Lesekompetenz.................................. 55 4.3.1 Kognitive Grundfähigkeit............................................................................ 55 4.3.2 Dekodierfähigkeit........................................................................................ 57 4.3.3 Strategiewissen............................................................................................. 59 4.3.4 Textanforderungen, Kenntnis von Textmerkmalen und Leseanforderungen............................................................................... 59 4.3.5 Leseinteresse und Lesemotivation................................................................ 63 4.3.6 Inhaltliches Vorwissen und inhaltliches Interesse........................................ 64 4.3.7 Lesehäufigkeit.............................................................................................. 65 4.3.8 Geschlechtsspezifische Aspekte.................................................................... 66

4.4

Familiäre Determinanten der Lesekompetenz....................................... 68 4.4.1 Migrationshintergrund................................................................................ 69 4.4.2 Sozioökonomischer Status........................................................................... 70 4.4.3 Bildungsniveau der Eltern............................................................................ 71

5

Nationale und internationale Studien zur Lesekompetenz............... 73

5.1

Die IEA Reading Literacy Studie 2001........................................................ 73

5.2

Die Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchungen (IGLU) 2001 und 2006..................................................................................................... 77

5.3

Die PISA-Studien 2000 und 2009................................................................. 80 5.3.1 Konzeption der Lesekompetenztests............................................................ 82 5.3.2 Kompetenzstufen......................................................................................... 84 5.3.3 Die Ergebnisse der Studien der Jahre 2000 und 2009 im Vergleich............ 89

5.4

Die DESI-Studie 2000...................................................................................... 96

5.5

Kritische Anmerkungen.................................................................................... 97

6

Förderung von Lesekompetenz.................................................................. 101

6.1 Leseförderung.................................................................................................... 102 6.2

Förderung von Lesekompetenz..................................................................... 105

6.3

Grenzen einer Förderung................................................................................ 113

7

Tests zur Erfassung des Leseverständnisses........................................... 117

7.1

Hamburger Lesetest für dritte und vierte Klassen (HAMLET 3-4)................................................................................................ 117

7.2

ELFE-Leseverständnistest für Erst- bis Sechstklässler (ELFE 1-6).......................................................................................................... 121

7.3

Frankfurter Leseverständnistest (FLVT 5-6)............................................. 122

Teil II: Förderung von Lesekompetenz und Möglichkeiten der Leseförderung innerhalb der Erprobungsstufe – Empirische Studie........................................................................................... 125 8

Ansatzpunkte einer Förderung von Lesekompetenz in der Erprobungsstufe................................................................................. 127

8.1

Die Relevanz einer Förderung des Leseverstehens in der Erprobungsstufe................................................................................................ 128

8.2

Fördermöglichkeiten im Hinblick auf die Determinanten der Lesekompetenz.................................................................................................. 130

8.3

Maßnahmen zur Leseförderung.................................................................... 135

9

Rahmenbedingungen der Studie............................................................... 137

9.1

Schulische Rahmenbedingungen und Schülervoraussetzungen........... 137

9.2

Lesegewohnheiten und soziales Umfeld..................................................... 141

10

Erfassung der Lesekompetenz mithilfe des Hamburger Lesetests für dritte und vierte Klassen (HAMLET 3-4)...................... 143

10.1

Begründung für die Nutzung von HAMLET 3-4 für SchülerInnen der Erprobungsstufe........................................................ 143

10.2

Ergebnisse der Probeklasse............................................................................. 144

10.3

Ergebnisse von Testklasse I............................................................................. 148

10.4

Ergebnisse der Vergleichsklasse..................................................................... 150

10.5

Ergebnisse von Testklasse II........................................................................... 152

10.6

Vergleich der Ergebnisse der verschiedenen Klassen............................... 154

11

Konzept zur langfristigen, binnendifferenzierten Förderung von Lesekompetenz in der Erprobungsstufe................... 157

11.1

Aufbau des Förderkonzeptes für die unterschiedlichen Leistungsniveaus................................................................................................ 158

11.2

Überlegungen zur Durchführung des Förderunterrichts in den Testklassen............................................................................................. 172

11.3

Kurze Evaluation und Zusammenfassung.................................................. 174

12

Unterrichtsvorhaben ‚Förderung von Lesekompetenz‘ mit abschließender Leistungsüberprüfung........................................... 177

12.1

Aufbau der Unterrichtsreihe.......................................................................... 177

12.2

Konzeption der Klassenarbeit........................................................................ 183

12.3

Auswertung und Vergleich der Ergebnisse der beiden Testklassen......... 187

13

Maßnahmen zur Leseförderung................................................................ 193

13.1 Buchpräsentationen.......................................................................................... 193 13.2

Das webbasierte Leseförderungsprogramm ‚Antolin‘............................. 194

13.3

Weitere Maßnahmen der Leseförderung.................................................... 199

14

Durchführung von HAMLET 3-4 nach Abschluss des Förderprogrammes.................................................. 201

14.1

Ergebnisse der ersten Testklasse..................................................................... 201

14.2

Ergebnisse der Vergleichsklasse..................................................................... 208

14.3

Ergebnisse der zweiten Testklasse................................................................... 209

14.4

Gegenüberstellung und Vergleich der Ergebnisse.................................... 209

14.5

Auswertung der Ergebnisse der dritten Durchführung von HAMLET 3-4 in der zweiten Testklasse............................................ 213

14.6

Abschließende Auswertung der Ergebnisse................................................ 214

15

Diskussion der Ergebnisse mit weiterführenden Auswertungen................................................................................................... 217

15.1

Desillusionierung vor dem Hintergrund der innerhalb der Studie erzielten Ergebnisse................................................... 217

15.2

Weitere spezifische Auswertungsmöglichkeiten........................................ 221 15.2.1 Geschlecht und Migrationshintergrund..................................................... 222 15.2.2 Zusammenhänge zwischen den schulischen Leistungen im Fach ‚Deutsch‘ und den Testergebnissen des Hamburger Lesetests (HAMLET 3-4)................................................ 228

Teil III: Kritische Reflexion: Sinn und Grenzen von Lesekompetenztests und Förderkonzepten............................................... 239 16

Beurteilung der Relevanz der verwendeten Tests zur Erfassung des Leseverständnisses...................................................... 241

16.1

Der Hamburger Lesetest für dritte und vierte Klassen (HAMLET 3-4)................................................................................................ 241 16.1.1 Testdurchführung und Auswertung.......................................................... 241 16.1.2 Gegenüberstellung der beiden Testformen................................................. 243 16.1.3 Anmerkungen............................................................................................ 243

16.2

Der ELFE-Leseverständnistest für Erst- bis Sechstklässler (ELFE 1-6).......................................................................................................... 244 16.2.1 Durchführung und Auswertung der Ergebnisse........................................ 244 16.2.2 Kritische Auswertung der Ergebnisse im Vergleichmit den Ergebnissen von HAMLET 3-4 und der Klassen untereinander............... 245 16.2.3 Kritische Anmerkungen............................................................................. 257

16.3

Der Frankfurter Leseverständnistest (FLVT 5-6)..................................... 258 16.3.1 Durchführung und Auswertung der Ergebnisse........................................ 260 16.3.2 Vergleich der Ergebnisse des FLVT 5-6 mit denen des Hamburger Lesetests (HAMLET 3-4)...............................264 16.3.3 Kritische Anmerkungen............................................................................. 266

16.4

Der nicht-standardisierte Leseverständnistest von U. Fischer aus ihrem Konzept ‚Leseförderung nach Kompetenzstufen‘.................... 268 16.4.1 Der Leseverständnistest nach Ute Fischer.................................................. 269

16.4.2 Auswertung des Tests und Ergebnisse........................................................ 269 16.4.3 Ergebnisse im Vergleich zu den standardisierten Tests............................... 271 16.4.4 Kritische Anmerkungen............................................................................. 275

16.5

Vergleich der Tests hinsichtlich ihrer Anwendungsmöglichkeiten in der Erprobungsstufe............................... 277

17

Utopie und Illusion – Förderung von Lesekompetenz in der Erprobungsstufe................................................................................. 279

17.1

Grenzen einer Förderung des Leseverstehens............................................ 279 17.1.1 Mit der (Lese-)Sozialisation verbundene Grenzen...................................... 279 17.1.2 Grenzen im Hinblick auf die Determinanten der Lesekompetenz............. 281 17.1.3 Grenzen vor dem Hintergrund der Bildungspolitik................................... 282

17.2

Die aus dem ‚Scheitern‘ resultierenden Chancen..................................... 283 17.2.1 Förderung von Lesekompetenz durch eine frühzeitige Heranführung an die Lesekultur............................................................... 283 17.2.2 Lesekompetenz durch Habitualisierung des Lesens im (Schul-)Alltag und durch Motivation................................................... 285

18 Schlusswort....................................................................................................... 287 Literaturverzeichnis....................................................................................... 291 Internetquellen.................................................................................................. 302 Abkürzungsverzeichnis.................................................................................... 305 Abbildungsverzeichnis..................................................................................... 307 Tabellenverzeichnis........................................................................................... 309

Einleitung Herles: Literatur spricht naturgemäß immer nur Minderheiten an. Aber was sagen Sie den jungen Leuten, die gar nicht mehr lesen wollen – was entgeht ihnen, wenn sie nicht lesen? Lenz: (…) Euch entgeht Kurzweil, zum Beispiel, Euch entgeht etwas, worauf Ihr vielleicht unbewusst nur Wert legt: Unterhaltung. Euch entgeht eine glückliche Anstiftung zu einem bewussteren Leben.1

Nicht immer war das Lesen ein selbstverständlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens – in manchen Zeiten galt es als Privileg, überhaupt lesen zu können oder auch zu dürfen. Heute wird das Lesen als eine Basiskompetenz bzw. Schlüsselqualifikation verstanden und kann damit unzählige weitere Möglichkeiten offenbaren – vorausgesetzt, der Mensch ist überhaupt in der Lage, das Gelesene zu verstehen und es für seine Zwecke nutzbar zu machen. Manchmal kann das Lesen sogar, wie auch Siegfried Lenz sagt, zu einem bewussteren Leben anstiften, indem eine Auseinandersetzung mit anderen Möglichkeiten der Meisterung des Lebens im Vergleich zu der eigenen zu Erkenntnissen und damit verbunden Veränderungen führen kann.2 Die ‚Unterhaltung‘, die Lenz meint, ist in diesem Sinne folglich eher als eine Art der ‚Auseinandersetzung‘ zu verstehen. Eine solche Auseinandersetzung mit Literatur setzt bereits ein hohes Maß an Leseverstehen voraus – ein Aspekt, der mit Blick auf die Ergebnisse der internationalen Studien in Bezug auf Lesekompetenz als nicht selbstverständlich angesehen werden kann, belegen diese Studien doch, dass das Leseverstehen auch in unserer Gesellschaft eine Fähigkeit ist, die aufgrund ihrer augenscheinlichen Defizite einer umfassenden Förderung bedarf. Auch um Kindern und Jugendlichen eine solche Art der Auseinandersetzung, wie sie etwa von Siegfried Lenz dargestellt wird, überhaupt ermöglichen zu können, bedürfen viele von ihnen spezifischer Förderkonzepte, von denen eines im Rahmen dieser Arbeit evaluiert werden soll. Neben den vielfältigen Möglichkeiten, die dem Menschen durch die Fähigkeit des Lesens offenbart werden, stellt das Lesen aber gerade auch als Schlüsselqualifikation eine wichtige Voraussetzung für die Teilhabe des Einzelnen an der Gesellschaft mit all ihren (kulturellen) Möglichkeiten dar. Bereits in der Schule 1 , eingesehen am 26.01.2012. 2 Vgl. ebd.

12 Einleitung

kommt dem Lesen eine hohe Bedeutung zu, da es als fachübergreifende Kompetenz in den meisten Unterrichtsfächern relevant und damit entscheidend für schulischen Erfolg, später auch für die berufliche Qualifikation und damit verbunden den beruflichen Erfolg, ist. So wichtig und bedeutsam das ‚Lesen‘ ist, so sehr wird es immer weniger als kostbares Privileg, das geschätzt und damit auch bewusst gefördert werden soll, verstanden, sondern vielmehr im negativen Sinne als Voraussetzung empfunden, wodurch sowohl das Erlernen als auch die Pflege dieser Kompetenz zu oft vernachlässigt werden. Versucht man sich an seine eigene Lesebiographie und damit auch an die ersten Anfänge des eigenen Lesens zu erinnern, so fällt dies meist schwer – man empfindet das Lesen als eine Fähigkeit, die man quasi ‚nebenbei‘ oder zum Teil unbewusst erlernt hat, wobei man den Lernprozess meist nicht mehr genau zu rekonstruieren vermag. In demselben Maße setzt man die Lesefähigkeit auch bei den anderen Menschen oftmals als selbstverständlich voraus. Auch weiß man häufig gar nicht zu schätzen, welch ein großes Geschenk man mit der Fähigkeit des Lesens überhaupt erhalten hat. Seit geraumer Zeit ist das Medienumfeld der Menschen in Veränderung begriffen, so dass das Lesen nicht nur auf Bücher beschränkt, sondern gleichsam auch Voraussetzung für den adäquaten Umgang mit vielen anderen Medien geworden ist. Obwohl das Buch längst nicht mehr das am meisten genutzte Medium ist, kommt ihm doch die für das Lesenlernen und die Lesesozialisation wichtigste Rolle zu (vgl. Kapitel 3). Unsere Gesellschaft befindet sich in einem stetigen Wandel, der seine Auswirkungen auch auf das Leseverstehen hat. Viele Studien belegen, dass gerade die Lesesozialisation der wichtigste Indikator für ein gutes Leseverstehen ist. Lesesozialisation beginnt im frühesten Kindesalter als Teil der Enkulturation im Elternhaus. Eltern, die selbst nur über ein rudimentäres Leseverstehen verfügen, sind nicht in der Lage, ihren Kindern Lesekultur vorzuleben. Durch das fehlende Lesevorbild und die veränderte, dem Lesen immer weniger förderliche, Umwelt erlernen viele Heranwachsende das Lesen wiederum nur unzureichend. Auch sie können die Lesekultur später nicht weitergeben, und der Teufelskreis schließt sich. Die veränderte Rolle der Familie innerhalb der Gesellschaft hat ebenfalls oft Einfluss auf die Sozialisation im Allgemeinen und damit auch auf die Lesesozialisation. Maßnahmen zur Intervention können sich häufig nur auf den vorschulischen und schulischen Bereich beschränken; sie sind von ganz zentraler Bedeutung, wenn das Leseklima im Elternhaus nicht förderlich ist. Dass das Leseverstehen in unserer Gesellschaft allerdings in einem vergleichsweise hohen Maße defizitär ist, offenbarten zwar nicht zuerst die Ergebnisse der PISA-Studie aus dem Jahre 2000 – sie sensibilisierten die Öffentlichkeit jedoch

Einleitung 13

in hohem Maße für diese Problematik. Die Ergebnisse der Achtklässler im internationalen Vergleich waren alarmierend, der Ruf nach Fördermaßnahmen und nach vielen anderen Konsequenzen wurde laut. Die Ergebnisse der weiteren Studien, insbesondere auch von PISA 2009, haben sich seither allerdings trotz vieler Förderansätze und -maßnahmen nicht nennenswert verbessert. Betrachtet man aber die schlechten Ergebnisse der PISA-Studien im Vergleich zu den Resultaten der IGLU-Studie, bei der die Viertklässler im internationalen Vergleich durchaus ‚annehmbare‘ Leseverstehensleistungen vorweisen können, so lässt sich folgern, dass in der Zeit zwischen der vierten und der achten Jahrgangsstufe sowohl die Leistungen in Bezug auf das Leseverstehen als auch das Leseinteresse stark nachlassen, während die Leistungsstreuung, also die Diskrepanz zwischen den schlechtesten und den besten Leistungen, zunimmt. Ein möglicher Zeitpunkt einer Förderung scheint demzufolge gerade mit dem Beginn der weiterführenden Schule gegeben zu sein, also mit der fünften Klasse. Obgleich die Meinung, das Lesenlernen sei mit Beendigung der fünften Klasse abgeschlossen, weit verbreitet ist, müssen gerade zu diesem Zeitpunkt noch Fähigkeiten wie beispielsweise das Anwenden von Lesestrategien durch Übung elaboriert und verfestigt werden. Einige Förderkonzepte richten sich bereits auf diese Aspekte und auch auf diesen Zeitpunkt der Förderung, sie sind allerdings zeitlich recht knapp angelegt und zielen oftmals auf eine individuelle oder in Kleingruppen organisierte Förderung. Da sich auch die weiterführende Schule zum Ziel setzen sollte, diese fachübergreifende Schlüsselqualifikation zu fördern, stellt sich die Frage, inwieweit es innerhalb der institutionellen Bedingungen in der Praxis überhaupt möglich ist, eine Förderung der Lesekompetenz im Klassenverband möglichst effektiv zu betreiben. Dieser Frage soll im Rahmen dieser Arbeit nachgegangen werden, wobei hervorgehoben werden muss, dass die dieser Arbeit zugrunde liegende ‚Empirische Studie‘ nicht den Richtlinien der empirischen Sozialforschung entspricht und somit keine ‚Empirische Studie‘ im klassischen Sinne darstellt. Ziel dieser ‚Studie‘ ist es vielmehr, die Umsetzbarkeit eines Förderkonzeptes in der schulischen Praxis zu erproben und seine Wirksamkeit innerhalb von individuellen Analysen und auch Interpretationen zu hinterfragen. Zu Beginn des Projektes wird die Lesekompetenz mithilfe des Hamburger Lesetests (HAMLET 3-4) ermittelt. Daran schließt sich ein langfristig ausgerichtetes Konzept zur binnendifferenzierten, sich an den Ergebnissen des Hamburger Lesetests und dessen Stufenmodell orientierenden Förderung der Lesekompetenz an, das auch Aspekte der Leseförderung umfasst. Ziel ist es, das Lesen auf möglichst natürliche Weise in den Schulalltag zu integrieren und beispielsweise Lesestrategien immer wieder in unterschiedlichen Kontexten zu