Residenz der Musen

9. Einleitende Überlegungen. Hole Rößler. Wahrnehmung und Wissen. 34. Enzyklopädische Kenntnisse und das Schloss der Fürsten um 1700. Ulrich Schütte.
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Residenz der Musen

Schriften zur Residenzkultur • 7 Herausgegeben vom Rudolstädter Arbeitskreis zur Residenzkultur

Berthold Heinecke, Hole Rößler, Flemming Schock (Hg.)

Residenz der Musen Das barocke Schloss als Wissensraum

Lukas Verlag

Abbildung auf dem Umschlag: Unbekannter Künstler: Allegorie der Künste, Schloss Hundisburg, zentrales Deckengemälde des Festsaals, Rekonstruktion des verlorenen Originals von Christoph Wetzel nach einem Farbdiapositiv von 1943/45, mit freundlicher Genehmigung des Vereins Kultur-Landschaft Haldensleben-Hundisburg e.V.

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und des KULTUR-Landschaft Haldensleben-Hundisburg e.V.

© by Lukas Verlag Erstausgabe, 1. Auflage 2013 Alle Rechte vorbehalten Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte Kollwitzstraße 57 D–10405 Berlin www.lukasverlag.com Korrektorat und Satz: Jana Pippel (Lukas Verlag) Reprographie und Umschlag: Lukas Verlag Druck: AZ Druck und Datentechnik, Berlin Printed in Germany ISBN 978–3–86732–134–1

Inhalt

Vorwort

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Das barocke Schloss als Wissensraum Einleitende Überlegungen Hole Rößler

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Wahrnehmung und Wissen Enzyklopädische Kenntnisse und das Schloss der Fürsten um 1700 Ulrich Schütte

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Architektur sammeln Fürstliche Ambitionen zwischen Musenberg und Salzthal Simon Paulus

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Das Wissen der Hofgärtner Theoretische Ansprüche und künstlerische Behauptung einer Profession im Kontext höfischer Kultur Stefan Schweizer

71

Repräsentation oder Illustration Die Ikonographie der Hundisburger Deckengemälde im Kontext der höfischen Wissenskultur Pablo Schneider

90

Wissen zwischen Himmel und Erde Vom Wittenberger Heiltum zur Gothaischen Kunstkammer Stefan Laube

106

Vom »Begaffen prächtiger Möbel« zum Bildungserlebnis Schlossbesichtigungen in der Frühen Neuzeit Michaela Völkel

125

Aggregatzustände der Aufmerksamkeit Oder: Was heißt »Wissen« in Hinblick auf höfische Sammlungskulturen der Frühen Neuzeit? Robert Felfe

148

Theoria cum praxi Leibniz zwischen Akademie und Fürstenhof Hartmut Hecht

169

» … daß sie mit der Feder etwas entworffen« Publizität und Öffentlichkeit barocker Sammlungsräume Flemming Schock

187

Bibliothekar ohne Bücher Der Wartburgbibliothekar Richard Voß Jens Haustein

213

Bildnachweis 222

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Inhalt

Vorwort

Die vorliegenden Tagungsergebnisse über das frühneuzeitliche Schloss als Wissensraum wurzeln in mehrfach räumlichen Voraussetzungen: Am Anfang stand der Wolfenbütteler Barockkongress des Jahres 2009 mit seinem Leitthema »Konstruktion, Imagination und Darstellung von Räumen und Grenzen im Barockzeitalter«. Passend war, dass die Herzog August Bibliothek hier zugleich jenen Raum bildete, in dem sich die drei Veranstalter und Herausgeber des vorliegenden Bandes erstmals kennenlernten und die Idee zu einer eigenen Tagung über die Schnittflächen höfischer Schloss- und Wissensarchitekturen entwickelten. Mindestens ebenso reizvoll wie das Thema selbst erwies sich dabei die durch Berthold Heinecke ermöglichte seltene Gelegenheit, den Untersuchungsgegenstand zugleich als Tagungsraum nutzen und erleben zu können – Schloss Hundisburg bei Magdeburg. Bereits seit längerem wird das für Friedrich II. von Alvensleben (1657–1728) gegen Ende des 17. Jahrhunderts barock ausgebaute Schloss für vielfältige kulturelle und wissenschaftliche Veranstaltungen genutzt. Für die Tagung, die vom 27. bis 29. August 2010 stattfand, bot das Ambiente dieses Ortes einen in jeder Hinsicht stimmigen Mehrwert – obwohl oder gerade weil das ländliche Barockschloss Hundisburg in der Topographie wissenschaftlicher Tagungsräume bislang an der Peripherie liegt. An erster Stelle gebührt unser Dank daher der großzügigen und freundlichen Unterstützung der Kultur-Landschaft Haldensleben-Hundisburg e.V., namentlich dem Team um Berthold Heinecke und Harald Blanke. Sie haben nicht nur für die Unterbringung und das leibliche Wohl gesorgt, sondern den Referenten auch mit Begeisterung die Geschichte des Schlosses vor Augen geführt. Danken möchten wir zudem dem Schweizerischen Nationalfonds für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung des Tagungsbandes. Dem Rudolstädter Arbeitskreis zur Residenzkultur danken wir besonders für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der »Schriften zur Residenzkultur«. Nicht zuletzt sind die Herausgeber Gudrun Richter zu großem Dank verpflichtet, die engagiert und mit großer Umsicht das Lektorat der Beiträge besorgte. St. Moritz, Weihnachten 2012

Vorwort

Die Herausgeber

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Das barocke Schloss als Wissensraum Einleitende Überlegungen* Hole Rößler

Orte und Räume des Wissens

Die Rede von ›Wissensräumen‹ könnte den Anschein eines Pleonasmus erwecken, finden sich in einer Kultur doch schlichtweg keine Räume, die nicht in irgendeiner Weise durch Wissen definiert sind. Den Kultur- und Sozialwissenschaften gilt ›Raum‹ im Anschluss an Henri Lefebvre als Produkt sozialer Praktiken, die in allen gesellschaftlichen Bereichen die Bedingungen der Teilhabe und des Ausschlusses von Subjekten, d.h. die Zugänge und Grenzen von Räumen bestimmen.1 Insofern soziale Praxis auf einem Wissen vom angemessenen und konformen Verhalten beruht, sind alle sozialen Räume immer auch Wissensräume. Neben Praktiken sind es die materiellen Umstände, die die soziale Konstruktion von Räumen entscheidend prägen. Seien es die konkreten architektonischen Gegebenheiten, die technischen Bedingungen der Kommunikationsmedien oder die von Geographie und Transportmitteln bestimmten Möglichkeiten der Zirkulation von Waren und Kapital – stets existiert ein physischer Raum, der einen Rahmen bildet, innerhalb dessen sich die soziale Praxis ihre Räume schafft. Michel de Certeau hat dies als »Ort« bezeichnet, der eine relativ stabile »Konstellation von festen Punkten« bildet, während für ihn der »Raum« eine sich im »Ort« entfaltende »Gesamtheit der Bewegungen« darstellt. Kurz gesagt, ist »der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht«.2 Uneinigkeit bestand in der Soziologie hinsichtlich der Frage nach dem Abhängigkeitsverhältnis von »Ort« und »Raum«, ob also vorgängige materielle Strukturen das menschliche Verhalten maßgeblich organisieren oder ob vielmehr das Verhalten jeweils darüber bestimmt, was ein Raum (etwa ein Gebäude) ist. Beide Perspektiven sind dadurch geprägt, dass sie einen wesentlichen Faktor übersehen oder marginalisieren. Die – vor allem von Anthony Giddens vertretene – Favorisierung menschlichen Handels als dem primären, ja alleinigen Faktor der Konstruktion von »Räumen« tendiert dazu, die Rolle materieller Bedingungen auszublenden. Hingegen neigt die – vor allem von Pierre Bourdieu entwickelte – Beschreibung einer dem Handeln vorgängigen, in konkret-materiellen Strukturen fassbaren symbolischen Ordnung dazu, deren Gemachtheit und Historizität sowie die Möglichkeiten der Aneignung und Neuinterpretation zu übersehen.3 * Ich danke Berthold Heinecke und Flemming Schock für wichtige Hinweise und Anregungen. 1 Lefebvre 1974. Siehe dazu auch die Anthologie von Dünne/Günzel 2006. 2 de Certeau 1988, S. 217f. 3 Vgl. Gieryn 2002, S. 35–41.

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Für eine historische Untersuchung von Wissensräumen scheint es angemessen, von einem Wechselverhältnis von »Ort« und »Raum«, von »Struktur« und »Verhalten/ Handeln« auszugehen. In Bezug auf ein konkretes Gebäude ist, wie Thomas Gieryn dargelegt hat, von einem vorgängigen »design« auszugehen, das sowohl die schiere Materialität des architektonischen Körpers und die damit zusammenhängenden physikalischen und technischen Bedingungen berücksichtigt als auch die sozialen Interessen und Erwartungen, die die involvierten Akteure mit dem Bau verbinden. Ein solches »design« antizipiert spätere Nutzer, während der fertige Bau sie durch die von ihm materiell vorgegebenen Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung weitreichend bestimmt. Zugleich aber bietet ein konkretes Gebäude immer auch die zumindest prinzipielle Möglichkeit einer diskursiven und/oder materiellen Neukonfiguration.4 Das Gebäude als »Ort« ist gleichsam das Vorgefundene, das immer erst in seiner Aktualisierung durch Gebrauch ›real‹ wird. Was Menschen in einem und aus einem Gebäude machen, ist nicht allein und nicht immer primär von diesem Gebäude bestimmt, sondern von zahlreichen und historisch variablen gesellschaftlichen Faktoren. Es ist unmittelbar einsichtig, dass »Orte« aufgrund ihres »designs« Materialisierungen von Wissen sind. Errichtung, Instandhaltung und Modifikation von Gebäuden erfordern ein spezialisiertes Wissen, das in die Konstitution von sozialen Räumen hineinwirkt. Auch »Orte« sind somit Wissensräume, wobei die analytische Schwierigkeit besteht, dass sie nie ›rein‹, d.h. als bloßes »design« vor aller sozialer Praxis vorliegen und somit immer nur in Bezug auf und in Differenz zu dieser zu beschreiben sind. Mit de Certeau gesprochen: Es gibt keinen Ort, mit dem nicht irgendetwas gemacht wird. Das bedeutet auch, dass das Zusammenspiel des im »Ort« konkretisierten Wissens und des in seiner Nutzung entfalteten Wissens jeweils situativ zu bestimmen ist und sich Generalisierungen weitgehend entzieht. Im engeren Sinne sind Wissensräume aufzufassen als Gefüge aus materiellen Struktu­ ren und sozialen Praktiken, in denen Wissen in materieller und/oder symbolischer Form akkumuliert, organisiert, repräsentiert und ggf. produziert wird, und die sich von anderen Räumen durch ein hohes Maß an Verdichtung und Spezialisierung von Wissen unterscheiden.5 Zu dieser Gruppe von Wissensräumen im engeren Sinne gehö­ ren etwa Bibliotheken, Museen, Archive, Schulen, Universitäten und Laboratorien. Das wissenschaftshistorische Interesse an Einrichtungen wie diesen verdankt sich einem soziologischen Ansatz, der lange vor dem Ausrufen des sogenannten spatial turn die jeweiligen lokalen, sozialen, politischen und ökonomischen Umstände als wesent­liche Faktoren der Konstitution, Formierung und Legitimation wissenschaftlicher Arbeit und Erkenntnis begriff.6 Die Genese von Wissen, so ließe sich sagen, ist 4 Gieryn 2002, S. 42–45. 5 In eine andere Richtung geht die Untersuchung metaphorischer Wissensräume, die gleichwohl Bezüge zu konkreten Räumen und Gebäuden besitzen können. Siehe dazu Bahlmann/Oy-Marra/ Schneider 2008; Joisten 2010. 6 Siehe Ophir/Shapin 1991; Livingstone 2003; Rheinberger 2003. Zum ›spatial turn‹ siehe einführend Bachmann-Medick 2006, S. 284–328.

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in höchstem Maße abhängig von den lokalen Bedingungen, von »Ort« und »Raum« in ihrem jeweiligen Zusammenwirken. Entscheidend ist, dass Wissensräume nicht allein durch ein darauf abzielendes »design« geschaffen werden, sondern dass die genannte Möglichkeit der Neukonfiguration von Räumen durch einen Wandel in deren Nutzung sowohl die Auflösung von Wissensräumen bedingen kann wie auch die Entstehung von Wissensräumen an dafür ursprünglich nicht vorgesehenen »Orten«. Darüber hinaus können Räume auch nur zeitweise und in sekundärer Funktion und nur für bestimmte Personen als Wissensräume fungieren. Damit aber geraten Räume in den Blick der wissens- und wissenschaftshistorischen Forschung, die scheinbar abseits der hauptsächlichen Entwicklungslinien liegen, weil ihre Bedeutung und Relevanz für die Organisation und Genese spezifischer Wissensbestände in der historiographischen Wahrnehmung von anderen Funktionen verdeckt wird. In diesem Sinne möchte der vorliegende Band aufweisen, dass das frühneuzeitliche Schloss nicht nur ein »Gehäuse der Macht«7, sondern – als Grundlage und Le­gi­ti­ma­ti­on der Macht – immer auch ein ›Gehäuse des Wissens‹ war. Zunächst natürlich, insofern die Architektur des Schlosses und dessen dekorative Elemente auf symbolischer Ebene nicht nur Machtfülle, sondern auch die der Macht zugrundeliegenden, sie begründenden Herrschaftstugenden zu visualisieren hatten, zu denen Gelehrsamkeit, Wissen und vor allem Weisheit gehörten.8 Daneben aber war der frühneuzeitliche Fürstenhof (dessen Funktion mancherorts die Klöster und Reichsabteien erfüllten), wie Gerhard Fouquet treffend bemerkte, ganz konkret »WissensGesellschaft und Wissens-Zentrum mit eigenen Wissens-Hierarchien und spezieller Wissens-Produktion«.9 Als Ort der Akkumulation, Produktion und Demonstration von Wissen blieb der Hof, mit Ausnahme der Reichsstädte, aufgrund seiner Rolle als politisches, ökonomisches und somit auch kulturelles Zentrum des jeweiligen Territoriums im 17. und frühen 18. Jahrhundert weitgehend konkurrenzlos. Selbst dort, wo Fürsten ausreichend Interesse und Finanzmittel für die Gründung von Universitäten und Akademien aufzubringen geneigt waren, bildeten diese zunächst keine Alternative zum Hof. Hatte Norbert Elias in seiner klassischen Studie »Die höfische Gesellschaft« (1969) festgestellt, dass in Frankreich der königliche Hof den Ort der »eigentlich Bildung schaffenden Gesellschaft« darstellte, während in Deutschland die Universität zum »entscheidenden Bildungsinstrument« geworden sei, so ist damit die wissens- und wissenschaftshistorische Position der Höfe des Alten Reichs keineswegs hinreichend charakterisiert.10 In vielen Fällen war ein enger Zusammenhang von Hof und Universität schon aufgrund ihrer politischen und ökonomischen Abhängig­keit 7 Zum Begriff des »Gehäuses« siehe Elias 1999, S. 71, 125 sowie in dessen Nachfolge Stürmer 1980; Paravicini 2005. 8 Siehe dazu grundlegend Müller 2004; Hahn 2005. Zur Inszenierung des Fürsten als Quelle des Wissens siehe auch Berns 2009. 9 Fouquet 2002, S. 269. Siehe auch Walther 2004; Troitzsch 2004, S. 446f. 10 Vgl. Elias 1999, S. 285. Zum Zusammenhang von Hof und Universität siehe einführend Lind­gren 2005a.

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von ihrem fürstlichen Patron gegeben sowie durch deren Funktion, den wachsenden Bedarf der Höfe an akademisch ausgebildetem Personal für Territorialverwaltung und Rechtsprechung zu decken. Daneben hatte sich – zum Teil in deutlicher und bisweilen auch provozierender Distanz zum universitären Wissenskanon – schon früh die ausgesprochen heterogene Gruppe der Hofgelehrten herausgebildet, die ihren Brotherren in dessen persönlichen wissenschaftlichen Interessen zur Seite standen, zugleich aber auch als Instrumente der Prestigemehrung, d.h. innen- wie außenpolitisch zur Akkumulation von kulturellem und symbolischem Kapital dienten.11 Darüber hinaus zogen die Höfe zahlreiche vermeintliche und tatsächliche Spezialisten insbesondere aus den Künsten, den Artes mechanicae und der Alchimie an, deren Fachwissen bzw. das Versprechen desselben sehr genau an die Bedürfnisse der Fürsten angepasst war.12 Nicht zuletzt zeugen auch Akademieprojekte und -gründungen und die damit verbundenen Mobilisierungen monetärer, personeller und politischer Ressourcen von einem Interesse an Wissenschaften, deren in Aussicht gestellter Nutzen für Staatshaushalt und Staatsraison sich meist nicht oder zumindest nicht unmittelbar einstellte. Zwar stellt das komplexe Gefüge von Hof und Gelehrsamkeit bzw. Wissenschaft heute nicht mehr, wie Ferdinand von Ingen noch 1979 konstatierte, eine »terra incognita« dar, doch bestehen noch immer eine ganze Reihe weißer Flecken, weswegen von einer befriedigenden Kartierung dieses Forschungsgebietes bislang keine Rede sein kann.13 Insbesondere eine kritische Würdigung der Höfe bzw. höfischer Wissenskulturen im Kontext einer umfassenden Wissens- und Wissenschaftsgeschichte des Alten Reichs steht bislang aus. Während die Hofkultur lange als vermeintlicher Hort des traditionellen oder reaktionären Denkens und aufgrund mangelnder Pro­ gressivität von einer teleologisch gestimmten und innovationsfixierten Wissenschafts­ geschichte ignoriert wurde, neigte im Gegenzug ältere Hofforschung nicht selten erkennbar lokalpatriotisch motiviert dazu, die Kunstsinnigkeit bzw. Gelehrsamkeit der jeweiligen Fürsten über Gebühr zu betonen, wobei die zugrundeliegenden politischen Bedingungen und Absichten aus dem Blick gerieten. Nur allzu oft jedoch war den Fürsten durch Zeremoniell, Erbe und Standespflicht ein regelrechter ›MusenZwang‹ auferlegt, dem nachzukommen wenig über persönliche Neigungen verrät.14 Als fruchtbarer erwiesen sich demgegenüber breiter angelegte kunst- und kulturhistorische Arbeiten, die die komplexen sozialen Dynamiken in ihrem Einfluss auf die Entwicklung der Künste zu erfassen suchten.15 Fast zeitgleich entstand eine Reihe wegweisender wissenschaftshistorischer Studien, die Form und Inhalt insbesondere 11 Zur Figur des Hofgelehrten siehe Lindgren 2005b. 12 Siehe dazu Smith 1994; Warnke 1996; Krajewski 2004; Benrath/Düsseldorf 2008. Zur Rolle der Künste siehe auch Unbehaun 1998. 13 Ingen 1979, S.  635. Zum Thema der Wissenschaften bei Hofe siehe Müller 1995, S.  43–50; Walther 2004; Moran 2006. 14 Vgl. Berns 1994, S. 35f. u. passim. 15 Aus der Fülle der Literatur sei hier stellvertretend genannt: DaCosta Kaufmann 1995, bes. S. 185–203.

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der experimentellen Naturphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts als weitreichend bestimmt durch die Abhängigkeit ihrer Akteure von fürstlicher Patronage und ihrer Integration in den normativen Kontext der höfischen Gesellschaft betrachten.16 Am Beispiel von so prominenten Akteuren wie Tycho Brahe, Johannes Kepler oder Galileo Galilei haben diese Arbeiten gezeigt, dass die wissenschaftliche Praxis wie die Darstellung ihrer Ergebnisse dem Loyalitätsverhältnis der gelehrten Klienten gegenüber ihren fürstlichen Patrons folgten und daher häufig mehr den Regeln der höfischen Etikette gehorchten als der – ohnehin modernen – Vorstellung von einem unabhängigen Forschungsinteresse.17 Hier will der vorliegende Band ansetzen und zugleich mit der im Titel genannten Fokussierung auf das Schloss eine Perspektivverschiebung vornehmen. So wenig das Schloss in seiner Entstehung und Nutzung ohne den jeweiligen Hof zu denken ist, so wenig ist seine Funktion als Wissensraum allein aus den sozialen Praktiken der höfischen Gesellschaft zu verstehen. Eine Betrachtung des Schlosses als Wissensraum kommt zweifellos nicht ohne Rückbindung an den sozialen Kontext, den »Raum« des Hofes, aus – die Perspektive vom Schloss als »Ort«, dessen theoretisches und materialisiertes »design« die mit dem Wissen verbundenen Praktiken antizipiert, kann aber den historischen Wandel dieser Praktiken sichtbar machen, der sich gegenüber ursprünglichen Interessen und Intentionen vollzog. In der einen oder anderen Weise ist diese Differenz zwischen Schloss und Hof, zwischen einem materiell wie semantisch tendenziell stabilen Handlungsort und tendenziell dynamischen, heterogenen und performativen Handlungsweisen in allen Beiträgen dieses Bandes präsent. Dem Wunsch nach einer systematischen Darstellung der zugrundeliegenden Fragestellung und der auf sie reagierenden Ansätze ist die Fokussierung dieses Bandes auf das frühneuzeitliche Schloss geschuldet. Die fraglos wünschenswerte Ausweitung der Perspektive auf Genese, Formen und Funktionen von Wissensräumen in mittelalterlichen Burgen musste hier ebenso unterbleiben wie ein nicht minder erkenntnisträchtiger Vergleich mit anderen europäischen und außereuropäischen Entwicklungen. Profunde und überraschende Einsichten, die Anlass zur Revision gegenwärtiger Ansichten über die Wissenskulturen der Vormoderne geben könnten, sind hier noch zu erwarten. Wissensräume bieten nicht nur Wissen, sie verlangen es auch. Als analytisch und struk­turell hilfreich erweist sich daher eine Typologie des für den Wissensraum ›Schloss‹ relevanten Wissens. Untersuchungen des frühneuzeitlichen Patronagesystems haben einige wichtige Wissensfelder insbesondere im Zusammenhang mit Künsten und Wissenschaften mitsamt deren spezifischen sozialen und politischen Funk­ti­onen im Kontext der Hofkultur herausgearbeitet.18 Allerdings differenziert die­ser Ansatz 16 Bspw. Moran 1991a; Moran 1991b; Biagioli 1999. 17 Zur Unterordnung der Gelehrsamkeit unter das »regiment« siehe auch Kühlmann 1982, S. 9 u. passim. 18 Siehe etwa Moran 1991b; Oevermann/Süssmann/Tauber 2007.

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aufgrund seiner Fokussierung auf den Austausch finanziellen und sym­bo­lischen Kapitals Wissen nicht immer explizit in Bezug auf dessen räumliche Nähe oder Ferne zum Schloss. Entlang der eingangs skizzierten Theorie des Raums lassen sich für das Schloss mindestens drei Arten des Wissens idealtypisch be­stim­men, wobei funktionale Differenzen zwischen den verschiedenen Typen von Schloss bzw. Hof bewusst vernachlässigt werden19: (1) Präfiguratives Wissen, d.h. zum einen das für Entwurf, Errichtung, Instandhaltung und Umbau des Schlosses und der ihm zugehörigen Anlagen notwendige theoretisch-planerische, ästhetische und praktisch-technische Wissen sowie zum anderen das die Gestalt und Struktur des Baus bestimmende Wissen von den Aufgaben und Funktionen, die das Gebäude als Handlungsort der Hofgesellschaft zu erfüllen hat. (2) Höfisches Wissen, d.h. zum einen das von den im Schloss befindlichen Personen in ihrem jeweiligen Handeln angewandte oder realisierte Wissen (in Etikette und Zeremoniell) sowie zum anderen das in der Interaktion mit Personen und/oder Gegenständen entstehende oder aktualisierte Wissen (etwa im Gespräch über Kunstwerke oder in der Arbeit im alchemistischen Laboratorium). Dieses Wissen ist dadurch charakterisiert, dass es in Form und Inhalt eine signifikante Konformität mit den dem Gebäude zugrundeliegenden Intentionen und den Verhaltens- und Kommunikationsregeln der höfischen Gesellschaft aufweist. (3) Extrinsisches Wissen, d.h. ein durch interpretative Aneignung und Neu­kon­fi­gu­ra­ti­on von Wissensräumen produziertes Wissen, das nicht unmittelbar aus der Bestimmung und der sozialen Wirklichkeit des Schlosses abgeleitet, sondern wesentlich durch äußere Faktoren initiiert ist. Diese drei Wissenstypen sollen im Folgenden näher erläutert werden. Präfiguratives Wissen

Unter dem Aspekt der Wissensorganisation erweist sich das frühneuzeitliche Schloss als Ensemble ausgesprochen heterogener, zum Teil hochspezialisierter Räume.20 Dies verdankte sich vor allem dem im späten 16. Jahrhundert einsetzenden Wandel des Fürstensitzes vom Wehr- zum Repräsentationsbau, d.h. der Ablösung der Burg durch das Schloss, und der damit einhergehenden funktionalen Ausrichtung auf die Sichtbarmachung des gesamten Spektrums fürstlicher Potenz.21 Einen Eindruck davon vermittelt das Reisejournal des Augsburger Patriziers und Kunstagenten Philipp Hainhofer (1578–1647), der im Herbst 1629 die kursächsische Residenz in Dresden besuchte. Geradezu atemlos notierte Hainhofer die zahlreichen Stationen seines einmonatigen Aufenthalts. Zwischen dem 16. September und dem 16. Oktober 1629 besichtigte er im Schloss und auf den zugehörigen Besitzungen neben »Kunst Cammer«, »bibliotheca« und »Anatomiam kammer« unter anderem auch die Stallungen, die »schlittenkammer«, sechs »Schwertkämmern«, die »Jägerey kammer«, vier »mascheraden kamern«, die 19 Zur Unterscheidung von Hoftypen siehe Bauer 1997, S. 41f. 20 Eine in diesem Zusammenhang richtungsweisende Darstellung für die Florentiner Uffizien bietet Herrmann 2003. 21 Zur Entwicklung des Schlossbaus siehe einführend Foerster 1981; Müller 1995, S. 61–68.

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