Papst Franziskus

Einbandgestaltung: stefan schmid Design, stuttgart. Gedruckt auf ..... Óscar andrés kardinal rodríguez Maradiaga, Erzbischof von tegucigalpa, entfielen drei, auf ...
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Paul Vallely

Pa p s t F r a n z i s k u s Vom Reaktionär zum Revolutionär Übersetzt aus dem Englischen von Axel Walter

Copyright © 2013 by Paul Vallely Translated from the English language: Pope Francis First published by: Bloomsbury UK

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Konrad Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Lektorat: Dietlind Grüne, Mannheim Satz: Mario Moths, Marls Einbandabbildung: Papst Franziskus © picture alliance / ZUMA Press Einbandgestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-2937-0 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-0051-5 eBook (epub): 978-3-8062-0052-2

Für Christine ohne die rein gar nichts ginge

I n h a lt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1 Schmutzige Tricks im Vatikan.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13



2 Nah bei den Menschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33



3 Jesuitengeheimnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50



4 Was im Schmutzigen Krieg wirklich geschah. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76



5 Der Bischof der Elendsviertel.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109



6 Was veränderte Bergoglio?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141



7 Franziskus: Ein Mann, der die Geschichte verändern wird. . . . . 162



8 Ein Papst der Überraschungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

Nachwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Zeittafel.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Danksagungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

V o rw o rt

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s wäre ein Irrtum – wenn auch ein lässlicher – zu meinen, dass es mit der Vorortkirche von San José del Talar in Buenos Aires nichts Ungewöhnliches auf sich hat. Auch an normalen Wochentagen herrscht dort ein ununterbrochener Andrang von Frauen, die nach dem Eintritt in das Gotteshaus nur flüchtig eine Kniebeuge in Richtung des goldenen Rokoko-Hauptaltars und seines sinnlichen Kruzifixes andeuten. Dann wenden sie ihm augenblicklich den Rücken zu und bewegen sich zum linken Seitenschiff im hinteren Teil der Kirche, wo das Gemälde hängt. Es handelt sich um eine nicht besonders gute Kopie eines Originals aus dem 18. Jahrhundert, das sich in einer Augsburger Kirche befindet. Dort entdeckte es 1986 ein Besucher aus Argentinien, Pater Jorge Mario Bergoglio SJ. Er konnte damals nicht ahnen, dass er die Welt 27 Jahre später durch sein Erscheinen auf dem Balkon der Peterskirche in Rom in Erstaunen versetzen würde. Dieser nahezu unbekannte Priester wurde zum Papst der katholischen Kirche gewählt, dem 266. in ihrer langen Geschichte. Dazu bedeutet diese Wahl in mehreren Aspekten einen Bruch und markiert etwas nie Dagewesenes: Er ist der erste Papst vom amerikanischen Doppelkontinent, der erste von der Südhalbkugel und der erste, der den Namen Franziskus angenommen hat – womit er der Kirche und ihren rund eine Milliarde Mitgliedern ein Zeichen seiner Absicht gab, die Dinge von nun an ganz anders zu gestalten.

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Er trat auf als ein Mann mit großem Selbstvertrauen und großem Gottvertrauen. An dem Tag aber, an dem er in dieser deutschen Kirche zum ersten Mal auf das barocke Kunstwerk stieß, geriet er in Aufruhr. Das Bild war von Johann Georg Schmidtner in Öl auf eine Holzvertäfelung gemalt worden und trug den rätselhaften Titel Maria Knotenlöserin. Die Geschichte dahinter ist faszinierend. Im Jahre 1610, so erzählt die Legende, war der bayerische Edelmann Wolfgang Langenmantel in die Stadt gereist, um sich bei einem Jesuitenpater namens Jakob Rem dringend benötigten Rat zu holen. Die Ehe des Adligen war in Schwierigkeiten geraten, er und seine Frau Sophia befanden sich auf der Schwelle zur Trennung – zu jener Zeit im katholischen Bayern ein enormer Skandal. Rem hatte den Edelmann im Vorfeld ihres Treffens gebeten, das lange weiße Band mitzubringen, das bei der Trauung des Paares verwendet worden war. Der Jesuit war für seine Zwecke bei einem der ersten großen christlichen Theologen und Apologeten fündig geworden, dem Kirchenvater Irenäus aus dem zweiten Jahrhundert, der darüber geschrieben hatte, wie „der Knoten des Ungehorsams der Eva durch den Gehorsam Marias gelöst wurde“. Rem rief die Jungfrau zu Hilfe, um bei den Problemen von Wolfgang und Sophia zu vermitteln. „In diesem religiösen Akt“, so betete er über dem Hochzeitsband, „erhebe ich das Band der Ehe, damit alle Knoten gelockert werden und sich endlich lösen.“ In der Folgezeit konnte das Paar seine Schwierigkeiten überwinden und blieb zusammen. Um das Jahr 1700 gab Langenmantels Neffe Hieronymus Ambrosius das Werk in Auftrag, das bis heute in der Kirche St. Peter am Perlach in Augsburg hängt. Es zeigt Maria, die mit Unterstützung von zwei Engeln und umgeben von weiteren Engeln die Knoten in einem Band löst, während sie mit ihrem Fuß beiläufig den Kopf einer Schlange zerquetscht, die den Teufel verkörpert. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum das Mariengemälde den fünfzig Jahre alten Priester aus Argentinien so stark ansprach. Er war nach Deutschland geschickt worden, um für eine Promotion über Romano Guardini zu recherchieren, den katholischen Philosophen, der in den 1930er-Jahren über die moralischen Gefahren der Macht geschrieben hatte. Das war aber nur ein Vorwand: Seine Oberen wollten ihn aus Argentinien entfernen, wo er als Leiter der Jesuitenprovinz über die letzten fünfzehn Jahre hinweg – als Novizenmeister, dann als Provinzial und schließlich als Rektor an seinem Priesterseminar – seinen geistlichen Orden tief gespalten und für starke Verbitterung gesorgt hatte. Daher hatte das Oberhaupt der Gesellschaft in Rom

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schließlich die Einsetzung eines Jesuiten verfügt, der nicht aus Argentinien kam und der helfen sollte, die Wunden zu heilen. Es gab jede Menge Knoten, die die Jungfrau Maria für Bergoglio lösen konnte. Doch schließlich wurden sie alle irgendwann entwirrt. Binnen weniger Monate kehrte Bergoglio nach Argentinien zurück. Allerdings wurde er nach einer unglücklichen Phase in Buenos Aires, dem Schauplatz seiner langjährigen Auseinandersetzungen, in die zweitgrößte Stadt des Landes ins Exil geschickt, ins über 600 Kilometer von der Hauptstadt entfernt gelegene Córdoba. Dort verbrachte er mehrere Jahre in büßender Versenkung, bevor er vom Kardinalerzbischof von Buenos Aires in seine Geburtsstadt zurückgeholt wurde, wo er sich von ihm zum Weihbischof ernennen ließ. Das war höchst ungewöhnlich für einen Jesuiten, legen Angehörige dieses Ordens doch ein Gelübde ab, höhere Kirchenämter zu meiden. Ein außergewöhnlicher Weg hatte seinen Anfang genommen. Er sollte aus Jorge Mario Bergoglio den Bischof der Slums machen, einen leidenschaftlichen Verteidiger der Entrechteten, einen unerschütterlichen Befürworter des Dialogs als Möglichkeit, Brücken zu bauen zwischen Menschen aller Herkunft und jedes Glaubens – und schließlich einen Papst, der alle Welt in sein Vorhaben einweihte, die gebildete und von Seidenbrokat dominierte Korrektheit Roms unter Papst Benedikt XVI. in „eine arme Kirche für die Armen“ zu verwandeln. Knoten zu entwirren gibt es auch weiterhin – nicht zuletzt für eine Kirche und eine Welt, die gerade erst Bekanntschaft geschlossen haben mit diesem Papst der Paradoxe. Jorge Mario Bergoglio ist zwar ein Traditionalist der Lehre, aber auch ein Reformer des Kirchengeists. Er ist ein Radikaler und trotzdem kein Liberaler. Ihm geht es darum, anderen zu Mitsprache und Einfluss zu verhelfen, und dennoch bewahrt er einen autoritären Zug. Er ist ein Konservativer, doch auf der reaktionären Bischofskonferenz seines Landes trat er weit links im Spektrum in Erscheinung. Religiöse Einfachheit verbindet er mit politischer List. Er ist progressiv und aufgeschlossen, zugleich aber streng und ernst. Obwohl er der erste Papst ist, der nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zum Priester geweiht wurde, legte er seinen Novizen eine vorkonziliare Ausbildung auf. Er hat sich gegen die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft und die Adoption von Kindern durch Lesben und Schwule ausgesprochen – das hinderte ihn jedoch nicht daran, aidskranken Homosexuellen die Füße zu küssen. Er kommt aus dem Süden, hat aber tiefe Wurzeln im Norden:

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ein Lateinamerikaner mit italienischer Abstammung, der in Spanien, Irland und Deutschland studiert hat. Er ist ein Diözesanpriester und gehört doch einem religiösen Orden an. Ebenso wie er ein Lehrer der Theologie ist, ist er auch ein Pfarrer und Seelsorger mit einem guten Gespür für die Menschen. In ihm vereinigen sich Demut und Macht. Als er aus Deutschland nach Argentinien zurückkehrte, brachte er eine Postkarte des Augsburger Gemäldes mit. Den Menschen in seinem Heimatland wuchs die Darstellung ans Herz. Ein Jahrzehnt später entschlossen sich die Mitglieder einer Kirchengemeinde, das Geld für eine Reproduktion in Originalgröße zusammenzutragen, die ein argentinischer Maler anfertigte. Sie ist der Grund für den Pilgerstrom, der sich heute in die ansonsten unscheinbare Kirche von San José del Talar in Agronomía, einem Mittelschichtsvorort von Buenos Aires, ergießt. Später, in seiner Zeit als Erzbischof von Buenos Aires, hat der Mann, dem es gefiel, dass man ihn nur als Pater Bergoglio kannte, sich unter die Pilger gemischt, in das anonyme, schlichte Kirchenschwarz gehüllt, um sich vor dem Gemälde auf einer der Kirchenbänke niederzulassen und die Knoten in seinem eigenen Leben zu entwirren. „Die Kopie hat es zu größerer Berühmtheit gebracht als das Original“, meinte Pater Ricardo Aloe, als wir im rechten Seitenschiff miteinander sprachen. Er saß in einem lichten Beichtstuhl mit gläsernen Seiten bereit, falls einer der Pilger, die andauernd eintrafen, die Beichte ablegen wollte. „Die Menschen kommen aus ganz Argentinien, ja, von überallher auf der Welt, um sie zu sehen. Am achten Tag jedes Monats haben wir hier 10 000 Menschen, am 8. Dezember kommen mehr als 30 000 zum Fest Mariä Empfängnis. Sie alle haben das Gefühl, dass die Jungfrau ihnen zuhört und sie versteht. Wie eine Mutter kümmert sie sich fürsorglich um unsere Probleme. Die Knoten sind eine Metapher – sie stehen für unsere Probleme und Schwierigkeiten. Die Jungfrau wendet sich für uns an Gott, damit er uns bei ihrer Bewältigung unterstützt.“ Eine Metapher: Jorge Mario Bergoglio war sie nur zu klar. Und wie es scheint, wurde ihm die Vergebung zuteil, nach der er trachtete. Auch wenn sie ihm nie genügte.

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Sc h m u t z i ge T r i c k s i m Vat i k a n

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iemand wollte zugeben, dass er die EMail verschickt hatte: Der Botschafter wollte es nicht gewesen sein, der Anwalt auch nicht, und ebenso wenig der Journalist. Auch etliche hochrangige Offizielle in der Gesellschaft Jesu, dem weltweit größten und einflussreichsten religiösen Orden, stritten es ab. Das Dossier aber, das anonym im Posteingang führender Kardinäle eintraf, während sie in Rom zusammenkamen, war belastend. Zumindest sollte es das sein. Jemand wollte Jorge Mario Bergoglio als Papst verhindern. Wenn ein Papst stirbt, versammeln sich Kardinäle aus der ganzen Welt im Vatikan zur sogenannten Generalkongregation. Im April 2005 ging es in den ersten Tagen dieser Zusammenkunft um all die Fragen, die sich aus dem Tod jenes Mannes ergaben, den der Vatikan rasch „Johannes Paul den Großen“ taufte. „Santo subito“, hatte die Menge auf dem Petersplatz skandiert: „Sprecht ihn heilig, sofort!“ Der alte Papst war einen langen öffentlichen Tod gestorben und hatte dabei eine Ikone des Leidens aus sich gemacht, so als wollte er eine Welt zurechtweisen, die vor lauter Geschäftigkeit das einfache Sein verlernt hatte. Doch während die Kardinäle der römisch-katholischen Kirche in jener Kongregation öffentlich die Einzelheiten der größten Beisetzung in der Geschichte der Menschheit berieten, diskutierten sie privat eine ganz andere Frage: Wer sollte der nächste Papst werden?

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Das war die Situation, in der das genannte Dossier eintraf. Nur drei Tage vor dem Konklave von 2005 zur Wahl des neuen Papstes erstattete der Menschenrechtsanwalt Marcelo Parrilli in Argentinien Anzeige gegen Kardinal Bergoglio: Er sei mitschuldig an der Entführung von zwei Jesuitenpriestern, deren tätiges Bemühen um die Armen in einem Elendsviertel von Buenos Aires vom argentinischen Militär und seinen Todesschwadronen als subversiv angesehen worden war. Bergoglio hatte die Priester eine Woche vor ihrem Verschwinden aus der Gesellschaft Jesu ausgeschlossen, weil sie seiner Anordnung, ihre Arbeit in den Slums zu beenden, nicht Folge geleistet hatten. Während ihrer Verschleppung wurden sie gefoltert und fünf Monate lang gefesselt und mit verbundenen Augen gefangen gehalten, bis man sie freiließ. Der Sprecher des Kardinals in Buenos Aires qualifizierte die Anschuldigungen – mit denen wir uns in einem späteren Kapitel ausführlich befassen werden – 2005 als die üblichen „alten Verleumdungen“ ab. Die Vorwürfe basierten auf den Untersuchungen eines verbissen kämpfenden Journalisten, Horacio Verbitsky, der mit einem der entführten Jesuiten nach seiner Freilassung gesprochen hatte. Außerdem hatte er Darstellungen von Priestern und Laienhelfern zusammengetragen, die die Anschuldigungen angeblich erhärteten und schließlich in alten Regierungsakten Belastendes aus Bergoglios Zeit als Leiter der Jesuitenprovinz in Argentinien entdeckt. Die gegen den Kardinal eingereichte Klage wurde schließlich abgewiesen, die Diskussionen aber gingen unvermindert weiter. Bergoglios Verteidiger brachten vor, dass Verbitsky aus niederen Motiven handele. Er sei ein politischer Verbündeter des vormaligen Präsidenten Néstor Kirchner und seiner Nachfolgerin Cristina Kirchner. Verbitskys am meisten ins Detail gehende Anschuldigungen gegen Bergoglio finden sich in seinem im März 2005 veröffentlichten Buch El Silencio, das er nach Bergoglios Kritik an Präsident Néstor Kirchner verfasst hatte. Der Kardinal hatte Kirchner öffentlich an den Pranger gestellt, weil er weder gegen die Korruption vorgegangen sei noch sich für die Armen eingesetzt habe. Die wichtigste argentinische Zeitung Clarín behauptete, die Kirchner-Regierung habe das Dossier über ihren Botschafter beim Heiligen Stuhl unter den Kardinälen verbreiten lassen. Doch sowohl die Regierung als auch der Botschafter dementierten diese Meldung. Verbitsky seinerseits konterte mit dem Hinweis, dass er bereits 1999 mit der Untersuchung der Anschuldigungen begonnen hatte, also vier Jahre, bevor die Kirchners an die Macht gelangten.

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Es gab in diesem Zusammenhang noch andere Verdächtige, die als Absender infrage kamen. Alicia Oliveira, eine frühere argentinische Menschenrechtsanwältin und Richterin, die von der Militärjunta verfolgt worden war – und die nach wie vor eng mit Bergoglio befreundet ist –, beschuldigte konservative Elemente in den Machtzirkeln des Landes mit Verbindungen zu Opus Dei. Sie seien es gewesen, die 2005 versucht hätten, die Wahl Bergoglios ins Papstamt zu vereiteln. Für andere wiederum geht die E-Mail auf das Konto von Ordensbrüdern, die es sich mit Bergoglio während seiner Zeit als Provinzial in Argentinien verdorben hatten. Es ist ganz sicher richtig, dass es unter den Jesuiten starke Vorbehalte gegen ihn gab; viele Jahre zuvor hatten sich die Ordensleute bei der Jesuitenkurie in Rom über sein Verhalten beschwert. Dazu waren E-Mails in Umlauf, in denen sich Ordensbrüder beklagten, Bergoglio sei ein Mann, „der niemals lächelt“. Wer auch immer das Dossier an die zahlreichen Kardinäle verschickte – letztlich war es eine gemeinschaftliche Aktion, eine Kampagne, um Bergoglio aufzuhalten, daran kann kein Zweifel bestehen. Katholiken sagen gern, dass die Kirche bei der Auswahl eines Papstes durch den Heiligen Geist gelenkt wird. In diesem Fall aber waren fraglos andere Kräfte am Werk, die den Ausgang des Geschehens zu bestimmen suchten. Doch hatten sie auch Erfolg damit? Die Kardinäle der Generalkongregation trafen sich bei ihrer ersten Zusammenkunft in der Synodenhalle im Schatten des Petersdoms. Dieser unscheinbare Nachkriegsbau mit einem Innenbereich in fadem Beige und dem Charme eines Universitätshörsaals passt irgendwie zu der trostlosen Förmlichkeit der Kirchenpolitik. Die richtige Politik aber fand nicht in diesem Rahmen statt, sondern in den Mittagspausen und bei den Abendessen der Kardinäle, die im Konklave die Fäden ziehen würden. „Seit dem letzten Abendmahl Jesu hat die Kirche ihre wichtigsten Angelegenheiten am Esstisch entschieden“, witzelte einer der Wahlberechtigten. Manche der Kardinäle kannten einander bereits gut. Sie waren jedoch in der Unterzahl. Papst Johannes Paul II. hatte das Kardinalskollegium über die Jahre hinweg internationalisiert, und neue Wahlberechtigte aus allen Teilen der Welt kamen hinzu. Er habe „Scharen von Kardinälen aus Entwicklungsländern“ gesehen, berichtete der Berater eines Kardinals, „die wie Touristen überwältigt in Rom umherwanderten“. Einer soll sogar gefragt haben: „Wo finden diese Essen statt, von denen die anderen alle reden?“

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Cormac Kardinal Murphy-O’Connor, damals Erzbischof von Westminster, richtete im Päpstlichen Irischen Kolleg ein Treffen der englischsprachigen Kardinäle aus. Die wirklich wichtigen Dinge aber besprach er mit einer kleineren Gruppe von europäischen Liberalen, darunter die Kardinäle Carlo Mario Martini aus Mailand, Walter Kasper aus Stuttgart und Godfried Daneels, Erzbischof von Brüssel. Die Gruppe hatte sich viele Jahre lang mindestens einmal jährlich getroffen, und Martini, ebenfalls ein Jesuit, war lange Zeit ihr Kandidat für das Papstamt gewesen. 2005 aber schien Martini mit 78 Jahren zu alt zu sein; dazu war er gesundheitlich so angeschlagen, dass er sich bereits drei Jahre zuvor mit dem Erreichen der Altersgrenze vom Amt des Erzbischofs zurückgezogen hatte. Erzbischof Bergoglio aus Buenos Aires war eine andere Option für diese Gruppe. Er und Murphy-O’Connor waren 2001 im selben Konsistorium in den Kardinalsstand erhoben worden. In der vatikanischen Sitzordnung bedeutete dies, dass sie bei offiziellen Anlässen im Vatikan immer nah beieinander saßen. So hatte sich zwischen den beiden Männern eine Freundschaft entwickelt. Für viele aber war Joseph Kardinal Ratzinger der offensichtliche Kandidat. Er war seit 24 Jahren die rechte Hand von Johannes Paul II. und in seiner Funktion als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre wachte er im Auftrag des Vatikans über deren Wahrung. Damit war er einer der wenigen ranghohen Offiziellen, mit denen jeder Kardinal bei Routinebesuchen in Rom zusammentraf. Zudem war er Dekan des Kardinalskollegiums und hatte aus diesem Grund den Vorsitz der Generalkongregationen inne. Ratzinger leitete auch die Trauermesse für Johannes Paul II. sowie die Messe Pro eligendo Papa (Zur Wahl des Papstes) am ersten Morgen des Konklaves. Bei den Generalkongregationen sprach Ratzinger, der über ein phänomenales Gedächtnis verfügte, jeden Kardinal mit Namen an und redete mit jedem in einer Sprache, die er seines Wissens verstehen konnte. Für neue wahlberechtigte Kardinäle – die sich gegenseitig so gut wie gar nicht kannten, schlecht Italienisch sprachen und die Kandidaten zur Abstimmung kaum einzuschätzen wussten – schien er die naheliegende Wahl zu sein. Schließlich war er der engste Berater des verstorbenen Johannes Paul II. gewesen, vor dem das Konklave solche Ehrfurcht hatte. Dazu trat er in den Kongregationen liebenswürdig, aber bestimmt auf; seiner Predigt während der Trauermesse vermochte er Wärme zu verleihen, während er sich in der Messe vor dem Konklave mit analytischer Klarheit über die Unzulänglichkeiten der Gesellschaft äußerte. Viele der Kardinäle,

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die mit der Frage „Wenn nicht Ratzinger, wer dann?“ eingetroffen waren, begannen sich zu fragen: „Warum nicht Ratzinger?“ Nach dem 26 Jahre währenden Papsttum Johannes Pauls II. stand niemandem der Sinn nach einem weiteren langen Pontifikat, sodass Joseph Ratzingers fortgeschrittenes Alter von 78 Jahren nicht als ausschlaggebend angesehen wurde. Es wirkte wie ein Fingerzeig, dass jemand dem deutschen Kardinal an seinem Geburtstag am Vorabend des Konklaves ein Arrangement aus weißen und gelben Tulpen – den Papstfarben – überreicht hatte. Und wenn das Dossier, mit dem Bergoglio aufgehalten werden sollte, nicht in Umlauf gewesen wäre? Hätte die Wahl dann einen anderen Verlauf genommen, obwohl alles zu Ratzingers Gunsten zu sprechen schien? Um 16.30 Uhr am ersten Tag des Konklaves setzte sich die feierliche Prozession der Kardinäle in die Sixtinische Kapelle in Bewegung. Beinahe eine Stunde verging, bis die 115 wahlberechtigten Kardinäle ihren Eid geleistet und sich zu Ernsthaftigkeit und Verschwiegenheit verpflichtet hatten. Auf die förmliche Proklamation „Exeunt omnes“ (Alle gehen hinaus) hin verließen alle Nichtbeteiligten die Kapelle und die Türen wurden verschlossen – das lateinische con clave bedeutet „mit einem Schlüssel“. Damit konnte die Abstimmung beginnen. Als Ergebnis all der formellen Kongregationen und informellen Treffen standen schließlich vier Kardinäle im Zentrum der Aufmerksamkeit: Joseph Ratzinger, Carlo Maria Martini, der Kardinalvikar von Rom, Camillo Ruini, und Jorge Mario Bergoglio. Auch andere Namen machten die Runde: Dionigi Tettamanzi, Erzbischof von Mailand, Angelo Scola, Patriarch von Venedig, und Francis Arinze, Erzbischof von Onitsha in Nigeria. Der Dekan fragte die Versammlung, ob sie gleich abstimmen oder sich lieber auf den Abend vertagen wollte. Man entschloss sich zur Abstimmung. Im ersten Wahlgang erhielt Ratzinger 47 Stimmen; damit fehlten ihm 30 Stimmen zur erforderlichen Zweidrittelmehrheit von 77. Die wirkliche Überraschung der ersten Runde war jedoch, dass auf den Argentinier Bergoglio zehn Stimmen entfielen – eine mehr als auf den Kandidaten der Liberalen, den emeritierten Mailänder Erzbischof Martini. Ruini bekam sechs Stimmen, und der Staatssekretär im Vatikan, Angelo Kardinal Sodano, der Erster Minister Papst Johannes Pauls II. gewesen war, erhielt vier Stimmen. Auf den Honduraner Óscar Andrés Kardinal Rodríguez Maradiaga, Erzbischof von Tegucigalpa, entfielen drei, auf den Mailänder Erzbischof Tettamanzi nur zwei Stimmen. Ein paar andere Kandidaten bekamen eine einzige Stimme.

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Die Kardinäle beendeten die Abstimmung für diesen Tag und gingen zum Abendessen. An den Tischen im Speisesaal, in den kleinen Gruppen von zwei oder drei Personen, in denen sie sich später im Flur oder in ihren Privaträumen zusammenfanden, oder auf der Terrasse beim Rauchen – man sprach über Bergoglio und darüber, dass er seinen Ordensbruder Martini geschlagen hatte. Wer wenig über ihn wusste, begann sich zu informieren. Manche erinnerten sich noch von der Bischofssynode vor vier Jahren her an ihn. Damals, im Jahr 2001, war dem Erzbischof von New York, Edward Kardinal Egan, die Tätigkeit des Relators übertragen worden; er hatte die Diskussionen und Resultate zusammenfassen sollen, war jedoch infolge der Terroranschläge vom 11. September gezwungen gewesen, nach New York zurückzukehren. Papst Johannes Paul II. hatte Bergoglio gebeten, die Aufgabe zu übernehmen, und einige der Geistlichen konnten sich noch gut an die kollegiale Art erinnern, mit der er den Vorsitz führte. Der gegenseitige Austausch beim Essen brachte jedoch noch weitaus Interessanteres zutage: Bergoglio hatte über die Jahre Beziehungen zu einer der neuen Laienbewegungen innerhalb der Kirche geknüpft, der Comunione e Liberazione, von der auch Papst Johannes Paul II. sehr angetan gewesen war. Für ein Buch, das den italienischen Gründer der Bewegung, Padre Luigi Giussani, würdigte, hatte Bergoglio ein Kapitel verfasst, und er war mehrere Male in Rimini gewesen, um auf der jährlich stattfindenden Massenveranstaltung der Bewegung zu sprechen. Dieser Kontakt war von spezieller Bedeutung, da die Communio einst als mailändische Hauptopposition zu Bergoglios jesuitischem Konkurrenten Kardinal Martini gegolten hatte. Bergoglio gab sich zugeknöpft und wortkarg in Bezug auf die Frage, ob er Papst werden wolle. Auch seine bis heute engen Freunde in Argentinien wurden nicht richtig schlau aus ihm. Manche glaubten, er wolle das Amt, andere nicht. „Manchmal weiß man einfach nicht, was ein Jesuit denkt“, bemerkte einer von ihnen. Mit Sicherheit aber ist Bergoglio nicht hinter den Kulissen in eigener Sache aktiv geworden. Dagegen begann Kardinal Lehmann, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, für ihn die Werbetrommel zu rühren. Auch Kardinal Daneels, der Erzbischof von Brüssel, vermochte eine nicht eben kleine Gruppe von wahlberechtigten Kardinälen aus dem Norden wie aus dem Süden zu Bergoglios Unterstützung zu gewinnen. Zwei dienstältere Kurienkardinäle stellten sich ebenfalls hinter ihn. Ihrer Ansicht nach verkörperte er eine echte, einheitsstiftende Alternative zu Ratzinger: Konservative konnten

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