Sigrid Lenz
Noahs Auszeit
Romantischer Krimi © 2010 AAVAA e‐Book Verlag UG (haftungsbeschränkt) Quickborner Str. 78 – 80,13439 Berlin Telefon.: +49 (0)30 565 849 410 Email:
[email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2010 Lektorat: Sabine Lebek, Berlin Covergestaltung Tatjana Meletzky Printed in Germany ISBN 978‐3‐86254‐100‐3
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Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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11. Dezember Die Nacht war dunkel, der Himmel bedeckt, gerade so wie er es sich vorgestellt hatte. Glatt und schwarz breitete sich die Wasseroberfläche vor ihm aus. Nicht gefroren, obwohl die Kälte des Dezembers ausgereicht hätte, den Reinebach mit einer hauchdünnen Schicht Eis zu überzie‐ hen, wenn nicht die leichte Bewegung, das sach‐ te Vorantreiben der Wassermassen den endgül‐ tigen Stillstand immer wieder verhinderte. Franz‐Josef Flausenken lebte lang genug in die‐ sem tristen Vorort Neustadts. Er wusste, dass ihm weder Eis noch Schnee, noch andere unvor‐ hergesehene Ereignisse einen Strich durch die Rechnung machen konnten, einen Strich durch die letzte, endgültige Abrechnung, das traurige Finale, dem er schon zu lange entgegen sah. Schwaches Licht einer der allzu spärlich verteil‐ ten Laternen erhellte seine Sicht gerade genug, um den Abstieg zum Kanal zu erkennen, den schmalen Weg, den er sich bereits vor Jahren ausgesucht hatte. Ein letztes Mal dachte er über 5
die Gedankenlosigkeit nach, mit der er den Rei‐ nebach stets für einen Fluss gehalten hatte, ein natürliches Gewässer, das geradewegs dazu ein‐ lud, ein Leben in seinen Tiefen zu beenden. Nicht, dass es ihm etwas ausmachte, jetzt nicht mehr. Gedankenlos gedacht, gehandelt hatte er in weitaus entscheidenderen Bereichen. Und nicht nur das, geschwiegen hatte er, stumm zu‐ gestimmt und die Katastrophe ihren Lauf neh‐ men lassen. Beinahe erleichtert fühlte Franz‐Josef Flausen‐ ken den Ansatz des Schauers, den das kalte Wasser durch seinen Körper jagte. Bis zu den Knien stand er bereits inmitten der trüben Flüs‐ sigkeit. Doch die Hitze, die in seinem Blut, in seinem Kopf, seinem Herz, seinen Eingeweiden pulsierte, verhinderte ein Zurückzucken. Ja, er umarmte die Kühle, die seine Glieder zu durch‐ dringen begann, umarmte die Freiheit, die seiner Seele entgegen lachte. Ein Schritt weiter, er stol‐ perte. Das Wasser stand ihm bereits an den Hüf‐ ten.
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Ohne den Cognac, ohne die Medikamente, die seine Sinne gerade genug betäubten, die seine Muskeln nur soweit schwächten, wie es seinem Ziel entgegen kam, wäre er vielleicht wieder umgekehrt, hätte seinen Plan verraten. Doch die‐ ses Mal würde er nicht versagen, dieses Mal gab es keine Möglichkeit, seinem Schicksal zu entge‐ hen. Franz‐Josef versagte nicht; Die Furcht wich von ihm in dem Moment, in dem das Wasser ü‐ ber ihm zusammenschlug, ihn fing und hielt, ohne die Absicht, ihn jemals wieder loszulassen. 7
13. Dezember „Wen haben wir da?“ Hauptwachtmeister Olson trat von einem Fuß auf den anderen, ohne sich auch nur für einen Augenblick der Illusion hinzugeben, er könne etwas gegen die schleichende Kälte ausrichten. Er hasste es, noch vor der ersten Tasse Kaffee an einen Tatort beordert zu werden. Glücklicher‐ weise kam dies selten genug vor. In der friedli‐ chen Gemeinde Trottingens gab es wenig mehr als Ordnungsdelikte und geringfügige Zwistig‐ keiten, deren Handhabung nicht unbedingt von allzu großer Eile diktiert wurde. Vergeblich rieb Olson seine Hände und starrte auf den Leichnam, den seine Leute soeben an Land gezogen hatten. „Selbstmord“, brummte einer von ihnen und blies in seine kalten Hände. „Oder ein Unfall.“ Olson legte den Kopf schief. „Eher Letzteres“, meinte er schließlich. „Das Ufer ist rutschig, und Selbstmord durch Ertränken verkommt mehr und mehr zur Seltenheit, zu einem Überbleibsel 8
aus Zeiten, in denen wir noch nicht die Vielzahl der Bequemlichkeiten modernen Lebens zu nut‐ zen wussten.“ „Die Gerichtsmedizin weiß Bescheid.“ Der jüngste Zugang seines Reviers, ein schlak‐ siger Anfänger mit dem Namen Blaschke, kam auf ihn zu und riskierte dann zum ersten Mal ei‐ nen Blick auf den Fund. „Oh, mein Gott.“ Olson drehte sich zu ihm um. „Was? Was ist?“, fragte er scharf. Blaschkes gewohnte, rosige Ge‐ sichtsfarbe hatte sich in ein bläuliches Weiß ver‐ wandelt. „Ich kenne ihn“, antwortete er schließlich. „Es… es ist mein Lehrer. Religionslehrer. Ich hat‐ te bei ihm evangelischen Religionsunterricht, so‐ lange ich denken kann.“ Olson nickte zufrieden. Nun würde die Sache doch nicht so lange dauern, wie er befürchtet hatte. Er klopfte seinem Kollegen auf die Schul‐ ter. „Gut, Junge. Du recherchierst das Umfeld. Wäre doch gelacht, wenn wir die Sache nicht vor Weihnachten unter Dach und Fach hätten.“ 9
14. Dezember Noah Leonhardt ging mit gerunzelter Stirn durch die Regionalbeilage der Tageszeitung. Vielleicht, wenn sein Büro nicht direkt unter der Wohnung läge, könnte er der ärztlichen Anord‐ nung Folge leisten und der Arbeit fernbleiben. Aber dadurch, dass er seine kleine Detektei, die Detektei Leonhardt, ständig vor Augen, bezie‐ hungsweise unter seinen Fußsohlen hatte, gelang es ihm nicht, darauf zu verzichten, wenigstens den Anschein zu erwecken, als führe er seine Tä‐ tigkeit gewissenhaft und regelmäßig aus. Eine so lange Pause wie diese hatte er sich noch nie gegönnt, und die Untätigkeit begann, ihn kribbelig zu machen. Wiederholt räumte er Ge‐ genstände, sogar Möbelstücke von einer Ecke in die andere, schichtete Papierstapel um und sor‐ tierte alte, längst verjährte Aktenberge. Natürlich war all dies Simons Schuld. Hätte der ihn nicht überredet, in mühsamer Kleinarbeit davon überzeugt, dass eine Zeit der Ruhe die einzige, wirklich sinnvolle Maßnahme war, 10
Noah wäre seinem Instinkt gefolgt und hätte die Detektei am Laufen gehalten. Alles war besser, als diese schleichende Langeweile, dieses Gefühl einer sinnentleerten Existenz, das ihn von Tag zu Tag mehr bedrückte. Aber nun war es zu spät. Er hatte Simon ver‐ sprochen, kürzer zu treten, war nicht in der La‐ ge, dem flehenden Blick in diesen eigentümlich grünen Augen standzuhalten und die stumme Bitte zu ignorieren, die in ihnen lag. Wusste er doch nur zu gut, dass – wäre es umgekehrt – Noah selbst alles unternehmen würde, um Si‐ mons Gesundheit, Simons Leben so lange zu er‐ halten, zu bewahren, als es ihm irgend möglich wäre. Und so wartete er Tag für Tag, bis Simon aus dem Haus war und schlich sich dann in das ver‐ nachlässigte Büro, um zumindest die Illusion ei‐ nes anständigen Zeitvertreibes aufrecht zu erhal‐ ten. Doch an diesem Tag, an diesem 15. Dezember eines ereignisreichen Jahres, geschah es zum ers‐ ten Mal, dass die regionalen Nachrichten Noah 11
richtiggehend erschütterten. Nicht dass er Franz‐ Josef Flausenken näher gekannt hätte, aber das traurige, seelenvolle Gesicht des Mannes beglei‐ tete sein persönliches Bild des Ortes bereits seit Jahren. Flausenken hatte sich auf verschiedenen Gebieten engagiert, nicht nur denen der Gleich‐ berechtigung und Fairness in jeder erdenklichen Hinsicht. Auch wenn die religiöse Anschauung beide in doppelter Hinsicht trennte, stimmten doch verschiedene Details ihres Weltbildes über‐ ein. Zwei Tage lang war nach ihm gesucht wor‐ den, zwei Tage, nachdem man seinen Ab‐ schiedsbrief entdeckt hatte. An der Todesursa‐ che, auch an den Beweggründen gab es augen‐ scheinlich keinerlei Zweifel, und doch juckte es Noah in den Fingern, Licht in die Angelegenheit zu bringen. Flausenken mochte seit Jahren an Depressionen gelitten haben. Er mochte sich selbst mit ver‐ schiedenen Medikamenten falsch behandelt und schließlich in ein Delirium befördert haben, dem er nur noch entkommen konnte, indem er die Wellen über sich zusammenschlagen ließ, so wie 12
die schwarz auf weiß gedruckte Theorie vermu‐ ten ließ. Aber dennoch konnte, wollte Noah sich nicht vorstellen, dass ein Mann wie er, ein Mann verwurzelt im Glauben, dazu in der Lage sein sollte, sich so einfach aus der Verantwortung zu stehlen. Seine trüben Gedanken und das unwillkürliche Bedürfnis, Nachforschungen anzustellen, wur‐ den durch das kratzige Geräusch des Türschlüs‐ sels abgelenkt, der sich im Schloss der Eingangs‐ tür drehte. Noah verdrehte die Augen. Er hätte es sich eigentlich denken können. Sobald er am wenigsten mit ihr rechnete, steckte sie ihre spitze Nase in sein Leben. Madeleine Leonhardt stapfte hörbar durch den Vorraum und betätigte dann schnaufend die Klinke des mit „Detektei Leonhardt“ ausge‐ zeichneten Büros. „Oh, du bist da?“, stellte sie mit einem Blick durch den Raum fest. Noah wartete ab, bis ihr der obligatorische Seufzer entfahren war, den seine unermüdlich abwechselnden
Dekorationsversuche
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meidlich auslösten. Seine Schwester enttäuschte ihn nicht. Sie stellte ihren runden Korb in der Mitte des Raumes ab und stemmte die rundlichen Arme in die Hüften. „Du kannst es also nicht lassen, oder?“ „Was meinst du?“, fragte Noah unschuldig. „Das hier.“ Madeleine wies mit ihrem Kinn von den Regalen über den Schreibtisch bis zum weit offen stehenden Schrank, dessen Inhalt sich teil‐ weise auf dem Boden befand und teilweise den zweiten Tisch, der für Gespräche mit Klienten gedacht war, bedeckte. „Ich dachte, du sollst keine schweren Sachen heben, geschweige denn Möbel rücken. Denk daran, du bist auf Urlaub bis zum neuen Jahr. Ärztliche Anordnung.“ „Komm schon“, schmollte Noah, absichtlich sein Gesicht in Falten verziehend, die ihm das Aussehen eines unzufriedenen Kleinkindes ver‐ liehen. „Ich bin nicht tot, zumindest noch nicht. Und außerdem steht das neue Jahr bereits in den Startlöchern.“ 14
Madeleine weigerte sich, auf den Gesichtsaus‐ druck zu reagieren. „Ein Herzinfarkt mit Mitte Vierzig ist keine Bagatelle. Du solltest wirklich mehr auf dich achten.“ Ihre Züge wurden weich. „Ich möchte meinen kleinen Bruder nicht ver‐ lieren“, murmelte sie leise, doch nicht leise ge‐ nug, als dass er sie nicht verstehen könnte. „Du verlierst mich nicht“, schnaubte Noah. „Ihr tut alle so, als stände ich bereits mit einem Fuß im Grab.“ Madeleine schüttelte den Kopf. „Was du brauchst, ist eine gute Frau. Eine, die auf dich achtet. Kein Wunder, dass du dich überarbeitest, wenn niemand auf dich wartet, dich versorgt, aufpasst, dass du dich nicht übernimmst.“ „Simon passt auf mich auf“, entfuhr es Noah. Doch Madeleine schnalzte nur mit der Zunge. „Ihr mit eurem Männerhaushalt. Simon ist doch mindestens ebenso schlimm wie du. Den ganzen Tag in Neustadt unterwegs, ständig kaputte Kinderseelen analysierend.“ Sie legte ihre Stirn in Falten. „Es ist kein Wun‐ der, dass ihr niemanden findet. Eine Schande ist 15
das. Zwei schmucke Burschen in den besten Jah‐ ren.“ „Nun mach mal halblang“, wehrte sich Simon. „Soweit ich mich erinnere, bist du selbst Single.“ „Das ist etwas anderes.“ Madeleine kräuselte ihre Lippen. „Für eine Frau in meinem Alter ist der Zug lange abgefahren. Ich habe meine Ju‐ gend mit der Sorge um meinen kleinen Bruder verbracht, und nun habe ich Besseres zu tun.“ Ein Anflug von Röte überzog ihre Wangen. „Besseres?“ Madeleine bückte sich nach dem Staublappen, der zusammengeknäuelt in der Ecke neben der künstlichen Topfpflanze lag, faltete ihn ausein‐ ander und begann dann, emsig die Fensterbänke zu polieren. Sie hatte sich von Noah abgewandt, murmelte leise in sich hinein. „Was meinst du?“, fragte Noah leicht irritiert. Madeleine holte tief Luft und drehte sich um. „Irgendjemand muss sich schließlich um ein Mindestmaß an Hygiene in diesen vier Wänden kümmern.“ Ihr Blick fiel auf die auseinanderge‐
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faltete Zeitung und das in der Mitte prangende Bild Franz‐Josef Flausenkens. „Oh, mein Gott.“ Sie packte den Lappen mit beiden Händen und presste ihn an ihre üppige Brust. „Du hast es also auch schon gehört?“ Noah nickte. „Gerade eben.“ Madeleine seufzte. „Und das hier… so nah bei uns.“ Sie schüttelte wieder ihren Kopf. „Es ist einfach unverständlich, dass er so verzweifelt sein konnte. Ein Mann wie er.“ Noah nickte. „Ja, man sollte meinen, dass der Glauben Kraft verleiht, Stärke, Vertrauen.“ „Das meine ich nicht“, fiel ihm Madeleine ins Wort. „Außerdem wurde ihm der wahre Glaube nicht zuteil. Solange er sich unserer Kirche ver‐ sagte…“ „Ach komm, hör auf“, murmelte Noah merk‐ lich genervt. „Ich weiß, ich weiß“, fuhr ihn Madeleine unge‐ duldig an. „Du bist schon seit langer Zeit ausge‐ treten. Aber dennoch betrachte ich dich noch als ein Kind Gottes. Du gehörst zu uns und unserem Glauben, egal wie sehr du dich dagegen wehrst.“ 17