Mit aktiv-entdeckendem Lernen zum Erfolg im Erstr AWS

Im Primarstufenbereich werden für viele mathematische. Lernprozesse die Grundlagen geschaffen, welche wiederum möglichen Schwierigkeiten im Sekundarstufenbereich vorbeugen. Aus diesen Gründen fokussiert diese Arbeit den arithmetischen Anfangsunterricht, welcher auch als mathematischer Erstunterricht oder.
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Julia Bockisch

Perspektiven für den Mathematikunterricht an einer Schule zur Lernförderung Mit aktiv-entdeckendem Lernen zum Erfolg im Erstrechnen

Diplomica Verlag

Bockisch, Julia: Perspektiven für den Mathematikunterricht an einer Schule zur Lernförderung: Mit aktiv-entdeckendem Lernen zum Erfolg im Erstrechnen, Hamburg, Diplomica Verlag GmbH 2014 Buch-ISBN: 978-3-8428-9187-6 PDF-eBook-ISBN: 978-3-8428-4187-1 Druck/Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2014 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Zusammenfassung Das vorliegende Buch setzt sich kritisch mit der gegenwärtigen Praxis und zukunftsweisenden Perspektiven des Mathematikunterrichts an Schulen zur Lernförderung in Sachsen auseinander. Ausgehend von den Herausforderungen des mathematischen Erstunterrichts und möglichen Schwierigkeiten im Rechnenlernen werden Anforderungen an die Mathematikdidaktik abgeleitet und ein revidiertes Verständnis vorgestellt. Theoretische Grundlage bildet dabei die konstruktivistische Sicht von Lernprozessen. Es wird verdeutlicht, dass es sich beim aktiv-entdeckenden Mathematikunterricht (nach "mathe 2000") um einen vielversprechenden und förderrelevanten Ansatz für den Förderschwerpunkt Lernen sowie für den Umgang mit Leistungsheterogenität handelt. Eine empirische Untersuchung zeigt auf, inwiefern die Variablen Lehrplan, das Lehrmaterial Klick! Mathematik 1, die didaktische Einstellung sowie das Unterrichtsverhalten der Lehrkräfte den bestehenden Entwicklungsbedarf bei der Umsetzung eines aktiv-entdeckenden Mathematikunterrichts an der Schule zur Lernförderung erklären. Die Ergebnisse legen dar, wie neben konstruktivistischen Bemühungen eine sonderpädagogische Didaktik mit Kernelementen wie Kleinschrittigkeit, Isolierung der Schwierigkeiten, mechanisches Üben und Reduktion fortbesteht.

Abstract This thesis critically examines the current practice and future perspectives of mathematical education in special schools for children with learning difficulties in Saxony. Based on the challenges of mathematical primary education and possible difficulties in numeracy requirements for didactics are derived. Furthermore, a revised understanding is introduced, following the theoretical approach of the constructivist view of learning processes. It is illustrated that discovery teaching in mathematics (according to "mathe 2000") is a promising concept to be further promoted for children with learning difficulties as well as for diverse classes. An empirical investigation indicates to what extent the variables curriculum, the teaching material Klick! Mathematik 1, the educational attitude and the teaching behavior explain the existing needs for development in implementing discovery teaching in mathematics lessons in special schools for children with learning difficulties. The results demonstrate how constructivist attempts complement traditional didactic ideas such as teaching step by step, isolation of difficulties, mechanical practicing and reduction.

I

Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung .............................................................................................................. I

I

Einleitung ................................................................................................................... 1

II

Theoretischer Hintergrund........................................................................................ 4 1

Begriffsbestimmungen ............................................................................................. 4 1.1

Sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt „Lernen“ .............. 4

1.2

Schwierigkeiten im Rechnenlernen ................................................................... 6

1.3

Zusammenfassung ........................................................................................... 9

2 Herausforderungen für den mathematischen Erstunterricht an der Schule zur Lernförderung ................................................................................................................ 10 2.1

Zahlbegriffserwerb .......................................................................................... 10

2.2

Zählen ............................................................................................................. 14

2.3

Vorwissen bei Schulbeginn ............................................................................. 18

2.4

Spezifische Schwierigkeiten im Erstrechnen .................................................. 20

2.5

Zusammenfassung ......................................................................................... 20

3 Didaktische Folgerungen für den mathematischen Erstunterricht an der Schule zur Lernförderung ................................................................................................................ 22

4

3.1

Traditionelle und gegenwärtige Mathematikdidaktik ....................................... 22

3.2

Ein revidiertes Verständnis von Mathematikdidaktik ....................................... 26

3.3

Zusammenfassung ......................................................................................... 28

Aktiv-entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht ............................................ 29 4.1

Historische und theoretische Grundlagen des aktiv-entdeckenden Lernens .. 29

4.2

Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „mathe 2000“............................... 31

4.3

Realisierung an der Schule zur Lernförderung ............................................... 41

4.4

Zusammenfassung ......................................................................................... 48

II

III

Darstellung der empirischen Untersuchung ......................................................... 50 5

Ableitung von Fragestellungen ............................................................................... 50

6

Methodik ................................................................................................................. 52 6.1

Forschungsdesign ........................................................................................... 52

6.2

Untersuchungs- und Auswertungsinstrumente ............................................... 53

6.3

Stichprobe ....................................................................................................... 60

7

Ergebnisdarstellung ............................................................................................... 63 7.1

Lehrplananalyse .............................................................................................. 63

7.2

Analyse des Lehrmaterials „Klick! Mathematik 1“ ........................................... 64

7.3

Fragebogen über die Einstellung der Lehrkraft ............................................... 67

7.4

Unterrichtsanalyse .......................................................................................... 73

8

Interpretation der Ergebnisse ................................................................................. 78

9

Beantwortung der Fragestellungen ........................................................................ 82

10

Reflexion ............................................................................................................. 85

IV

Fazit und Konsequenzen......................................................................................... 87

V

Verzeichnisse ........................................................................................................... 90

Literaturverzeichnis ........................................................................................................... 90 Internetquellenverzeichnis ................................................................................................ 93 Tabellenverzeichnis .......................................................................................................... 95 Anhangsverzeichnis .......................................................................................................... 96

III

I

Einleitung Mathe ist ein lebendiges und fröhliches Gebiet. ZIEGLER 2011

Diese Behauptung stößt bei der Mehrheit der Bevölkerung (zunächst) sicher auf Unverständnis, Empörung und Widerrede. Schließlich erleben viele Schülerinnen und Schüler Mathematik als trocken, langweilig und undurchdringbar. Nicht wenigen gelingt es nur unter enormem Aufwand, selbst einfachste Rechnungen zu lösen. Trotz großer Anstrengung werden sie nicht in der vorgegebenen Zeit fertig und erleben fortlaufend Scheitern. Das hat zur Folge, dass Mathematik bei Kindern zunehmend zum Mysterium und Angstfach wird. Dies kann sich unter Umständen gar in psychosomatischen Folgen sowie in einem negativen Fähigkeitsselbstkonzept manifestieren. Im Hinblick auf die Prävalenz von 5−20% im Grundschulbereich (vgl. WERNER 2009, 89) sind Rechenschwierigkeiten keineswegs als marginales Problem beiseite zu schieben. Neben den innerschulischen sind auch die außerschulischen Konsequenzen von Schwierigkeiten in der Mathematik nicht zu vernachlässigen: Auf geografischer, zeitlicher sowie ökonomischer Ebene kann die Lebensqualität der Heranwachsenden erheblich eingeschränkt werden. Besonders relevant sind Schwierigkeiten im Rechnenlernen für den Primarbereich im Förderschwerpunkt Lernen. Schließlich gehört Mathematik zu den Fächern, die häufig ausschlaggebend für die Überweisung auf eine Schule zur Lernförderung sind. Sonderpädagogische Publikationen weisen im mathematischen Bereich ein doppeltes Defizit auf: Zum Einen thematisieren sie meist ausschließlich die Einzelförderung, zum Anderen gehen sie kaum auf fachdidaktische Erkenntnisse ein. Dies motiviert, die wesentlichen Herausforderungen und mögliche Schwierigkeiten des Rechnenlernens aufzuarbeiten, deren Bedeutung für die Didaktik in der Mathematik herauszustellen und nach Hinweisen für den Klassenunterricht an der Schule zur Lernförderung zu suchen, der Freude und Erfolg in der Mathematik ermöglicht. Die Arbeit klärt mit Begriffsbestimmungen in Kapitel 1 den Rahmen für Mathematikunterricht an einer Schule zur Lernförderung. Die Frage nach der geeigneten Mathematikdidaktik kann nach Ansicht der Autorin erst nach der Auseinandersetzung mit mathematischen Stoffinhalten beantwortet werden. Denn auch die elementarste Mathematik ist keine inhaltliche Selbstverständlichkeit. Jede Lehrperson sollte höchste Kompetenz hinsichtlich der Abstraktionsleistungen und Begriffsbildungen, welche die Schülerinnen und Schüler erbringen müssen, aufweisen. Mit der Arithmetik beginnt der Mathematikunterricht in der ersten Klasse und jene dominiert auch in den folgenden Schuljahren. Des Weiteren zeigen Erfahrungen (vgl. WEHRMANN 2003, 9), dass die Schwierigkeiten von Kindern in der Mathematik größtenteils in der 1

Arithmetik zu verorten sind. Im Primarstufenbereich werden für viele mathematische Lernprozesse die Grundlagen geschaffen, welche wiederum möglichen Schwierigkeiten im Sekundarstufenbereich vorbeugen. Aus diesen Gründen fokussiert diese Arbeit den arithmetischen Anfangsunterricht, welcher auch als mathematischer Erstunterricht oder Erstrechnen bezeichnet wird. Besonders in den ersten Schuljahren sind der Aufbau des Zahlbegriffs, der Umgang mit Zahlen sowie die Orientierung in Zahlenräumen zentrale Elemente des Mathematikunterrichts. Deshalb soll im zweiten Kapitel auf die Herausforderungen des Zahlbegriffserwerbs und des Zählens im Erstrechnen eingegangen werden. Dabei ist zu beachten, dass alle Kinder bei Schuleintritt über ein beachtliches, meist unsystematisches Vorwissen verfügen. Jedoch zeigt sich bei Kindern (der Schule zur Lernförderung) ein sehr heterogenes Profil, ganz unterschiedliche Entwicklungsverläufe sind möglich und zielführend. Ausgehend von den Herausforderungen des Erstrechnens ergeben sich Schwierigkeiten, die Kinder der ersten Klassen haben oder haben können. Zweifellos ist die Kenntnis des aktuellen Lernstandes des Kindes wichtig und die Zahlbegriffsentwicklung bereits im Vorschulalter zu thematisieren. Es existieren verschiedene Verfahren zur individuellen, lernbegleitenden Diagnostik und Förderung, die im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht vorgestellt werden sollen. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf den didaktischen Ideen für den mathematischen Erstunterricht an der Schule zur Lernförderung. In der Literatur wird vorwiegend auf zwei Ebenen diskutiert: Zum einen über die Auffassung vom Wesen der Mathematik, zum anderen über die Auffassung vom Lernen und Lehren. Nachdem zunächst die Herausforderungen des Erstrechnens thematisiert worden sind, soll im Anschluss das Verständnis von Lernen und Lehren in der Mathematik diskutiert werden. Aus aktuellen Erkenntnissen über die Herausforderungen des Erstrechnens an der Schule zur Lernförderung sollen in Kapitel 3 didaktische Folgerungen gezogen werden. Die traditionelle und gegenwärtige Mathematikdidaktik an der Schule zur Lernförderung mit typischen Prinzipien der klassischen Hilfsschuldidaktik wird einem revidierten Verständnis von Mathematikdidaktik gegenüber gestellt. Dabei treten bereits die gegensätzlichen Positionen einer konstruktivistischen und einer empiristischen Orientierung hervor. Ausgehend von der konstruktivistischen Sichtweise erörtert Kapitel 4 die historischen und theoretischen Grundlagen des aktiv-entdeckenden Lernens im Mathematikunterricht. Zur Konkretisierung sollen die Ideen und Prinzipien am Beispiel des Projektes "mathe 2000" herausgestellt werden. Anschließend wird die Realisierung dieser Prinzipien an einer Schule zur Lernförderung thematisiert. Auch wenn aktuelle Studienergebnisse bezüglich des aktiv-entdeckenden Lernens erfolgversprechend sind, führt dies nicht automatisch zu einer Übersetzung in die Praxis. Verschiedene Größen beeinflussen

2

die Umsetzung eines aktiv-entdeckenden Lernens im Mathematikunterricht an der Schule zur Lernförderung. Für diese Arbeit werden die vier Einflussgrößen Lehrplan, Lehrmaterial, Einstellung und Verhalten der Lehrkraft ausgewählt, aus welchen in Kapitel 5 die Fragestellungen abgeleitet werden. Im Teil III knüpft eine empirische Untersuchung an diese vier Ebenen der Umsetzung an. Ziel dieser Arbeit ist es, zu prüfen, inwiefern aktuelle Erkenntnisse zum aktiv-entdeckenden Lernen bei Kindern mit Lernbeeinträchtigung im mathematischen Erstunterricht an einer Schule zur Lernförderung umgesetzt werden. Das Kapitel 6 beschreibt das Forschungsdesign, die Untersuchungs- und Auswertungsinstrumente sowie die gewählte Stichprobe. Anschließend werden dann die Ergebnisse aus der Lehrplananalyse, der Analyse des Lehrmaterials „Klick! Mathematik 1“, dem Fragebogen über die Einstellung und der Unterrichtsanalyse vorgestellt und diskutiert. Nach der Beantwortung der Fragestellungen folgt eine Reflexion. Die Arbeit wird

abgeschlossen

durch

ein

3

Fazit

und

Konsequenzen.

II

Theoretischer Hintergrund

1

Begriffsbestimmungen „Dyskalkulie“ ist der nicht gelungene Umgang mit verschiedenartigen Lösungswegen der Kinder, mit ihren individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten bezüglich mathematischer Sachverhalte. WERNER 2009, 101

"Lernbehindert ist, wer eine Schule für Lernbehinderte besucht" (BLEIDICK 1980, 130). Diese beliebte Tautologie drückt das verbreitete Unbehagen gegenüber dem Begriff Lernbehinderung, den schulischen Kontext sowie die Schwierigkeit einer genauen Definition aus. Die unklare Situation spiegelt sich in einer fortwährenden Diskussion bezüglich der Terminologie zur Bezeichnung der Institution sowie für den Personenkreis mit spezifischen Merkmalen wider. Entsprechend haben auch Schwierigkeiten beim Mathematiklernen viele Namen und die Bezeichnungen finden je nach Quelle und Sichtweise auch unterschiedliche Verwendung. Die Autorin ist sich der Problematik einer Kategorisierung, insbesondere der Gefahr von Stigmatisierung und Diskriminierung, bewusst. Es sei jedoch auf die Argumentation von SCHRÖDER (2005, 75 f) verwiesen, der aufgrund der Existenz dieser speziellen Schulform und zum Zwecke der Formulierung des Förderbedarfs die begriffliche Fassung der Lernbehinderung für legitim hält. Da die vorliegende Arbeit der Frage einer aktuellen Mathematikdidaktik an der Schule zur Lernförderung nachgeht, erscheint eine begriffliche Klärung von Sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen sowie von Schwierigkeiten im Rechnenlernen als sinnvoll.

1.1

Sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt „Lernen“

Die Begriffe lernbehindert und Lernbehinderung sind um 1960 im Zusammenhang mit der Umbenennung der Hilfsschule in Schule für Lernbehinderte entstanden. Da die Probleme dieses Personenkreises weniger offensichtlich sind als bei anderen Beeinträchtigungen, ist eine inhaltlich klare Fassung und Abgrenzung schwierig. Die offizielle Definition der WHO1 (ICD-10-GM2) ordnet die Lernbehinderung zwar ein, definiert diese aber nicht. Zudem scheint das medizinisch orientierte Diagnosesystem wenig geeignet, personale und schulische Faktoren zu berücksichtigen (vgl. WHO 2012, Online im Internet). Es wurden zahlreiche Versuche unternommen, den Begriff Lernbehinderung zu ersetzen und sich in einem pädagogisch-psychologischen Terminus von einer Defizitorientierung

1 2

World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation). International Classification of Diseases der WHO, 10. Ausgabe, German Modification.

4

abzuwenden. Um die Lernortunabhängigkeit der sonderpädagogischen Förderung zu unterstreichen, führt die KMK3 1999 die Bezeichnung Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen ein, welche heute den bundesdeutschen Sprachgebrauch dominiert. Die entsprechende Schule heißt Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen oder Schule für Lernhilfe (vgl. KRETSCHMANN 2007, 6). Gemäß der KMK (1999, Online im Internet) liegt dann ein sonderpädagogischer Förderbedarf vor, wenn die Lern- und Leistungsentwicklung von Kindern und Jugendlichen erheblichen Beeinträchtigungen unterliegt, welche auch mit zusätzlichen Lernhilfen an der allgemeinen Schule nicht genügend gefördert werden können. Diesen Kindern steht dann eine sonderpädagogische Unterstützung an der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen oder im Rahmen des Gemeinsamen Unterrichts zu (z.B. MSW 2009, § 20). Vielfach wird kritisch angemerkt, dass die Förderschwerpunkte nur eine Umformulierung der herkömmlichen Behinderungsformen darstellen und durch die milde Formulierung tatsächliche Probleme verkannt werden (vgl. SCHRÖDER 2005, 86 f). Als Lösungsmöglichkeit für die recht diffuse Terminologie bietet BACH bereits seit den Siebzigern ein Begriffssystem mit verschiedenen Bezeichnungen und Abstufungen. In seiner Klassifikation nach den drei Dimensionen Umfang, Schwere, Dauer (BACH 1977, 9) steht Lernstörung für eine geringere, Lernbehinderung für eine stärkere Ausprägung der Lernbeeinträchtigung. Bachs Hierarchien bergen zwar die Schwierigkeit der qualitativen Abgrenzung, machen damit aber auch auf die Prozesshaftigkeit von Beeinträchtigungen aufmerksam. Durch seine Einteilung gelingt eine Balance zwischen Begriffslosigkeit und Unklarheit. Schließlich bildet die Definition auch die Grundlage weiterer theoretischer Konzeptionen (z.B. nach Kanter) und leistet dadurch einen Beitrag zur Verständigung (vgl. SCHRÖDER 2005, 88−90). Aufgrund der inter- und intraindividuellen Unterschiede von Kindern mit Lernbehinderung lassen sie sich laut BLEIDICK (1983, 15) nicht als geschlossene Gruppe abgrenzen. In der gesamten Diskussion kommt neben der begrifflichen Schwierigkeit vor allem der schulische Kontext zum Ausdruck. Lernbehinderte stellen mit Abstand die größte Teilgruppe der Sonderschüler dar. Dazu ist ihr prozentualer Anteil an den Schülern der Primarstufe und Sekundarstufe I in ganz Deutschland, sowie einem Großteil der Bundesländer, trotz stark sinkender Schülerzahlen angestiegen (bundesweit auf 2,6%). In Sachsen beträgt dieser Anteil sogar 3,9%. Die erklärten Absichten bezüglich der schulischen Integration spiegeln sich in der Statistik keineswegs wider: Im Förderschwerpunkt Lernen befinden sich noch immer über 88% aller Schülerinnen und Schüler an Sonderschulen (vgl. SCHRÖDER 2005, 107, 113). Da die vorliegende Arbeit in die

3

Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland.

5

aktuelle schulorganisatorische Lage Sachsens eingebettet ist, sollen die dort gängigen Begrifflichkeiten Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen sowie Schule zur Lernförderung verwendet werden. Die Unterrichtung erfolgt nach speziellen Lehrplänen des Förderschwerpunktes, die sich im Lern- und Lehrverständnis häufig von denen der Regelschule unterscheiden. Im Hinblick auf die Schülerschaft stellt SCHERER u.a. folgende Aspekte heraus, die im Mathematikunterricht besondere Berücksichtigung finden müssen: -

-

"Auf Grund der Heterogenität der Schülerschaft sind Differenzierungsmaßnahmen unabdingbar, die den individuellen Fähigkeiten der Schüler gerecht werden. [...] Lerninhalte der Regelschule können auf Grund der eingeschränkten Fähigkeiten nicht unverändert übernommen werden. Den unterschiedlichen Leistungen der Schüler kann jedoch nicht allein durch Reduzierung der Inhalte Rechnung getragen werden. [...] Der hohe Stellenwert der Übung ergibt sich sowohl aus der Struktur des Faches als auch aus den speziellen Voraussetzungen der Schüler" (SCHERER 1995, 39, Hervorhebung im Original).

Die Frage nach einer lernbehindertenspezifischen Didaktik bewegt die Pädagogik der Lernbehinderung seit ihrer Entstehung. Dabei zeichnet sich ein ambivalentes Verhältnis zwischen

der

allgemeinen

und

der

sonderpädagogischen

Didaktik

ab

(vgl.

WERNING/LÜTJE-KLOSE 2006, 79−86). Aus unterschiedlichen Perspektiven wurden zahlreiche didaktische Konzepte entwickelt, welche zentrale Prinzipien wie Individualisierung, Differenzierung und Lebensweltorientierung in verschiedenen Nuancierungen aufgreifen. In Kapitel 3.1 wird sich genauer zeigen, wie die Charakteristika der Schülerschaft die mathematikdidaktischen Ansätze an der Schule zur Lernförderung in entscheidender Weise prägen.

1.2

Schwierigkeiten im Rechnenlernen

Für Schwierigkeiten beim Mathematiklernen gibt es vielfältige Begriffe, Definitionen und Sichtweisen. LORENZ und RADATZ (1993, 17 zit. n. WEHRMANN 2003, 71) konnten in der deutschsprachigen Literatur 40 verschiedene Begriffe ausfindig machen. Am geläufigsten sind die Bezeichnungen Dyskalkulie, mathematische Lernschwäche oder -störung, Rechenstörung, mathematische Schulleistungsschwäche oder Rechenschwäche. Das Phänomen Dyskalkulie an sich ist nicht neu und stellt letztlich nichts anderes fest, als dass gewisse Kinder im Mathematikunterricht nicht die erwarteten schulischen Leistungen zeigen. Der Begriff der Dyskalkulie wird vielfach als nicht klar umschriebene und operationalisierte Diagnose kritisiert, die mit der Gefahr der Pathologisierung verbunden ist. Analog zur Kategorie der Legasthenie sei die Dyskalkulie also einfach also weitere Kategorie für Schulschwierigkeiten "eingeführt" worden (vgl. MOSER OPITZ 2004, 180). Da bereits bezüglich des Begriffs große Uneinigkeit herrscht, kann eine Zahl der betroffenen Kinder nur schwer festgesetzt werden. Unterschiedliche Schätzungen und Untersu-

6