MISTRAL … und weit ist der Himmel

Heinrich, knapp zehn Jahre älter als Lisa, hatte schon einiges auf ... Walter hingegen, ein strohblonder Lausbub, ... Walter - stellte er sich schützend vor Lisa und.
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Annelie Durth

MISTRAL … und weit ist der Himmel Roman

© 2012 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2012 Umschlaggestaltung: Annelie Durth Printed in Germany ISBN 978-3-8459-0395-8

AAVAA Verlag www.aavaa-verlag.com eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken! Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt .

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MISTRAL … und weit ist der Himmel Annelie Durth

Die kriminelle Karriere des Vaters und der Tod der Mutter lassen Lisas Welt schon in früher Kindheit erschüttern. Als der Zweite Weltkrieg beginnt, heiratet sie ihren Jugend-freund Werner, der kurz darauf nach Russland abberufen wird. Ihre Zwillinge muss sie im Luftschutzkeller zur Welt bringen. Nach Jahren vergeblichen Wartens auf ein Lebenszeichen von Werner verliebt sie sich in den französischen Besatzungs-soldaten Alain. Sie will ihm in seine Heimat folgen, doch dann geschieht Unfassbares. Elisa sieht sich mit einer Entscheidung konfrontiert, die eine Verkettung von Schicksalsschlägen heraufbeschwört - und die selbst nach Jahren noch ihre Opfer fordert …

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* Le bonheur n'est pas interchangeable. Il vit et meurt dans le même instant. * Das Glück ist nicht austauschbar. Es lebt und stirbt im selben Augenblick. *

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Prolog Heftig rüttelt der Mistral an den offenen Fensterläden und drückt seinen kalten Hauch durch die Ritzen, als wolle er sich Einlass verschaffen. Die alte Frau sitzt im Sessel und lauscht seinen Klängen, auf vertraute Weise klingt es wie eine Melodie. Über ihrem greisen Haar spiegelt sich ein Strahl der untergehenden Abendsonne, und zu ihren Füßen liegt regungslos der letzte treue Freund, ein braun gefleckter Mischlingsrüde. Seit jenem Friedhofsbesuch wich er nicht mehr von ihrer Seite. Sie nannte ihn Hero, wie den Schäferhund, den ihr Eva aus Deutschland mitbrachte. Lange ist es her, eine ganze Ewigkeit, und in den nächsten Tagen wird sie achtzig. Mein Gott, was hat sie alles erlebt - Höhen und Tiefen - Freude und Schmerz - sie hat den Himmel und die Hölle gesehen - mon dieu ... Lisa, geborene Schmied, für kurze Zeit eine Müller und als Forestier zur Witwe geworden; unzählige Stürme des Lebens musste sie überste-

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hen, hat geliebt, gehasst, gelitten und allzeit aufs Neue gehofft. Ihre Kindheit war nicht mit Segen bereichert, doch immerhin gehörte ihr, wenn auch nur für kurze Zeit, ein Äffchen. Mutters Bruder brachte den Schimpansen aus der Fremdenlegion mit; klein und winzig, ein hilfloses Etwas, immer zu Späßen bereit. Max wurde ihr Spielgefährte. Leider wuchs er schnell heran und ließ keine Gelegenheit verstreichen, Mädchen und Frauen hinterher zu jagen. Als paarungsbereiter Schimpanse verlangte er nach einer Herzensdame und stürzte sich auf alles Weibliche, das seinen Weg kreuzte. Irgendwann sprang er vor ein Fahrrad. Das Resultat war ein Salto mortale und ein völlig zerschundenes Affenmännchen. Sein Fehlverhalten gab den Startschuss für eine endgültige Maßnahme, man brachte ihn zu seinen Artgenossen in den Zoo. Irgendwann nach der Schule die Geschichte mit Vater: Er stand im Hausflur, in Handschellen gefesselt, zu seiner Rechten und Linken je ein finster dreinblickender Mensch in Uniform.

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Etwas Drohendes lag in der Luft. Doch die Schwere der Ereignisse verstand sie nicht, und von jenem Tage an sollte sich ihr Leben drastisch ändern.

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Kindheit Wenn sich das Wesentliche gefestigt hat, erwächst daraus der Weg. (Gespräche des Konfuzius) Die Tür fiel polternd ins Schloss, zwei uniformierte Männer hatten dem Vater Handschellen angelegt und ihn abgeführt. »Mama!« Das kleine Mädchen mit dem blonden Lockenschopf schmiegte sich schutzsuchend an die Mutter. »Warum, Mama? Wo bringen sie ihn hin? Sie haben ihn wie einen Hund an die Kette gelegt.« Lisas große blaue Augen füllten sich mit Tränen und blickten fassungslos zu Boden. Maria war eine schmalschultrige kleine Frau mit brünettem Haar, fest zu einem Knoten gebunden. Sie atmete tief, um das wild klopfende Herz zu beruhigen. Ihre Glieder zitterten, als sie das schluchzende Kind auf den Arm hob und zum Fenster hinaus auf die Straße starrte. Der Regen 8

seit Stunden pochte er gegen die Scheiben, eintönig, beharrlich - ließ drei schattenhafte Wesen im Nebelgrau verschwinden. »Friedrich«, stöhnte sie. Dann schaute sie müde lächelnd in das tränennasse Gesichtchen ihrer Tochter. »Hummelchen, du musst nicht weinen, alles wird sich aufklären. Dein Vater ist kein schlechter Mensch, er kann niemandem etwas zuleide tun. Vielleicht steckt dein Bruder Heini wieder dahinter. Mein Gott, was wird der Taugenichts diesmal ausgefressen haben?« »Dann hätten sie bestimmt den Heini mitgenommen«, widersprach Lisa. Sie wischte mit der Hand über die nassen Wangen. Mit flehenden Augen sah sie gebannt zur Mutter. »Nicht traurig sein, Mama«, fügte sie ermutigend hinzu. Maria setzte das Kind ab. Sie blickte erstaunt zu ihrer sechsjährigen Tochter und strich tröstend über die blonden Locken. »Schatz, alles wird gut! Vater wird sich für deinen Bruder opfern, damit dieser verschont bleibt«, flüsterte sie kaum hörbar.

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Heinrich, knapp zehn Jahre älter als Lisa, hatte schon einiges auf dem Kerbholz. Zusammen mit seinen Freunden wurden skrupellose Streiche ausgeheckt und - zum Schaden redlicher Bürger in die Tat umgesetzt. Lisa fand Mutters Worte einleuchtend, ihr Vater hatte eine besondere Schwäche für den Jungen. Egal, was Heini anstellte, einer gerechten Strafe war er bisher entgangen. Er würde auch diesmal wieder seine Finger im Spiel haben. Vater war so töricht, für ihn den Kopf hinzuhalten. Jahre später sollte sie die Wahrheit dieser Tragödie in allen Einzelheiten erfahren. Maria war fortan auf sich gestellt, Friedrich schon über ein Jahr im Gefängnis und Heini kam nur selten heim. Er logierte bei Freunden und war zu keiner Arbeit bereit. Dankbar nahm Maria jede Tätigkeit an, die sich ihr bot. Der innere Zwang, Lisa ein Leben zu ermöglichen, in dem es sättigende Mahlzeiten, Kleidung und Schuhwerk gab, verlieh ihr die Kraft dazu.

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Als es kälter wurde und der Winter nahte, hustete sie, erst nur vereinzelt, später fortwährend. Sie bedeckte ihren Mund mit einem Taschentuch. Irgendwann bemerkte Lisa, dass die Mutter rote Blutpartikel hineinspuckte. Danach sah das zuvor reinweiße Gewebe aus, als habe es jemand mit winzigen Rosenknospen bestickt. Der Frühling kam und Maria fühlte sich schwach, sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Ihr Körper war leer und ausgebrannt, ihr Gesicht glich dem einer Holzmarionette. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die Wangenknochen traten wachsfarben aus dem ehemals rosigen Gesicht. Der hohle Husten, der ihre Nächte zerpflückte, die blutigen Taschentücher, sie ließen keinen Zweifel am absehbaren Ausgang des Ringens zwischen Leben und Tod. Als Maria nach ihren schmerzenden Hustenattacken zum wiederholten Mal in sich zusammensank, lief Lisa schluchzend los und holte den Arzt, der mit ernster Miene das Wort Schwindsucht murmelte. Sie begriff es nicht, und von jenem Tag an häuften sich die Ereignisse. 11

Marias Schwester Klara holte Lisa zu sich nach Hause. »Du wirst eine Weile bei Onkel Karl und mir wohnen«, sagte sie, »bis es deiner Mutter wieder besser geht. Anna und Walter werden sich freuen.« Sie packte Lisas Kleidung in ein Betttuch, verschnürte es mit einer Kordel und nahm das Kind bei der Hand. Karl Meyer arbeitete am Hochofen. Sein ausgemergeltes Gesicht spiegelte die enorme Hitze wider, mit der er täglich zu kämpfen hatte. Seine Familie wohnte nahe der Eisenhütte. Schwefelhaltige Luft lag bisweilen bleiern über den Häusern. Sie kroch in jede Fuge und bahnte sich ihren Weg in die Lungen der Bewohner. Weiße Wäsche, morgens auf die Leine gehängt, war am Abend gelb und roch nach faulen Eiern. Lisa gewöhnte sich nur schwer an die fremde Umgebung. Die Umstellung, ohne die geliebte Mutter zu leben, nicht ihre Stimme zu hören, ohne ihren Gutenachtkuss ins Bett zu gehen, war schwer. Klara versuchte, ihr den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Cousine Anna freute sich über die Wunschschwester.

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Walter hingegen, ein strohblonder Lausbub, zeigte sich feindselig. War Werner zugegen - ein rothaariger Junge aus dem Nachbarhaus, fast einen Kopf größer als Walter - stellte er sich schützend vor Lisa und verhinderte manchen Streit. Einem Jungen wie Werner war sie nie zuvor begegnet. Er sprach nicht viel. Die Worte, die sie wechselten, waren zu zählen. Doch lag zwischen ihnen etwas, das mehr bedeutete als Worte. War Werner in der Nähe, schwand Lisas Angst vor Walters Angriffen. Als sie sich zufällig nach der Schule trafen, setzten sie sich auf die kleine Mauer am Eingang seines Elternhauses. Werner streckte die Beine von sich, seufzte tief und lehnte den Kopf an die Hauswand. Lisa drückte ihre Wange an seine Schulter und war mit dem Leben zufrieden. Da legte sich behutsam eine Hand über die ihre, die sie auf die Mauer gestützt hatte. Lisa spürte, wie allmählich die Wärme der seinen in ihre Hand überfloss. Sie errötete, zugleich erfasste sie ein unaussprechliches Gefühl der Zärtlichkeit, dass sie am liebsten nie mehr aufgestanden wäre. 13

Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatten. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, in der sie Zeit und Ort vergessen hatte. Klaras Ruf ertönte. »Lisa!« Die Stimme klang anders als sonst, fast beschwörend. »Sie rufen mich, ich muss heim.« Lisa entriss Werner ihre Hand, sprang auf und rannte fort. 'Er ist nett', dachte sie. 'Warum ist Walter nicht wie er? Warum bin ich überhaupt hier und nicht in meinem Zuhause?' Lisas nahezu heile Welt wurde jäh zerstört, als die Mahlzeit auf dem Tisch stand. Walter schlich zu ihrem Teller und spuckte dreist in ihr Essen. Seltsamerweise schien es niemand zu bemerken, vielleicht wollte man es nicht sehen. Fassungslos stierte sie in ihren Teller und wandte sich angewidert ab. Nachdem Walter seine eigene Ration vertilgt hatte, fiel er über Lisas Anteil her und verputzte auch diesen mit großem Appetit. Klara rätselte, warum Lisa das Essen verweigerte. »Hummelchen, was ist los?«, fragte sie. »Ich koche und du rührst nichts an.« Lisa sprang angewidert vom Stuhl, der flog in hohem Bogen durch die Küche. »Lasst mich, ich 14

kann nicht! Walter, du Schwein! Was hab ich dir getan?«, rief sie. »Was fällt dir ein?«, schnaubte Klara. »Wie kannst du so undankbar sein, wo wir doch alles für dich tun?« Lisa verließ unter Tränen den Tisch und verkroch sich wie ein verwundetes Tier in der Ofenecke. Am Abend - alle saßen bei Tisch - verfehlte Walter sein Ziel um wenige Zentimeter und der Speichel landete auf Klaras Schürze. Karl schaute ungläubig auf seinen Sohn, stand wortlos auf und löste den Gürtel seiner Hose. Noch ehe Walter sich wegschleichen konnte, wurde er am Ohr gepackt und übers Knie gelegt. »Au - ich - mache das nicht mehr!« Der Gürtel trommelte unaufhaltsam auf Walters Hinterteil. »Onkel Karl, du schlägst ihn ja tot, hör bitte auf!« Wut und Hass waren wie weggefegt. Lisa sprang verzweifelt zwischen die beiden und hielt schützend ihre Hände auf Walters Hinterteil. Um ein Haar wäre das Leder auf ihrem Rücken gelandet.

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