Menschenrechte zwischen moralischer Begründung und politischer ...

Dr. Stephan Müller, Dr. Sebastian. Laukötter und Dr. Henning Peucker ... Dr. Véronique Zanetti erfahren habe, die ich im Rahmen eines. Mentoring-Programms ...
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Ringkamp · Menschenrechte zwischen moralischer Begründung und politischer Verwirklichung

Dieses Buch analysiert das Spannungsfeld zwischen der normativen Begründung und der politischen Implementierung von Menschenrechten und greift dabei insbesondere auf die begrifflichen und legitimatorischen Implikationen moralischer und politischer Menschenrechtsbegründungen zurück. Ziel ist es, eine im Zuge der Aufwertung politischer Begründungskonzepte geäußerte Grundannahme zum Verhältnis von Menschenrechten und moralischen Rechten sowie zur Adressierung von Menschenrechtspflichten zu hinterfragen. Denn politischen Begründungen zufolge liegt der Unterschied zwischen Menschenrechten und moralischen Rechten vor allem in der Frage der Adressierung der entsprechenden Rechte: Während sich moralische Rechte primär an Einzelpersonen richten, sind Menschenrechtspflichten nicht an einzelne Individuen, sondern an Staaten und politische Institutionen adressiert. Durch eine Neubetrachtung moralischer Menschenrechtsbegründungen argumentiert das Buch jedoch dafür, neben Staaten, die eine zentrale Funktion beim Schutz von Menschenrechten einnehmen, in einigen Fällen auch einzelne Individuen als direkte Adressaten von Menschenrechtsansprüchen zu verstehen. Darüber hinaus wird versucht, das Verhältnis von Menschenrechten und moralischen Rechten neu auszulegen und den Unterschied beider Rechtsklassen weniger über die Adressierung, sondern über inhaltliche Kriterien zu definieren.

Daniela Ringkamp

Menschenrechte zwischen moralischer Begründung und politischer Verwirklichung Eine Neubetrachtung der Adressierung von Menschenrechtspflichten

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Ringkamp · Menschenrechte

Daniela Ringkamp

Menschenrechte zwischen moralischer Begründung und politischer Verwirklichung Eine Neubetrachtung der Adressierung von Menschenrechtspflichten

mentis MÜNSTER

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INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

9

EINLEITUNG

11

1. Erschütterung durch den Holocaust: die politische Bedeutung der Menschenrechte

11

2. Moralische und politische Begründungen und die Verwirklichung von Menschenrechten

18

3. Aufbau und Ziel der Arbeit

21

I. MENSCHENRECHTE: BEGRIFFLICHE GRUNDLAGEN

31

1. Allgemeine Spezifika

32

1.1.

Menschenrechte als claim rights

37

1.2.

Moralische und rechtspolitische Dimension der Menschenrechte

39

2. Menschenrechte und moralische Rechte

44

2.1.

Menschenrechte: Teilklasse moralischer Rechte oder juridischer Rechtsbegriff?

44

2.2.

‚Institutional‘ und ‚Interactional understanding of human rights‘ und die Adressierung von Menschenrechten

50

3. Moralische und rechtspolitische Dimension der Menschenrechte: Ein Spannungsverhältnis

54

6

Inhaltsverzeichnis

II. MORALISCHE UND POLITISCHE MENSCHENRECHTSBEGRÜNDUNGEN

58

1. Universale Begründungen und aktuelle Herausforderungen

58

1.1.

Exkurs: Immanuel Kant. Das Freiheitsrecht als ursprüngliches Menschenrecht

2. Moralische und Politische Menschenrechtsbegründungen 2.1. 2.1.1.

Moralische Begründungen liberaler Freiheitsrechte Das Recht auf Rechtfertigung: Eine konstruktivistische Begründung von Menschenrechten 2.1.2. Ernst Tugendhat: Menschenrechte und universelle Achtung 2.1.3. Petitio Principii und die Bereitschaft zum Diskurs: Herausforderungen für moralische Begründungen

64 69 71 71 77 82

2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3.

Politische Begründungskonzeptionen John Rawls: Menschenrechte in The Law of Peoples Die Idee der öffentlichen Vernunft Michael Ignatieff: Menschenrechte als Instrument der Politik

90 93 99 105

2.3.

Moralische und Politische Begründungen – ein erster Vergleich

110

III. ZWISCHEN MORAL UND POLITIK: DIE VERWIRKLICHUNG DER MENSCHENRECHTE

114

1. Philosophische Theorien zur Umsetzung von Menschenrechten – ein Überblick

117

1.1. 1.2. 1.3. 1.4.

Die Adressierung menschenrechtlicher Ansprüche und das Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten Menschenrechte und Staatlichkeit Die Einbindung der Menschenrechte in nationales und internationales Recht Menschenrechte und Demokratie

118 124 129 135

Inhaltsverzeichnis

1.5.

7

Menschenrechte im Rahmen der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit

143

2. Die Umsetzung von Menschenrechten in moralischen und politischen Begründungskonzeptionen

147

2.1.

Staat und Zivilgesellschaft: Die Umsetzung von Menschenrechten in moralischen Begründungen Ernst Tugendhat: Staatlichkeit, Demokratisierung und die doppelte Ausstrahlung von Menschenrechten Rainer Forst: Moralischer und politischer Konstruktivismus, Staaten und Zivilgesellschaften

148

Rawls und Ignatieff: Eine unmittelbare Bezugnahme von Menschenrechten und Politik 2.2.1. Ignatieff: Menschenrechtsminimalismus in der Politik 2.2.2. Rawls: Die Strukturen des Law of Peoples

155

3. Umsetzung, Durchsetzung und Verwirklichung von Menschenrechten

171

2.1.1. 2.1.2. 2.2.

148 151

155 159

3.1.

Umsetzung

173

3.2.

Durchsetzung

176

3.3.

Verwirklichung von Menschenrechten und kosmopolitischer Individualismus. Ein erweitertes Adressatenverständnis 3.3.1. Verwirklichung von Menschenrechten und zivilgesellschaftliche Integration 3.3.2. Die Moral der Zivilgesellschaft und die Bedeutung moralischer Menschenrechtsbegründungen 3.3.3. Die Funktion des Weltbürgers 3.3.4. Weltstaat oder Weltgesellschaft? 3.3.5. Die Aufwertung des Individuums als Adressat von Menschenrechtspflichten 3.3.6. Schwache Pflichten und individuelle Verantwortung

177 180 184 187 190 196 203

8

Inhaltsverzeichnis

IV. ANBINDUNGSMÖGLICHKEITEN SCHE ÜBERLEGUNGEN

KRITI-

209

1. Menschenrechtsschutz durch individuelle Verantwortungsübernahme: Eine Überforderung?

209

1.1. 1.2.

UND

Demokratische Iterationen Protest gegen Menschenrechtsverletzungen als rechtskonstitutive Aktion der Weltgesellschaft

213 216

2. Das Legitimationsdefizit von Zivilgesellschaften – ein Hinderungsgrund?

220

3. Zum Verhältnis von Menschenrechten und moralischen Rechten – Versuch einer Neudefinition

223

FAZIT: FÜR EINEN EINGESCHRÄNKTEN METHODOLOGISCHEN INDIVIDUALISMUS

233

LITERATURVERZEICHNIS

238

PERSONENVERZEICHNIS

256

VORWORT

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Juli 2012 an der Universität Paderborn verteidigt wurde. Auch wenn mir gerade in den letzten Monaten während der Arbeit an der Druckversion deutlich geworden ist, wie viele Fragen offen geblieben sind und wie viele Gedanken einer tiefergehenden Analyse bedurft hätten, so gilt es, an dieser Stelle einen (vorläufigen) Schlussstrich unter einen langen Arbeitsprozess zu ziehen, bei dem mich zahlreiche Personen in unterschiedlicher Art und Weise begleitet haben. Für ihre Kollegialität und ihre Unterstützung möchte ich zunächst den Paderborner Philosophinnen und Philosophen danken, insbesondere den Gutachtern Prof. Dr. Ruth Hagengruber, die mich immer wieder zu unkonventionellem Denken ermuntert, sowie Prof. Dr. Volker Peckhaus. In den Dank einschließen möchte ich ausdrücklich auch die ehemaligen Mitglieder des Instituts, vor allem Prof. Dr. Hans Ebeling, der mir nach wie vor ein wichtiger Ansprechpartner ist. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Oberseminars für Praktische Philosophie, insbesondere Kevin M. Dear, Ana Rodrigues, Maria Robaszkiewicz und Daniela Zumpf, danke ich für die zahlreichen Diskussionen über die Grundgedanken dieser Arbeit. Für Gespräche und Hinweise möchte ich ferner Prof. Dr. Andreas Niederberger, Prof. Dr. Regina Kreide, Prof. Dr. Stephan Müller, Dr. Sebastian Laukötter und Dr. Henning Peucker danken. Von Bedeutung waren für mich auch die Unterstützung und das Interesse an meiner Arbeit, das ich durch Prof. Dr. Véronique Zanetti erfahren habe, die ich im Rahmen eines Mentoring-Programms kennenlernte. Ein großer Dank geht zudem an Prof. Dr. Georg Lohmann, der in turbulenten Zeiten ein verlässlicher Ansprechpartner für Fragen und Probleme war, sowie an die weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Arbeitsstelle Menschenrechte der Universität Magdeburg. Auch wenn unsere Denkweisen in vielen Punkten divergierten, so möchte ich letztendlich Prof. Dr. Dieter Schönecker dafür danken, dass er mich für Begriffsdiskurse sensibilisiert hat. Seit Beginn meiner Promotionszeit befand ich mich in der glücklichen Situation, mir über die mit einer Doktorarbeit verbundenen finanziellen Unabwägbarkeiten keine Sorgen machen zu müssen. Danken möchte ich dafür der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die diese Arbeit in ihren Anfängen durch ein Promotionsstipendium unterstützte, sowie Prof. Dr. Thomas Kater, der die Antragstellung ermöglichte. Dem Deutschen Akademikerin-

10

Vorwort

nenbund danke ich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses, dem mentis-Verlag für umfassende Beratung und für die Aufnahme ins Verlagsprogramm. Einen großen Dank schulde ich zudem meinen Eltern Maria und Bernhard Ringkamp, die meinen Geschwistern und mir beständig bei Problemen mit Rat und Tat zur Seite stehen, zugleich verlässliche Umzugshelfer, Kinderbetreuer und geduldige Zuhörer waren und sind und die dadurch einen unschätzbaren Anteil bei der Entstehung dieses Buches mittragen. Zu guter Letzt danke ich denjenigen Personen, die mein Umfeld in den vergangenen Jahren am stärksten geprägt haben. Hervorheben möchte ich hier AnneMarie Hecker sowie meinen Mann Antonio Roselli, der mich immer wieder darauf aufmerksam macht, dass sich Philosophie im Diskurs vollzieht. Ihm und unserer Tochter Johanna sei dieses Buch gewidmet.

EINLEITUNG

1. ERSCHÜTTERUNG DURCH DEN HOLOCAUST: DIE POLITISCHE DEUTUNG DER MENSCHENRECHTE

BE-

Mit einer für philosophische Menschenrechtstheorien grundlegenden Begriffsbestimmung markiert Thomas Pogge den Unterschied zwischen Menschenrechten und moralischen Rechten folgendermaßen: [H]uman-rights violations, to count as such, must be in some sense official, […] human rights thus protect persons only against violations from certain sources. Human rights can be violated by governments […] and by government agencies and officials, by the general stuff of an army, and probably also by the leaders of a guerilla movement or of a large cooperation – but not by a petty criminal or by a violent husband. We can capture this idea by conceiving it to be implicit in the concept of human rights that human-rights postulates are addressed […] to those who occupy positions of authority within a society (or other comparable social system). 1

Pogge spricht sich damit für ein “institutional understanding”2 von Menschenrechten aus, demzufolge Menschenrechte im Unterschied zu moralischen Rechten an Staaten, staatsähnliche Einrichtungen und politische Institutionen gerichtet sind und Menschenrechtsansprüche ausschließlich an die „organization of one‟s society“3 gestellt werden. Dieser Bezug zu politischen Institutionen bestimmt auch den sogenannten official character von Menschenrechtsverletzungen: Menschenrechtsverletzungen werden von öffentlichen Institutionen begangenen, nicht aber von einzelnen Individuen wie einem „petty criminal“ oder „violent husband“. Von dem institutionellen Verständnis unterschieden ist Pogge zufolge ein “interactional understanding of human rights“,4 das in Anlehnung an die Naturrechtstradition 1

2 3 4

Thomas Pogge, „How Should Human Rights be Conceived?“, in: ders., World Poverty and Human Rights, Blackwell Publishing, Malden 2002, 52-70, hier 57f. In der deutschsprachigen Debatte vertreten Christoph Menke und Arnd Pollmann ebefalls diese Sichtweise, vgl. Christoph Menke, Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, Junius: Hamburg 2007, 31. Ebd., 65. Ebd., 64. Ebd., 65.

12

Einleitung

der Aufklärung davon ausgeht, dass Menschenrechte eine Teilklasse moralischer Rechte sind und nicht nur Staaten, sondern auch einzelnen Individuen eine Verantwortung zukommt, Menschenrechte nicht zu verletzen. Die vorliegende Arbeit wird die von Pogge betonte ausschließliche Adressierung von Menschenrechtsansprüchen an Institutionen in Frage stellen, ohne jedoch die Bedeutung des Staates zu relativieren oder die Differenz von Menschenrechten und moralischen Rechten aufzugeben. Stattdessen argumentiert sie dafür, in bestimmter Hinsicht auch einzelne Individuen ohne Bezug zu öffentlichen Institutionen als Adressaten von Menschenrechtsansprüchen zu verstehen. Die Möglichkeit der Einbeziehung von Individuen in den Adressatenkreis menschenrechtlicher Forderungen ergibt sich dabei ausgehend von der Unterscheidung zwischen moralischen und politischen Menschenrechtsbegründungen, wie sie im weiteren Verlauf der Arbeit mehrfach aufgegriffen wird, und insbesondere in einer Neubetrachtung moralischer Begründungspositionen. Zudem ist, so wird sich zeigen, ein individualistisches Adressatenverständnis bereits zum Teil in philosophischen Auseinandersetzungen zu globaler Gerechtigkeit, insbesondere bei Fragen der Verantwortungsübernahme für die Reduktion absoluter Armut, impliziert. Damit versucht die Arbeit für einen schwachen methodologischen Individualismus zu argumentieren, der davon ausgeht, dass neben Staaten als zentralen Instanzen zum Schutz der Menschenrechte auch einzelnen Individuen eine Pflicht zugesprochen werden kann, Menschenrechte nicht zu verletzen und – in einem gewissen Rahmen – Verantwortung für die Garantie von Menschenrechtsansprüchen zu übernehmen.5

5

In der Terminologie des methodologischen Individualismus berufe ich mich auf Christian Neuhäuser, Unternehmen als moralische Akteure, Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2011, 41ff, der wiederum auf Steven Lukes verweist, sowie auf Hasso Hofmann. Hofmann versteht den methodologischen Individualismus als strukturelles Merkmal neuzeitlicher Staatsrechtfertigungstheorien, das „gegen den logischen Vorrang der Polis vor den Bürgern, des Ganzen vor dem Teil, als das Ursprüngliche im menschlichen Gemeinschaftsleben jetzt der Einzelne begriffen und das Ganze als ein Verhältnis von Einzelnen konstruiert wird“ (Hasso Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 42008, 125. Hervorhebung von mir). Neuhäuser unterscheidet zwischen einem methodologischen und einem ethischen Individualismus, wobei der ethische Individualismus fordert, „dass bei ethischen Überlegungen alle Menschen individuell berücksichtigt werden müssen“ (ebd., 43). Der methodologische Individualismus dagegen betrachtet ausschließlich Individuen als handlungsfähige Akteure, so dass Verantwortungszuschreibungen von Handlungskonsequenzen ausschließlich an Individuen, nicht aber an Kollektive ergehen können. Neuhäuser selbst argumentiert zugunsten der Aufwertung von kollektiven Akteuren als moralische Instanzen gegen einen strengen methodologischen Individualismus. Ein strenger methodologischer Individualismus wird jedoch auch in dieser Arbeit abgelehnt: Wie in Kap. 3 gezeigt wird, ist das Verhältnis zwischen Individuen und Institutionen als handlungsrelevanten Akteuren komplex und wi-

Einleitung

13

Bevor detaillierter auf diese Aspekte, auf die Konsequenzen eines solchen Adressatenverständnisses sowie auf den Aufbau der Arbeit an sich eingegangen wird, soll jedoch zunächst ein allgemeiner Einblick in gegenwärtige Herausforderungen philosophischer Menschenrechtstheorien gegeben werden. Denn Pogges Fokussierung auf Staaten und politische Institutionen als Adressaten von Menschenrechtsansprüchen wird in einem Großteil der philosophischen Menschenrechtsforschung hervorgehoben. Dabei reagiert der Verweis auf die Bedeutung des Staates als Instanz der Realisierung und Einklagbarkeit von Menschenrechten einerseits auf eine „Ausweitung, die der Menschenrechtsgedanke gegenüber seinen Anfängen erfahren hat“.6 Durch die inhaltliche Ausdifferenzierung der Menschenrechte in ihre drei Teilklassen – liberale Freiheitsrechte, politische Mitbestimmungsrechte und soziale Rechte – hat sich vor allem im 20. Jahrhundert der Gegenstandsbereich menschenrechtlicher Forderungen von Ansprüchen auf die Unantastbarkeit fundamentaler individueller Freiheitsbereiche über politische Gestaltungsrechte hin zu Rechten auf eine Grundsicherung basaler Bedürfnisse wie Ernährung, Bildung, Gesundheitsvorsorge etc. erweitert. Je größer aber der Regulierungsbereich menschenrechtlicher Forderungen ist, desto bedeutender werden jene Instanzen, die dazu in der Lage sind, Menschenrechtsansprüche umzusetzen, so dass der Staat und nationale wie internationale politische Regierungsorganisationen als diejenige Institutionen, die Menschenrechte erfüllen können, zunehmend in die Pflicht genommen werden. Zugleich aber ist diese Betonung der Staaten als Verwirklichungsinstanzen von Menschenrechtsansprüchen andererseits eine Reaktion auf historisches Unrecht und auf fundamentale Bedrohungen, die von Staaten für die Gewährleistung von Menschenrechten ausgehen. Gerade weil Staaten Menschenrechte nicht nur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts massiv verletzt haben und dies nach wie vor tun, gilt es, sie auf die Einhaltung von Menschenrechtsstandards zu verpflichten und Rechtsinstrumente zu entwickeln, die den Machtbereich staatlichen Einwirkens kontrollieren. Auch die Philosophie der Menschenrechte antwortet damit auf die massiven Erschütterungen, die die Philosophie des 20. Jahrhunderts insgesamt prägten. Die in ihrer Größenordnung einzigartigen politischen Verbrechen des Nationalsozialismus und Stalinismus haben insbesondere in der deutschsprachigen Philosophie zu einer Thematisierung der Probleme der Aufklärungsmoral geführt, die auch die gegenwärtige Philosophie der Menschenrechte betrifft. Mit der millionenfachen, systematischen Vernichtung von

6

dersteht einer ausschließlichen Verantwortungszuschreibung für jeweils die eine oder andere Seite. Siegfried König, Zur Begründung der Menschenrechte. Hobbes – Locke – Kant, Alber: Freiburg 1994, 17.

14

Einleitung

Menschen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und der Unterdrückung und Ausbeutung in den sowjetischen Gulags, die kaum weniger Opfer gefordert haben,7 kommt es, so die These von Rolf Zimmermann, zu einem Versagen der Aufklärungsmoral, zu einem moralischen Gattungsbruch: Das universalistische Selbstbild des Menschen werde von gattungsverneinenden Moraltheorien abgelöst, die Menschen von bestimmter religiöser, kultureller, ethnischer oder nationaler Zugehörigkeit aus dem Begriff der Menschheit und dem Kontext der Moral ausschließen, ihnen rechtliche Schutzmöglichkeiten – z.B. durch Staatsbürgerschaftsrechte – versagen und sie dadurch der Vernichtung preisgeben.8 Diese politische wie moralische 7

8

Eine Ermittlung der genauen Opferzahlen der stalinistischen Diktatur gestaltet sich aus verschiedenen Gründen als schwierig. So gibt es kaum gesichertes Datenmaterial, das zuverlässige Zahlen nennen kann, beispielsweise zu den Opfern der Hungersnot von 1933/34 oder zu den Toten, die im Rahmen des sogenannten großen Terrors Opfer der stalinistischen Verfolgungskampagne wurden (Manfred Hildermeier, Die Sowjetunion 19171991, Oldenbourg Verlag: München 22007, 129). Darüber hinaus führen auch „deutliche weltanschaulich-politische Gegensätze“ der entsprechenden Positionen, die sich zu Opferzahlen äußern, zu unterschiedlichen Schätzungen (ebd., 128). Abhängig von Analysen über Geburten- und Sterberate gilt jedoch eine Opferzahl von ca. 10 Millionen Menschen in den Jahren 1927-1938 als relativ gesichert, wobei nahezu 8,5 Millionen Menschen durch die große Hungersnot starben (ebd., 129f). Siehe dazu Rolf Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft, Rowohlt: Hamburg 2005 sowie ders., Moral als Macht. Eine Philosophie der historischen Erfahrung, Rowohlt: Hamburg 2008. In diesem Zusammenhang sollte nicht übersehen werden, dass bereits die aufklärerischen Menschenrechtsdeklarationen dieses Moment der Ausgrenzung enthalten. So wurden die in der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen formulierten Grund- und Menschenrechte ausschließlich Männern zugesprochen, was Olympe de Gouges dazu veranlasste, eine eigene Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin, die Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne, zu verfassen – ein Unternehmen, das de Gouges mit dem Leben bezahlte. Und trotz der Verabschiedung der Virginia Bill of Rights blieb die Sklaverei in den Vereinigten Staaten von Amerika noch fast ein ganzes Jahrhundert bestehen. Siehe dazu Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1998, 80ff. sowie Olympe de Gouges, „Die Rechte der Frau und Bürgerin“, in: Klassische philosophische Texte von Frauen, hg. v. Ruth Hagengruber, dtv: München 21999, 97-107. Der gesamte Text der Deklaration ist auch unter URL: http://www.europa.clio-online.de/site/lang__de/ItemID__412/mid__11373/402082 15/default.aspx (download: 20.10.2014) einsehbar. Zur Rolle der Frauen im Rahmen der Französischen Revolution im Allgemeinen sowie der Bedeutung de Gouges‟ im Besonderen siehe Jean-Paul Lehners, „Gleich, aber doch verschieden? Ein Beitrag zur Frage der Frauenrechte am Ende des 18. Jahrhunderts am Beispiel Olympe de Gouges‟“, Zeitschrift für Menschenrechte 1 (2009), 89-106. Auch die Menschenrechtstheorien der Aufklärung sind nicht frei von Ausgrenzungsmechanismen. So schränkt Kant durch die Trennung von aktiven und passiven Staatsbürgern den öffentlichen Freiheitsgebrauch zahlreicher Personengruppen ein: „[D]er Geselle bei einem Kaufmann oder bei einem Handwerker; der Dienstbote […]; der Unmündige […]; alles Frauenzimmer, und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betriebe, sondern nach der Verfügung anderer (außer des Staats)