medizinische versorgung von flüchtlingen - IKK eV

09.11.2015 - Die anderen sehen in jeder humanitären Geste eine falsche Anreizwirkung. Wenn es um die Sicherstellung der Versorgung geht, kommt dem ...
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HIGHLIGHTS 26/15 – 9. NOVEMBER 2015

MEDIZINISCHE VERSORGUNG VON FLÜCHTLINGEN (I)

Das Onlinemagazin zur Gesundheitspolitik

MEDIZINISCHE VERSORGUNG VON FLÜCHTLINGEN (I.)

HIGHLIGHTS 26/15 – 9. NOVEMBER 2015

Versorgung der Flüchtlinge mit Augenmaß statt Wettbewerb Jürgen Hohnl, Geschäftsführer des IKK e.V.

Nennen Sie es Nächstenliebe, Verantwortung oder Solidarität! Deutschland hilft und tausende Freiwillige zeigen, was sie unter Willkommenskultur verstehen. Die persönlichen Gründe sind dabei sicherlich unterschiedlich. Die Hilfe für Flüchtlinge, die vor Krieg und Terror geflohen sind und auf ihrer Odyssee durch Europa nun bei uns ankommen, ist aber nicht nur ein Thema für die vielen Ehrenamtlichen und Freiwilligen. Sie ist angesichts der Dimension eine Forderung an uns alle. Gewaltige Kraftanstrengungen sind notwendig, um den Schutzsuchenden nicht nur ein Obdach zu geben, sondern ihnen den Weg aufzuzeigen, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren.

Politisch Verfolgte genießen Asylrecht, heißt es einfach und klar in Artikel 16a des Grundgesetzes. Einem Flüchtling Asyl zu gewähren, ist also nicht nur eine Frage der Humanität. Was Grundrechte wert sind, erweist sich immer erst in Krisenzeiten. Und ich hoffe inständig, dass sie die Bewährungsprobe bestehen.

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Erinnern wir uns: Im Dritten Reich wurden Millionen Menschen wegen ihrer Religion, ihrer Rasse, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer politischen Haltung verfolgt und getötet. Etwa einer halben Million Menschen gelang die Flucht in ein anderes Land. Das hat ihnen das Leben gerettet. Aber nicht allen ist das geglückt. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung und einem „Nie mehr“ wurde das Recht auf Asyl 1949 im Grundgesetz aufgenommen und hat bereits mehrere Einschränkungen erfahren, so auch in den 1990er Jahren. 1992 wurden 438.000 Erstanträge auf Asyl gezählt. Die Politik geriet unter Druck, das Asylrecht zu verschärfen und an den Regelungen der europäischen Nachbarländer anzupassen. Das bis dahin uneingeschränkt geltende Prinzip wurde an die Erfüllung bestimmter Bedingungen geknüpft. Die Drittstaatenregelung wurde eingeführt.

Bewährungsprobe bestehen Heute suchen wieder hunderttausende Flüchtlinge Zuflucht in Deutschland. Und wieder entflammt die Debatte zwischen pragmatischen Helfern, optimistischen Weltverbesserern und angstbesetzten oder sogar angstschürenden „Das-Boot-ist-voll“-Apologeten. Die einen kämpfen für einen diskriminierungsfreien Zugang zur Gesundheitsversorgung auf Leitlinienniveau. Die anderen sehen in jeder humanitären Geste eine falsche Anreizwirkung. Wenn es um die Sicherstellung der Versorgung geht, kommt dem öffentlichen Gesundheitsdienst und dem selbstverwalteten Gesundheitswesen eine wichtige Rolle zu. Es ist begrüßenswert, wenn die Bundesregierung nunmehr im Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz den Rahmen absteckt, damit die Krankenkassen gemeinsam mit Kommunen, Ländern und Städten dafür Sorge tragen können, dass Flüchtlinge bedarfsgerecht und ohne zusätzlichen bürokratischen Aufwand versorgt werden können. Dabei geht es zunächst einmal um den Aufbau einer integrierten, primärmedizinisch orientierten Versorgung. Nach dem bislang gültigen Gesetz dürfen Asylbewerber in den meisten Bundesländern in den ersten 15 Monaten in Deutschland nicht direkt zum Arzt gehen. Mit dem nun im Eilverfahren beschlossenen Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz besteht die Möglichkeit, die Flüchtlinge mit einer elektronischen Gesundheitskarte auszustatten – vorausgesetzt Länder oder Kommunen, die nachwievor die Kosten tragen, wollen das.

Ohne Behandlungsschein Der Zugang zur akut-medizinischen Versorgung der Asylbewerber ist damit nicht mehr von der Entscheidung einer Behörde und einem Behandlungsschein abhängig. Dass dieses

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Vorgehen sinnvoll ist, beweist das Bremer Modell, das seine Anfänge im Jahre 1993 hat. Begonnen wurde mit einer niedrigschwelligen Basisversorgung in den Gemeinschaftsunterkünften der Asylsuchenden. Bei unklaren Krankheitsbildern, bei chronischen oder anderen schwerwiegenden Erkrankungen vermitteln die Ärzte des Programms in das ambulante bzw. stationäre Versorgungssystem. Betreut wurden demnach neu ankommende Flüchtlinge und auch Asylbewerber. 2005 wurde dann mit der ansässigen AOK eine Chipkarte eingeführt. Die Behandlungskosten und der Verwaltungsaufwand werden der Kasse erstattet. Rechtliche Grundlage bildet das SGB V §264 Absatz 1. Das Gesundheitsamt sorgt mit seinen Ärzten für die Erstbetreuung. In vielen Bundesländern läuft derzeit die Diskussion um die Einführung der Gesundheitskarte für Asylbewerber. Neben Bremen hat sie Hamburg – seit 2012 dabei – und Teile von Nordrhein-Westfalen schon eingeführt. Die Karte vereinfacht das Verfahren enorm: Zum einen wird sichergestellt, dass bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen direkt ein Arzt aufgesucht werden kann. Zum anderen werden Rechnungsprüfung und Abrechnung von den Kassen in etablierten Verfahren und Strukturen übernommen. Die Kasse übernimmt zunächst die Kosten, holt sie sich später von den Kommunen zurück. Der unproblematische Zugang der Betroffenen in die medizinische Versorgung – wenn auch mit Abstrichen – spart Kosten. Wissenschaftler des Universitätsklinikum Heidelberg und der Universität Bielefeld untersuchten die Gesundheitsausgaben für Flüchtlinge. Die Studie ist im Fachblatt „plos one“ erschienen. Die Wissenschaftler werteten repräsentative Daten des Statistischen Bundesamtes der Jahre 1994 bis 2013 aus. Ergebnis: Ohne bürokratische Hürden und selbst ohne Leistungsbeschränkungen sind die Gesundheitsausgaben niedriger. Hätten alle Asylsuchenden den gleichen Zugang zum Gesundheitssystem gehabt, hätten die Gesamtausgaben für medizinische Versorgung der vergangenen 20 Jahre um zirka 22 Prozent gesenkt werden können. Das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz setzt also die richtigen Eckpfeiler. Jetzt muss es darum gehen, dass die Regelungen möglichst einheitlich umgesetzt werden. Ein regionaler Flickenteppich würde die erhofften und möglichen Erfolge dieser unbürokratischen Regelung wieder zunichte machen. die Innungskrankenkassen fordern dafür bundeseinheitliche Regelungen und ein konsentiertes Vorgehen. Wettbewerb in diesem Bereich soll und darf es nicht geben. Dank gilt an dieser Stelle den tausenden Ehrenamtlichen, die für die Betreuung – auch die medizinische und pflegerische – der Flüchtlinge ihre Kraft und Zeit zur Verfügung stellen. Auch die Gesundheit dieser Menschen müssen wir im Blick haben. Hier ist Aufklärung über Impfmöglichkeiten wichtig und auch für eine supervisorische Betreuung der Helfer muss gesorgt werden.

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Unser Neuland – so hat Yahia Seif, geflohen aus Syrien, das Leben in Deutschland in der „Zeit“ genannt. Die Flüchtlinge finden eine Realität vor, in der alles gesetzlich geregelt ist, angefangen bei den alltäglichsten Dingen bis hin zum geistigen Eigentum, schreibt er. „Vor dem Gesetz sind alle gleich, und wer sich nicht an Regeln hält, kann juristisch verfolgt werden. Für die Flüchtlinge ist das Neuland. Ihnen muss verständlich gemacht werden, dass das Recht hier keine Makulatur ist.“ Sprachliche und kulturelle Barrieren gilt es zu überwinden. Informationsbroschüren in den jeweiligen Muttersprachen wären ein Anfang. Das ist auch ein Thema für die gesetzliche Krankenversicherung.

Grenzen des Machbaren Bei der Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge müssen wir sicherlich auch Abstriche machen. Abstriche, die wir im normalen Versorgungsalltag auch akzeptieren müssen, auch wenn wir sie beklagen. Wir dürfen bei allen Bestrebungen nach dem Möglichen das Machbare nicht aus den Augen verlieren. Wir behandeln bei weitem nicht alle Krankheiten leitliniengerecht. Diese Forderung jetzt hier zu stellen, ist unrealistisch. Aussagen, wonach mindestens jeder zweite Flüchtling psychisch krank sei, sind problematisch. Hier gilt es auch Grenzen des Machbaren zu akzeptieren. Es ist richtig und wichtig, dass auch schon in frühen Stadien Traumata und psychische Erkrankungen behandelt werden können, und zwar nicht nur medikamentös. Hier zeigt das Gesetz erweiterte Handlungsmöglichkeiten auf und erkennt die wichtige Arbeit der Trauma-Zentren an. Positiv ist auch der Ansatz, die medizinisch und pflegerisch ausgebildeten Flüchtlinge in die Versorgung mit einzubeziehen. Das löst nicht nur sprachliche und kulturelle Probleme, sondern ist auch ein Zeichen für eine Versorgung mit Augenmaß. Sicherheit muss die oberste Priorität sein. Lassen Sie uns alles tun, damit auch die medizinische Versorgung so schnell wie möglich beginnt. Hier sind alle Akteure gefordert, gemeinsam einen Weg zu gehen. Die bedarfsgerechte Versorgung der Flüchtlinge darf kein Marktplatz der Eitelkeiten werden und nicht im Wettstreit der Interessen zerrieben werden. Der Wettbewerb der Akteure im Gesundheitswesen wie die Interessengegensätze der Selbstverwaltungspartner müssen hier hinten anstehen, damit die humanitäre Aufgabe gelöst werden kann und alle diejenigen Lügen gestraft werden, die den Untergang des Abendlandes und den Zusammenbruch der Sozialsysteme prophezeien!

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