Leseprobe Nackt


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Diablo Cody – Nackt - Leseprobe Um sich auszuziehen, kommt niemand nach Minnesota – zumindest nicht soweit ich weiß. Für seine Nachtclubs ist dieser Staat nämlich nicht gerade bekannt. Im trostlosen hohen Norden ist Väterchen Frost ein freigiebiger Sadist mit Eiskristallen im Kinnbärtchen. Der Winter ist der Stoff, aus dem hier die Legenden sind: totgeboren, im Schnee erstickt, leblos wie die Eisschollen auf den mehr als zehntausend Seen. Die alten Mühlenstädte Minnesotas werden bevölkert von Generationen skandinavischer und deutscher Lutheraner, robusten Menschenkindern, aus hellem Holz geschnitzt, mit gesundem Menschenverstand und gottesfürchtig. Die vorherrschende menschliche Erscheinungsform besitzt den spröden Humor der Endzeitgläubigen und trägt Thermalunterwäsche, in deren Falten noch Stecknadeln lauern. Sogar die Nahrung wird sorgfältig eingepackt: Aller Welt bevorzugtes Abendmahl ist eine klebrige Pampe, reich an Kohlenhydraten, schlicht als »Hotdish« in einer gläsernen Backform serviert. Minnesota gleicht einem Kirchensouterrain mit löcheriger Rauputzdecke oder einem Bingoansager, der sich scheut, mehr als ein Raunen laut werden zu lassen. Ein Mädchen, das nach Minnesota käme, um sich Abend für Abend zu entblößen und um schneefeuchte Zehner und Zwanziger und sogar Hunderter zu buhlen, na ja … so ein Mädchen nennt der gute Bürger Minnesotas euphemistisch »anders«.Die Stripperinnen hier wissen das. Vegas, sagen sie. Nach Vegas oder L. A. müsste man gehen. Da ließe sich bestimmt ordentlich scheffeln. Aber man ahnt, dass sie für immer im Norden bleiben werden, sich in Bräunungssärgen braten lassen, um die Illusion zu wecken, an der Sonne gewesen zu sein, während ihr Haar von einem glitzernden Raureifschimmer überzogen bleibt. Im Januar 2003, als ich vierundzwanzig war und sturzbesoffen vom Großstadtleben, zog ich aus meiner Heimatstadt Chicago nach Minneapolis. Als eine der vielen verlorenen Seelen, die um die Jahrtausendwende im WeltWeitenWeb ihre Zeit totschlugen, hatte ich meinen Freund Jonny beim Surfen kennengelernt (und zwar auf einer Website, die dem psychedelischen Output der Beach Boys und Brian Wilsons späteren Ausflügen in Extremtherapie und Pyjamadrama gewidmet war). Unser Liebeswerben begann, als Jonny mich aus heiterem Himmel mit einer prickelnden E-Mail beglückte. Es stellte sich heraus, dass er im Besitz eines wahrhaft

auserlesenen Beach-Boys-Bootlegs war, eines seltenen Instrumentalschnipsels aus »I’m In Great Shape« von Ende ’66. Nur ein elitäres Kränzchen verschwiegener Dickwänste hatte je Zugang zu dieser Aufnahme, aber Jonny bot sie mir kavaliersmäßig dar wie ein akustisches Gardenienbouquet. Wie hätte eine Jungfrau, die ihr Vinyl wert war, widerstehen können? Ich reagierte auf die raffiniert treudoofe Liebeserklärung mit (verschlüsseltem, Virus-geschütztem) Schmachten, und die Romanze begann. Umgehend trat ich meinen damaligen Freund in die Tonne; er war eigentlich kein übler Typ, aber mich hatte ein unheilbares Jonny-Fieber erwischt. Schon bald schickten wir einander bekenntnisreiche Mix-Tapes in gepolsterten Umschlägen (nichts drückt wahre Liebe besser aus als eine rauchfarbene SonyKassette mit handgeschriebenen Liner Notes). Auf Anfrage schickte mir Jonny Fotos von sich, und auf allen war seine entfremdete Ehefrau dank Photoshop säuberlich ausgeschnitten worden. Ich schraubte meine Telefonrechnungen in astronomische Höhen, und als schließlich ein persönliches Treffen zwingend geboten schien, beschlossen wir, unabhängig voneinander nach Los Angeles zu fliegen und uns wie echte Rocksnobs im unvergleichlichen Whisky A Go-Go zu treffen. Vor lauter Panik bekam ich kurz vor unserem vereinbarten Rendezvous Ausschlag. Gott sei Dank achtete Jonny nicht auf mein aufgeblühtes, juckendes Gesicht, sondern starrte direkt auf meine Titten. Wir verbrachten den Rest des Tages damit, durch Hollywood zu streifen, Corona Extras zu zischen und unsere Händchen zu halten, die feucht vor Lampenfieber aneinanderklebten wie in Kunstharz gegossen. Für ein erstes Date lief es rekordverdächtig glatt und gipfelte in hemmungsloser Nacktheit in einem Hotelzimmer in Marina del Rey. Meine Mutter, berechtigterweise außer sich bei dem Gedanken, dass ich quer durchs Land geflogen war, um einen unbekannten Mann zu treffen, hatte mir zuvor prophezeit, dass ich im Leichensack aus der Fremde heimkehren würde. Aber stattdessen sackte ich einen Typen ein und einen wirklich scharfen noch dazu. Kurz nach meiner Rückkehr aus Kalifornien entschloss ich mich, ein für alle Mal aus Chicago zu verschwinden. Unbestreitbar war Jonny klasse Männermaterial, einfach erste Sahne, spitzenmäßig und unschlagbar. Mein Herz und meine Pflaume verlangten in einem gemeinsamen Dekret, dass ich mich umgehend in Jonnys Heimatstaat Minnesota niederließ, und daher lenkte ich schon bald einen Mietlaster durch mehrere Bundesstaaten und hielt nur ein einziges Mal, um mir an der I-94

einen fetttriefenden halben Hahn zu gönnen, den ich während der Fahrt vom Armaturenbrett futterte. Ich hatte in Chicago nicht viel aufgeben müssen, nur einen popeligen Job in einer Konkursanwaltskanzlei, in der eine unterjochte Frau namens Louanne mich zwang, die Ablage zu machen. Meine Eltern waren einigermaßen konsterniert, aber ich wollte in die Gänge kommen. Die Liebe ist so unergründlich wie unerbittlich – wie der gute alte Steve Perry, als er noch bei Journey sang. Kaum hatte ich den Großraum von Minneapolis erreicht, zog ich auch schon in Jonnys spießigen Apartmentkomplex, der in seinem Kolonialstil wie eine einfallslose Variation gemauerter Mietklo-Architektur oder der Sitz der Gemeindeverwaltung wirkte. Von außen sah das Gebäude aus wie eine SozialerWohungsbau-Version des Weißen Hauses. In unserem Bereich hatten wir weiße Wände, weiße Einrichtung, weißes Rauschen und Teppiche im Farbton des Korallensands auf Kauai. In Chicago hatte ich in einer Wohnung ohne Fahrstuhl, aber dafür mit einem Treppenhaus voller Gerümpel, direkt neben einer Pinte und einem Jugendzentrum für mordlüsterne Halbstarke gewohnt. Im Vergleich dazu war es in meinem neuen Zuhause mucksmäuschenstill. Es kam mir vor, als sei mein früheres Leben mit all seinen kleinen Sünden und den Ausflügen in moralisch verwerfliche Gefilde gelöscht. In Minnesota konnte ich das anonymste Mädchen der Welt sein. Wenn ich wollte, konnte ich mich neu erfinden als eine Lacrosse-Meisterin aus Topeka. Ich konnte mit angeblichen Mafiakontakten protzen und beim Stadtbummel ein Malteserhündchen unterm Arm tragen. Ich konnte mich Lynn nennen, mir Bulimie zulegen und im Einkaufszentrum Müsliriegel in die sprechenden Müllcontainer kotzen. Die reine Zauberei! Ich hatte mich ausradiert, genau wie die geile Brillenschlange Lisa Loeb in ihrem Musikvideo. Nachdem ich zwei Tage damit verbracht hatte, wie ein Zombie durch die Stadt zu laufen, schaffte ich es irgendwie, einen Job als Schreibkraft an Land zu ziehen, in einer Kubrick’schen Werbeagentur mit Wänden aus gebürstetem Stahl und Fernsehmonitoren en masse. Während ich stapelweise Papier mit den Texten für dämliche Radiospots füllte (leere Blätter waren verboten), sah ich aus meinem Fenster im 26. Stockwerk zu, wie der Schnee aus der dunklen Wolkendecke stürmte. Die Flocken tobten so unbändig, dass man nicht erkennen konnte, ob es sie rauf oder runter trieb. In jenem Winter taufte ich Minneapolis »White City«, weil die Welt um mich herum aussah wie ein leeres Antwortfeld auf einem Fragebogen. Noch

wusste ich nicht, dass es mir bestimmt war, einen starken und düsteren Eindruck zu hinterlassen, und dass der leibhaftige Teufel mir die Prüfung abnehmen würde. Ich hatte an der Werbeagentur eigentlich nichts auszusetzen. Zu den Vergünstigungen meines Jobs gehörten: 1. Eine große Auswahl normaler und entkoffeinierter Teesorten, darunter Apfeltee und Orange Pekoe 2. Werbetexter auf ihren albernen Razor-Tretrollern, die immer wieder aufs Neue meine Verachtung schürten 3. Affenartig schneller Internetzugang 4. Exzellentes Porn Shui. Mein Internetlover Jonny setzte größte Hoffung auf meinen Erfolg in Minneapolis. Umso mehr grämte ich mich, als ich mir nach nur einer Woche in der White City eine mutierte asiatische Todesgrippe einfing. Das Virus griff meine Beine an, und ich musste in unserer spärlich möblierten Mietwohnung von Zimmer zu Zimmer robben. Als ich schließlich an meinen neuen Arbeitsplatz zurückkehrte, war ich das Hinken immer noch nicht los, und wenn ich zwischen meinem Schreibtisch und dem Kopierer hin und her humpelte, glotzten die anderen mir fragend hinterher: Wer hat denn den Krüppel eingestellt? Ansonsten verliefen die ersten Wochen in meinem neuen Heim so vielversprechend und zufriedenstellend, wie ich gehofft hatte. Ich brachte uns so abgeschmackte Sachen auf den Tisch wie Fondue und schuhsohlenzähen Schmorbraten, während Jonny (schon seit ewigen Zeiten Stütze der einheimischen Rockszene) auf seiner roten Epiphone-Gitarre gniedelte. Jonnys dreijährige Tochter, eine frühreife Larve mit Kinderstar-Grübchen, übernachtete regelmäßig bei uns und schien meine plötzliche Aufnahme in ihren ausgefransten Familienverband unbeeindruckt hinzunehmen. Wenn ich allein zu Hause war, versuchte ich, endlich meinen Schauerroman zu Ende zu bringen, an dem ich schon seit College-Zeiten schrieb. Von Jonnys musikalischem Talent inspiriert machte ich mich daran, Bassgitarre zu lernen, aber als ich schließlich bei einem lokalen Elektropop-Quintett vorspielte, sahen die mich an, als hätte ich ihnen gerade einen Motown-Klassiker von Diana Ross vorgefurzt. Die Abfuhr tat weh, und mein Bass hatte schon bald eine dicke Staubpatina angesammelt, was mir noch mehr weh tat. Schließlich hatte ich mich schon darauf gefreut, mindestens so wild wie Kim Gordon bei Sonic Youth oder Kim Deal bei den

Pixies oder wie sonst eine der diversen Bassistinnen mit langen bügelglatten Haaren namens Kim, die in Teenagertagen meine Heldinnen gewesen waren, über die Bühne zu hyperventilieren. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ich schon im folgenden Jahr unzählige Male einem Publikum »Fingerübungen« vorführen würde, wenngleich unter anderen Unterständen, als ich sie mir vorgestellt hatte. (So manches Mal habe ich mich zu Songs von den Pixies »entblättert«, und da schließt sich wohl der Kreis. Danke, Frank Black, für die Möglichkeit, mit Hilfe eurer Buñuel-Ode indirekt auf Un Chien Andalou hinweisen zu können, auch wenn das in einer Umgebung geschah, wie man sie sich weniger intellektuell nicht vorstellen kann.)Wenn ich so zurückblicke, war mein Leben ganz nett. Eine Zwei-plus-Existenz würde ich es nennen, eine Acht auf der Skala von eins bis zehn (zwei Zehntel Abzug wegen Scheißwetter und asiatischer Todesgrippe). Trotzdem kam ich nicht zur Ruhe, sondern war rastlos auf der Suche nach einem Kick wie ein junges Gör, das heimlich einen Schluck von Mamas Kochsherry stiehlt. Ich näherte mich der trüben Hälfte meiner Zwanziger, fühlte mich aber immer noch wie ein Teenager mit Quecksilber im Hintern und Feuerameisen in meinen Calvins. Der große Umzug nach Minneapolis hatte so was wie obsessive Unternehmungslust hervorgerufen, und ich hatte das Gefühl, als würde mir endlich und einmal noch die Gelegenheit geboten, hemmungslos über die Stränge zu schlagen, ohne die Konsequenzen fürchten zu müssen, die einem Erwachsenen blühen. Ich sage »endlich«, weil ich immer ein braves Mädchen gewesen bin. Beweise: Ich bin nie auf einem Motorrad gefahren, nicht mal auf einem japanischen. Mich hat nie einer angebufft, und abgesaugt werden musste auch noch nichts. Ich habe alle erdenklichen Sakramente außer dem der Ehe und der letzten Ölung empfangen. Ich habe das College, ganz wie es sich gehört, in acht Semestern abgeschlossen (mit einem Nervenzusammenbruch pro Semester). Ich habe noch nie jemandem ein Glas Bier ins Gesicht geschüttet. Ich habe noch nicht einmal lange Finger gemacht, um einen lächerlichen Lippenstift zu klemmen. Ich war die reinste Schlaftablette, Mann! Ich spürte, wie das Feuer zwischen meinen Beinen verglühte. Meine erste Midlifecrisis lag mir auf dem Magen wie ein kosmischer Double Cheeseburger. Ich schätze, auch deswegen landete ich halbnackt in der Skyway Lounge.