Leseprobe Marsch auf Rom


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Marsch auf Rom und Umgebung

Transfer LXXVI

Die Drucklegung erfolgte mit finanzieller Unterstützung durch das Ressort Familie, Denkmalpflege und deutsche Kultur in der Südtiroler Landesregierung über das Südtiroler Bildungszentrum.

Titel der italienischen Originalausgabe: Marcia su Roma e dintorni, Erstveröffentlichung Paris 1933 © des Originaltextes bei Giovanni Lussu, Rom © der deutschen Übersetzung bei Europa Verlag, Hamburg/Wien © Nachwort Claus Gatterer bei Anna und Hildegard Gatterer. Der Verlag hat das für die deutsche Erstausgabe des Romans geschriebene Nachwort von Claus Gatterer aus dem Jahre 1971 ungekürzt abgedruckt. Die Hoffnungen und Diskussionen dieser Zeit können Aspekte des Heutigen nur unterstreichen.

Die Handzeichnungen auf Umschlag und Haupttitelseite stammen von Paul Thuile.

Der Verlag dankt Giovanni Lussu und dem Archivio Emilio Lussu am Istituto sardo per la storia della resistenza e dell’autonomia, I.S.S.R.A. (Cagliari).

© FOLIO Verlag Wien • Bozen 2007 Alle Rechte vorbehalten Graphische Gestaltung: Dall’O & Freunde Druckvorbereitung: Graphic Line, Bozen Druck: Dipdruck, Bruneck ISBN 978-3-85256-365-7 ital. ISBN 978-88-86857-85-7 www.folioverlag.com

[ V ORWORT ZUR E RSTAUSGABE ]

M

it diesem Buch wollte ich die politischen Ereignisse meines Landes so festhalten, wie ich sie in den letzten Jahren erlebt habe. Das Buch ist keine Geschichte des Faschismus: Ich erzähle nur einige Episoden, die mein Leben betreffen. Das Leben eines Italieners, der kurz vor der Generalmobilmachung sein Universitätsstudium abschloß, am Ersten Weltkrieg und an den politischen Kämpfen der Nachkriegszeit teilnahm und schließlich – ich bitte den antiparlamentarisch eingestellten Leser, nicht zu erschrecken – Abgeordneter zum Parlament war. Ich gehöre derselben Generation an wie die Faschisten der ersten Stunde: viele ihrer Anführer waren in der Kindheit, in der Schulzeit oder im Krieg meine Freunde. Im Hinblick auf die zu erwartenden heftigen Reaktionen der italienischen Leser war ich darauf bedacht, nicht eine einzige Episode einzufügen, die ich nicht belegen konnte. Die Substanz der hier erinnerten Ereignisse kann nicht bestritten werden, auch wenn die Beurteilung der Folgen manchmal unterschiedlich ausfallen mag. Wer einen Schwerthieb austeilt, wird anders fühlen, als der, den er trifft. Trotzdem bleibt der Schwerthieb stets ein Schwerthieb. Der Faschismus, den ich beschreibe, ist der Faschismus, den ich entstehen, sich entwickeln und sich behaupten sah. Viele Gesichtspunkte sind mir sicherlich entgangen, anderen habe ich vielleicht zu großes Gewicht beigemessen. Doch das ist für jeden, der Partei ergreift, unvermeidlich. Nur die Zeit wird eine objektivere Kritik ermöglichen, vielleicht; heute jedoch sind wir nicht allein von Ideen besessen, sondern vor allem von Leidenschaften. Wir können Zeugnis ablegen und unsere Eindrücke weitergeben: zu urteilen haben andere. [ 5 ]

Der ausländische Leser, der den Erlebnissen eines demokratischen Oppositionellen folgt, kann sich in groben Zügen ein Bild des Faschismus, des Antifaschismus, ja, der italienischen Verhältnisse machen. Doch man soll nicht verallgemeinern. Weder kann ein Volk nach den Konflikten einer Stunde beurteilt werden, noch genügt ein Jahrzehnt, um die Kultur einer Nation zu begreifen. Emilio Lussu 1932

Alle bewaffneten Propheten haben gesiegt, alle unbewaffneten sind zugrunde gegangen. Machiavelli, Il Principe

Stell dir vor, vier verprügeln mich, zweihundert daneben empören sich, doch bleiben tatenlos stehen. Sag, wie solls mir da gehen, wenn vier mich verhauen und zweihundert dumm schauen? Giuseppe Giusti

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A

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ls in Paris die Friedenskonferenz zusammentrat, lag unser Bataillon an der Waffenstillstandslinie an der jugoslawischen Grenze. Das Heer war demokratisch. Hatte man dem Volk und den Soldaten nicht fünf Jahre lang in allen möglichen Proklamationen eingehämmert, wir schlügen uns für Freiheit und Gerechtigkeit? Wilson und seine Ideen waren bei den Fronttruppen überaus populär. Als dann aber die europäischen Diplomaten die 14 Punkte des Amerikaners, einen nach dem andern, zynisch demolierten, fühlten sich die Soldaten aufs neue verraten: Zorn und Enttäuschung machten sich breit. Im Schützengraben hatte man nie besondere Sympathie für die Diplomatie empfunden; sie war ungefähr gleich unbeliebt wie der Generalstab. Italien wurde in Paris durch Ministerpräsident Orlando und Außenminister Sonnino vertreten. Eines Tages wurden die beiden energisch und verlangten, daß Dalmatien – wie von den Diplomaten im Londoner Geheimpakt ausgehandelt – zu Italien komme. Unter den Offizieren unserer Brigade wurde dieses Problem leidenschaftlich diskutiert. Sogar der General, der unsere Brigade befehligte, ließ uns seine Meinung wissen. Er hatte eine gewisse Schwäche für die Außenpolitik; zudem war er mit dem sozialistischen Minister Bissolati befreundet und folglich Demokrat, soweit in Italien ein General überhaupt Demokrat sein konnte. In einem großen Offiziersrapport offenbarte er uns seine Gedanken: »Es ist eine unbestrittene Tatsache, daß wir den Krieg gewonnen haben, aber diese Herren« – er meinte Orlando und Sonnino – »sind noch imstande, uns einzureden, wir hätten ihn verloren.« Im Lande gärte es. [ 9 ]

Mussolini spielte den imperialen Eroberer und schrieb leidenschaftliche Artikel für seine Zeitung. Trotzdem konnten ihn die Soldaten nicht leiden. Ende 1918 hatten die ersten Heimkehrer in Rom, auf dem Kapitol, ein Treffen abgehalten: Mussolini wollte eine Rede halten, aber die Frontkämpfer ließen ihn nicht zu Wort kommen. Man munkelte, daß das Geld für seine Zeitung, den Popolo d’Italia, aus trüben Quellen stammte, und man hielt ihm vor, daß er fanatisch für den Krieg, aber äußerst zurückhaltend im Krieg gekämpft habe. Gewiß, er war an der Front verwundet worden, aber in den Augen der Heimkehrer war dies kein Milderungsgrund. Wäre seine Kriegsbegeisterung echt gewesen, hätte er nach der Genesung an die Front zurückkehren müssen; ein Interventionist wie Mussolini durfte sich nicht wegen ein paar Schrammen vom Schützengrabendienst dispensieren. Alle Frontsoldaten teilten die Verachtung für jene Politiker, die den Krieg zwar gepredigt hatten, doch der Front ferngeblieben waren. Die Demobilisierung erfolgte in Etappen. Millionen Frontkämpfer kehrten ins zivile Leben zurück, kriegsmüde und hungrig nach Frieden. Sie waren überzeugte Pazifisten, aber sie luden ihre Leidenschaft für den Frieden, wie es häufig geschieht, mit der Sprengkraft eines wahrhaft kriegerischen Geistes auf. Die menschliche Seele ist voller Widersprüche. In den Jahren vorher war mit denjenigen, die – sei es aus romantischer, sei es aus militaristischer Begeisterung – den Eintritt Italiens in den Krieg verlangt hatten, das gerade Gegenteil passiert: Manche dieser Interventionisten hatten sehr sanftmütig am Krieg teilgenommen, andere waren nur pro forma eingerückt, und wieder andere hatten es sich so einzurichten gewußt, daß das sichere, zivile Hinterland auf sie nicht verzichten konnte. Tausende Heimkehrer fanden nach der Demobilisierung keine Arbeit. Aber das Leben wurde von einem Tag zum andern teurer. Enttäuschung und dumpfer Groll waren die Folge. So war das also! Die Frontkämpfer sollten vor Hunger krepieren, während die Kriegsgewinnler mit den Millionen protzten! Wenn der Friede so aussah, dann lieber Krieg. Gewiß, im Krieg war ein Leben nicht viel wert. Aber was war ein Leben schon wert? [ 10 ]

Die Gärung im Volk wuchs. Die Regierung hatte den Soldaten, um sie für den Krieg zu begeistern, eine Agrarreform versprochen. Ministerpräsident Salandra hatte 1915 damit begonnen: Grund und Boden für alle. Die folgenden Regierungen hatten diese Versprechungen wiederholt, und wir Offiziere hatten in den Schützengräben den Soldaten die Rundschreiben der Ministerien und des Oberkommandos erklärt: »Das Land den Bauern!« Die Bauern hatten den Krieg gewonnen. Nun forderten sie von der Regierung und von den Großagrariern die Einlösung der Versprechen: Grund und Boden. Aber die Regierung hatte momentan andere Sorgen, und die Großgrundbesitzer erkannten, wenngleich mit vierjähriger Verspätung, daß sie mit allem Nachdruck gegen die Großzügigkeit der Regierung protestieren mußten. Hatten die Herren Minister nicht fremdes Hab und Gut verschenkt? Die Großgrundbesitzer waren der Meinung, man dürfe Landarbeitern und Pächtern erst dann Grund und Boden geben, wenn das Vaterland vom Untergang bedroht sei, anders gesagt: wenn man Gefahr laufe, einen Krieg zu verlieren, aber nicht, wenn man einen Krieg gewonnen hatte. Und sie verwiesen auf Rußland. Soldaten, die einen Krieg gewonnen haben, erklärten sie, holen sich das Land, das sie brauchen, in den besiegten Ländern, sie vergreifen sich nicht an fremdem Besitz im eigenen Vaterland. Und da Großgrundbesitzer stets höchst praktisch denkende Leute sind, empfahlen sie der Regierung Beutezüge nach Kleinasien, Georgien, Dalmatien oder Unruhestiftung in Tunesien. Es geschah, was geschehen mußte. In vielen Gebieten Italiens taten sich die landlosen Heimkehrer mit den armen Bauern zusammen und besetzten die brachliegenden Latifundien. Mussolini stand, damals, auf der Seite der Bauern. Verglichen mit den Städten war das unruhige Land eine wahre Insel des Friedens. Die Lebenshaltungskosten stiegen, aber die Löhne blieben gleich. In manchen Industriezweigen wurden sie sogar gesenkt. Die Kriegsgewinnler praßten und schwelgten in ihrem Reichtum: Die allgemeine Not kümmerte sie nicht. Die Großhändler, für die der Krieg zu rasch geendet hatte, hatten sich an große Gewinne [ 11 ]

gewöhnt. In vielen Städten herrschte Hunger. Läden wurden gestürmt, Lager geplündert. Es kam zu Zusammenstößen. Mussolini schrieb: »Nieder mit den Blutsaugern, die das Volk aushungern! Revolte ist das oberste Gebot, um die Gier dieser Blutsauger zu treffen. Erhebt euch!« Die organisierten Arbeitermassen verbanden ihre gewerkschaftlichen Forderungen mit politisch-ideologischen Zielen. Die Arbeiter sahen Rußland als Vorbild, das ihnen die Revolution auch in Italien notwendig und möglich erscheinen ließ. Sooft die Arbeiter Lohnerhöhungen oder bessere Arbeitsbedingungen verlangten, mußte gestreikt werden. Ein Teilstreik löste den andern ab; die meisten betrachteten diese Streikaktionen als unerläßliches Training für den großen politischen Generalstreik, der früher oder später fällig werden würde. Die Sozialistische Partei, in der sich der Großteil der Arbeiterbewegung gesammelt hatte, war in etliche Richtungen gespalten: Ein Flügel predigte die sofortige gewaltsame Revolution, ein anderer erwartete das Heil von graduellen Reformen im Rahmen der Legalität, und ein dritter Flügel wußte überhaupt nicht, was er wollte. Dieser aber war der stärkste, lauteste und unruhigste. Die Parteiführung bemühte sich, die gegensätzlichen Strömungen miteinander zu versöhnen, doch sie vergrößerte nur das allgemeine Durcheinander. Die Arbeiter der großen Industriebetriebe waren besonders heftige Gegner des Krieges; sie hatten nicht einzurücken brauchen, und sie setzten ihren Kampf gegen den Krieg fort, als wäre er nicht beendet, als stünde sein Ausbruch vielmehr noch bevor. In der Praxis schlug diese Ablehnung des Krieges um in Verachtung gegen alle, die eingerückt waren: Die Arbeiter schienen zu meinen, die Frontsoldaten hätten vier Jahre lang auf Kosten der Arbeiterschaft vergnügte Feste gefeiert. Diese Haltung trug später wesentlich dazu bei, daß sich die Arbeiterbewegung die Sympathien der Heimkehrer und des Heeres verscherzte. Ich nahm wiederholt an Kundgebungen gegen den Krieg teil. Sie waren zwar ziemlich chaotisch, aber gleichwohl eindrucksvoll. Kein anderes Land hat so viel nachträgliche Empörung über den Krieg bekundet wie Italien. Hätten die italienischen Arbeitermassen nur [ 12 ]

ein Zehntel der Antikriegsdemonstrationen, die sie nach dem Waffenstillstand veranstalteten, im Frühjahr 1915 auf die Beine gebracht, es wäre garantiert nie zum Krieg gekommen. Die abgerüsteten Reserveoffiziere und die heimgekehrten arditi waren ein Fall für sich: Sie bildeten eine große Masse von Unzufriedenen. Die arditi waren eine Spezialtruppe, die in den letzten Kriegsjahren ausschließlich als Sturmabteilungen für Sonderaktionen eingesetzt worden waren. Sie brauchten keinen Schützengrabendienst zu machen. Sie führten in der Etappe ein sorgloses, sportliches Leben. Aber wenn dann die hohen Stäbe einmal meinten, an diesem oder jenem Frontabschnitt könne nur eine besonders wagemutige Aktion helfen, holte man die arditi nach vorne und warf sie ins Feuer. Nun, in die zivile Normalität zurückgekehrt, fanden sie sich nicht mehr zurecht. Arbeit und Frieden behagten ihnen nicht. Das war nicht ihr gewohntes Klima. Im Krieg hatte man sie geschätzt, gerühmt und bewundert, jetzt, im Frieden, verachtete man sie. Im Krieg hatten sie, die arditi, die Infanterie verhöhnt: Infanterie war für sie gleichbedeutend mit Schützengrabenfron, Trägheit, Disziplin; im Frieden verhöhnten sie die Demokratie; Demokratie hieß für sie: parlamentarische Mehrheitsregierung, Bürokratie, Legalität. Hätte man ihnen Grund und Boden angeboten, sie hätten nicht gewußt, was damit anfangen. Sie waren Nomaden geworden, untauglich für das seßhafte Leben, und in ihrer Unrast suchten sie immer nur die Aktion. Viele Reserveoffiziere hatten sich die Rangabzeichen in wenig anspruchsvollen Schnellsiederkursen oder durch Verdienste vor dem Feind erworben. Vor dem Krieg waren sie Studenten, kleine Angestellte oder Handwerker gewesen; als Leutnants und Hauptleute hatten sie Züge, Kompanien, Bataillone kommandiert. Wer im Krieg eine Kompanie geführt hat, kann nicht ohne weiteres an die Universität zurückkehren und wieder zu büffeln beginnen. Wer an der Spitze eines Bataillons gestanden hat, fühlt sich gedemütigt, wenn er wieder – für 500 Lire im Monat – als Archivbeamter oder Schreiberling dienen soll. Diesen Leuten wurde das zivile Leben unerträglich. Viele von ihnen hatten sich an das Leben in einer Etage gewöhnt, die hoch über jener ihrer Familie oder ihrer einstigen Anstellung lag. Der [ 13 ]

italienische Offizier hat im übrigen viel vom Dünkel des deutschen übernommen. Konnten und durften sie, die den Krieg gewonnen hatten, nun als Bankrotteure in die Normalität des zivilen Alltags eintauchen? Hatten sie nicht Tag für Tag ihr Leben riskiert? Sollten sie sich nun bescheiden in den Arbeitstrott fügen – unter Vorgesetzten, die als Drückeberger Karriere gemacht hatten? Das kam für sie nicht in Frage. Wenn der Frieden so aussah, dann lieber Krieg. Die zahllosen arditi und Reserveoffiziere, die sich nicht in den Friedensalltag fügen konnten, verschärften die politische Krise. Sie bildeten rastlose Haufen, die zunächst zwischen der extremen Linken und dem Nationalismus pendelten, die sich dann Gabriele D’Annunzio im Fiume-Abenteuer anschlossen und die schließlich, nach dem Bankrott D’Annunzios, bei Mussolini landeten. In Fiume war gleich nach Kriegsende, noch 1918, ein Plebiszit arrangiert worden: die Stadt wollte italienisch sein. Die Friedenskonferenz war anderer Ansicht. Gabriele D’Annunzio, Dichter und Held, erhob sich mit der Leier und dem Schwert gegen die Pariser Beschlüsse. D’Annunzio hatte stets einen gewaltigen Einfluß auf die Hitzköpfe der nationalen Jugend ausgeübt. Ein Herr von erlesenem Geschmack und Lebensstil, pflegte der Dichter alles, was er tat, in ästhetische Formen zu kleiden. Vor dem Krieg steckte er bis über den Kopf in Schulden: Es gab im Himmel und auf Erden keinen Heiligen, den er um Rettung hätte anflehen können. Ein anderer hätte sich in dieser Lage – zumindest aus Ehrgefühl – eine Kugel in den Kopf gejagt. Aber D’Annunzio wußte seine Nerven zu zügeln. Er entsagte dem undankbaren Vaterland, flüchtete nach Frankreich und führte dort, in Arcachon, ein fürstliches Leben. Erst im Mai 1915 tauchte er – umgeben von einem fürstlichen Hofstaat wieder in Italien auf und rief die Jugend zum Krieg auf. Die Meute der Gläubiger stürzte sich auf den Dichter. Die Herren konnten von Glück reden, daß sie nicht als Feinde des Vaterlandes und Söldlinge des Feindes gelyncht wurden. D’Annunzio ließ sich vom Krieg verschlingen – mit Haut und Haaren; ab und zu rief er sich der Nation mit heroischen Gesten in Erinnerung. [ 14 ]

Wohin hätte der Dichter-Held sich wenden sollen, als der Krieg beendet war? Auch er sah sich mit dem Problem der Demobilisierung und der Rückkehr ins zivile Leben konfrontiert. Doch war sein Fall ernster, denn er hatte sich an gewisse Ansprüche gewöhnt und konnte ohne prunkvollen Hofstaat nicht leben. Das Nachkriegsfrankreich war nicht sehr einladend; Arcachon schied als mögliche Zuflucht aus. Andererseits lauerten in den italienischen Städten die alten Gläubiger auf ihn, die in ihrem grenzenlosen Zynismus nicht bereit schienen, die Schulden wegen Verjährung oder patriotischer Verdienste zu tilgen. In dieser peinlich-kritischen Lage erfuhr D’Annunzio, daß die Friedenskonferenz in Paris den Italienern Fiume vorenthalten hatte. In heiligem Zorn bäumte er sich dagegen auf. Schuldner, Dichter und Krieger verschmolzen in eins: zum Retter des Vaterlandes. Am 12. September 1919 zog er an der Spitze einer Abteilung arditi und zweier Infanteriebataillone des Heeres in Fiume ein und besetzte es. Während des ganzen Unternehmens fiel kein einziger Schuß. In Paris machte der Handstreich wenig Eindruck: Die Herren der Friedenskonferenz waren an derartige Operationen gewöhnt. Aber die öffentliche Meinung Italiens war tief beeindruckt. Ministerpräsident Nitti, der im Juni 1919 Orlando abgelöst hatte, wurde von D’Annunzios Abenteuer vollkommen überrascht. Das Volk war dadurch zwar von den innenpolitischen Schwierigkeiten abgelenkt, aber der Regierungschef befürchtete gefährliche außenpolitische Komplikationen. Der Dichter hatte nämlich – wohlgemerkt, im Namen des italienischen Volkes! – die Annexion Fiumes an Italien proklamiert. Die Regierung – unfähig mehr zu tun – verhängte eine Blockade über die Stadt. D’Annunzio herrschte in Fiume als moderner Kondottiere; er sprach viermal täglich zu seinem Volk, organisierte Streifzüge zu Lande und Piratenakte zur See. Er gab Fiume eine eigene korporative Verfassung. Er schloß geheimnisvolle Pakte mit Balkanmächten, mit Japan und sogar mit sowjetrussischen Stellen ab. Er sandte Italien, Europa und der Welt lange Botschaften, die bald in Prosa, bald in Versen abgefaßt waren. Zuweilen drohte er auch mit einem Marsch auf Rom. [ 15 ]

Bei uns in den alten Frontregimentern sagte man: »Das Ganze ist ein Narrenhaus!« Mussolini kommentierte in seiner Zeitung: »Von nun an ist Fiume die Hauptstadt Italiens.« Beschäftigungslose Offiziere, arditi, Nationalisten, Studenten, Kriegsfreiwillige, Arbeitslose, Futuristen und Dichter waren hingerissen vom Geschehen. »Das ist Politik!« jubelten sie. Und sie eilten nach Fiume. Ministerpräsident Nitti setzte für den November 1919 Parlamentswahlen an. D’Annunzio verhöhnte den Regierungschef. Mussolini sagte der Demokratie insgesamt, besonders aber den Sozialisten den Kampf an, er pries das kriegerische Fiume und empfahl seine faschistische Liste den Wählern durch ein radikal-revolutionäres Programm. Die Wahlen verliefen ohne Zwischenfall, und Mussolini brachte es auf lächerliche 4000 Stimmen. Die großen Gewinner waren die Sozialisten und die demokratischen Katholiken. Die innenpolitische Lage wurde immer verworrener. Jeder neue Tag bedeutete mehr Arbeitslosigkeit, mehr Streiks, höhere Preise. Im Juni 1920 trat Nitti zurück, Giolitti, der alte Fuchs des Parlaments, wurde Ministerpräsident. Der Piemontese hatte sich 1915 dem Kriegseintritt Italiens widersetzt; nun hielten ihn viele für den einzigen Mann, der die politische Lage meistern konnte. Er war noch keine zwei Monate im Amt, als sich der Gegensatz zwischen Arbeitern und Industriellen dramatisch zuspitzte. Die Arbeiter verlangten eine mit den Lebenshaltungskosten gekoppelte Lohndynamik: Die Industriellen weigerten sich, über diese Forderung auch nur zu reden. Die Metallarbeiter reagierten mit Sitzstreik, die Industriellen mit Aussperrung. Das war eine Kriegserklärung. Die Arbeiter besetzten die Fabriken und nahmen – auf eigene Rechnung und unter eigener Leitung – die Produktion wieder auf. Italien und Europa waren schockiert. Bereitete sich da die bolschewistische Machtergreifung vor? Mussolini meldete sich zu Wort: »Mir ist es einerlei, ob die Fabriken den Arbeitern oder den Industriellen gehören.« Giolitti ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er lehnte es ab, Truppen einzusetzen, und wartete. Als Arbeiter und Industrielle [ 16 ]

nicht mehr weiter wußten, trat er als Friedensstifter auf und legte den Streit bei. Die Arbeiter mußten sich mit der Produktionskontrolle bescheiden, die Industriellen erhielten ihre Fabriken wieder. Mit dem italienischen Bolschewismus war es vorbei. Ein paar Wochen später schrieb Mussolini: »Wer glaubt, in Italien gebe es noch eine kommunistische Gefahr, der verwechselt aus eigensüchtigen Interessen seine Ängste mit der Wirklichkeit. Der Bolschewismus ist tot.« Aber die Angst davor war groß gewesen. Ich hatte einen Freund, damals Professor, später Rector magnificus an einer der berühmtesten italienischen Universitäten, der vor Kommunisten eine geradezu panische Angst hatte. In Augenblicken besonderer Besessenheit peinigte ihn die grausame Gewißheit, daß ihm die Bolschewiken die Frau wegnehmen würden. Damals las man in den europäischen Zeitungen immer wieder, die Kommunisten hätten in Rußland die Frauen sozialisiert. Ich entsinne mich auch der Ängste eines entfernten Verwandten, eines Großgrundbesitzers. Er lebte in der panischen Furcht, seinen Besitz zu verlieren. Ununterbrochen jammerte er: »Meine armen Kinder! Wovon sollen sie leben, die Ärmsten?« Er hatte keine Kinder. Allerdings war seine Ehe damals noch jung. Indessen sind zehn Jahre vergangen, und er wartet noch immer auf sein erstes Kind. Aber der eine wie der andere, der Universitätsprofessor und der ferne Vetter, sind indessen in der faschistischen Partei zu Amt und Würden gelangt. In politisch besonders erregten Zeiten spielt die Einbildung eine gewaltige Rolle. Man sprach damals in Italien viel von einer Luftflotte, die sich in der Hand von »Bolschewiken« befinde. Ich hatte das unerhörte Glück, den Oberbefehlshaber zu kennen. Er war ein Mystiker: eine Art heiliger Aloisius von Gonzaga. Die Luftflotte bestand aus einer Farman-Maschine, die auf einem Militärflugplatz gestohlen worden war. Aus taktischen Gründen hatte man das Flugzeug vorsorglich geteilt: der Motor war in einem Heustadel bei Rom versteckt worden, der Rest in einem Keller in Livorno.

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Nach seinem Erfolg als Friedensstifter zwischen Arbeitern und Industriellen schickte Giolitti im Dezember 1920 ein Armeekorps und eine Marinedivision aus, um den »Fall Fiume« zu erledigen. Versuche, die Sache gütlich beizulegen, waren gescheitert. D’Annunzio hatte geschworen, er wolle kämpfend fallen wie einst Leonidas bei den Thermopylen. In den vorgeschobenen Stellungen leisteten die »Legionäre« des Dichters erbitterten Widerstand; obschon an Kräften und Bewaffnung unterlegen, unternahmen sie fast überall Gegenangriffe. Als aber die Andrea Doria mit zwei Kanonenschüssen den Palast des Kommandanten traf, besann sich der Dichter eines andern und ließ die weiße Fahne hissen. Das Fiume-Abenteuer war beendet. Später wurde die Frage durch ein Übereinkommen zwischen Italien und Jugoslawien gelöst: Die Stadt kam zu Italien. Die revolutionären Bewegungen machten also keine großen Fortschritte. Die kleine Minderheit der Kommunisten spaltete sich von der Sozialistischen Partei ab. D’Annunzio zog sich in seine Einsiedelei in Gardone zurück und umgab sich dort mit Frauen, Freunden und Prunk. Mussolini aber trotzte dem Schicksal. Er appellierte an alle Verstreuten und Versprengten, egal aus welchem Lager sie kamen; er erklärte, das Vaterland sei in Gefahr, und er bot den Industriellen und Großagrariern für den Kampf gegen den »Bolschewismus« seine Schlägertrupps an. Die fasci, lokale Basisgruppen der Mussolinischen Schwarzhemden, florierten. Sie gaben das anfängliche, leere Gezänk um Programme und Ideologien bald auf und gingen zu bewaffneten Strafexpeditionen, Plünderungen, Raubzügen und Brandstiftung über, die sich vornehmlich gegen die Einrichtungen der Gewerkschaften und Landarbeiterorganisationen richteten. Hauptangriffsziel der Faschisten war die Sozialistische Partei. Die Liberalen und die bürgerliche Linke sahen dem Treiben nicht ohne eine gewisse Befriedigung zu. Ministerpräsident Giolitti ließ die Faschisten nicht nur gewähren, er förderte sie sogar. Da es Giolitti nicht gelungen war, die Sozialisten für seine Regierung zu gewinnen, hatte er einen neuen Plan ausgeheckt: In einer ersten Phase wollte er den Kampfgruppen des faschistischen squadrismo materielle Hilfe und politischen Schutz gewähren und damit Mussolinis Offensive gegen die Sozialisten unterstützen; in [ 18 ]

einer zweiten Phase würde er dann den Chef der Schwarzhemden dazu bewegen, mit ihm, Giolitti, auf einer gemeinsamen Liste des Nationalen Blocks zu kandidieren. Auf diese Weise meinte der Regierungschef, die siegreichen Banden des Faschismus bändigen und im Käfig der Macht einsperren zu können. Giolittis Rechnung ging nur teilweise auf: Die faschistischen squadre zerschlugen den Sozialismus, Mussolini ging mit Giolitti auf die Block-Liste, dann aber lehnte er sich gegen den alten Staatsmann auf und eroberte die Macht im Staat für sich selbst. Dies ist in groben Zügen die Geschichte des Faschismus bis zum Marsch auf Rom. Wenn der Faschismus heute – auf dem Höhepunkt seiner Macht – beschließen würde, dem piemontesischen Staatsmann Giolitti ein Denkmal von nie zuvor dagewesenen Ausmaßen zu errichten, einen modernen Koloß von Rhodos, dann wäre dies nur eine bescheidene Geste des Dankes für einen verdienten Gönner. Als die faschistische Bewegung stark genug schien, löste Giolitti das Parlament auf und setzte Neuwahlen an. Auf seiner Liste des Nationalen Blocks kandidierten neben den meisten Liberalen und Demokraten auch Faschisten und Nationalisten. Die Wahlen fanden im Mai 1921 statt: Unruhen und Gewalttätigkeiten erreichten einen Höhepunkt. Ich war Kandidat der Opposition auf Sardinien. Auf der Insel – ähnlich wie in anderen Teilen Italiens – bestanden noch keine faschistischen Organisationen. Deshalb verlief auch der Wahlkampf relativ friedlich. Ich erinnere mich nur an einen einzigen Zwischenfall. In Villacidro, dem Hauptort eines Wahlkreises in der Provinz Cagliari, hatte sich im letzten Augenblick eine faschistische Ortsgruppe aus Konservativen und Liberalen und einigen Gruppen von gekauften Arbeitern konstituiert. Ich sollte im Ort eine Wahlversammlung abhalten. Als ich nach Villacidro kam, wurde ich von feindseligen Demonstranten empfangen: »Hinaus mit ihm! Er darf nicht reden! Hinaus mit den Vaterlandsverrätern!« Ich war verblüfft. Vergeblich versuchten meine Parteifreunde, die Freiheit des Wortes zu verteidigen. Sie wurden im Handumdrehen [ 19 ]

von Verteidigern zu Angeklagten. Ehe ich begriff, was geschah, waren die meisten von ihnen festgenommen und in den Arrest abgeführt. Ich blieb allein, um mich herum die drohende Menge. Der lokale Polizeichef setzte mir auseinander, daß er nur aus besonderer Rücksichtnahme für meine Person nicht auch meine Festnahme angeordnet habe. Im allgemeinen Durcheinander gelang es einem besonders aufgeregten Gegner, mir die Brieftasche mit einigen tausend Lire zu stehlen. Ich bemerkte es sofort und machte den Polizeichef auf den Dieb aufmerksam. Doch sofort stellten sich einige Rädelsführer dazwischen und inszenierten eine lautstarke Demonstration: »A chi l’Italia? Wem soll Italien gehören?« brüllten die Koryphäen. »A noi! Uns!« brüllte die Menge zurück. Ich bemühte mich, den Leuten auseinanderzusetzen, daß es nicht um Italien gehe, sondern um meine Brieftasche. Vergeblich. Nicht einmal der Polizeichef war bereit, meine Proteste in Betracht zu ziehen. Er breitete die Arme aus, zuckte die Achseln und belehrte mich: »Betriebsunfall eines Politikers.« Ich ging. Während ich mich vom Platz entfernte, dröhnte hinter mir die Stimme eines faschistischen Redners: »Die moralischen Werte ...!« Ich war glücklich, als der Demonstrationslärm nur noch als fernes Echo zu mir drang. Der Chauffeur, der mich fortbrachte, betrachtete die hoch am Himmel stehende Sonne und rief bewundernd aus: »Ein herrlicher Tag heute!«

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er Nationale Block gewann die Wahl mit knapper Mehrheit. Der Faschismus aber hatte beträchtliche Fortschritte gemacht. Mussolini war in seinem Wahlkreis mit 170 000 Stimmen gewählt worden. Er zog mit 36 Gesinnungsgenossen in die Kammer ein. Unter 500 Abgeordneten war das nicht viel. Doch lag die Stärke der Schwarzhemden nicht in parlamentarischen Finessen, sondern in der Aktion, und dies in einer Zeit, in der alle anderen sich an Reden berauschten. »Wir werden kein Parlamentsklub sein, sondern ein Aktionsund Exekutionskommando!« verkündete Mussolini gleich nach der Wahl. Seine Neoparlamentarier gehorchten aufs Wort. Noch am Tag der Eröffnung der Legislaturperiode jagten sie den kommunistischen Abgeordneten Misiano aus der Kammer. Er hatte sich während des Krieges der Einberufung entzogen. Ganz Italien kannte ihn als Deserteur. In den Augen seiner Wähler war die Desertion ein Verdienst, das sie mit Stimmen honorierten. Den Faschisten erschien die Anwesenheit eines Deserteurs in der Kammer unvereinbar mit der nationalen Würde. Einige von ihnen waren vornehmlich deshalb gewählt worden, weil sie Sozialisten umgebracht hatten. Um so weniger durften sie den Skandal dulden. Onorevole Misiano wurde während einer Plenarsitzung angegriffen. Ich wurde Zeuge der unerwarteten, raschen Aktion. Misiano saß in einem Fauteuil in den weitläufigen Gängen, im sogenannten Gang der verlorenen Schritte; zwei Kollegen standen bei ihm. Angeregt diskutierten sie die politische Lage. Die Faschisten [ 21 ]

handelten offenbar nach einem festgelegten Plan; in kleinen Gruppen umkreisten sie den kommunistischen Kollegen. Nur Mussolini fehlte. Er handelte stets nach der Art jener Physiker, die am Schreibtisch einen neuen Planeten entdecken und dann den Astronomen die Mühe überlassen, den Stern am Himmel aufzufinden. Mussolini verließ nie den Kommandoposten; nie nahm er an gefährlichen Unternehmen teil. Er erdachte die Aktionen, sagte, daß man dies oder jenes unternehmen könnte. Das war alles. Der moderne Kondottiere kann sich notfalls in seine Höhle zurückziehen und seine Weisungen per Telefon erteilen: Das Handwerk der blutigen Überfälle überläßt er dem Fußvolk. Ein faschistischer Abgeordneter, ein ehemaliger Kriegskamerad, kam zu mir und fragte: »Hast du eine Pistole da?« »Nein!« antwortete ich. »Was hast du vor? Willst du dich umbringen?« Ich hatte noch nicht fertig gesprochen, als ein anderer faschistischer Abgeordneter, onorevole Gay, die Pistole zog und schrie: »A noi!« Das war das Signal, auf das die anderen gewartet hatten. Im Nu war Misiano von Faschisten umringt; einer setzte ihm die Pistole auf die Brust. »Hände hoch!« brüllten sie im Chor. Ich habe immer jede moralisch begründete Überzeugung geachtet. Für mich stand auch fest, daß die ideellen Gründe, die Misiano zur Desertion bewogen hatten, nicht minder Achtung verdienten als die Ideale, um derentwillen ich in den Krieg gezogen war. Ja, ich hatte stets das Gefühl, daß für einen Ehrenmann mehr Mut dazu gehörte zu desertieren, als an der Front eine Heldentat zu vollbringen. Ich dachte also: »Misiano ergibt sich nicht. Er läßt sich eher umbringen.« Und ich stürzte mich auf die Faschisten, um einen Mord zu verhindern. Aber Misiano rettete sich selbst. Sicher teilte er jene Rechtslehre, die mit Gewalt erpreßte Akte für null und nichtig erklärt. Er war blaß und hob rasch die Arme. Das Leben war gerettet. Ideale brauchen, um sich durchzusetzen, auch Lebende, nicht nur Tote. [ 22 ]

Die Faschisten, noch immer die Pistolen gezückt, durchsuchten seine Taschen. Misiano trug einen Revolver bei sich – ein sinnloser Luxus. Die Waffe wurde beschlagnahmt. Dann stieß und drängte man Misiano zum Ausgang. Indessen waren viele Abgeordnete herbeigelaufen; selbst die Kammervorsitzenden tauchten auf. Aber die Faschisten ließen ihr Opfer nicht los. In einem kurzen, schmalen Seitengang, durch den Misiano hindurch mußte, erblickte ich hinter einer Säule den Abgeordneten Caradonna, einen Faschisten, der allgemein als der Mörder des sozialistischen Abgeordneten Di Vagno galt. Caradonna war also kein Anfänger. Blaß, gespannt, wie in einem Hinterhalt, stand er hinter der Säule, den Revolver in der Hand. »Was tust du? Was hast du vor?« fragte ich beunruhigt. Er rührte sich nicht. Zweifellos wartete er auf den kommunistischen Abgeordneten. Ich rannte zurück, und mit Hilfe einiger Kollegen gelang es mir, Misiano zu warnen; er verließ das Gebäude durch einen anderen Ausgang. Der Vorfall hinterließ in der Kammer einen enormen Eindruck. Nie zuvor hatte sich in der Geschichte des italienischen Parlaments etwas Ähnliches ereignet. Man begann bei den Kommunisten. Dann würden die Sozialisten, Katholiken, Demokraten und die Liberalen an die Reihe kommen. Die Liberalen, nicht ahnend, daß es auch sie noch treffen würde, spielten sich als unparteiische Richter auf und beurteilten den Vorfall äußerst nachsichtig. In den Gängen und im Plenum herrschte Kriegsstimmung. Wir diskutierten heftig über die Generallinie der Oppositionsrepliken auf die Thronrede. Das Land wurde, wie vor der Wahl, von Streiks und von den Gewalttätigkeiten der Faschisten gegen Sozialisten und Katholiken erschüttert. Am 25. Juni hielt Mussolini seine Jungfernrede in der Kammer. Er hatte für sich den Sitz in der hintersten Reihe auf der äußersten Rechten gewählt; vor ihm hatte niemals ein Abgeordneter dort sitzen wollen. Wenn man Mussolini dort oben sitzen sah, dachte man unwillkürlich an einen Geier. »Ich sage euch gleich«, begann Mussolini, »daß meine Rede eine Rede von rechts sein wird. Es wird eine reaktionäre Rede sein, denn [ 23 ]

ich bin gegen das Parlament, gegen die Demokratie, gegen den Sozialismus.« Die Sozialisten erinnerten ihn daran, daß er immerhin zwanzig Jahre lang Sozialist gewesen sei. Mussolini sah sie verächtlich an. »Und da ich gegen den Sozialismus bin«, fuhr er fort, »bin ich auch gegen Giolitti.« Giolitti protestierte. Der alte Abgeordnete schaute Mussolini verblüfft an, als wollte er fragen: »Was wird da gespielt?« Waren sie nicht bis gestern noch Verbündete auf derselben Liste gewesen? Mussolini kritisierte die Außen- und die Innenpolitik Giolittis: »Der Staat muß auf seine wesentlichste, einfachste Form zurückgeführt werden. Er muß ein gutes Heer haben, eine gute Polizei, eine glatt funktionierende Justiz, und er muß eine den Erfordernissen der Nation gemäße Außenpolitik betreiben. Alles übrige soll der Privatinitiative überlassen bleiben.« Der Duce ging ganz offensichtlich noch nicht mit den Plänen für den künftigen korporativen Staat schwanger. Die Kommunisten störten Mussolini immer wieder durch Zwischenrufe. Der Chef der Faschisten hatte auch für sie ein paar Sätze parat. »Die Kommunisten? Ich kenne sie, gut sogar, denn sie sind meine Söhne. Nur haben meine Freunde oder Feinde meine Gedanken schlecht verdaut. Meine Ideen sind zu groß für kleine Gehirne, sie sind wie die Austern: herrlich zum Essen, aber schwer zu verdauen.« Jeder bekam sein Teil. Mussolini proklamierte die Grundzüge seines Regierungsprogramms. Es lag auf der Hand, daß die Faschisten ihren unbequem gewordenen Protektor Giolitti loswerden wollten, der daran dachte, im Land die Ordnung wiederherzustellen. Giolitti wurde am 4. Juli gestürzt. Die Faschisten stimmten gemeinsam mit den übrigen Abgeordneten der Rechten und mit der Linken gegen ihn. Giolitti war gescheitert. Als er die Macht verlor, herrschte im größeren Teil Italiens Bürgerkrieg. An der Spitze der neuen Regierung stand Bonomi, der Kriegsminister Giolittis; unter seiner Amtsführung hatten die militärischen Kommandostellen vielfach die Faschisten mit Waffen ausgestattet. [ 24 ]

Trotzdem erschien er vielen in der verworrenen parlamentarischen Lage als jener Mann der Linken, den Italien brauchte. Bonomi war in jüngeren Jahren Sozialist gewesen und gehörte nun dem Kreis der unabhängigen reformistischen Sozialisten an. Als er die Macht übernahm, gab er sich der Illusion hin, er werde den Faschisten die Waffen wieder abnehmen können. Aber nur mit Rundschreiben an die Präfekten und ähnlichen administrativen Maßnahmen ließ sich eine derartige Operation nicht mehr bewerkstelligen. Bonomi war von Natur aus kein Mann klarer Entscheidungen und energischer Schritte. Er konnte nicht verhindern, daß die letzten Stützen der staatlichen Autorität zusammenbrachen. Während die Parteien an Moral und Gerechtigkeit appellierten und das Parlament diskutierte, gewannen die Faschisten täglich an Boden. Um ihre Macht zu demonstrieren, beriefen sie ihren Kongreß nach Rom ein. Es war der dritte und wichtigste Kongreß der jungen Partei. Er wurde im November im Saal des Augusteo-Theaters abgehalten. Den Vorsitz führte General Capello, ein Mann, der zugleich in den höchsten militärischen Cliquen und in der Freimaurerei beheimatet war. Ein paar Jahre später, als Antifaschist, wurde er wegen Beteiligung am Attentat des Offiziers Zaniboni gegen den Duce zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Bis dahin waren die fasci eine Kampfbewegung gewesen; beim Kongreß in Rom verwandelten sie sich offiziell in eine politische Partei. Mussolini verkündete und erläuterte das Grundsatzprogramm; er schloß seine Rede mit Anleihen bei Dante Alighieri und beim heiligen Franz von Assisi. Ich saß im hintersten, finstersten Winkel einer Loge und beobachtete das Schauspiel. Ein faschistischer Universitätsstudent, der als Leutnant in meinem Bataillon gedient hatte, hatte mich eingeschleust. Er wußte zwar, daß ich für den Faschismus nichts übrig hatte, blieb mir aber dennoch gewogen. Der Vater des Studenten war ein vermögender Agrarier in der Poebene, wo der Faschismus in ständigem Kriegszustand mit den sozialistischen und katholischen Landarbeiterorganisationen lebte. In meiner Heimat Sardinien bestand der Faschismus damals nur aus ein paar Grüppchen, die politisch völlig bedeutungslos waren. Ich trachtete also, von meinem [ 25 ]

ehemaligen Kriegskameraden möglichst viel über die Bewegung zu erfragen. »Wir haben achtzig Genossenschaftsgebäude niedergebrannt«, erzählte der Student stolz. »Wir haben alle Büros und Lokale der Sozialistischen Partei zerstört. Jeden Samstagabend rücken wir zu unseren großen Strafexpeditionen aus. Wir kommandieren, und die anderen haben zu parieren.« »Und die Behörden?« »Die Behörden? Wir sind die Behörde.« »Was heißt das, ihr seid die Behörde?« »Das ist ganz logisch. Wir und die Behörde, das ist die gleiche Sache. Die Behörden hatten es ganz einfach satt – die Aufsässigkeit, die Rechthaberei, die roten Fahnen. Sie hatten nicht mehr das Sagen.« »Aber heute haben sie demnach noch weniger zu sagen ...« »Wir stellen die Ordnung wieder her.« »Mit Brandschatzung und Überfällen?« »Es gibt kein anderes Mittel. Mit Propaganda und bloßen Reden hat man nichts erreicht. Waffen sind das einzige Mittel. Jetzt haben wir genug Waffen. Wir haben Autos, Gewehre, Maschinengewehre.« »Woher habt ihr die?« »Einiges von der Polizei, manches hat uns der Verband der Agrarier überlassen.« »Und so könnt ihr jetzt tun, was euch Spaß und Freude macht, ohne etwas befürchten zu müssen?« »Oh nein, ganz ohne Gefahr ist die Sache nicht. Da, sehen Sie!« Er zeigte mir die rechte Hand. Am Handrücken sah ich eine noch nicht ganz vernarbte Wunde, die offensichtlich von einer Gewehrkugel stammte. »Da haben sie mich erwischt, diese Banditen, bei einem Nachtangriff.« »Welche Banditen?« »Die Landarbeiter.« »Und wer hat angegriffen, ihr oder die Landarbeiter?« »Wir haben angegriffen, natürlich wir. Und wir haben sie fertiggemacht. Jetzt ist’s aus mit dem Schmarotzerleben. Stellen Sie sich vor, so ein Landarbeiter hat glatt vierzig Lire am Tag verdient.« [ 26 ]

»Und was verdienen sie heute?« »Oh, heute ist alles ganz anders.« »Gut, aber wieviel verdienen sie jetzt?« »Vierzehn Lire. Und auch die sind noch zuviel.« Er sah mein erstauntes Gesicht und meinte wohl, mir die Zusammenhänge gründlicher erläutern zu müssen. »Sie müssen bedenken, daß sie mich nach dem Krieg ausgelacht haben, auf offener Straße, wenn ich in Uniform mit meinen Auszeichnungen ausging.« »Ist das der Grund, ihnen den Lohn auf vierzehn Lire zu kürzen und sie kurz und klein zu schlagen?« »Kritisieren ist leicht. Man muß bei uns gelebt haben: Die Landarbeiter leisteten sich die gleichen Anzüge, wie ich sie trug, und die Töchter des ärgsten Bauernlümmels zogen sich eleganter an als meine Schwester.« »Das ist wohl übertrieben! Aber selbst wenn du recht hättest, wäre dies eine so schreckliche Provokation, daß sie mit Hunger und Tod bestraft werden muß?« »Wir haben die Welt wieder ins Lot gebracht.« Wir blieben lange beisammen. Durch die Straßen Roms zogen die faschistischen Kampfgruppen, die zum Kongreß gekommen waren; besonders zahlreich waren die squadre aus der Toskana und der Romagna. Insgesamt hatten sich mehr als 20 000 Faschisten in der Hauptstadt versammelt. Ich kaufte an einem Kiosk eine antifaschistische Zeitung. Ich schlug sie auf und überflog die Schlagzeilen. Sofort stürzten einige Faschisten herbei. »Weg mit der Zeitung!« schrien sie. »Schämen Sie sich, so eine Schweinerei zu lesen!« »Nieder mit den Verrätern!« Sie entrissen mir die Zeitung. Ich war derart verblüfft, daß ich nicht einmal daran dachte, mich zu wehren. Mein Freund schritt ein und befahl, mir die Zeitung wiederzugeben. Nachdem der Zwischenfall beigelegt war, fragte ich ihn: »Was hältst du von solchen Methoden?« Er schien verärgert. Dann setzte er mir auseinander: »Sicher, bei uns ist es eine grobe Provokation, wenn einer eine antifaschistische [ 27 ]

Zeitung liest. Der Führer einer Landarbeiter-Liga ist deswegen umgebracht worden. Es war an einem Sonntag. Er wollte uns herausfordern. Mit der sozialistischen Zeitung in der Hand zeigte er sich in der Öffentlichkeit. Klar, daß die Faschisten den Kopf verloren.« Durch ihr Benehmen provozierten die faschistischen squadre in Rom nicht wenige Zwischenfälle. Mussolini hatte auf dem Kongreß gewarnt: »Der Römer ist weder Faschist noch Antifaschist. Er ist vor allem ein Mensch, der seine Ruhe haben will. Wird er in seiner Ruhe gestört, erwacht sein Kämpferherz. Dann werden Bürger und Pöbel gleicherweise angriffslustig. Nicht provozieren also! Doch wir werden uns verteidigen, wenn man uns angreift.« Wie man sieht, basierte die Theorie der Gewalt auf der Voraussetzung, daß sie nutzbringend angewandt werden konnte; wo sie keinen Profit verhieß, galt sie nicht. Gleichwohl kam es zu Provokationen. Es gab Tote und Verwundete. Die Faschisten mußten die Hauptstadt Hals über Kopf verlassen. Die Bevölkerung kochte vor Wut und Empörung. Damals bestand die faschistische Parteisektion in Rom nur aus etlichen hundert Mitgliedern. Der Parteikongreß im Augusteo-Theater war der Auftakt für die Wiederaufnahme der Gewalttätigkeiten in allen Teilen Italiens. Beide Seiten hatten Todesopfer zu beklagen: Die Faschisten fielen im Angriff, die anderen in der Verteidigung. Im Februar 1922 wurde Ministerpräsident Bonomi gestürzt, nachdem sich erwiesen hatte, daß er nicht imstande war, die Krise in den Griff zu bekommen. Sein Nachfolger wurde onorevole Facta, ein Mann, der seine politische und parlamentarische Karriere einzig seiner hündischen Treue verdankte, mit der er Giolitti gedient hatte. Ich habe in meinem Leben keinen größeren Optimisten als Facta kennengelernt. Eines Tages ermordeten Faschisten vor aller Augen einige Landarbeiter. Man kannte die Täter, aber die Behörde ließ sie ungeschoren. Eine Abordnung von Parlamentariern, der auch ich angehörte, begab sich zum Ministerpräsidenten, um zu protestieren. Facta, der zugleich Innenminister war, ließ sich von uns den Vorfall schildern und lächelte dabei, als berichteten wir ihm von Wiegen und nicht von Särgen. Dann entgegnete er, immer noch lächelnd: »Ich bin zuversichtlich, daß sich alles zum Besten wenden wird.« [ 28 ]

Er ging unter dem Spitznamen »Präsident Zuversicht« in die Geschichte Italiens ein. Facta war die vollkommene Inkarnation des Wesens der parlamentarischen Demokratie Italiens. Er war die dem Baum gemäße Frucht. »Italien braucht einen Diktator!« schrien die Faschisten. Und nicht nur die Faschisten allein. Von dem Augenblick an fühlte sich Mussolini als Duce; von da an begann er, mit dem Gedanken an einen Marsch auf Rom zu spielen. Das Parlament hatte seinen Kredit vertan; aber die große Mehrheit des Volkes wollte auch vom Faschismus nichts wissen. Die Faschisten waren zwar imstande, durch Morde und bewaffnete Eroberungszüge einigen Provinzen ihren Willen aufzuzwingen, die Seele des Landes gewannen sie dadurch nicht. Sogar die Armee lehnte den Faschismus ab. Generalstabschef Badoglio, der damals populärste General, erklärte in einem Interview zum Schrecken aller Faschisten: »Man soll mir freie Hand geben, und in einer Woche wird vom Faschismus nichts mehr übrig sein.« Ministerpräsident Facta war voller Zuversicht. So wurde Italien allmählich reif für den Staatsstreich.

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I

m Sommer 1921 organisierte sich der Faschismus auch auf Sardinien. Die Zahl der Pioniere war klein, die der Anhänger nicht viel größer. Die Gemeinde Villacidro, wo ich bei der letzten Wahl nicht nur Stimmen verloren, sondern auch die Brieftasche eingebüßt hatte, rühmte sich, als eine der ersten Gemeinden Sardiniens einen regulären fascio zu besitzen. Aber das erhöhte die Mitgliederzahl nicht. Ich stattete dem Ort einen Besuch ab, vorsichtshalber ohne Brieftasche und ohne Geld, doch entdeckte ich keine Spur von politischer Bewegung. Der lokale fascio zehrte vom Erfolg bei der Wahl im Mai. Die Stadt Iglesias und ihre Umgebung sind ein bedeutendes Bergbaugebiet. Die Bergwerke, in denen Antimon, Galenit und Anthrazit gewonnen werden, stellten damals den einzigen größeren Industriekomplex auf der Insel dar. Gegensätze zwischen Unternehmern und Arbeiterorganisationen waren hier unvermeidlich. Der Parlamentsabgeordnete Dr. Angelo Corsi war der führende Exponent der Bergarbeiter, ein reformistischer Sozialist, der, hätte er in England gelebt, seine politische Heimat wohl am rechten Flügel der Labour Party gefunden haben würde. Während des Krieges hatte er als Bürgermeister von Iglesias die Hilfe für notleidende Soldatenfamilien derart mustergültig organisiert, daß andere Städte sein Organisationsmodell übernahmen. 1921 kam der König nach Iglesias. Corsi, an der Spitze der Arbeiterorganisationen, empfing Vittorio Emanuele III. vor den Toren der Stadt und führte ihn dann durch die Bergwerke. Diese monarchistische Abweichung trug dem Parlamentarier ein Disziplinarverfahren und eine Parteirüge ein. [ 30 ]

Aber Corsi war bei den Bergarbeitern so beliebt, daß die Partei sich mit der Affäre abfinden mußte. Die Faschisten widmeten Corsi eine eigene Sitzung. Nach reiflicher Überlegung erklärten sie ihn zum Bolschewiken. Es gab im ganzen Bergbaugebiet nicht mehr als fünfzig Faschisten. Sie waren alle Arbeiter. Die Direktionen der Bergwerke zahlten ihnen höhere Löhne und stellten sie von der Arbeit frei. Sie hatten also Geld und Zeit zur Verfügung. Ihre Anführer waren zwei junge Männer, Otelli und Mocci; beide wurden von den Bergbauunternehmern besoldet. Otelli kannte ich gut. Während des Krieges war er mir als Leutnant unterstellt gewesen. Nach dem Krieg fand er keine Beschäftigung, die ihm das geboten hätte, was ein Heimkehrer im Leutnantsrang beanspruchen durfte und mußte. Schließlich fanden die Besitzer der Bergwerke diese Lösung. Im Schützengraben war er schweigsam und vorsichtig gewesen; der Faschismus hatte ihn in einen geschwätzigen Draufgänger verwandelt. Mocci war ein eher extravaganter Typ. Auch er war während des Krieges Offizier gewesen; nach der Demobilisierung hatte er sich mühsam mit kleinen Bezirksgerichtsfällen durchgebracht. Obwohl er einigermaßen gebildet war, gelang es ihm nicht, in der Gesellschaft Fuß zu fassen und sich im Beruf durchzusetzen. Er hatte einige Zeit in einer Irrenanstalt zugebracht und, was schlimmer war, alle wußten davon. »Ich war nur aus literarischem Interesse dort«, erklärte er, »um psychologische Studien zu betreiben.« Mocci war sanftmütig. Aber wenn ihm etwas gegen den Strich ging, wurde er unberechenbar und gewalttätig. In solchen Fällen prügelte er seine Frau, wenn sie zu Hause war; war die Ärmste nicht greifbar, organisierte er Strafexpeditionen gegen die »Bolschewiken«. Er schonte sich nicht im Kampfgetümmel: Meistens kehrte er, übel zugerichtet, auf der Tragbahre von solchen Unternehmungen nach Hause zurück. Und die Frau, die gute Seele, freute sich und ärgerte sich zugleich darüber, daß sie nicht zu Hause gewesen war. Mocci schrieb auch Gedichte und bekundete, wann und wo immer sich dazu Gelegenheit bot, seine grenzenlose Verachtung für [ 31 ]

die Politik. Allerdings trug ihm die Politik wesentlich mehr ein als die Dichtkunst. Alle, die ihn kannten, waren der Ansicht, daß er seine literarischen und psychologischen Studien zu früh aufgegeben hatte. Im Grunde genommen war er kein schlechter Mensch. Zuweilen vergoß er Tränen aufrichtiger Reue über seine Untaten. Doch war er einfach nicht imstande, seine Leidenschaft zu zügeln. Später, als die Gegensätze zwischen Faschisten und Antifaschisten auch auf Sardinien heftiger wurden, verlangte er meinen Kopf. Eines Abends läutete er an meiner Wohnungstür. Es war schon spät, und ich dachte, er käme an der Spitze eines Schlägerhaufens. Seine Frau schien ausgegangen zu sein. Ich ließ ihm öffnen und bereitete mich rasch auf eine eventuelle Verteidigung vor. Er trat ein, höflich, beinahe schüchtern. Ich blieb vorsichtig und fragte ihn, was er wolle. Verlegen entschuldigte er sich wegen der späten Störung und bat um ein Urteil über sein jüngstes poetisches Werk. Er hatte eine Ode von Horaz übersetzt. Das Latein der Caesaren-Ära hat in Italien viel Unheil angerichtet. Zunächst machten die Faschisten im Bergwerksgebiet von Iglesias unter dem Kommando dieser beiden Anführer keine großen Fortschritte. Doch sie waren ungemein lästig. Tag für Tag hielten sie öffentliche Versammlungen ab, sie drängten jedem ihre Parteizeitungen auf und provozierten. Bei Schichtwechsel erwarteten sie – mit schweren Stöcken bewaffnet – die Arbeiter am Ausgang der Gruben. »Nieder mit Rußland!« »Tod dem Bolschewismus!« »Es lebe der König!« »Es lebe der Krieg!« Die Arbeiter waren auf einen solchen Empfang nicht gefaßt. Bei den ersten Zusammenstößen zogen sie den kürzeren. Bald wendete sich das Blatt: Die Arbeiter entwaffneten die Faschisten und prügelten sie mit ihren eigenen Knüppeln aus dem Revier. Der Friede um die Gruben war wieder hergestellt. Die Faschisten verlegten ihr Aktionsfeld in die Stadt. Vor allem hatten sie es auf Dr. Corsi abgesehen. Sobald er das Haus verließ, rotteten sich Schwarzhemden zu feindseligen Demonstrationen zu[ 32 ]

sammen. Die Faschisten lebten in permanenter Mobilmachung, sie gönnten sich auch an Feiertagen keine Ruhe. Verließ der sozialistische Abgeordnete sein Haus nicht, dann demonstrierten sie – wütend über das vergebliche Warten – unter seinen Fenstern. »Nieder mit Lenin!« In ihren Augen verkörperte onorevole Corsi die gesamte kommunistische Revolution. Gelegentlich rückte auch die Polizei aus; dann applaudierten die Faschisten und schrien: »Es lebe die Polizei!« Nichts schmeichelt Polizisten mehr als Applaus. Sie sind nicht daran gewöhnt, bei der Ausübung ihres Amtes Beifall zu bekommen. Die Folge davon war, daß ein Polizeikommissar eines Tages – angetan mit der Trikolore-Schärpe, dem Zeichen seiner Autorität – während einer Demonstration empört zu Corsis Fenstern hinaufrief: »Herr Abgeordneter, hören Sie endlich auf, die Nation zu provozieren!« Von diesem Tag an war der Kommissar das Idol der Faschisten. Niemand konnte den lokalen Faschisten Tatendrang und Gefolgschaftstreue absprechen, gleichwohl genossen sie in der Mailänder fasci-Zentrale keine besondere Reputation. Nach den Wahlen von 1921 ließ Mussolini in mehreren Reden republikanische Töne anklingen. Die Faschisten des Bergbaugebietes lehnten sich einmütig dagegen auf und bekundeten telegrafisch ihre Treue zum König. In seinem Antworttelegramm bezeichnete Mussolini die Faschisten von Iglesias als »bösartige und einfältige Bande«. Diese Rüge verwirrte die Gemüter des fascio und führte zu blindwütigen Aktionen: Einige Führer der Bergarbeiter wurden heimtückisch überfallen und schwer verwundet; dann fielen die Schwarzhemden am hellichten Tag mitten in der Stadt über onorevole Corsi her, doch konnte der Parlamentarier den Angriff mit einiger Mühe abwehren. Der Guerillakrieg flammte wieder auf. Die faschistische Sektion von Cagliari war ein ganz spezieller Fall. Cagliari ist die Hauptstadt der Insel. Die Bevölkerung vermied jegliche Form von Gewalt im politischen Kampf. Die Sozialistische Partei war zwar klein, aber gut organisiert. Als 1919 während der Hungerunruhen Läden geplündert wurden, organisierten die Sozialisten von Cagliari Wachmannschaften, die Ausschreitungen verhin[ 33 ]

derten. Die Partei machte auch die Fabrikbesetzungen nicht mit. Die eigentliche Oppositionspartei in der Stadt war die Bewegung, der ich angehörte, die Sardische Aktionspartei, deren Mitglieder zumeist ehemalige Frontkämpfer waren. Wie hätte in dieser Umgebung ein aggressiver Faschismus entstehen können? Hier war von der »kommunistischen Gefahr« nichts zu sehen. Deshalb trat der Faschismus in Cagliari in einem literarischen und sportlichen Kleid auf. Einer der bekanntesten Faschisten war Marchese Zapata. Er war ein Sproß der Familie der Siete Fuentes, und sein Wappen erinnerte die Vergeßlichen daran, daß seine Vorfahren spanische Granden gewesen waren. Dem sardischen Familienzweig war indessen alle Größe abhanden gekommen. Was vom Familienerbe übriggeblieben war, erlaubte dem Marchese ein anständiges Leben. In seiner Jugend hatte er sich nie mit Politik befaßt. »Ich habe von meinen Ahnen«, pflegte er zu sagen, »nur eine Politik gelernt: die Kunst zu befehlen.« Als der Krieg ausbrach, hatten die Ärzte ihm bescheinigt, daß er den Strapazen des Soldatenlebens nicht gewachsen sein würde. Aber der Marchese liebte den Krieg trotzdem, und er wurde nicht müde, die Helden und Märtyrer, die der Krieg forderte, zu rühmen. 1916 gab er in seinem Haus ein großes Fest. Er erschien vor den Gästen in der Rüstung und mit den Waffen eines Vorfahren aus dem 16. Jahrhundert. Er stand Höllenqualen aus unter der Last des Helms und des Panzers, er schwitzte aus allen Poren, doch wies er bis zum Ende des Festes alle Aufforderungen, sich bequemer zu kleiden, entrüstet zurück. Er beklagte sich nicht. Auf dem Höhepunkt des Festes rief er aus: »Ach! Warum sind die Mauren nicht mehr in Spanien? Ich wäre glücklich, könnte ich Gut und Leben hingeben, um sie nach Afrika zurückzujagen.« Die Geschichte sprach sich in der Stadt herum und wurde heftig diskutiert. Das österreichisch-ungarische Heer hatte, als der Marchese sein Fest veranstaltete, gerade die italienische Front durchbrochen und die Hochebene von Asiago erobert. »Herr Marchese«, hatte ihm ein Rivale bei einem Frauenabenteuer ins Gesicht geschleudert, »Sie sind ein Feigling!« [ 34 ]

»Mein Herr«, antwortete der Marchese ohne die geringste Spur von Erregung, »mein Herr, wenn Sie nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden durch mein Schwert Ihr Leben verlieren wollen, dann erklären Sie, daß Sie gelogen haben.« »Lächerlicher Feigling!« schrie der andere und versetzte dem Marchese – die elementarsten Regeln der Ritterlichkeit mißachtend – einen Kinnhaken, der den Marchese mit dem Boden in Berührung brachte. Durch diese und andere mehr oder minder ritterliche Zwischenfälle war Marchese Zapata zu einer in der ganzen Stadt bekannten Gestalt geworden. Seine eigentliche Berühmtheit verdankte er jedoch seiner dichterischen Ader. Als einem Kind, das er vergötterte, der erste Zahn wuchs, verfaßte er darüber ein Poem in zweiunddreißig Gesängen mit einem Anhang. Es lag auf der Hand, daß der Faschismus auf eine so populäre und repräsentative Persönlichkeit nicht verzichten konnte. Der Verband der faschistischen Intellektuellen ernannte Zapata durch Akklamation zum Präsidenten; der Marchese bedankte sich für die Auszeichnung mit einem neuen, langen Poem. Der zweite herausragende Faschist war auch ein Marchese. Er entstammte einer Nebenlinie der Manca di Tiesi, die im 18. Jahrhundert zu den größten Feudalherren der Insel gehört hatten. Ein nackter, linker Unterarm auf dem Familienwappen galt als Bestätigung der Legende, daß die Familie in direkter Linie von Mucius Scaevola abstamme, jenem sagenhaften römischen Helden, der, 500 Jahre vor Christi Geburt, Porsenna, den König der Etrusker, das Fürchten gelehrt hatte. Diese These war sehr umstritten. Die Faschisten von Cagliari machten jedoch kurzen Prozeß und bewunderten ihren Marchese Nummer 2 als authentischen alten Römer. Marchese Manca war gerade das Gegenteil von Marchese Zapata. Er haßte und verachtete alles, was mit Literatur zu tun hatte. Erst nachdem er Faschist geworden war, versuchte er, Latein zu studieren; der Erfolg war bescheiden. Im Krieg hatte er als Alpini-Offizier eine gewisse Berühmtheit erlangt: Er versoff innerhalb weniger Stunden den gesamten Kog[ 35 ]

nak, der seiner Kompanie zugeteilt worden war. Im Freundeskreis verschmähte er die üblichen Grußformeln. Er grüßte stets mit dem klassischen Euhoi! – dem Kampfruf, mit dem der Vater des Olymp Bacchus, den Sohn der Semele, in der Hitze des Gefechtes anzufeuern pflegte. Kurzum, der Marchese war – weshalb soll man es verschweigen – alles eher als abstinent. Als Offizier hatte sich der Marchese wiederholt durch Tapferkeit ausgezeichnet. Der Friede stürzte ihn in die Armseligkeit zurück. Vom Erbe der Ahnen war ihm nichts geblieben als das Wappen mit dem nackten linken Arm. Und an einem antiken Arm gibt es wenig zu nagen. Die Faschisten verschafften ihm sofort eine angemessene Anstellung. Der dritte Mann im Führungstriumvirat des Faschismus von Cagliari war Herr Nurchis, ein junger Industrieller. Er war nur dem Alter, nicht der Bedeutung nach dritter. Auch Nurchis hatte den Krieg mitgemacht. In einem schrecklichen Gefecht hatte er die Nerven verloren: Seither hatte er ein bewegtes Leben. Das seelische Drama aus den Kriegstagen half ihm, seine Bildungsschwächen zu verschleiern. Trotzdem hielt er leidenschaftlich gern Reden, bei denen ihm Syntax und Grammatik wild durcheinander gerieten. Die Leute, die ihn nicht näher kannten, beteuerten mitfühlend: »Der Ärmste! Er ist durch den Krieg so geworden.« Nurchis war der geborene Revolutionär. Eines Tages unterbrach er mich während einer öffentlichen Rede: »Hör auf mit dem Geschwätz! Wir brauchen keine Reden. Taten brauchen wir. Es lebe die Revolution!« »Welche Revolution?« fragte ich. »Die Revolution! Gebt uns eine Revolution, und wir folgen euch!« Er wollte um jeden Preis eine Revolution haben. Der Faschismus stellte ihm eine Revolution in Aussicht, also wurde er Faschist. Ich kannte ihn gut. Er brachte mir wegen meiner Kriegserlebnisse seine Bewunderung und Freundschaft entgegen, obwohl wir politische Gegner waren. Nach dem Marsch auf Rom gestand er mir: »Meine Verehrung für Sie kennt keine Grenzen. Wenn der Duce mir auftrüge, Sie [ 36 ]

umzubringen, müßte ich natürlich gehorchen. Faschismus heißt Disziplin und Hierarchie. Trotzdem – Sie umbringen zu müssen, wäre der größte Schmerz, der mir zugefügt werden könnte.« Während er dies sagte, füllten sich seine Augen mit Tränen. Die beiden Marchese und Herr Nurchis waren der gesellschaftliche Gipfel des Faschismus von Cagliari. Nurchis war dank seinem ungestümen Temperament und seinem selbstlosen Tatendrang praktisch der unbestrittene Anführer. Zu einer Zeit, da noch kaum jemand an den Faschismus glaubte, hängte er sich blindlings an die Bewegung. Er sammelte eine Gruppe von Jugendlichen um sich, stattete sie mit großen Trommeln aus und marschierte an ihrer Spitze im Paradeschritt durch die Straßen. Die Passanten lachten, die Lausbuben spotteten, Nurchis marschierte feierlich steif durch die Reihen der Feinde – wie ein antiker Legionär. »A chi Mussolini?« schrie er. »A noi!« antworteten die Trommler »Wem gehört Julius Cäsar?« »A noi!« »Wem gehört das Imperium?« »A noi!« Höflich und anhand dicker historiographischer Abhandlungen versuchte man ihm beizubringen, daß die alten Römer keine Trommeln gekannt hatten. Vergeblich. Er behielt sie bei und ließ auf jede einzelne einen römischen Adler mit ausgebreiteten Schwingen malen. Rund um diese drei Führer scharten sich etliche Unterführer und eine bescheidene Zahl von Anhängern. Andere fasci existierten damals auf Sardinien nicht.

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ie Erfolge des Faschismus in Italien führten der Bewegung auch auf Sardinien neue Anhänger zu. Der fascio von Cagliari brachte es auf rund fünfzig Mitglieder; alle höheren Offiziere, einige während des Krieges aus verschiedenen Gründen torpedierte Generäle, ein Universitätsprofessor und etliche Studenten schlossen sich der Partei Mussolinis an. Zwei Industrielle machten sich erbötig, die für die Organisation notwendigen Geldmittel aufzubringen. Ein Reserveoffizier, der während des Krieges in meiner Kompanie gedient hatte, war Mitglied unserer Sardischen Aktionspartei. Er arbeitete als Geschäftsführer einer Genossenschaft. Eines Tages entdeckte man, daß die Buchhaltung nicht stimmte. Der Geschäftsführer wurde entlassen. Er gab sein Parteibuch zurück und trat einige Tage später dem Faschismus bei. Als ich ihm auf der Straße begegnete, setzte er mir auseinander, daß er wohl oder übel leben müsse und daß ihm die Faschisten einen anständigen Posten versprochen hätten. Im übrigen, fügte er hinzu, sei er immer schon von der Notwendigkeit eines starken Staates überzeugt gewesen. »Leviathan!« sagte er. Die neuen Parteifreunde feierten seinen Übertritt als großen Erfolg; der Mann war Frontkämpfer – eine Qualität, die die Faschisten hoch einschätzten. Durch sein unstetes Wesen brachte er einigen Schwung in die Reihen seiner Kameraden. Trotzdem behielt die fascio-Organisation ihren literarisch-sportlichen Charakter bei. Bei weitem wertvoller war der Beitrag, den der Bergbauindustrielle commendatore Sorcinelli für den lokalen Faschismus in der schwierigen Aufbauphase leistete. Sorcinelli war in ganz Sardinien [ 38 ]

bestens bekannt, er war ausnehmend klug, und er wußte, was er wollte. Er war immer überzeugter Demokrat mit radikalem Anstrich gewesen. Die Politik war seine Leidenschaft, der er – glücklos – frönte. Immer wieder hatte er für den Provinzialrat und für das Parlament in Rom kandidiert, und bei jeder Kandidatur war er schmählich durchgefallen. Sorcinelli sah, wie der Faschismus in Italien sich allmählich durchsetzte, gleichwohl hätte es ihm widerstrebt, seine demokratischen Ideale zu verraten, mochte er mit ihnen auch noch so wenig Glück gehabt haben; er blieb der Demokrat und Radikale, der er stets gewesen war, doch veranlaßte er seine Söhne, der faschistischen Partei beizutreten. Die Sache erregte zunächst kein besonderes Aufsehen. Viele überzeugte Demokraten, vornehmlich Staatsbeamte, befanden sich in einer ähnlichen Lage. Es vergingen einige Monate, dann trat das Unvermeidliche ein. Es ist schwer, in der Politik Fixpunkte festzulegen. In der Seele eines jeden Demokraten schlummern die Keime für alle möglichen Entwicklungen. Jeder kann – ohne gegen die Logik der Evolution zu verstoßen – Faschist oder Kommunist werden. Sorcinelli wurde, nachdem er sich die Sache reiflich überlegt hatte, Faschist. Und er bescherte den Faschisten von Cagliari eine Tageszeitung. Auch die Tageszeitung – ein vor zwei Jahrzehnten gegründetes Blatt mit großer Auflage – hatte eine einwandfrei demokratische Tradition. Die Mehrheit der Aktien lag in den Händen altbewährter Demokraten. Der commendatore erklärte sich bereit, die Aktien für gutes Geld abzulösen. Die Aktionäre gelangten zur Einsicht, daß Unnachgiebigkeit und sture Opposition nicht angebracht waren. Sie traten ihre Aktien ab und waren stolz darauf, ihre politischen Ideale gerettet zu haben. Die Tageszeitung vermochte nicht, das geringe Prestige der faschistischen Bewegung auf der Insel zu heben. Die meisten sahen im Frontwechsel der Zeitung einen Skandal; Abonnenten und Leser desertierten. Trotzdem – die Faschisten hatten ihre Zeitung. Der Besitz einer Zeitung weckte seltsame Ansprüche. Die Faschisten von Cagliari hatten das dringende Bedürfnis, daß ihre Zeitung über ihre Taten berichte. Mit sportlichen und literarischen Leistungen war kein [ 39 ]

Staat zu machen. In Oberitalien, in der Toskana, in der Romagna – da lieferten die Faschisten den Roten täglich neue Kämpfe und die Roten erlitten täglich neue Niederlagen mit Toten und Verletzten. Die insularen Faschisten begannen sich ihrer Untätigkeit zu schämen. Der Ehrgeiz trieb sie dazu, nach und nach Größeres zu wagen. Die Zeitung verzichtete auf den saft- und kraftlosen Stil ihrer demokratischen Vergangenheit und hetzte forsch: »Was ist los mit den Faschisten auf Sardinien? Aufwachen, Kameraden! Alle armi! Zu den Waffen! Was wir brauchen, ist der heroische Geist!« Der fascio von Cagliari wurde nach kontinentalem Vorbild in als squadre bezeichneten Kampfgruppen neu organisiert. Eines Sonntags defilierten die squadre in Reih und Glied und Marschschritt durch die Stadt. Jeder Faschist war mit einem manganello bewaffnet. Der manganello war sozusagen die Urwaffe der faschistischen Kampfgruppen: ein sorgsam gedrechselter Knüppel aus Hartholz, in der Form einem Glockenschwengel ähnlich, grün-weiß-rot, mit den Farben Italiens, angemalt. Das Publikum pfiff den Aufmarsch aus. Zwischenfälle ereigneten sich keine. Da der Erfolg in der Stadt sie nicht befriedigt hatte, beschlossen die Faschisten für den nächsten Sonntag einen Streifzug nach Monserrato, einer Gemeinde unweit von Cagliari. In Dreierreihen marschierten sie durch die Hauptstraße und sangen martialische Spottlieder auf ihre Gegner. Das kriegerische Gehabe, die Knüppel und die Spottlieder ärgerten die Bürger des Ortes. Die Folge war ein allgemeiner Tumult. Die Faschisten wurden umzingelt und übel zugerichtet. Ich kam zufällig mit dem Auto in den Ort, als die Schlägerei auf dem Höhepunkt war. Der faschistische Anführer hatte sich auf einen Laternenmast gerettet, schwenkte seine schwarze Mütze und schrie gellend um Hilfe. »Aiuto! Aiuto!« Rund um den Mast drängte sich eine wütende Menschenmenge. Ich versuchte, die Leute zu beruhigen. Obwohl man mich in Monserrato kannte, mußte ich all meine Beredsamkeit aufwenden, um die Faschisten aus ihrer mißlichen Lage zu helfen. Mein Versuch, Frieden zu stiften, trug mir Prellungen und Kratzwunden ein. Trotzdem gelang es mir, die Faschisten zu befreien. [ 40 ]

Der Gefahr entronnen, verhielten sich die squadre vorbildlich klug. Sie ließen sich ihre Knüppel abnehmen und stellten sich in Reih und Glied auf. Dann wurden sie von den Bürgern wie Kriegsgefangene zum Bahnhof eskortiert. Da ich weitere Zwischenfälle in den Nachbargemeinden, durch die der Zug fuhr, befürchtete, reiste ich im selben Zug mit. Alles verlief glatt. Der Anführer der Expedition – jener, der sich auf den Laternenmast gerettet hatte – kam zu mir, den blutiggeschlagenen Schädel in ein großes, weißes Tuch eingebunden. Mit Würde bedankte er sich für mein Eingreifen. Krieg sei Krieg, sagte er, und letztlich seien Sieg und Niederlage gleicherweise ehrenvoll. »Hauptsache ist, man kämpft.« Schließlich bot er mir sein Foto an, um mir seine Dankbarkeit zu bezeugen. Ich war nie ein Sammler. Es kostete mich Mühe, ihm beizubringen, daß ich auf Erinnerungen keinen Wert legte. Er beharrte nicht weiter auf seinem Angebot. Marchese Zapata verbrachte eine schlaflose Nacht. Spontan schrieb er ein kurzes Poem mit dem Titel: Schlacht und Blut. Im Lager der Faschisten herrschte gewaltige Erregung. Ihre Zeitung schrie Verrat. Ich erntete zum Dank dafür, daß ich Frieden gestiftet hatte, die Bezeichnung Judas. Die Faschisten rüsteten ab. Sie gingen nicht mehr mit Knüppeln bewaffnet auf die Straße, sie verzichteten auf die Paraden im Schwarzhemd, und sie vergaßen die gehässigen Spottlieder. Aber unter der Asche glomm das Feuer weiter. Die nationalen Führer des Faschismus verlangten, daß überall richtige Kampforganisationen gebildet werden sollten. »Man muß das Leben dramatisieren!« schrieb Mussolini in seiner Zeitung. Die Mailänder Parteizentrale wollte Sardinien nicht vernachlässigen; sie entsandte einen erfahrenen Mann nach Cagliari: Herrn Loprando. Als Loprando – versehen mit allen notwendigen Beglaubigungen – in Cagliari eintraf, wurde er einem hohen Würdenträger gleich empfangen. Der fascio gab ein Bankett zu Ehren des Neuankömmlings, der sich zwar Loprando nannte, aber in Wahrheit, wie man [ 41 ]

später erfuhr, ganz anders hieß. Der neue Faschistenchef hatte sich seine Sporen im fascio von Verona erworben; dort hatte er als Anführer einer squadra zwei sozialistische Arbeiter ermordet. Die Gerichte hatten ihn zur Verhaftung ausgeschrieben, und er hatte seinen Namen geändert. Sein richtiger Name ist mir entfallen. Professor Chiurco, der faschistische Historiograph der Faschistischen Revolution, nennt ihn in seinem mehrbändigen Werk Giulio Loprando und weist ihn als Delegierten zum Zentralkomitee aus. Es ist möglich, daß er seinen zweiten Namen für immer behalten hat. Loprando war – das muß man anerkennen – ein außergewöhnlicher Mann, außergewöhnlich wie der fascio von Verona, bei dem er sein Handwerk gelernt hatte. Die Geschichte dieser Parteigruppe ist in ganz Italien bekannt; ihr Ursprung und ihre Heldentaten wurden in einem Prozeß erörtert. Der Veroneser fascio gehörte zu den aggressivsten Italiens und rühmte sich einer Reihe von Morden. Seine Gründungsversammlung hatte in einem vornehmen »Teehaus« stattgefunden, das in der Anfangszeit der offizielle Sitz des fascio gewesen war. Die Direktrice des Etablissements war die Mätresse des fascio-Anführers. Eigenhändig hatte sie die Fahne für die faschistische Sektion gestickt: Das Kunstwerk war lange Zeit im Schaufenster eines großen Geschäftes im Stadtzentrum ausgestellt gewesen – darunter ein Kärtchen mit der Aufschrift: »Gespendet von einer Edeldame aus Verona.« Loprando machte sich an die Reorganisation des fascio von Cagliari. Die Polizei kümmerte sich nicht um ihn. Die Frucht seiner Mühen blieb nicht aus. Er engagierte rasch einige neue Männer, ohne sich über ihren Lebenswandel den Kopf zu zerbrechen. Zwei wegen Diebstahl und Körperverletzung Verurteilte, ein übel beleumundeter Boxer, der in Cagliari ein Etablissement betrieb, einige Taugenichtse und Landstreicher bildeten das Gerüst der neuen Kampfformationen. Rechtfertigt nicht der Zweck die Mittel? Die squadre wurden hart trainiert: jeden Morgen militärisches Exerzieren irgendwo vor den Toren der Stadt, am Abend gruppenweise Streifzüge durch die Straßen der Stadt. Ich wurde Zeuge ihres ersten öffentlichen Auftritts. Ein sechzehnjähriger Arbeiter, allen als Kommunist bekannt, schlenderte [ 42 ]

allein durch die Straßen. Die Faschisten folgten ihm, an die sechzig Mann, in squadre aufgeteilt. Der Arbeiter bemerkte sie nicht. Die Schwarzhemden kreisten ihn nach den Regeln der militärischen Taktik ein, dann brüllte ihr Anführer: »A noi!« Die Faschisten stürzten sich auf den jungen Mann, warfen ihn zu Boden und bearbeiteten ihn mit Fußtritten und Knüppeln. Im Nu war die Aktion beendet. Die squadre formierten sich wieder, stimmten eine ihrer Parteihymnen an und marschierten ab. Der junge Arbeiter wurde mit schweren Verletzungen ins Spital gebracht. Hunderte Bürger hatten den Überfall mit angesehen. Viele Angreifer waren erkannt worden. Aber die Polizei rührte keinen Finger, weder an dem Abend noch später. Keiner der Schläger wurde verhaftet. Am nächsten Tag reagierte die Stadt von sich aus. Die Jugendorganisationen der antifaschistischen Parteien schlossen sich zu einer Einheitsfront zusammen. Für sie war es gleichgültig, ob der Überfallene ein Kommunist war oder ein Liberaler. Innerhalb weniger Stunden wurden Kampfmannschaften aufgestellt, jede Gruppe erhielt ihren Führer und wurde mit Knüppeln bewaffnet. Noch am gleichen Abend erfolgten die ersten Zusammenstöße. Die faschistischen squadre wurden in den Gassen und in ihren Schlupfwinkeln aufgestöbert und angegriffen. Die antifaschistischen Trupps schwärmten über die ganze Stadt aus, so daß kein Viertel vom Durcheinander verschont blieb. Manche Faschisten trugen Revolver bei sich und schossen, doch wurde niemand getroffen. Die Bevölkerung flüchtete in die Häuser. Bis spät in die Nacht hinein hallten die Rufe der Kämpfenden durch die Straßen. Die Polizei griff nur ein, um einige junge Männer aus den Reihen der Antifaschisten festzunehmen. Die Faschisten wollten nicht klein beigeben. Sie hatten einen neuen Anführer, eine neue Organisation, Waffen. Die Zusammenstöße wiederholten sich Tag für Tag, einige Wochen lang. Untertags war Cagliari eine friedliche Stadt, aber nach Einbruch der Nacht flammten die Kämpfe wieder auf. Beide Seiten hatten Verwundete zu beklagen. Schließlich mußten sich die Faschisten geschlagen ge[ 43 ]

ben. Sie lösten die squadre auf, und die fascio-Führung verzichtete fortan auf öffentliche Demonstrationen. Die Polizei nahm Verhaftungen in den Reihen der Antifaschisten vor. Die Bürger bekundeten ihre Solidarität mit den Verhafteten und demonstrierten gegen die Übergriffe der Polizisten. Der Präfekt, der höchste Repräsentant des Staates in der Provinz, nahm offen für die Faschisten Partei. Tat er es aus eigenem Antrieb? Hatte er aus Rom entsprechende Weisungen erhalten? In der Stadt wußte man es nicht. An zwei aufeinanderfolgenden Abenden erhoben sich im Theater, als der Präfekt in seiner Loge erschien, die Zuschauer von den Sitzen und schrien: »Hinaus mit dem Präfekten! Hinaus mit dem Präfekten.« Sein Prestige war auf Null gesunken, seine Position unhaltbar geworden. Als der Friede in der Stadt wiederhergestellt war, griff die Regierung in Rom ein und löste den Präfekten ab. Der neue Präfekt stand, nach dem, was man in Cagliari hörte, im Ruf, ein Liberaler zu sein. Er verbot zunächst den Gebrauch des Knüppels und reorganisierte die Polizei. Dann hielt er vor den versammelten Beamten eine Rede: »Ich bin hier, um die Legalität zu wahren. Neuerdings hängt sich das Banditentum in Italien politische Kleider um. Doch ich werde mit diesen Banditen aufräumen.« Für den Präfekten war es ein Kinderspiel, volkstümlich und beliebt zu werden. Der fascio steckte in einer Krise. Marchese Zapata verfaßte eine Elegie, die mit dem Vers begann: Flatternd weinst du, trostlos, edler Schmetterling! Indessen hatten sich in Sardinien einige andere Sektionen der faschistischen Partei konstituiert. Im Oktober 1922 beriefen die Faschisten ihren ersten gesamtinsularen Parteikongreß nach Iglesias ein. Auf der Insel gibt es 350 Gemeinden; doch konnten nur 22 Sektionen Vertreter in die Bergbaustadt entsenden. Die Mailänder Parteizentrale war durch den Abgeordneten Dudan vertreten. Er stammte aus Dalmatien und war ein verbissener Verfechter der geheiligten Rechte Italiens auf diesen ostadriatischen Küstenstreifen. Seine Anwesenheit steigerte die Bedeutung des Kongresses. In seinem Grundsatzreferat sprach Dudan über den Faschis[ 44 ]

mus, die Demokratie und den Bolschewismus; vor allem aber sprach er über Dalmatien. Aus seinem Munde erfuhren die Kongreßteilnehmer, daß Franzosen und Jugoslawen ein bei weitem übleres Gesindel waren als Demokraten und Bolschewiken. Während Dudan redete, vergaß der Kongreß ganz die Feinde des Faschismus, alle Verachtung konzentrierte sich auf die infamen Unterdrücker des geschändeten, in Ketten geschlagenen Dalmatien. Die Eröffnungssitzung des Kongresses endete in Kriegsbegeisterung: »Es lebe Dalmatien! Es lebe der Krieg! Nieder mit Jugoslawien! Nieder mit Frankreich!« Die Schwarzhemden brauchten ein Ventil. Und da in der Stadt weder Jugoslawen noch Franzosen waren, überfielen sie sozialistische Arbeiter. Die Folge waren wilde Schlägereien, so daß der Kongreß vertagt werden mußte. Er wurde später friedlich fortgesetzt. Herr Mocci nahm als Gewerkschaftsführer am Kongreß teil. Auf Sardinien bestanden zwar keine faschistischen Gewerkschaften, Mocci trat trotzdem als ihr Repräsentant auf. In einer Rede, die mit den nötigen lateinischen Zitaten gewürzt war, traten neben Julius Cäsar im Schwarzhemd, mit gezücktem Schwert und Pflug, Romulus, Remus und Mussolini auf. Natürlich nahm auch Marchese Zapata am Kongreß teil. Er hatte eine Rede aufgesetzt, teils in Prosa, teils in Versen. Doch widrige Umstände verhinderten seinen Auftritt. Nach Abschluß des Kongresses berief der Marchese in Cagliari die örtlichen Faschisten zu einer Versammlung ein und las ihnen die Rede vor. Er erzielte damit beachtlichen Erfolg. Die faschistische Zeitung berichtete ausführlich über den Kongreß. Der insulare Faschismus schien wieder zu neuem Leben zu erwachen.

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ährend Ministerpräsident Facta nicht müde wurde, voller Zuversicht zu sein, gewann der Faschismus immer mehr an Boden. Nun stürzten sich die Faschisten mit besonderer Wut auf die katholischen Arbeiterorganisationen; Genossenschaften und Vereine wurden niedergekämpft, ihre Lokale zerstört, die Führer überfallen. Im Juli stürmten die Faschisten von Cremona die Wohnung des Abgeordneten Miglioli, des Führers der katholischen Landarbeiter, und plünderten sie aus. Das Ereignis blieb nicht ohne Auswirkung auf die parlamentarische Arbeit. Die Katholiken stimmten am 19. Juli gegen die Regierung, Facta verlor seine Mehrheit und mußte demissionieren. In Ober- und Mittelitalien gingen die Konflikte weiter. Die geschäftsführende Regierung rührte keinen Finger. Und das Parlament bemühte sich redlich, aber vergeblich um die Bildung irgendeiner seriösen Regierungskombination. Die Ereignisse überstürzten sich. Am 30. Juli begab sich Filippo Turati, der Führer der Sozialdemokraten, auf den Quirinal; er brach mit der bis dahin heiligen Tradition, daß Sozialisten mit dem Monarchen nicht reden durften. Turati bot dem König die Mitwirkung der Sozialisten zur Verteidigung des Staates an. Die Entscheidung drängte. Sollte ein Linkskabinett gebildet werden? Oder war es nicht doch klüger, wieder die Rechte an die Regierung zu rufen? Die Situation war dramatisch. Aber König Vittorio Emanuele III. zog es vor, an der kritischen Wegkreuzung, die eine eindeutige Wahl erfordert hätte, abzuwarten. Er beauftragte Facta wieder, das zurückgetretene Kabinett zu reparieren. Die meisten hatten diese Lösung erwartet. Die Faschi[ 46 ]

sten zerstörten, brandschatzten und plünderten schlimmer als zuvor und sammelten Siegeskränze. Die antifaschistische Arbeiterorganisation aus Industrie und Landwirtschaft, die Alleanza del Lavoro, entschloß sich zu einer letzten Aktion des Widerstandes: Sie rief für ganz Italien einen Generalstreik aus. Der Ausstand begann am 31. Juli um Mitternacht. »Der Generalstreik verfolgt das Ziel, die politischen und gewerkschaftlichen Freiheiten zu schützen!« verkündeten die Plakate. Es war das erste Mal, daß die italienischen Arbeiter sich geschlossen für die demokratischen Errungenschaften schlugen. Doch man hatte die Kriegskunst ungenügend studiert: Gegen einen Feind, der nur in offener Feldschlacht hätte geschlagen werden können, begnügte man sich mit einer demonstrativen Aktion. Die Regierung schritt prompt und energisch gegen den Generalstreik ein. »Für die Verteidigung des Staates sorge ich!« pflegte Ministerpräsident Facta zu wiederholen. Und zu seiner Unterstützung trat auch der Faschismus mit der Generalmobilmachung an. Der Generalstreik erreichte ein einziges Ziel: Er lieferte den Beweis dafür, daß die Arbeiterbewegung die Kraft von einst verloren hatte. Die Arbeiter hatten kein Vertrauen mehr, weder zu sich noch zu ihren Führern. Die Faschisten nützten die Chance, um Ligurien zu erobern. In Mailand steckten sie die Druckerei des sozialistischen Avanti in Brand; es gab auf beiden Seiten Tote und Verwundete. Es gelang den Faschisten, ohne daß sie auf Widerstand gestoßen wären, das Mailänder Rathaus zu besetzen und die sozialistische Gemeindeverwaltung zu vertreiben. Gabriele D’Annunzio wurde in aller Eile aus Gardone nach Mailand gebracht, wo er die Rede zur Besitzergreifung hielt: »Bürger von Mailand! Nein, Männer von Mailand, wie der Kommandant eines ehernen Zeitalters wohl sagen darf ...« D’Annunzios Rede blieb sehr allgemein, der Dichter wollte sich seinem Konkurrenten Mussolini gegenüber nicht festlegen. Die Faschisten brachten auch eine Reihe kleinerer Städte Mittelitaliens in ihre Hand. Nur in Parma waren die Antifaschisten über die neutrale Haltung des Staates und der Streitkräfte empört und setzten sich zur Wehr. Die Faschisten hatten in weitem Umkreis alle [ 47 ]

squadre mobilisiert und gegen Parma in Marsch gesetzt. Der spätere Luftwaffenminister onorevole Balbo übernahm das Oberkommando. Aber Parma erhob sich; hinter den rasch errichteten Barrikaden hielt die Stadt das bestorganisierte faschistische Heer fünf Tage lang in Schach. Balbo zog ab, geschlagen, gedemütigt. Doch der Generalstreik war gescheitert. Filippo Turati schrieb in seiner Zeitung: »Diese Kraftprobe endete mit unserer schmählichen Niederlage.« Die Faschisten triumphierten. Auf den Plakaten ihrer Parteileitung stand: »Arbeiter Italiens! Die Faschistische Partei hat die Ketten eurer Versklavung zerschlagen, sie hat euch die Freiheit wiedergegeben. Geht klug mit ihr um!« Ein großartiges Geschenk. Der Staat war wehrlos. Am 11. August gewährte Mussolini ein Interview, in dem er kundtat: »Der Marsch auf Rom ist bereits in Gang.« Am 13. August tagte in Mailand das Zentralkomitee der Faschisten. Wie soll man sich der Macht im Staat bemächtigen? – das war die Frage. Die Regierung schreckte niemanden mehr. Mussolini erklärte: »Es gibt zwei Wege, um zur Macht zu gelangen: den legalen Weg über die Wahlen oder den illegalen Weg des Aufstandes.« Aber obwohl der Faschismus über eigene Kampftruppen verfügte, wollte die Mehrheit im Land nichts von ihm wissen. Deshalb erläuterte Mussolini in seiner Rede: »Ich möchte nicht riskieren, daß im Fall einer Wahl die Urnen beweisen, daß wir nichts erobert haben.« Keine Wahlen also. Der erste Weg schied aus. Doch war auch der Aufstand eine problematische Angelegenheit. Parma hatte es geoffenbart. Man mußte einerseits möglichst starke und viele politische Kräfte für den Faschismus gewinnen und anderseits mit wenigen den Aufstand machen und das Volk überrumpeln. Mit anderen Worten: man mußte die Macht im Staat erschleichen. Mussolini machte sich sofort ans Werk. Er verhandelte mit Facta und verlangte ein paar Ministerien, in erster Linie das Kriegsministerium, dem die Armee unterstellt war. Jedermann sah, daß hier ein Trojanisches Pferd in die Zitadelle der Macht gebracht werden [ 48 ]

sollte. Nur Facta ahnte nichts; geduldig bemühte er sich um ein Übereinkommen. Aber einige Minister widersetzten sich, die Verhandlungen platzten. Wenn man sich nicht in die Zitadelle der Macht einschleichen kann, muß man sie von außen bearbeiten. Nun gilt es zuallererst die Gunst des Heeres und des Königs zu erringen. Der König ziert sich. Sind diese Faschisten nicht ein Haufen von Revolutionären? Haben sie nicht republikanische Gelüste? Mussolini kennt die Ängste des Monarchen. Am 20. September erklärt er bei einem Massenaufmarsch der Schwarzhemden in Udine: »Wir müssen den Mut aufbringen, Monarchisten zu sein.« Es folgen großartige Sympathiekundgebungen für das Heer. Die Losung lautet: »Es lebe das Heer!« Der Herzog von Aosta, ein Vetter des Königs, Kommandant einer Armeegruppe und verwandt mit dem Thronprätendenten Frankreichs, verspricht Mussolini seine Unterstützung für einen Staatsstreich. Der Faschismus ist in Aufruhr. Die Nation zittert vor Angst und Ungewißheit. Die Parlamentarier sprechen beim Ministerpräsidenten vor und bestürmen ihn, sofort etwas zu unternehmen. Facta empfängt einen nach dem andern und versichert lächelnd: »Ein Marsch auf Rom? In Rom bin ich. Ich bin da, mit meinen Regimentern und Kanonen.« Den Abgeordneten, die eine ungefähre Ahnung von militärischen Dingen haben, zeigt Facta sein Fernrohr und einen großen Stadtplan, auf dem alle Festungen der Hauptstadt eingezeichnet sind. Kein Zweifel, die Festungen sind da, jede an ihrem Platz. »Ich habe befohlen, daß man die Kanonen schmiert«, erklärt Facta. Der Abgeordnete Beneduce, ein unerschütterlicher Demokrat und ehemaliger Arbeitsminister, hat seinen eigenen Plan. »Wir müssen einen Gegenmarsch vorbereiten«, sagt er. »Jedes Gift hat sein Gegengift. Gegen einen Aufstand einen Gegenaufstand. Gegen einen Staatsstreich einen Gegenstaatsstreich.« Beneduce war ununterbrochen unterwegs: Er sprach mit Generälen, Politikern, Industriellen, Bankiers, Arbeiterorganisationen; er verlangte Geld, Waffen und Mannschaften. Von einem zum anderen [ 49 ]

rennend, verlor er niemals den Mut. Ein paar Monate später war er Faschist, eine gewichtige Autorität im Schwarzhemd. »Wozu haben wir das Gesetz?« fragte dagegen der Abgeordnete Petrillo, ein überzeugter Demokrat, ein klassischer Redner und eine der Autoritäten der neapolitanischen Advokatenschule. »Das Gesetz! Man wende das Gesetz an! Man lasse Mussolini verhaften, und alles ist zu Ende. Warum verhaftet man ihn nicht? Laut Gesetz spricht nichts dagegen.« Facta hörte von diesen Ratschlägen. Ungläubig schüttelte er den Kopf »Mussolini verhaften? Schön und gut, aber wie, frage ich, wie?« »Wie? Geben Sie einem ganz gewöhnlichen Präfekten den Befehl dazu!« riet Petrillo unbeirrt und unerschrocken. Doch niemand hörte auf ihn. Die folgenden Ereignisse stürzten onorevole Petrillo in eine Nervenkrise, die er bald überstand. Einige Zeit später war auch er ein allseits geachteter Faschist. Was hatte es mit diesem »Marsch auf Rom« überhaupt auf sich? Niemand hatte klare Vorstellungen, was damit gemeint war. Die Presse vertrat nahezu übereinstimmend die Ansicht, es handle sich sozusagen um einen ideellen Marsch: »Marsch auf Rom« sei eine Metapher, die in Wahrheit geistigen Aufbruch, moralische Besitzergreifung meine. Selbst Mussolinis Ideen schienen eher verworren zu sein. In dem berühmt gewordenen Interview vom 11. August 1922 hatte er unter anderem erklärt: »Der Marsch auf Rom ist strategisch ohne weiteres möglich; die Marschwege sind vorgezeichnet: Adriatische Küste, Tyrrhenische Küste, Tibertal.« Wer diese strategischen Vorstellungen anhand einer Landkarte überprüft, wird mühelos feststellen, daß es sich um wirres Geschwätz handelte. Eines freilich war klar: Mussolini dachte sehr wohl an einen richtigen, konkreten Marsch, bei dem nicht im Geiste, sondern mit den Stiefeln marschiert werden sollte. Facta wußte es wie immer besser: »Niemand wird mir je ausreden können, daß das Ganze nichts anderes ist als eine rhetorische Figur.« Die Faschisten beriefen für den 24. Oktober den nationalen Parteikongreß und einen Massenaufmarsch ihrer Kampfgruppen [ 50 ]

nach Neapel ein. Handelte es sich dabei vielleicht um die getarnte Mobilmachung? Am 29. September hatte Mussolini in Rom verkündet: »Der Marsch auf Rom ist beschlossene Sache.« Kein Zweifel, der Marsch würde ein wirklicher Marsch sein und keine Metapher. Facta war infolge der jüngsten Entwicklungen ausnehmend besorgt. Doch in seiner Bedrängnis kam ihm eine geniale Idee zu Hilfe. Er entwickelte einen Plan, dank dem, wäre er gelungen, Gabriele D’Annunzio zum originellsten Diktator aller Zeiten – der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft – geworden wäre. Factas Plan basierte auf dem Gegensatz zwischen Mussolini und D’Annunzio. Daß die beiden sich auf den Tod haßten, war allgemein bekannt; vor den Augen der Öffentlichkeit beweihräucherten sie sich gegenseitig, aber hinter den Kulissen bekämpften sie einander bis aufs Messer. Sie stritten um die Regierung Italiens. Große, herrliche Zeiten! Der ursprüngliche Plan für den Marsch auf Rom stammte von D’Annunzio. In den Monaten, da er als Prinzregent in Fiume residiert hatte, war der Marsch auf Rom seine fixe Idee gewesen: Das Parlament auflösen und Ministerpräsident Nitti aufhängen – das war D’Annunzios literarisch-politischer Traum. Eine Diktatur von Dichtern und Künstlern – eine Art Republik von Montmartre – hätte das Unternehmen krönen sollen. Leider war Fiume gefallen. Doch aus den Trümmern des Fiume-Unternehmens war der Faschismus entstanden. Und der Faschismus übernahm vom Heer D’Annunzios Sitten und Gebräuche, Lieder, Bewaffnung, Aufmärsche und eine beträchtliche Anzahl von Legionären. Das Unglück des comandante (so ließ sich der Dichter-Soldat nennen) wurde zur Basis für das Glück des Duce. Kochend vor Wut, bezeichnete D’Annunzio den Faschismus als Sklaventreiberei. Die Beziehungen zwischen den beiden Rivalen waren derart gespannt, daß sowohl Mussolini als auch der Dichtercomandante sich mit bewaffneten Leibgarden umgaben. »Derjenige, der den andern umbringt, wird zum Herrscher Italiens werden«, orakelten die Leute. In späteren Jahren lernte ich einen Hauptmann aus den Reihen D’Annunzios kennen, der wegen dieser Intrigen von den Faschisten [ 51 ]

konfiniert und auf eine Insel deportiert worden war. Als D’Annunzio erfuhr, daß Mussolini ernstlich an einen Marsch auf Rom dachte, rief der Dichter aus: »Rom, o du mein hehres Rom, wirst du dich einem Schlächter hingeben?« Für kurze Zeit glaubten alle, D’Annunzio allein könne die Gefahr eines faschistischen Staatsstreichs bannen. Sogar der Gewerkschaftsbund, der den Dichter gehaßt hatte, entschloß sich, D’Annunzio durch Vermittlung des Abgeordneten Aragona eine in mittelalterlichem Italienisch abgefaßte Botschaft zukommen zu lassen. Facta dachte ähnlich. Er schickte sich an, D’Annunzio als tragende Säule in sein Abwehrsystem einzubauen. Facta gewann die Führer der »Vereinigung der Kriegsinvaliden« für sich, die alle Gegner des Faschismus waren. Als Mittelsmann fungierte der für die Kriegspensionen zuständige Staatssekretär Rossini, ein geborener Demokrat und leidenschaftlicher Antifaschist. Etliche Monate später – der Leser hat es sicherlich schon erraten – war auch Rossini Faschist und obendrein Senator. Die Regierung erhielt präzise Informationen, wonach Mussolini den Marsch auf Rom am 4. November durchführen wolle. Der 4. November ist der Jahrestag des Waffenstillstandes und des Sieges im Ersten Weltkrieg, der Tag, an dem man des Unbekannten Soldaten gedenkt, und folglich Nationalfeiertag. Facta wollte nun für diesen Tag alle Invaliden Italiens mobilisieren und nach Rom schaffen. Wäre Mussolini am 4. November nach Rom marschiert, hätte er den Helden und Märtyrern des Krieges gegenüberstanden, in deren Namen er zu sprechen und zu handeln vorgab. Und inmitten dieser das Vaterland behütenden lares hätte Mussolini D’Annunzio, Facta und die Herren des Kabinetts vorgefunden. D’Annunzio war einverstanden. Alle waren einverstanden. Der Dichter setzte sich hin, schrieb die Rede nieder, die er in Rom halten wollte. Und las sie seinen intimsten Freunden vor. Die Nachricht von diesem Komplott erreichte Mussolini in Neapel bei der Parade seiner Kampfgruppen. Er hatte vor Glück gestrahlt, denn kurz zuvor hatte er ein Telegramm des Präsidenten der Abgeordnetenkammer De Nicola erhalten, eines Demokraten, der als unbeugsamer Antifaschist galt; De Nicola wünschte dem [ 52 ]

faschistischen Kongreß viel Erfolg. Als der Duce aber von dem Komplott hörte, war es mit der guten Laune aus. Gewiß, unter anderen Umständen hätte er eine solche Botschaft wahrscheinlich mit einem Ausbruch von Heiterkeit quittiert. Aber jetzt? Er war schon sehr aufgeregt. Nun begann er in Panik zu geraten. D’Annunzio in Rom? Der wächserne, kahlköpfige Dichter, der Waffenlose, jagte ihm Furcht ein. Hatte nicht Papst Leo der Große sich dem Hunnenkönig Attila in den Weg gestellt und die unbesiegten Barbaren durch sein Wort besiegt? So ist das also! Facta schmiedet ein Invalidenkomplott, weil er zu feige ist, mit Gewalt vorzugehen! Der Duce beschloß, Factas Pläne zunichte zu machen und den Gewaltstreich zu wagen. Er nützte die allgemeine Begeisterung und beschleunigte das Tempo des Geschehens: »Nach Rom! Nach Rom!« schrien die Faschisten in Neapel. Mussolini antwortete: »Entweder sie übertragen uns die Regierung, oder wir holen sie uns. Es handelt sich nur noch um Tage – oder um Stunden.« Der Parteikongreß der Faschisten hatte jeden Sinn verloren: viel Lärm um nichts. Die Delegierten hatten es eilig. »Was sollen wir in Neapel? In Neapel regnet es!« schrie mitten im Kongreß der Parteisekretär, onorevole Michele Bianchi. Der Ausspruch war zweideutig wie die berühmten Auskünfte der Orakel. Aber gerade solche sinnlosen Phrasen erhalten eine geheimnisvolle, die Gläubigen faszinierende und bannende Bedeutung. »In Neapel regnet es!« wiederholten die Delegierten. Bianchis Ausspruch ging in die Geschichte ein. Der Kongreß wurde unterbrochen und der Marsch auf Rom begann mit einer enthusiastischen Schwarzhemdendemonstration vor dem Kommando des Armeekorps. »Es lebe das Heer!« Offensichtlich fürchteten die Faschisten das Heer. Dies trug sich am 26. Oktober in Neapel zu. Was aber geschah indessen in Rom? Rom war ruhig, gleichmütig. Das Leben ging seinen normalen Trott. Die Regimenter lagen in den Kasernen, diszipliniert wie immer. Die Polizei kontrollierte jede verdächtige Bewegung. Die Faschisten hatten aufgehört, sich in ihren Schwarzhemden zu zei[ 53 ]

gen; wenn sie ausgingen, ließen sie auch die Wappen zu Hause. Trotzdem war die Regierung nervös. Der Ministerrat tagte in Permanenz, aber je länger er tagte, desto deutlicher offenbarten sich die Gegensätze. Facta war der Aufgeregteste von allen. Aus dem Invalidenfest vor dem Grab des Unbekannten Soldaten wurde nichts. Aus, der Traum vom 4. November! In seiner langen parlamentarischen Karriere hatte er sich nie in einer ähnlichen Lage befunden. Facta konnte also von der Vergangenheit keinen nützlichen Rat erwarten. Er saß da wie auf glühenden Kohlen. Eine Gruppe von Abgeordneten sprach bei ihm vor. Die Kollegen drängten ihn, er solle sich entschließen, Gewalt einzusetzen. Doch der Regierungschef schluchzte nur: »Gewalt? Wollt ihr wirklich, daß ich Gewalt anwende? Gut, wenn ihr unbedingt wollt, werde ich mir eine Kugel durch den Kopf jagen.« Mussolini hielt sich voller Skrupel an die klassischen Kriegsgewohnheiten. Ehe man einen Krieg beginnt, hat man den Krieg zu erklären. Zu diesem Zweck schickte er Boten nach Rom. Kerenskij gilt allgemein als Schwächling. Es ist üblich, einem Kranken die Krankheit vorzuhalten. Aber als Fürst Lwow, der Vermittler, bei ihm erschien und vorschlug, beim Staatsstreich gemeinsame Sache mit Kornilow zu machen, ließ ihn Kerenskij verhaften. Und im November 1917 versuchte Kerenskij, Soldaten, Kosaken, Matrosen und Kadetten aufzubieten, um die Machtergreifung der Sowjets in Petrograd zu verhindern. Verzweifelt appellierte er an alle, um die Disziplin zu retten. All seine Mühen waren vergeblich, doch wird die Geschichte ihm zugute halten, daß er bis zuletzt gekämpft hat. Was tat dagegen onorevole Facta? Zunächst empfing er die Abgesandten des Duce, die ihm Krieg oder Frieden anboten, mit der erlesensten Höflichkeit. Und versuchte Zeit zu gewinnen. Großzügig ließ er Speisen, Getränke und Zigarren auftischen. Als er erkannte, daß freundliches Händeschütteln und üppige Bankette sinnlos waren und daß der Marsch auf Rom schon begonnen hatte, nahm er allen Mut, dessen er fähig war, zusammen. Und was tat er? Er ging zum König und bot ihm die Demission des Kabinetts an.

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er »Marsch auf Rom« ist eines der interessantesten Ereignisse der neueren Geschichte. Dem nichtitalienischen Leser sei an dieser Stelle empfohlen, eine Landkarte Italiens zur Hand zu nehmen. Der Marsch wurde am 26. Oktober 1922 in Neapel beschlossen. Dort wurde auch die Detailplanung festgelegt: Totalmobilmachung der Faschisten zwischen 26. und 27. Oktober; am 28. Oktober Beginn des Marsches. Das Schicksal Italiens muß sich in Rom entscheiden, das liegt auf der Hand. Mussolini besteigt in Neapel den Schnellzug, fährt durch Rom nach Norden und verbannt sich aus eigenen Stücken nach Mailand. Mailand liegt am anderen Ende Italiens, rund 600 Kilometer von Rom entfernt. In Neapel wäre er der Hauptstadt näher gewesen. Die vom Duce getroffene Wahl des Gefechtsstandes ist zweifellos originell. Auch heutzutage sind, trotz aller Fortentwicklung der Waffen, 600 Kilometer zwischen dem Oberkommandierenden und dem kämpfenden Heer eine außergewöhnliche Distanz. Dafür aber bietet Mailand den Vorteil, daß es nur wenige Kilometer zur Schweizer Grenze sind. Die Mobilmachung der Faschisten funktioniert mehr schlecht als recht, in den meisten Regionen überhaupt nicht. Ein Aufstand gegen einen Staat, der entschlossen ist, sich zu wehren, ist kein Kinderspiel. Die Italiener sind noch zuversichtlich: »Dieser Marsch endet im Kerker!« Doch die Regierung hat demissioniert und führt nur noch die Geschäfte weiter. Der Generalstab der faschistischen Kampfgruppen schlägt sein [ 55 ]

Hauptquartier in Perugia auf. Dem Generalstab gehören Bianchi, De Bono, De Vecchi und Balbo an. Der Herzog von Aosta will dem Unternehmen jede Hilfe leisten: Er reist heimlich in die Gegend von Perugia. Faschistische Marschkolonnen sammeln sich in Civitavecchia, Mentana und Tivoli. Das Marschziel ist klar: Rom. Doch herrscht ein heilloses Durcheinander. Es gibt Mißverständnisse, Verspätungen, Pannen aller Art; die Marschkolonnen brechen auseinander, finden einander nicht; der Aufmarsch an den Sammelpunkten erfolgt schon verspätet. Außerdem haben die meisten Faschisten keine Waffen; viele haben Jagdgewehre mitgebracht; für die Gewehre aus dem Heer ist nicht genügend Munition vorhanden. Nur einige MG-Abteilungen aus der Toskana haben einsatzfähige Waffen. Die Lebensmittel werden schon am ersten Tag knapp. »Essen! Wir wollen Essen!« schreit die Marschkolonne in Mentana. Fast wäre es zu einer Meuterei gekommen. In einigen Provinzstädten gelingt es den Faschisten, die öffentlichen Gebäude in Handstreichen zu besetzen. In Mailand verbarrikadiert sich Mussolini im Redaktionsgebäude seiner Zeitung, des Popolo d’Italia, und läßt rundherum einen Stacheldrahtverhau anbringen. Am Abend des 27. Oktober verkündet er: »Wir müssen unsere Festung um jeden Preis halten!« Der Marsch beginnt damit, daß sich der Oberkommandierende des ganzen Unternehmens am Vorabend des historischen Ereignisses in seiner Festung hinter spanischen Reitern festsetzt. Eine Abteilung der Mailänder Faschisten stürmt indessen die Wachstube der Alpini-Kaserne in der Anconastraße und besetzt den Eingang zur Kaserne. Der Regimentskommandeur, ein Oberst, macht kurzen Prozeß und läßt ein Bataillon aufmarschieren. »Es lebe das Heer!« brüllen die Faschisten. »Danke«, erwidert der Oberst. »Wenn ihr in fünf Minuten nicht abzieht, wird geschossen.« »Es lebe das Heer!« brüllen die Faschisten noch einmal. Um die Soldaten von ihrer Hochachtung für sie zu überzeugen, läßt der Anführer die Faschisten die Waffen präsentieren. Der Oberst bleibt ungerührt. Er wiederholt: Abmarsch in fünf Minuten, oder es wird geschossen. [ 56 ]

»Nein. Das ist unmöglich«, erklärt der Anführer der Faschisten. »Wir werden eher fallen als abziehen.« »Eurem Wunsch«, sagt der Oberst. »kann entsprochen werden.« Die Lage wird kritisch. Das Alpini-Bataillon ist in Stellung gegangen; die Soldaten pflanzen die Bajonette auf. Der Anführer der Faschisten sieht ein, daß es keinen Sinn hat, länger zu diskutieren. Er bittet, die Frist um eine Minute zu verlängern, und telefoniert mit Mussolini. Der Duce hört sich den Bericht an, verläßt seine Festung und stürzt zur Alpini-Kaserne. Dort kommt es zu einem kurzen, heftigen Wortwechsel zwischen dem Oberst und dem Duce. Der Oberst verliert die Geduld und läßt das Trompetensignal zum Angriff geben. Mussolini sieht ein, daß die Situation nicht mehr zu retten ist. »Abziehen!« befiehlt er. Die Faschisten verlassen die Kaserne; der Duce kehrt in seine Festung zurück. In Rom ist weiterhin alles ruhig. »Laßt sie nur kommen!« sagen die Optimisten, »zwei Kanonenschüsse genügen, und es ist aus mit dem Marsch.« Einheiten des Heeres haben alle strategischen Punkte der Stadt besetzt, den Königspalast, die Ministerien, die Bahnhöfe, die Kraftwerke, das zentrale Post- und Telegrafenamt. Kanonen, Panzerfahrzeuge und MG-Abteilungen rollen kreuz und quer durch die Stadt. Die Führer des römischen fascio sind verhaftet worden. Niemand leistet Widerstand. Niemand regt sich. Aber aus den Provinzen treffen beunruhigende Nachrichten ein. Endlich entschließt sich der amtsführende Ministerrat, den Belagerungszustand auszurufen. Der König gibt seine Zustimmung. Der Staat muß sich schließlich verteidigen. Am 28. Oktober wird über ganz Italien der Belagerungszustand verhängt. Die ersten Weisungen der Regierung an die Provinzbehörden sind eindeutig: »Alle faschistischen Führer sind unverzüglich zu verhaften. Jedes Mittel einsetzen!« Die zivilen Behörden übergeben die Macht dem Militär. Das Heer gehorcht, ohne zu zögern; die Weisungen Roms werden diszipliniert befolgt. Mussolini wird in Mailand zum Präfekten zitiert. Der Kondottiere muß seine Festung ein zweites Mal verlassen. Er begibt sich in [ 57 ]

die Präfektur, fügsam und bescheiden wie der gesetzestreueste Bürger. Der Präfekt unterrichtet ihn über die Weisungen der Regierung. Der Duce muß verhaftet werden. Die Situation hat sich ins Gegenteil verkehrt. Panik erfaßt die Faschisten, steigert das Durcheinander in ihren Reihen. Sollte der Staat sich wirklich verteidigen? »Verrat! Verrat!« schreien die Faschisten. Doch Ungewißheit und Verwirrung währen nicht lang. Noch am gleichen Tag, am 28., um 12.40 Uhr, gibt die Agentur Stefani die neueste Meldung aus Rom durch: »Der Belagerungszustand ist aufgehoben.« Glanz und Elend einer provisorischen Regierung! Was war geschehen? Nichts Besonderes, genaugenommen. Ministerpräsident Facta hatte sich zum König begeben, um das gemeinsam mit dem König vereinbarte Dekret über den Belagerungszustand unterzeichnen zu lassen. Der König hatte geantwortet: »Unmöglich. Ich kann ein solches Dekret unmöglich unterschreiben.« Facta insistierte ehrerbietigst. Einige Tage danach sagte der König zum faschistischen Abgeordneten De Vecchi: »Es ist mein Wunsch, daß alle Italiener erfahren, daß ich als einziger mich geweigert habe, das Dekret über den Belagerungszustand zu unterschreiben.« »Viva il Re! Es lebe der König!« jubelten die Faschisten. Die Führung der Liberalen Partei erachtete es als ihre Pflicht, nicht länger zu zögern: Sie erließ eine Proklamation an das Volk, in der sie die Weisheit des Souveräns rühmte. Das Heer wurde in die Kasernen zurückbefohlen. Am 29. Oktober erhielt Mussolini in Mailand ein Telegramm des Königs mit der Einladung, die neue Regierung zu bilden. Der Duce bestieg in Mailand den Zug und kam am nächsten Morgen in Rom an. Die Hauptstadt feierte das Ereignis: Trikoloren wehten von Fenstern und Balkonen, in den Straßen bildeten sich spontane Festzüge. Nur die kleinen Leute im San-Lorenzo-Viertel teilten die Freude der Bürokraten nicht. Was immer die Regierung sagte und die Parteien predigten, in San Lorenzo richtete man sich auf Vertei[ 58 ]

digung ein. Später, als die Faschisten in die Stadt einzogen, vergossen auf den Barrikaden von San Lorenzo einige namenlose Helden ihr Blut für die Freiheit. Die faschistischen Marschkolonnen faßten neuen Mut. Doch lagen sie noch gute hundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Es war ein zeitraubendes und kompliziertes Unternehmen, sie nach Rom zu bringen. Die Regierung ließ die marschierenden Schwarzhemden mit Lebensmitteln versorgen und erteilte neue Direktiven für die Fortsetzung des Marsches. Erst am 31. Oktober, zwei Tage nach Mussolinis Abreise aus Mailand, erreichten die Marschkolonnen die Hauptstadt. Jubelnd defilierten sie am Quirinal, dem Amtssitz des Königs, vorbei. Vittorio Emanuele III. stand auf dem Balkon, inmitten der königlichen Familie. Neben dem Monarchen Mussolini im schwarzen Hemd. »Viva il Re! Viva il Re!« riefen die Schwarzhemden, stundenlang. »Was soll das Geschrei? Hat denn der König den Marsch auf Rom gemacht?« fragte das Volk. Dem neuen Kabinett gehörten ein General, ein Admiral und – inklusive Mussolini – zwölf Faschisten an. Außerdem fanden sich fünf Radikaldemokraten, fünf Christlichsoziale und zwei Liberale bereit, Ministerposten zu übernehmen, um – wie sie einmütig beteuerten – »die Revolution zu bremsen«. Besondere Autorität erhielt das Kabinett durch den Unterrichtsminister Giovanni Gentile, den Künder des neuhegelianischen Idealismus, den Philosophen des »reinen Aktes«. Mussolini hat sich als Herr des neuen Italien durchgesetzt. Nun kommt auch die Zustimmung. Als erster meldet sich der Chef des Divisionskommandos von Rom zu Wort, Generalleutnant Pugliese: Er bekundet im eigenen Namen und im Namen seiner Division die Bereitschaft, für den Duce zu sterben. Ich kannte den General. Wir hatten 1915 und 1916 sozusagen gemeinsam an einigen schweren Kämpfen teilgenommen, er auf seinem Platz, ich auf dem meinen. Seine Todesverachtung mitten im Frieden überraschte mich um so mehr, als Pugliese im Krieg keine große Bereitschaft zu sterben gezeigt hatte. [ 59 ]

Ein Freund, der sich auf das Seelenleben der Militärs besser verstand als ich, klärte mich auf: »Die Psyche einiger Generäle ist nicht selten überaus komplex«, sagte er. »Sie verwenden zuweilen, um ihre Gedanken zu äußern, ganz und gar antithetische Begriffe. Wenn sie von Frieden reden, kann man darauf wetten, daß sie den Krieg meinen. Und wenn sie ihre bedingungslose Todesbereitschaft beteuern, haben sie garantiert nichts anderes im Sinn als das Leben – das gute Leben, versteht sich.« Natürlich konnten sich auch die Führer der nationalen »Vereinigung der Kriegsinvaliden« nicht einfach von den Ereignissen überrollen lassen. Sie veröffentlichten am 31. Oktober ein Manifest, das eine einzige Hymne auf den Duce war: »Für Italien schlägt die Stunde der Stärke. Wir fühlten sie kommen. Wir haben sie vorbereitet.« Da die Führer der Invaliden wußten, daß ihr Komplott mit D’Annunzio ruchbar geworden war, begaben sie sich in die Defensive: »Man hat«, hieß es im Manifest, »durch hinterhältige Umtriebe und gemeine Parteienmanöver versucht, unsere lautersten Absichten zu besudeln. Man wollte den Dichter-Helden und seine Gefährten im Opfer des Krieges feige in einen Hinterhalt locken ...« Die Verfasser des Manifests sprachen im Namen aller Kriegsinvaliden Italiens; sie taten es mit dem nämlichen Recht, mit dem General Pugliese im Namen jedes einzelnen Soldaten seiner Division sprach. Es ist nicht unwichtig, wenn der Leser erfährt, daß die Führer der Kriegsinvaliden in kürzester Frist geschlossen zum Faschismus übertraten und faschistische Abgeordnete wurden: Delcroix, Mamalella, Romano, Bacarini und wie sie alle hießen. Als unvorsichtige Freunde Bacarini, ohne ihn entsprechend auf die Nachricht vorbereitet zu haben, eines Tages mitteilten, die Faschisten würden ihn möglicherweise nicht auf ihre Kandidatenliste setzen, erlitt der Ärmste in meiner Anwesenheit einen epileptischen Anfall mit Krämpfen, Verrenkungen und dramatischen Zwischenstadien der Bewußtlosigkeit. Dagegen ließ sich Gabriele D’Annunzio durch das Geschehen in Rom nicht aus der Fassung bringen. Gewiß, sein Plan war gescheitert, seine Rede vergeblich geschrieben. Die Gesetze der Ästhetik geboten ihm, Ruhe zu bewahren. Gleichmütig wartete er ab, was [ 60 ]

kommen würde. Er wußte, daß der Duce seiner Leier nicht entraten konnte. Tatsächlich versicherte Mussolini den Dichter durch drei verschiedene hochgestellte Mittelsmänner seiner uneingeschränkten Wertschätzung. War dies ernst gemeint? Wollte Mussolini ihn verhöhnen? Der Dichter antwortete mit einer sibyllinischen Botschaft, deren Schlußsatz lautete: »Der Sieg hat die lichten Augen der Pallas Athene!« Mussolini trug ihm nichts nach. Auch D’Annunzio hörte bald auf, sich zu zieren. Er rückte in die Reihen der Persönlichkeiten des Regimes ein, wurde General honoris causa und Fürst von Monte Nevoso. Eine ansehnliche staatliche Apanage bot ihm die Möglichkeit, seine Einsamkeit als Souverän ohne Krone angenehmer zu verbringen. »Die Dubarry des Regimes!« spöttelten sogar seine Verehrer. Die hohen Beamten des liberalen Staates fanden, daß alles, was sich ereignet hatte, völlig normal war. Sie vergaßen und verdrängten die üblichen verfassungsrechtlichen Spitzfindigkeiten und beeilten sich, den Anschluß an die vollendeten Tatsachen nicht zu verpassen. Standen nicht sogar die großen Oppositionsparteien dem Geschehen machtlos gegenüber? Am besten, man hielt den Mund und gehorchte. Nur der Botschafter Italiens in Paris, Graf Sforza, empfand ein gewisses Unbehagen und stellte sein Amt zur Verfügung. Die Faschisten erklärten ihn sogleich zu einem Rebellen und Deserteur und empfahlen ihn der Verachtung der Nation. Und die Nation? Was ist die Nation? Die Ruhe überschwemmt Italien. Die Zeiten der Unordnung sind vorbei. Keine Streiks mehr, keine Plünderungen, kein Bruderblut auf den Straßen. Der Staat hat sich in neue Gewänder gehüllt und schreitet feierlich einher. Triumphierend kehrt das Recht aus langer Verbannung heim. Alle Glocken läuten festlich: Der Friede ist angebrochen. Italien will zur Ruhe kommen. Es ist Zeit zum Schlafen. Augen zu, man läßt dem Schicksal seinen Lauf. [ 61 ]

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n Sardinien jedoch herrschte beträchtliche Erregung. Die Faschisten der Insel hatten nicht am Marsch auf Rom teilgenommen. Sie wurden wie ihre Kameraden auf dem Festland mobilisiert und hätten laut strategischem Plan eine Reihe öffentlicher Einrichtungen besetzen sollen, welche genau, wußte niemand. Jedenfalls wurde von ihnen erwartet, daß sie sich rührten, daß sie handelten. Nach der Mobilmachung konzentrierten die sardischen Faschisten all ihre Anstrengungen auf Cagliari. Am Morgen des 28. Oktober tauchten die Schwarzhemden zur allgemeinen Überraschung in der Hauptstadt auf; in militärischer Ordnung marschierten sie zur Zentrale unserer Oppositionspartei. Die Antifaschisten hatten für den Fall eines Angriffs Vorkehrungen getroffen; ihre Selbstschutzorganisation stellte sich den Faschisten auf offener Straße zum Kampf. Der Zusammenstoß war heftig, aber kurz. Es gab kaum Verwundete. Die Faschisten waren geschlagen; sie flüchteten Hals über Kopf. Sogar ihre Fahne ließen sie in den Händen der Gegner. Zwei, drei Tage lang hörte man von den Schwarzhemden überhaupt nichts mehr. Die meisten waren aus der Stadt geflüchtet und hatten sich irgendwo versteckt. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Kunde von ihrer Niederlage auf der ganzen Insel verbreitet. Der sardische Faschismus war wie weggezaubert. Als dann die Nachricht kam, daß Mussolini die Regierung bilden sollte, tauchten alle wieder auf. Sie betrachteten sich als Sieger. Am 31. Oktober rückten die Faschisten von Cagliari neuerlich aus. Die Polizisten und die Angehörigen der Guardia Regia, der königlichen Polizeitruppen, betrachteten die Schwarzhemden mit Bewunderung [ 62 ]

und devoter Verehrung. Schließlich waren sie nun die Repräsentanten der neuen Regierung. Die Schwarzhemden formierten sich zu einer Paradekolonne und rückten durch ein Spalier ehrerbietiger Polizisten zur Präfektur vor. Sie wollten den Präfekten des alten Regimes daran erinnern, daß seine Zeit abgelaufen war. »Der Präfekt soll herauskommen!« »Wir wollen den Verräter sehen!« Der Präfekt befand sich in einer unangenehmen Situation. Die Beamten schossen hin und her, vom Präfekten zu den Demonstranten, von den Demonstranten zum Präfekten. Die Faschisten grölten: »Heraus mit dem Verräter! Nieder mit dem Bolschewiken!« Nach längeren vergeblichen Verhandlungen zeigte sich der Präfekt endlich auf dem Balkon. Er trug einen Hut. »Weg mit dem Hut!« »Nimm den Hut ab, du Hurenbock!« »He, willst du die faschistische Revolution grüßen oder ...?« Der Präfekt nahm den Hut ab, lächelte versöhnlich und setzte zu einer Rede an: »Meine Herren Faschisten ...« »Kanaille! Verräter!« antwortete der Chor der Faschisten. Der Präfekt blieb an seinem Platz. Der Tumult wurde immer ärger. Nun begann sich auch der Präfekt zu regen. Doch seine Worte gingen unter. Er gestikulierte aufgeregt, als wollte er in einer Art Taubstummensprache den Schwarzhemden unten beibringen: »So laßt mich doch zuerst reden; danach könnt ihr urteilen.« Endlich trat ein wenig Ruhe ein. Der Präfekt begann: »Meine Herren Faschisten ...!« »Maul halten!« brüllte einer der Faschisten. Allgemeines Gelächter breitete sich aus. Die Polizisten, die dem Geschehen beiwohnten, waren ratlos. Der Präfekt ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Als das Gelächter verebbte, haspelte er seine Rede in einem Atemzug herunter: »Meine Herren Faschisten! Als getreuer Diener des Staates bin ich heute mitten unter euch, mit ganzem Herzen. Es lebe der Faschismus! Es lebe Seine Exzellenz Benito Mussolini!« [ 63 ]

Die Faschisten waren auf eine solche Rede nicht vorbereitet gewesen. Sie trauten ihren Ohren nicht und wußten nicht, was sie tun sollten. Einige applaudierten. Der Präfekt zog sich, einigermaßen befriedigt, vom Balkon zurück. Die Faschisten wollten ihren Sieg auskosten. Sie formierten sich wieder und marschierten durch die Stadt. Sie stimmten ihre Kampfgesänge an, drangen in Häuser ein und verlangten, daß man zum Zeichen der Feier und Freude die Trikolore aushänge. Die Leute jagten sie mit Schimpf und Schande auf die Straße zurück. »Nieder mit dem Faschismus!« war aus den Fenstern und von den Balkonen zu hören. In den Straßen kam es zu Zusammenstößen und Raufhändeln. Die Faschisten meinten, sie könnten sich nun offene Angriffe auf die Widersacher leisten. Die Polizei tat, was sie konnte, um die Schwarzhemden zu beschützen, doch der Erfolg war gering. Die Faschisten wurden blutig geprügelt und in die Flucht geschlagen. »Nieder mit dem Faschismus!« hörte man in allen Vierteln der Stadt. Indessen liefen fieberhafte Vorbereitungen für den Nationalfeiertag am 4. November. Der neuen Regierung lag viel daran, Italien zu beweisen, daß das Heer, die Kriegsinvaliden und die ehemaligen Frontkämpfer hinter ihr standen. In den größeren Städten waren gewaltige Massendemonstrationen auf Kosten des Staates vorgesehen. Die Feiern zum Tag des Sieges boten der Regierung Mussolini die erste Möglichkeit, ihre Stärke und die Breite des Konsensus zu beweisen. In Cagliari nahmen rund 20 000 ehemalige Frontkämpfer an der Kundgebung teil. Die Faschisten rückten in militärischer Ordnung zur Feier an, alle im Schwarzhemd. Die Mannschaften der Garnison veranstalteten eine Parade. Die gesamte Einwohnerschaft der Stadt hatte die Häuser verlassen. Als die Faschisten an den ehemaligen Frontkämpfern vorbeimarschierten, erhob sich aus deren Reihen der Ruf: »Nieder mit dem Faschismus!« Die umstehende Menge wiederholte den Ruf. [ 64 ]

Der Präfekt fiel in Ohnmacht. Die Carabinieri nahmen die Faschisten in ihre Mitte, um sie zu beschützen. Die Infanteriebataillone erhielten Befehl, die Waffen zu laden. Die Feier nahm einen üblen Verlauf. Der Divisionskommandant, ein General, versuchte, die Situation zu retten. Er war sehr populär und wußte es. Hoch zu Roß postierte er sich inmitten der Frontkämpfer, zog den Säbel, erhob sich vom Sattel und rief: »Viva il Re!« Schweigen. Der General dachte offenbar, man habe seinen Ruf nicht vernommen. »Viva il Re!« wiederholte er. Stille, auch diesmal. Jeder weitere Versuch, das patriotische Fest zu retten, wäre sinnlos gewesen. Der General befahl den Truppen, in die Kasernen einzurücken. Die Faschisten marschierten – von Carabinieri abgeschirmt – in ihr Hauptquartier ab. Die ehemaligen Kriegsteilnehmer formierten sich zu Demonstrationszügen und marschierten durch die Stadt. Die Bevölkerung jubelte ihnen zu. Allmählich verlief sich die Menge. Wenig später donnerten Autos und Lastwagen der Guardie Regie und Carabinieri mit schußbereiten Maschinengewehren durch die Straßen. Alle Verkehrsknotenpunkte, die Präfektur und die fascioZentrale wurden von Polizei besetzt. Die Feier hatte ein schlimmes Ende genommen. Der Präfekt wurde nach einigen Tagen in den Ruhestand versetzt. Mussolini ersetzte ihn durch einen Mann mit mehr Autorität. In den anderen Orten der Insel war der Nationalfeiertag nicht besser verlaufen. Die Menschen hatten überall ihre Feindseligkeit gegenüber dem Faschismus offen bekundet. Die Nachricht über die allgemeine Gegnerschaft der Sarden sprach sich herum und erreichte auch den Kontinent, so daß einige Zeit lang Gerüchte umliefen, auf der Insel drohe eine Volkserhebung. Auch die ausländischen Zeitungen schrieben darüber. Mussolini war beunruhigt; er kündigte dringende Sondermaßnahmen für Sardinien an. »Was wird er tun?« fragten sich die Leute. »Was meint er mit Sondermaßnahmen? Wird es Krieg geben oder Frieden?« [ 65 ]

Alles wartete gespannt. Plötzlich kam die Nachricht, onorevole Pietro Lissia werde als Repräsentant der Regierung zu einem Besuch auf die Insel kommen. Lissia war Abgeordneter zum Parlament; er vertrat einen Wahlkreis des nördlichen Sardiniens. Wir waren also Kollegen. Überdies waren wir miteinander befreundet. Lissia hatte dem »Klub der sozialen Demokratie« angehört. Mein Freund war wiederholt durch eindeutige Äußerungen zugunsten der Demokratie, zugunsten der persönlichen Freiheiten, für Reformen, gegen den Zentralismus, gegen die Unterdrückung der Arbeiterschichten und für eine gerechtere Verteilung des Reichtums aufgefallen. In England wäre Lissia ein extrem linker Liberaler gewesen, voller Sympathien für die Labour Party; in Frankreich ein Radikalsozialist. Vom ersten Tag an war er als offener Gegner des Faschismus aufgetreten; schließlich hatte er auch mehreren Parlamentarierkomitees angehört, die sich bemühten, eine Einheitsfront zustande zu bringen, die den Faschismus mit allen legalen Mitteln, notfalls aber auch mit Gewalt bekämpfen hätte sollen. Mitte Oktober hatten wir uns in Rom getroffen; Lissia schlug mir damals eine enge Zusammenarbeit in Sardinien vor. »Wir dürfen nicht zulassen, daß man uns spaltet«, sagte er. »Wir müssen den Kampf Schulter an Schulter fortsetzen. In der Vergangenheit mag es zuweilen Meinungsverschiedenheiten gegeben haben. Aber heute? Heute ist die Freiheit in Gefahr. Wir müssen vergessen, was uns trennt und Soldaten des nämlichen Heeres werden. Wenn der Faschismus siegt, wird unser zivilisiertes Land um zwanzig Jahrhunderte zurückgeworfen.« »Zwanzig Jahrhunderte scheinen mir etwas übertrieben«, wandte ich ein, »doch im Mittelalter landen wir bestimmt, denn ...« »Was heißt Mittelalter?« unterbrach er mich schroff. »Mittelalter? Weißt du denn nicht, daß das Mittelalter eine strahlende Kultur hervorgebracht hat? Ich sage dir, mit dem Faschismus werden die finsteren Tage Neros wiederkehren, der Zirkus, die Martyrien, Feuer und Schwert.« Nach einer kurzen, höflichen Auseinandersetzung über die Frage, ob uns das Mittelalter oder Nero drohe, gab ich nach, einerseits [ 66 ]

weil er seinem historischen Vergleich, wie mir schien, große Bedeutung beimaß, zum anderen. Weil ich sehr viel jünger war als er. »Es geht«, fuhr er ruhiger fort, »um alle Werte unserer Moral, um unsere Würde. Die Frage, ob diese oder jene Haltung unseren persönlichen Interessen entspricht, darf gar nicht aufkommen. Wir haben die Pflicht zu kämpfen, und zwar bis zum letzten Blutstropfen. Wenn wir uns dem Kampf entziehen, werden wir unsere Kinder und Kindeskinder mit Schmach bedecken. Ich sage das, weil man das so zu sagen pflegt, du weißt ja, ich habe keine Kinder.« »Ich auch nicht«, erwiderte ich. »Trotzdem. Die Faschisten sollen wissen, daß sie über unsere Leichen gehen müssen, wenn sie gewinnen wollen.« »Meinst du, Mussolini wird es wagen?« fragte ich. Als ich den Namen des ersten Mannes der Faschisten aussprach, bebte Lissia vor Erregung und Wut. »Mussolini?« Er wiederholte den Namen drei- oder viermal. »Weißt du, was ich mit dem Kerl machen würde, wenn ich an der Spitze der Regierung wäre? Wenn ich an der Stelle des Esels säße, der sich das Amt des Ministerpräsidenten anmaßt? Weißt du, was ich täte? Ich würde ihn in Acht und Bann tun. Ächten würde ich ihn, genauso, wie es der römische Senat mit Catilina gemacht hat.« Lissia hatte die ganze klassische Kultur in sich aufgesogen. Er liebte es, in Bildern und Vergleichen aus fernen Zeiten zu reden. »Jede Nation erlebt Stunden«, fuhr er fort, »in denen nur noch eindeutige, klare Entscheidungen gelten. Entweder man ist ein Ehrenmann, oder man ist ein Verbrecher. Mussolini ist ein Verbrecher, folglich muß er auch als Verbrecher behandelt werden. Ja, ich gehe noch einen Schritt weiter. Jeder Bürger sollte sich ihm gegenüber im Zustand der gerechten Notwehr fühlen, jeder sollte das Recht haben, ihn zu beseitigen, ohne eine Strafe gewärtigen zu müssen.« Es war das erstemal in meinem Leben, daß mir jemand mit ethischen und juridischen Argumenten die Theorie der moralischen Berechtigung von Gegengewalt auseinandersetzte und die Notwendigkeit der präventiven Gegengewalt erläuterte. Die Lehre ist originell und komplex; sie läßt sich relativ leicht in einem kurzen Ge[ 67 ]

spräch darlegen, doch würden viele Seiten nicht genügen, um alle Aspekte des Problems zu beleuchten. Die Diskussion hatte uns in die reine Theorie geführt. »Wenn Gegengewalt präventiv sein soll«, wandte ich ein, »hört sie auf, Gegengewalt zu sein und wird schlicht und einfach Gewalt. Damit fielen ipso facto auch alle moralischen Rechtfertigungen, die ja darauf basieren, daß Gegengewalt Reaktion auf eine vorangegangene Gewalt ist.« Mit jedem Wort wurde das Problem vertrackter. »Ich habe vor«, schloß mein Kollege die Diskussion,»demnächst eine Abhandlung über dieses Thema zu verfassen.« Wir vereinbarten die politische Zusammenarbeit unserer Parteien auf einigen Gebieten. Als wir auseinandergingen, verabschiedeten wir uns wie Kampfgefährten im Schützengraben, die wissen, daß ihr Abschied nur bis zum nächsten blutigen Gefecht dauert. Ich reiste heim nach Sardinien, Lissia blieb in Rom, um einige Angelegenheiten zu regeln. Als ich nach dem »Marsch auf Rom« las, daß Lissia als Staatssekretär im Finanzministerium dem Kabinett Mussolini angehörte, war ich sprachlos. »Das ist ganz einfach nicht möglich«, dachte ich. Ich vermutete zunächst, daß es sich um einen Fehler bei der telegrafischen Übermittlung der Nachricht handle. Aber dann schmückten die Zeitungen seinen Namen auch mit einem ausführlichen Lebenslauf und der Aufzählung seiner politischen Verdienste, so daß die letzten Zweifel zerstreut wurden. Es war wirklich Lissia. Nun sollte er als Regierungsmitglied und Sonderbeauftragter des Duce, ausgestattet mit außergewöhnlichen Vollmachten, nach Sardinien kommen. »Was mag er im Schilde führen?« rätselten die Leute. Früher waren Besuche von Regierungsmitgliedern auf Sardinien rar gewesen. Die Sarden hatten das Gefühl, daß keine Regierung etwas für ihre Insel übrig habe; immer wieder gab es deswegen Beschwerden und Kritik Rom gegenüber. Der Besuch des frischgebackenen Ministers – wenngleich er nur Staatssekretär war, wurde er, wie in Italien üblich, als Minister angesprochen –, dieser Besuch also versprach ein bedeutendes Ereignis zu werden. [ 68 ]

Die faschistische Zeitung widmete der Ankündigung des Besuchs die gesamte erste Seite. Im Kommentar überwogen die biographischen Details aus Lissias Jugend und aus der Zeit des Krieges. Das politische Vorleben des Staatssekretärs wurde nur angedeutet. Im Grunde seines Herzens, hieß es im Artikel, sei Lissia stets Faschist gewesen; er habe als einer der ersten in Mussolini den Geist der italischen Rasse erkannt. Sein Besuch auf der Insel diene dem Ziel, die Gemüter zu befrieden und die Lösung der dringlichsten Probleme einzuleiten; unverzüglich und ohne Rücksicht auf die anfallenden Kosten. Es sei der unerschütterliche Wille des Duce, die Insel sofort mit Straßen, Brücken, Häfen, Schiffen, Reeden und dergleichen auszustatten, um jedermann vor Augen zu führen, mit welch grenzenloser Faulheit und Gleichgültigkeit die früheren Regierungen regiert hätten. Für die Ankunft Lissias in Cagliari wurde bis ins kleinste Detail vorgesorgt. Das Ereignis sollte ein Fest werden. Die Bürger wurden über die genaue Stunde und Minute der Ankunft unterrichtet. Die Präfektur hatte eigens die Mitglieder des fascio, die Staatsbeamten, die monarchistischen Klubs und die Schulen zum Empfang eingeladen. In den verschiedenen Vierteln gingen Propagandisten von Haus zu Haus, um möglichst viele Menschen auf die Beine zu bringen. Als es soweit war, warteten am Bahnhof der Präfekt, der Divisionskommandant, alle übrigen zivilen und militärischen Behörden und die zum Empfang abkommandierten Beamten. Das Volk fehlte. Der Zug fuhr ein. Der Minister zeigte sich am Fenster. Die Musikkapelle eines Infanterieregiments intonierte die Marcia Reale. Die Faschisten – in schwarzen Hemden, mit Dolchen und Pistolen – hoben den rechten Arm zum Gruß und schrien dreimal nacheinander: »Alalalà!« Der Minister stieg aus dem Zug, nahm Haltung an, hob den rechten Arm zum römischen Gruß und verharrte lange in dieser Position. Dann ließ er eilig die Willkommenszeremonien über sich ergehen und stellte sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, mit düsterer Miene an die Spitze des Zuges. »Gott, ist er nicht schön!« schrie lachend ein Universitätsstudent, der mit dem Zug des Ministers angekommen war, durch die Hallen. [ 69 ]

»Verhaften!« befahl der Minister. Er streckte den rechten Arm aus und zeigte auf den Studenten. »Verhaftet ihn!« Lissia war überaus gereizt. Der Student, ein angehender Jurist, wurde von Polizisten in Zivil umringt, die ihm Handschellen anlegten. Seine Proteste fruchteten nichts. Er sah ein, daß Widerstand sinnlos war, daß auch die Berufung auf Recht und Verfassung zu nichts führte, und ließ sich abführen. Der Zwischenfall hatte den Minister sehr verärgert. Er trat aus der Bahnhofshalle auf den weiten Platz: Vor ihm ein Haufen Polizei, sonst gähnende Leere. Dies ärgerte ihn noch mehr. Ohne das Zeremoniell weiter zu befolgen, bestieg er das Auto und fuhr mit dem Gefolge zur Präfektur. In den Straßen, durch die der Konvoi fuhr, vernahm man nur gelegentlich Pfiffe. Die Polizei schritt ein und zerstreute die Aufrührer. Zu ernsten Zusammenstößen kam es nicht. Der Quästor ließ, um Ruhe und Ordnung zu gewährleisten, einige Dutzend junger Oppositioneller festnehmen. Ich versuchte, ihre Freilassung zu erreichen, doch hatte ich damit keinen Erfolg. Die Polizei hatte strenge Befehle erhalten. »Nicht den geringsten Pardon. Mit eiserner Faust zuschlagen. Die Regierung will es«, hatte der Minister zum Präfekten gesagt. Die Faschistenabordnung, die dem Regierungsvertreter am Bahnhof den Willkommensgruß der Bewegung dargebracht hatte, wähnte sich durch die Anwesenheit des Ministers stark und sicher. Sie schickte sich an, singend und bewaffnet durch die Stadt zu marschieren. Mit einem Mal war die Hölle los. Beschimpfungen und Pfiffe empfingen die Faschisten, so daß sie es vorzogen, auf den Marsch zu verzichten. Aber der Volkszorn war damit nicht besänftigt. Überall in der Stadt wurden Verwünschungen gegen den Duce, gegen den Faschismus und gegen Lissia, den hohen Gast, ausgestoßen. Wieder schritt die Polizei ein und nahm Verhaftungen vor, die Menge protestierte dagegen. Die Behörden sandten verstärkte CarabinieriPatrouillen und Abteilungen der Guardia Regia aus, um die Menschenansammlungen zu zerstreuen. Am Abend machte Cagliari den Eindruck einer Stadt im Belagerungszustand. [ 70 ]

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A

m nächsten Morgen teilte der Präfekt den Behörden der Stadt mit, der Herr Staatssekretär wolle im Sitzungssaal des Provinzialrates das Regierungsprogramm darlegen und werde dankbar Anregungen und Ratschläge entgegennehmen. Ich war Mitglied des Provinzialrates und wurde zur Veranstaltung offiziell eingeladen. Die Provinzialräte fungierten vor der Machtergreifung des Faschismus als Verwaltungsorgane der Provinzen: Ihre Mitglieder wurden gewählt; sie siedelten auf halber Höhe zwischen den Gemeinden und dem Staat. Der Faschismus schaffte sie ab wie alle gewählten Körperschaften und ersetzte sie durch kleine beratende Organe, deren Mitglieder von der Regierung in Rom ernannt wurden. Die in Cagliari anwesenden Provinzialräte versammelten sich zu einer Vorbesprechung. Wir beschlossen, uns die Rede Lissias anzuhören und in die Diskussion einzugreifen. Auch einige sardische Parlamentarier waren gerade in Cagliari; sie nahmen mit uns an der Veranstaltung teil. Der große Sitzungssaal des Provinzialrats war schon vor dem angekündigten Veranstaltungsbeginn überfüllt. Alle geladenen Gäste waren zugegen: die Abgeordneten, die Provinzialräte, der Bürgermeister, die Stadträte, der Rektor der Universität, die Mitglieder des Appellationsgerichtshofes, der Vorstand der Rechtsanwaltskammer, die Vertretung der Staatsanwaltschaft, die Führer der Arbeiterorganisationen, die Repräsentanten der karitativen Vereinigungen, einige Großindustrielle, Bankdirektoren und Techniker aller Art. Der Erzbischof hatte einen Kanonikus in Vertretung geschickt. Die Faschisten kamen im Schwarzhemd. Nur die Militärbehörden glänz[ 71 ]

ten durch Abwesenheit. Auch die dem Publikum reservierten Sitze waren bis auf den letzten Platz besetzt. Offensichtlich waren alle darauf gespannt, zu hören, wie ein zum Faschisten und Regierungsmitglied avancierter einstiger Linksdemokrat nach dem »Marsch auf Rom« Gedanken und Pläne des Kabinetts darlegen würde. Nicht minder eindrucksvoll als die Liste der Anwesenden war der polizeiliche Ordnungsdienst. Allein rund um das Gebäude des Provinzialrates waren nicht weniger als fünfhundert Mann Carabinieri und Guardie Regie aufgezogen. Der Minister betrat den Saal. Nein. Er kam, beinahe im Laufschritt, wie jemand, der, von hunderterlei Verpflichtungen gehetzt, einem Haufen von Faulenzern und Tagedieben beibringen will, daß Zeit Geld ist. Die Faschisten sprangen auf, als der Minister erschien, hoben den rechten Arm und schrien: »Eja, eja, eja, alalà!« Alle andern blieben stumm sitzen. Nur der Kanonikus erhob sich halb von seinem Sessel und deutete eine Verbeugung an. Der hohe Gast fühlte offenbar sogleich, daß es hier nicht ratsam war, sich mit dem römischen Gruß der Faschisten einzuführen. Er grüßte freundlich nach links und rechts, wie er es – bis zum »Marsch auf Rom« – stets getan hatte. Dann begann er zu reden. Ich werde diese Rede nie vergessen. Ich könnte sie auch heute noch, nach so vielen Jahren, Satz für Satz, Wort für Wort wiederholen. Und die Gebärden, mit denen er seine Worte begleitete, sind mir gegenwärtig, als wäre das Bild des Redners in einer endlosen Reihe von Reliefs in der Wand vor mir verewigt. Kollege Lissia war ein großer Raucher; er legte Wert darauf, immer etliche Zigarren griffbereit zu haben. Die Zigarren steckten in der Brusttasche seiner Jacke, eine neben der anderen aufgereiht wie die Auszeichnungen an der Heldenbrust eines Generals. Ohne Zigarre war er nicht imstande zu reden. Es gibt Redner, die keinen klaren Satz formulieren können, wenn sie nicht die Hand in die Hosentasche stecken oder mit der Uhr spielen oder an einem Knopf drehen können. Lissia holte sich seine Inspirationen aus den Zigarren. Sooft er einen Gedanken in einen besonders präzisen und gewichtigen Satz fassen wollte, holte er eine Zigarre aus der Jackentasche. Während er weitersprach, führte er die Zigarre bald an die [ 72 ]

Lippen, bald hielt er sie in die Höhe, oder er fuchtelte damit herum, in raschen Kreisen, ähnlich wie es Florettfechter tun, um die Gegner zu verwirren. Sprach man mit ihm unter vier Augen, dann machten diese Zigarrenspiele keinen besonderen Eindruck. In gemeinsamen Gesprächen hatte ich die Konzentrationsübungen wiederholt beobachten können, sie waren mir für einen Raucher als vollkommen normal erschienen. Das Publikum im Sitzungssaal des Provinzialrats reagierte anders. Schon der Anblick der vielen Zigarren in der Brusttasche schien die Leute zu amüsieren. Als der Redner dann nach den ersten Worten eine Zigarre aus der Tasche fingerte und damit komplizierte akrobatische Bewegungen vollführte, begannen einzelne Zuhörer zu kichern, der Lachreiz pflanzte sich durch die Reihen fort, und schließlich brachen alle in schallendes Gelächter aus. Je mehr die Leute sich bemühten, das Lachen zu unterdrücken, desto lauter brach es hervor, als die inneren Widerstände nachgaben. Die Heiterkeit nahm peinliche Formen an. Der Minister bemerkte es. Doch ahnte er nicht, daß niemand anderer als er selbst der Anlaß für die Unruhe im Publikum war. Er witterte Spott und sah in seiner Person die Autorität des Regimes gefährdet. Lissia reagierte unerwartet heftig: »Meine Herren«, schrie er, »die Zeit des demokratischen Karnevals ist vorbei, ein für allemal. Die Regierung Benito Mussolinis ist keine Regierung von Strohmännern. Für uns gilt nur ein Gesetz: die Macht ...« Lissia vergaß völlig, daß er vor einem Auditorium sprach, dessen Mehrheit ihm nicht gewogen war. Seine Drohungen lösten anhaltendes Gemurmel aus; dann ein Schrei: »Komödiant!« Die helle Stimme kam aus den für das Publikum reservierten Reihen. Der Minister schwieg. Das Publikum applaudierte. Viele erhoben sich von den Sitzen. Alles lachte. Der Präfekt sprang auf, sah sich mit hochrotem Kopf um und befahl, daß eine CarabinieriPatrouille in den Saal komme und den Zwischenrufer abführe. Der Minister zitterte vor Wut. Die Carabinieri fanden den vorlauten Zwischenrufer nicht und mußten unverrichteter Dinge abziehen. Das Publikum grölte. [ 73 ]

Der Minister setzte seine Rede fort. Die Zigarre kreiste vor den Augen des Publikums, verschwand in der Brusttasche, kam wieder zum Vorschein, wanderte zum Mund und verschwand wieder. »So setzt euch doch. Nehmt Platz!« unterbrach der Minister seine Rede. Die Aufforderung galt den Faschisten. Diese hatten sich von den Sitzen erhoben, als der Minister den Saal betreten hatte, und waren stehengeblieben, in strammer Habtachtstellung und in Erwartung, daß der Vertreter der Regierung ihnen erlaubte, es sich bequem zu machen. Die Faschisten setzten sich mit athletischem Schwung. »Meine Herren«, fuhr onorevole Lissia fort, »der Marsch auf Rom ist eine unumstößliche Tatsache. Wehe dem, der daran rühren will! Wir haben den Marsch nicht für uns gemacht, sondern für die Größe des Vaterlandes ...« »Zur Sache!« rief jemand aus dem Publikum. Die Versammlung hatte schon viel von ihrer Feierlichkeit verloren. Die Autorität des Ministers war erschüttert. Nun verlor er vollends die Ruhe. Als Lissia drohend den Namen des Duce ins Auditorium schleudern wollte, verhaspelte er sich und sagte Musolino statt Mussolini. Er bemerkte den Fehler, versuchte, sich zu korrigieren, doch kam er vom verhängnisvollen Musolino nicht los. Musolino war ein berühmter Bandit in Kalabrien, der wegen etlicher Morde und Raubüberfälle zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden war. Damit war der Ernst endgültig dahin. Der Minister unternahm einen letzten Versuch, die Situation zu retten, indem er sich den öffentlichen Arbeiten zuwandte: »Alle früheren Regierungen haben die Lebensinteressen dieser Insel verraten und verkauft. Musolino aber wird die Sünden der Vergangenheit gutmachen. Sagt, was Ihr braucht. Sagt uns, was unaufschiebbar ist, was sofort, heute noch, in Angriff genommen werden muß, und die Regierung wird sich an die Arbeit machen. Innerhalb kürzester Frist wird man alles in Angriff nehmen, ohne bürokratische Verzögerungen.« Lissia legte im Detail alle öffentlichen Arbeiten dar, die ihm unaufschiebbar schienen, und schloß seine Rede mit der Androhung harter Repressalien gegen alle, die den Faschismus weiterhin behinderten. [ 74 ]

»Wir werden unnachgiebig sein. Wir werden sie zermalmen.« Darauf folgten die obligaten Hochrufe auf den Duce, den Faschismus, den König und das Vaterland. Der Präfekt, der Quästor und die anwesenden Faschisten applaudierten. Der Minister setzte sich. Mit ihm ruhten auch die Zigarren. Als Abgeordneter zum Parlament und als Provinzialrat stand mir das Recht zu, auf die Rede des Ministers zu antworten. Und die Kollegen hatten mich damit beauftragt. Ich meldete mich zu Wort. Der Präfekt äußerte mit geschmeidiger Höflichkeit seine Bedenken: In der Stadt, sagte er, herrsche große Erregung; angesichts dieser Tatsache schien ihm Klugheit zu gebieten, daß ich auf meine Rede verzichtete. Die Faschisten applaudierten laut. »Bravo. Er darf nicht reden!« schrien sie. »Er soll reden! Er soll reden!« tönte es aus dem Publikum. Das Durcheinander dauerte minutenlang. Schließlich gelang es dem Minister, die Ruhe wiederherzustellen. Er erhob sich und sagte, nicht ohne Zigarre in der Hand, daß mir natürlich das Recht zum Reden zustand. Meine Rede war gegen den Faschismus und gegen die Regierung gerichtet. Der Minister hörte aufmerksam zu, gelegentlich nickte er zustimmend mit dem Kopf. Das Auditorium war starr vor Staunen, als der Regierungsvertreter in seiner Antwort auf meine Rede darlegte, er habe im wesentlichen keine Gegensätze zwischen den von mir geäußerten Ideen und seinen Gedanken feststellen können. »In der Praxis könnten wir uns wunderbar vertragen«, schloß er. Ein Ingenieur, ein Spezialist für öffentliche Arbeiten, wandte ein, es sei technisch unmöglich, die vom Minister angekündigten Großprojekte gleich in Angriff zu nehmen; es müßten zuvor Studien durchgeführt und Pläne erstellt werden; diese Vorarbeiten würden Monate, vielleicht Jahre erfordern. Auch mit der Arbeit an jenen Projekten könne man noch nicht beginnen, für die die Planung bereits abgeschlossen sei, da die staatlichen Finanzierungsgarantien beziehungsweise die erforderlichen Budgetmittel noch ausstünden. Der Minister entzog dem Techniker das Wort. [ 75 ]

Die Sitzung war beendet. Der Minister verließ den Saal. Ein Präfekturbeamter zupfte mich am Ärmel: Der Herr Minister wünsche mich zu sprechen, sagte er mir, sofort. Ich folgte dem Beamten in die Räume, in denen mein ehemaliger Kollege sein Quartier aufgeschlagen hatte. Er erwartete mich. Lachend kam er mir entgegen und drückte mir herzlich die Hand. »Du darfst dich über meine Rede nicht wundern«, sagte er. »Ich habe so reden müssen, aus formalen Gründen, du verstehst. Du weißt ja, daß ich genauso denke wie du, in allen Dingen.« »?« »Ja, in allen Dingen, über jeden einzelnen Punkt«, fuhr er fort. »Allerdings ist der Mensch im allgemeinen und der Politiker im besonderen gezwungen, eine Maske aufzusetzen. Das hast du mich heute wieder gelehrt.« »Ich habe dir sicher nichts beigebracht von alldem.« »Eine Maske. Doch ist die Maske eine reine Äußerlichkeit. Was zählt, ist allein die innere Überzeugung.« »Und dieser inneren Überzeugung wegen bist du Minister geworden und ich bin in der Opposition geblieben.« »Streiten wir uns doch nicht über das Geschlecht der Engel! Du weißt, daß die demokratischen Ideale, mit denen mein Geist sich ein Leben lang genährt hat ...« »Eine saubere Nahrung!« »... daß die demokratischen Ideale unverändert bleiben. Geändert hat sich nur das Äußere, das Kleid. Und schließlich – die Kutte macht doch nicht den Mönch!« »Jedenfalls ist es die Kutte, die uns einen Mönch von einem Kürassier unterscheiden läßt.« »Äußerlichkeiten, oberflächliche Wertungen. Betrachten wir die Dinge ruhig, ohne vorgefaßte Differenzen. Wenn du von einem Buch Ciceros den Originalumschlag abnimmst und den Band in den Umschlag eines französischen Romans steckst, dann bleibt der Inhalt noch immer dein alter Cicero; es wird trotzdem kein französischer Roman daraus.« »Aber wenn du als Buchhändler, um den Umsatz zu heben, die Umschläge der Bücher vertauscht und einer Kundschaft etwas an[ 76 ]

deres verkaufst, als du ihr anbietest, hintergehst du ihre Gutgläubigkeit und begehst eine Tat, die das Strafgesetz eindeutig als Straftat klassifiziert.« »Woher willst du wissen, daß es mir um den Umsatz zu tun ist? Daß ich mehr verdiene?« »Du wirst doch zugeben, daß es heute, mit dem Wind aus dieser Richtung, bequemer ist, an der Macht zu sein als in Opposition.« »Was habe ich gelitten, bevor ich dieses Amt angenommen habe! Du kannst mir glauben, daß ich es mir nicht einfach gemacht habe. Die Seelenkämpfe, die ich auszustehen hatte! Ich mußte alle Freunde aufgeben, denen ich in zwanzig Jahren Politik verbunden war. Ist das etwa nichts? Denkst du, es wäre so einfach, so schön, auf die teuersten Freundschaften zu verzichten? Ich habe mich jedoch gefragt: Wo kann ich meinem Vaterland am besten dienen, in der Regierung oder in der Opposition? Und dann habe ich die Entscheidung getroffen. Egoistische Erwägungen habe ich nie aufkommen lassen.« »Meinst du wirklich, das Vaterland wäre bankrott gegangen, wenn du dich aus der Politik zurückgezogen hättest?« »Du machst wohl Witze!« »Als ich hörte, du seist ins Kabinett Mussolini eingetreten, wollte ich es einfach nicht glauben. Ich dachte, du säßest am Schreibtisch, um den Traktat über die Theorie der Gegengewalt zu schreiben.« »Die Realität, lieber Freund, die Realität! Reden wir offen. Menschen und Umstände verändern sich in schwindelerregendem Tempo. Politik, mein Lieber, ist keine Abstraktion. Politik ist Kunst.« »Und die Prinzipientreue? Die Folgerichtigkeit?« »Folgerichtigkeit? Die Realität, lieber Freund, ist immer folgerichtig.« Lissia erging sich nun nicht mehr in Abstraktionen. Er hatte sich von allen Hemmungen befreit. Alles an ihm strahlte Selbstsicherheit aus. Er lächelte jovial, wechselte das Thema und unterbreitete mir konkrete Vorschläge für ein politisches Einverständnis und für eine fruchtbringende Zusammenarbeit. »Ich spreche im Namen des Duce«, erläuterte er lächelnd; »der Duce ist wie einst Cäsar. Er trägt seinen Gegnern nichts nach.« [ 77 ]

»Reizend. Wirklich reizend von ihm.« »Denke daran«, fügte er, noch immer lächelnd und wie üblich aus dem reichen Schatz seiner klassischen Bildung schöpfend, hinzu: »Denk daran, daß Cäsar, als König Ptolemaios ihm das Haupt des arglistig ermordeten Pompeius darbot, nicht in freudigen Jubel ausbrach, sondern in Trauer verfiel. In diesem Punkt stimmen alle Historiker überein.« »Du bist der Enthauptung zuvorgekommen.« »Ehrlich gesagt, ja.« Das alte Rom langweilte mich. Ich erhob mich, um das nutzlose Gespräch zu beenden; Ptolemaios konnte die Situation nicht retten. Auch Lissia erhob sich. Mit einem Mal erlangte er seine Autorität wieder. »Also?« fragte er, »Freund oder Feind?« »Feind.« »Wie du willst. Du wirst es merken.« »Was willst du damit sagen?« »Du wirst es schon noch merken.« Der Abschied war kühl. Wir drückten uns nicht einmal die Hand. Bevor ich die Tür hinter mir zumachte, drehte ich mich um, sah ihn am Ende des großen Salons, stolz, unbewegt, ein Monument steifer Strenge. Nur die rechte Hand störte den allgemeinen Eindruck des Kriegerdenkmals: Sie umklammerte eine Zigarre wie ein Schwert.

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in Bulletin berichtete noch am gleichen Abend über die Versammlung im Provinzialrat; die Reden waren teilweise wörtlich wiedergegeben. Die Leute lasen den Bericht und diskutierten darüber auf den Straßen. Das ganze Volk schien aus Regimegegnern zu bestehen. »Ein Sturmwind!« sagte Dr. A., mit dem ich in einem Restaurant zu Abend aß. »Ich bin überzeugt, daß Schlimmes geschehen wird. Ich habe vorhin mit einem Offizier der Guardia Regia gesprochen, und der hat mir anvertraut, daß der Staatssekretär Weisung gegeben hat, auf die Antifaschisten zu schießen. Auf dich haben sie es besonders abgesehen.« »Was, meinst du, kann passieren?« »Ich habe keine Ahnung. Aber es liegt zuviel Spannung in der Luft. So kann es auf keinen Fall weitergehen. Die Guardie Regie unterstützen offen die Faschisten. Die Faschisten fühlen sich dadurch ermutigt und provozieren. Erst vor ein paar Stunden ist mein Bruder von Faschisten und Guardie Regie zusammengeschlagen worden. Es sah recht böse aus, als man ihn daheim ablieferte. Als die Mutter sah, wie sie ihn zugerichtet hatten, fiel sie in Ohnmacht. Gott sei Dank ist es nicht so schlimm. Aber kann es so weitergehen? Ist das noch ein Leben? Nach der Sitzung im Provinzialrat hat die Polizei wieder eine Reihe von Leuten verhaftet. So werden wir früher oder später alle im Kerker landen. Und wir werden von Glück reden können, wenn es nur der Kerker ist.« Mein Freund berichtete mir ausführlich über die Ereignisse des Tages. Er war ursprünglich Offizier bei den Pionieren gewesen. Nach dem Krieg hatte er an D’Annunzios Fiume-Expedition teilge[ 79 ]

nommen. Ernüchtert und enttäuscht hatte er schließlich den Militärdienst quittiert und Chemie studiert. Er war Antifaschist und Mitglied unserer Partei. Sein älterer Bruder, ein Studienkollege von mir an der Universität, war im Krieg gefallen. Der jüngere Bruder, von dem er erzählt hatte, war noch Student und wie der größte Teil der Universitätsjugend Sardiniens ein militanter Antifaschist. Ich wußte, daß seine Mutter in ständiger Angst lebte, die beiden ihr noch verbliebenen Söhne könnten im Bürgerkrieg umkommen. Deshalb fragte ich: »Warum gehst du nicht nach Hause und tröstest deine Mutter?« »Ich kann nicht«, antwortete er. »Wenn es in der Stadt zu Zwischenfällen kommt, möchte ich nicht, daß man sagt: Er hat sich daheim versteckt.« Dr. A. kannte die Verhältnisse und Stimmungen in Cagliari sehr gut. Er hatte in allen Bevölkerungsschichten und in allen Lagern Freunde und Bekannte. Was er voraussagte, traf meistens ein. Wir hatten noch nicht fertiggegessen, als zwei Studenten außer Atem ins Lokal stürzten. Sie erzählten, daß es auf einem Platz in der Nähe zu einem Zusammenstoß zwischen Faschisten und Antifaschisten gekommen sei; es seien Pistolenschüsse gefallen und jemand habe zwei Handgranaten geworfen; es gebe einige Verletzte; außerdem habe die Polizei viele Oppositionelle verhaftet. Inzwischen war es Nacht geworden. Gemeinsam verließen wir das Lokal. Nach ein paar Minuten waren wir auf dem Platz, auf dem der Zusammenstoß stattgefunden hatte. Guardie Regie und Polizisten hielten den Platz besetzt, die Faschisten waren verschwunden. In der Umgebung standen neugierig zahlreiche Gruppen von Regierungsgegnern herum. Ich kämpfte mich zu ihnen durch und ließ mir von Augenzeugen über den Zwischenfall berichten. Es waren die Faschisten gewesen, die geschossen hatten; von den Unseren hatte keiner eine Waffe bei sich gehabt; auch Verwundete hatte es nur unter den Unseren gegeben. Ich schickte die verschiedenen Gruppen in die Zentrale unserer Partei. Rund um den Platz standen nur noch Neugierige. Dr. A. wich nicht von meiner Seite. Auf dem Platz herrschte ein gewaltiges Durcheinander. Nach einigem Umherirren stand ich vor dem Major [ 80 ]

der Guardia Regia, der die Einsatztrupps befehligte. An seiner Seite befand sich ein Polizeikommissar. Von allen Seiten hörte man Rufe: »Nieder mit dem Faschismus!« Die Rufe kamen von Balkonen, von Fenstern, aus den Gassen. Der Major war äußerst gereizt. Er wußte, daß ich Parlamentsabgeordneter und Reservehauptmann war, dennoch empfing er mich so unhöflich wie möglich. Er habe den Krieg mitgemacht, sagte er, und eine Straßenschlacht sei wirklich nicht etwas, wovor er sich fürchte; im Gegenteil, er sehne sich danach. Der Kampflärm sei sozusagen seine Lieblingsmusik; ohne diese Musik vergehe ihm sogar der Appetit. Ich hielt ihm entgegen, daß auch ich im Krieg gewesen sei, daß mir jedoch die Plätze meiner Heimatstadt als Appetitanreger eher ungeeignet schienen. »Abwarten, Abwarten«, erwiderte er nervös. »Wenn ich heute abend nicht ordentliches Gewehrfeuer zu hören bekomme, wird mich noch der Schlag treffen.« »Dann kann ich im Interesse der Allgemeinheit nur wünschen, daß letzteres bald eintritt«, sagte ich. »Wie? Sie wollen mich provozieren? Das wollen Sie doch?« »Nicht im Traum! Alles, was ich will, ist, daß es keine Unruhen gibt und daß kein Blut fließt.« Ich meinte das wirklich ehrlich. Der Major brach in hysterisches Gelächter aus. »Ausgerechnet Sie müssen mir damit kommen, daß Sie Unruhen vermeiden wollen. Nach der Rede, die Sie im Provinzialrat gehalten haben. Wer ist denn schuld an der ganzen Unordnung, wenn nicht Sie? Hier steht es schwarz auf weiß, daß Sie ...« Er unterbrach sich und kramte ein mit Maschine geschriebenes Zirkular aus der Tasche. »Wer hat das Zeug geschrieben?« fragte ich. »Leute, die mehr wissen über Sie als ich und die das Recht haben, mir Befehle zu erteilen.« »Könnte ich das Zirkular sehen?« Der Major faltete das Blatt wieder zusammen und steckte es in die Tasche. »Bleiben wir bei den Tatsachen«, sagte ich. »Hier, auf diesem Platz, sind heute Abend Faschisten und Antifaschisten aneinandergeraten.« [ 81 ]

»Patrioten und von den Franzosen gekaufte Elemente!« kommentierte trocken der Major. Ich hatte keine Lust, mich auf eine Diskussion über außenpolitische Zusammenhänge einzulassen. Ich wollte eine friedliche Lösung. Deshalb überhörte ich seinen Einwand und sagte: »Ein Zusammenstoß von Faschisten und Antifaschisten. Man hat mit Pistolen geschossen und Handgranaten geworfen. Zwei Antifaschisten sind verwundet worden ...« »Schade, daß es nicht mehr sind«, unterbrach mich der Major. Ich überhörte auch diese Bemerkung. »Das heißt, daß die Faschisten geschossen haben. Das steht fest. Aber Sie haben nur Antifaschisten verhaften lassen.« »Ich habe meine Befehle, und über Befehle meiner Vorgesetzten diskutiere ich nicht.« »Kein Vorgesetzter kann die Verhaftung Wehrloser und den Schutz Bewaffneter befehlen.« »Und wenn die Befehle genau das besagten ...?« »Das gibt es nicht. Schließlich ist noch das Gesetz da.« »Was heißt Gesetz? Lassen Sie mich in Frieden mit Ihrem Gesetz!« »Wie?« fragte ich erstaunt. »Sie sind Offizier der Königlichen Garden, und Sie sagen, das Gesetz ...« »Ist einen Dreck wert«, zischte er mir ins Ohr. Auf eine solche Antwort war ich nicht gefaßt. Plötzlich fühlte ich mich unterlegen, hilflos. Mein erster Gedanke war, das Gespräch einfach abzubrechen und fortzugehen. In meiner Verwirrung beging ich die Leichtfertigkeit, ihn an meine Würde zu erinnern. »Sie wissen doch, daß Sie mit einem Parlamentsabgeordneten sprechen?« sagte ich feierlich. Ich blickte dem Major fest in die Augen und sah dann, um mich gewissermaßen verfassungsrechtlicher Hilfe zu versichern, den Polizeikommissar scharf an, der der Auseinandersetzung schweigend und nervös beiwohnte. »Die Zeiten des Parlaments sind vorbei!« gab der Major von sich; er skandierte jede einzelne Silbe, um die Wirkung seiner Weisheit auszukosten. Ich erstarrte. Was der Major gesagt hatte, dachte ich auch, doch [ 82 ]

hatte ich gehofft, daß Polizeioffiziere nicht so dächten. Es war sinnlos, das Gespräch fortzusetzen. »Nieder mit dem Faschismus!« rief man in der Umgebung. Während ich mich zu gehen anschickte, beschloß der Major, den Sieg der Macht über das Gesetz zu demonstrieren. »Ich werde jetzt ein Trompetensignal geben lassen«, sagte er. »Und wenn alle da rundherum und an den Fenstern nicht gleich verschwinden, lasse ich schießen.« »Eine großartige Kriegsoperation!« höhnte ich. Der Major sah mich herausfordernd an. Ich erkannte, daß ihm mit seinem Vorhaben ernst war. Noch einmal versuchte ich, ihn umzustimmen: »Ich bin Offizier wie Sie. Ich appelliere an Ihre Soldatenehre. Sie werden nicht auf wehrlose Menschen schießen lassen.« Der Major antwortete nicht. Er gab ein Zeichen, und gleich ertönte das Trompetensignal. Ich hatte Mühe, mir den Weg durch das Gedränge der Guardie Regie zu bahnen. Einige hundert Meter weit bewegte ich mich nur durch Guardie und Carabinieri. Mein Freund folgte mir. »Vorsicht, Herr Abgeordneter«, rief eine Frau von oben. Ich wollte mich umdrehen, doch blieb mir die Zeit dazu nicht mehr. Ein greller Lichtschein wie von einer Explosion blendete mich. Bewußtlos brach ich zusammen. Erst im Spital kam ich wieder zu mir. Die Freunde erzählten mir, was vorgefallen war. Ein Unteroffizier der Guardia Regia hatte das Gewehr mit beiden Händen beim Lauf gepackt und mir den Schaft von hinten mit aller Gewalt auf den Kopf geschlagen. Mein Freund Dr. A. hatte im letzten Augenblick den Unteroffizier bemerkt und versucht, den Schlag mit dem Spazierstock zu parieren; leider hatte er damit nur teilweise Erfolg gehabt. Mein Gesicht und die Brust waren blutüberströmt. Aber die Wunde schien nicht gefährlich zu sein. Die Ärzte befürchteten jedoch, daß sich eine Gehirnerschütterung einstellen könnte. Sie verboten mir das Reden. Ich fühlte mich entsetzlich schwach und matt. Die Ärzte – lauter persönliche Freunde von mir – bemühten sich eifrig, mir zu helfen. Sie erklärten mir, daß ich ohne das Einschreiten Dr. A.s sicher auf der Stelle tot gewesen wäre. [ 83 ]

Während die Ärzte mir den Verband anlegten, ließ sich ein Major der Guardia Regia melden. Es war der, mit dem ich vorhin auf dem Platz gesprochen hatte. Nun machte er sich offensichtlich Sorgen um das Parlament. Die Ärzte ließen ihn nicht ins Zimmer. Er insistierte; er komme im Auftrag des Präfekten und habe den Befehl, mich mit eigenen Augen zu sehen. »Sie dürfen nicht hinein«, wiederholten die Ärzte. Der Major stellte sich an die Tür und sprach so laut, daß auch ich jedes Wort hören konnte. »Lebt er noch?« fragte der Major schließlich. »Er lebt. Und er wird noch lange leben!« antwortete ein Arzt unhöflich. Der Major zog ab. Die Kunde, daß ich überfallen worden war, sprach sich sofort in der Stadt herum. Die Leute strömten in Scharen zum Spital, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen und mir ihre Sympathie zu bezeugen. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich eine Menge von Männern, Frauen und Kindern vor dem Spital versammelt. Vergeblich versuchte die Polizei, die Menschen auseinanderzutreiben. Die Menschen hielten den Platz vor dem Spital und die Gassen der Umgebung bis zum Morgen besetzt. Der Präfekt schickte eine Abteilung Guardie Regie: sie sollten am Eingang zum Spital Posten beziehen. Die Menge überschüttete sie mit Schimpfrufen und Flüchen. Es wurden wieder einige Verhaftungen vorgenommen, doch auch die Guardie Regie mußten abgezogen werden. Wie die Ärzte befürchtet hatten, stellte sich in der Nacht bei mir Fieber ein, und die Gehirnerschütterung machte sich bemerkbar. Ich lag in einer Art Dämmerzustand im Bett, halb bewußtlos. Die Rufe der Menge drangen zu mir ins Zimmer. Sie bedrückten mich. »Was soll das noch?« fragte ich mich. »Was vermögen Zustimmung und Treue ohne Waffen?« Über die politische Lage machte ich mir keine Illusionen. Von nun hatten wir nicht mehr allein gegen die faschistische Partei zu kämpfen, sondern gegen den ganzen Apparat des Staates, den Mussolini an sich gerissen hatte.

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m nächsten Morgen wußte ganz Sardinien, was mir zugestoßen war. Der Eindruck der Nachricht war enorm. Ein Parlamentsabgeordneter war von Polizisten überfallen und niedergeschlagen worden! Ein heimtückischer, brutaler Überfall auf einen unbewaffneten Mann inmitten eines Haufens von Guardie Regie! Jedermann brachte den Überfall mit der Oppositionsrede in Zusammenhang, die ich kurz zuvor im Provinzialrat gehalten hatte. Die Menschen schienen vergessen zu haben, daß der Marsch auf Rom stattgefunden hatte. In jeder größeren Ortschaft der Insel gab es Protestdemonstrationen. In der Portierloge des Spitals legten die Vertreter der Oppositionsparteien ein Album auf; die Freunde und Anhänger, die mir ihre Solidarität bekunden wollten, sollten das Album mit ihren Unterschriften füllen. Der Präfekt ließ es beschlagnahmen. Die Erregung in der Stadt stieg. Die Geschäfte hielten aus Protest geschlossen, die Arbeiter streikten, alle verfluchten den Faschismus. Abgeordnete, Provinzialräte und Vertreter der politischen Parteien begaben sich in die Präfektur, um gegen den Vorfall zu protestieren. Der Präfekt weigerte sich, sie zu empfangen. Der Divisionskommandant, der während des Krieges mein Vorgesetzter gewesen war, besuchte mich im Spital. Seine Geste sollte nur die Freundschaft einem früheren Untergebenen und Kampfgefährten gegenüber bekunden, doch der Besuch erhielt in den Augen der Öffentlichkeit eine eminent politische Bedeutung. Aus den Nachbardörfern kamen Abordnungen der Frontkämpfer und politischer Organisationen nach Cagliari. Telegramme aus [ 85 ]

allen Teilen der Insel gaben Auskunft über die Volksstimmung. Wogen des Antifaschismus drohten ganz Sardinien zu erfassen. Ich lag, unfähig mich zu regen, im Bett. Die Ärzte hatten mir nicht erlaubt, mit dem General zu sprechen. Nach dem General brachte man meine Mutter zu mir: Sie war vor Schrecken mehr tot als lebendig. Die Ärzte hatten lange über die Frage diskutiert, ob man sie an mein Krankenbett lassen sollte oder nicht. Sie war eigens nach Cagliari gekommen; sie verpflichtete sich, kein Wort zu sagen, und sie hielt Wort. Die Arme weinte unablässig, aber sie schwieg, als wäre sie stumm. Auch ihr wurde nicht gestattet, mir länger Gesellschaft zu leisten. Der Besuch der Mutter im Spital erregte die Gemüter des Volkes noch mehr. Die Leute erkannten sie; die Demonstrationen der Menge wurden lebhafter. Die Polizei drängte die Demonstranten ab; die Folge waren Zusammenstöße, Verwundungen und Verhaftungen. Hatten die Polizisten eine Menschenansammlung an einer Stelle aufgelöst, rotteten sich die Demonstranten an einer anderen Straßenecke wieder zusammen. Die Faschisten hatten bei unverdächtigen Freunden Zuflucht gesucht oder sich irgendwo auf dem Land verkrochen. Vor den Kasernen der Guardia Regia waren Maschinengewehre in Stellung gebracht. Der Präfekt fürchtete sich: Es standen ihm nur Carabinieri, Guardie Regie und einige Polizisten zur Verfügung. Armee-Einheiten konnte er gegen das Volk nicht einsetzen: Auf sie war kein Verlaß. Die Lage konnte von einem Moment zum andern bedrohlich werden. Der Duce, der über alles in Kenntnis gesetzt worden war, sorgte für Abhilfe, da mit Gewalt allein nichts mehr zu erreichen war. Seine Instruktionen trafen alle unvorbereitet, sie widersprachen sehr seinem üblichen Stil. Die Haltung der Regierung änderte sich schlagartig. Der Staatssekretär im Innenministerium, onorevole Finzi, sandte mir ein Telegramm, das mich seiner Wertschätzung versicherte und vor Entrüstung kochte. Onorevole Lissia und der Präfekt gaben ihre Visitenkarten im Spital ab. Für einen einzigen Vormittag war das mehr als genug. Am Nachmittag ließen sich der Staatssekretär und der Präfekt [ 86 ]

zum Besuch ansagen. Die Ärzte stimmten ungern zu, am Ende siegten jedoch die politischen Erfordernisse. Lissia kam zuerst. Ich konzentrierte meine ganze Aufmerksamkeit darauf, festzustellen, ob die Zigarren in Ordnung waren. Gleich danach trat der Präfekt ins Zimmer. Beide trugen Trauermienen. Wäre mir das Reden nicht so schwergefallen, hätte ich ihnen Trost zugesprochen. Der Minister sprach als Freund und Vertreter der Regierung zu mir. Seine Erbitterung und seine Betrübnis seien grenzenlos, sagte er; die Regierung habe unverzüglich die Bestrafung der Schuldigen veranlaßt; ich hätte Anspruch auf jede Art von Genugtuung; man müsse nun den Frieden in der Stadt wiederherstellen. Ich bekam von diesem Besuch nicht alles mit. Ich war noch immer wie betäubt und erfaßte nur einen geringen Teil dessen, was die Herren sagten. Eines meinte ich immerhin klar begriffen zu haben: Der Staatssekretär wollte um jeden Preis die Befriedung der Stadt erreichen. Er war offensichtlich gekommen, um mich zur Mitwirkung zu gewinnen. Als Lissia sich von mir verabschiedete, schien er tief gerührt. Das Fieber stieg. Ich erhielt Besuchsverbot. Lissia sorgte sofort dafür, daß sein Besuch an meinem Krankenbett in der Stadt bekannt wurde. Dann setzte er sich mit meinen politischen Freunden in Verbindung. Die List versprach, Früchte zu tragen. Konnte es nach dem Marsch auf Rom noch irgendeine Befriedung geben? Jedermann mußte einleuchten, daß Befriedung nichts anderes heißen konnte als Unterwerfung unter die Macht. Für Cagliari fand man einen modus vivendi. Für das Abkommen bat Lissia die Vertreter der Opposition und die Faschistenführer zu sich. Letztere waren im ersten Moment unauffindbar gewesen. Selbst die Polizei hatte sie nicht aufstöbern können. Der Minister schlug vor, daß sich beide Seiten der wechselseitigen Achtung versichern und die Verpflichtung übernehmen sollten, von jeder gewaltsamen Aktion Abstand zu nehmen. Die Auseinandersetzungen müßten wieder in den Rahmen der Legalität zurückkehren, sagte Lissia. [ 87 ]

Meine oppositionellen Freunde stellten ihre Bedingungen; erstens: sofortige Enthaftung all derer, die seit der Ankunft des Ministers verhaftet worden waren; zweitens: sofortige Kasernierung aller Polizeikräfte. Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt würden, würden sie ihr Prestige in der Stadt verlieren und jedes weitere Wort zum Thema Befriedung wäre sinnlos. Lissia akzeptierte die Bedingungen. Man vereinbarte ein Befriedungsprotokoll, das von den Oppositionellen und den Faschisten unterschrieben wurde. Nachdem alle unterzeichnet hatten, setzte auch der Minister seine Unterschrift auf das Papier: Dadurch sollte das Dokument mehr Autorität erhalten und offiziell werden. Die politischen Häftlinge wurden entlassen. Die Guardia Regia wurde vom Polizeidienst abgezogen und kaserniert. Die faschistische Tageszeitung bedauerte in einem Leitartikel die Übergriffe und Exzesse und veröffentlichte sogar einen Artikel, in dem meine Person voller Sympathie gewürdigt wurde. Es herrschte also Frieden. Die Bevölkerung nahm die Arbeit wieder auf; die Erregung war verflogen. Vor dem Spital gab es zwar noch immer Sympathiekundgebungen für mich, doch kam es zu keinen Zwischenfällen mehr. Das Leben verlief wieder in seinen altgewohnten, ruhigen Bahnen. Nur die Jugendvertreter hatten sich dem Abschluß des Friedensvertrages widersetzt. In der Präfektur unterschriebene Papiere waren ihnen von vornherein verdächtig. Doch mußten sie sich dem Willen der Führer fügen. Schließlich war die Freilassung aller Verhafteten ein Beweis des guten Willens der Regierung; obendrein betrachtete die öffentliche Meinung diesen Schritt als großen Erfolg der Opposition. Letztendlich waren auch sie von der Nützlichkeit des Befriedungsprotokolls überzeugt. Die Stadt bot wieder einen normalen Anblick. Nur die Bubenarmee versagte jeder Autorität ihre Anerkennung und weigerte sich abzurüsten. Diese Bubenarmee war eine einzigartige Organisation. Sie hatte sich spontan gebildet und bestand aus einem runden Tausend Buben zwischen zehn und zwölf Jahren; der Oberkommandierende mochte [ 88 ]

dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein. Die meisten waren Arbeiterkinder. Jene zwei-, dreihundert Buben, die den Kern der Truppe bildeten, waren nicht einzuordnen, es war jene Sorte von Kindern, die man überall in Hafenstädten antrifft, in Neapel, in Livorno oder in Palermo: Buben, die von ihren Familien auf die Straße gesetzt worden sind oder überhaupt keine Familie haben. Was sie zum Leben brauchen, verdienen sie sich durch vielerlei kleine Dienste im Hafen oder auf den Märkten. Sie leben in absoluter Unabhängigkeit, schlafen unter Brücken oder Lauben, verzehren ihre Mahlzeiten im Stehen. Und sie nehmen täglich, auch an kalten Wintertagen, ihr Bad im Meer. Sie belästigen jeden wichtig und würdevoll aussehenden Menschen und führen gegen die Stadtpolizisten einen harmloskindlichen Kleinkrieg. Sie leben in Gruppen, in Klans mit genau festgelegten Grenzen. Niemand kümmert sich um sie; für sie ist es selbstverständlich, daß in der Not jeder jedem zu helfen hat. Wenn aber eine Regimentsfanfare ertönt oder ein Sportverein mit rhythmischem Trommelschlag ausrückt, dann sammeln sich die Buben – über alle Klangrenzen hinweg – zu einem gewaltigen Haufen und marschieren mit, ernst und stolz wie echte Soldaten. Victor Hugo hat in den Elenden ihre Brüder verewigt. Die täglichen Manöver der Bubenarmee fanden an den Nachmittagen statt, wenn die Schulen schlossen. An Sonn- und Feiertagen hielten sie sich an keinen festen Stundenplan. Niemand hat je zu sagen gewußt, wann, wo und weshalb das Bubenheer entstanden ist. Sie hatten ihre Fahnen und ihre Anführer. Der Oberkommandierende war ein Bäckerlehrling, der Gavroche von Cagliari. Er hatte sich auf Grund seiner persönlichen Qualitäten durchgesetzt; allerdings trug auch ein Stahlhelm aus dem Weltkrieg zur Hebung seiner Autorität bei, obwohl er für seinen Kopf zu groß war. Diese auch in sich selbst spontan organisierte Bubenarmee zog in bewundernswerter Ordnung durch die Straßen der Stadt, die Fahnen schwenkend und antifaschistische Lieder singend. Mehrmals kamen sie auch zum Spital, und der Bäckerlehrling drang bis in mein Zimmer vor, um mich der Freundschaft seiner Buben zu versichern. Die Polizei war machtlos. Sie konnte die Buben nicht verhaften. Noch weniger gelang es ihr, sie mit Gewalt auseinanderzutreiben. [ 89 ]

Griff die Polizei an, dann klammerten sich die Buben an die Beine der Carabinieri und der Guardie Regie und machten sie kampfunfähig. Nahm man ihnen eine Fahne ab, gingen sie zu wilden Massenangriffen über und holten sich die Trophäe zurück: Solche Siege wurden dann in Spottliedern gefeiert. Wurden die Buben von überlegenen Sicherheitskräften angegriffen, wichen sie der Schlacht aus, stoben in alle Richtungen auseinander und sammelten sich sofort ein paar Straßen weiter von neuem. Nachdem alle herkömmlichen Mittel und Methoden gegen die Buben versagt hatten, riefen die Behörden die Feuerwehr zu Hilfe. Die Wasserstrahlen aus Hydranten und Pumpen zerstreuten den jungen Heerhaufen. Dies blieb jedoch der einzige Sieg, den die Obrigkeit errang. Die Buben erfanden sofort neue taktische Methoden. Sie verzichteten künftig darauf, in geschlossenen Formationen aufzutreten, und griffen nur noch in kleinen, beweglichen Gruppen an. Die Buben kapitulierten nicht. Sie wollten keinen Frieden. Der Bäckerlehrling wiederholte in allen Reden: »Für uns gibt es keinen Marsch auf Rom. Was die Alten unterschrieben haben, erkennen wir nicht an. Wir appellieren an das Volk.« »Sie sind die einzig ernstzunehmenden Politiker in der ganzen Stadt!« sagte einer meiner Ärzte.

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m 16. November 1922 gab Mussolini im Abgeordnetenhaus die Regierungserklärung ab; ein paar Tage danach stellte er sein Kabinett dem Senat vor. Das Abgeordnetenhaus war nicht gerade profaschistisch: Der Duce mußte es also einschüchtern. Im Senat, dessen Mitglieder von der Krone ernannt werden, genoß der Faschismus breite Sympathien: Die Senatoren mußten folglich umworben und umschmeichelt werden. Der Duce hielt zwei völlig verschiedene Reden, mit völliger Unbefangenheit. Im Abgeordnetenhaus erwartete man den Auftritt Mussolinis als Regierungschef mit größter Spannung. Die Publikumstribünen waren großteils von squadristi besetzt. In den Abgeordnetenrängen verzeichnete man kaum eine Absenz. Die Parlamentarier waren aufgeregt wie Pferdeliebhaber, die auf einen Vollblüter gesetzt haben und ihren Favoriten gegen einen Außenseiter Länge um Länge verlieren sehen, aber trotzdem noch auf ein Wunder hoffen. Onorevole Giolitti saß gleichmütig da, als ginge ihn alles nichts an: die vollkommene Reinkarnation des ehrwürdigen Senators Papirius zur Zeit der Gallier-Invasion. Sein Gesicht war eine undurchdringliche Maske. Seine Augen starrten zur Decke empor, mit langen, knöchernen Fingern trommelte er auf dem Pult. In der feierlichen Stille klang es wie der Takt zu einem Trauermarsch. Der achtzigjährige Greis hatte verstanden, daß dem italienischen Parlament die Sterbestunde schlug. Auch die drei ehemaligen Ministerpräsidenten Salandra, Bonomi und Facta waren zugegen: der erste saß rechts, die beiden andern auf der Linken. Alle drei schienen [ 91 ]

gleicherweise zufrieden und vergnügt. Onorevole Nitti war nicht erschienen: Sein Sitz blieb leer. Der Parlamentspräsident, onorevole De Nicola, hatte vorerst nur Augen für die Publikumsgalerie, die er mit seinem charmantesten Lächeln zu gewinnen suchte. Triumphierend betrat Mussolini an der Spitze der Regierungsmitglieder den Saal. Man hatte das Gefühl, er reite im Sattel eines Pferdes einher. Das Publikum und die Rechte überschütteten ihn mit einem Beifallsorkan. Die Faschisten sprangen auf und stimmten ihre Kampflieder aus dem Bürgerkrieg an. Mussolini blieb ruckartig stehen, erstarrte in der Habtachtstellung und riß mehrmals nacheinander den rechten Arm zum römischen Gruß hoch. Als Applaus und Gesänge verklungen waren, nahm er in der Mitte der Regierungsbank Platz. Links und rechts von ihm saßen General Diaz und Admiral Thaon di Revel: Als Repräsentanten des Heeres und der Marine waren sie Garanten für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und Ausdruck der Gunst, die die Monarchie dem neuen Regierungschef gewährte. Mussolini erhob sich und zeigte auf den General und den Admiral; lange hielten Beifall und Gesänge an. Als die parlamentarische Ruhe wiederhergestellt war, erteilte der Präsident Mussolini das Wort. Wieder frenetischer Beifall. Dieser Beifall wurde später – angemessen gesteigert, bis zur rasenden Apotheose – zum fixen Bestandteil der Systemchoreographie. Mussolini begann: »Ich habe die Ehre, der Kammer mitzuteilen, daß Seine Majestät der König mit Dekret vom 31. Oktober dieses Jahres die Demission des Ministerpräsidenten, onorevole Facta, angenommen ...« Alle Blicke waren auf Facta gerichtet. Facta errötete und deutete schamhaft eine Dankesbezeigung an. Mussolinis Einleitung war derart orthodox-parlamentarisch, daß es den Anschein hatte, er wolle der Kammer weismachen, daß alles, was geschehen war, sich unter strengster Beachtung der Verfassung abgespielt hatte. Die Abgeordneten schätzten diese Geste sehr. Mussolini fuhr fort: »Meine Herren! Die Mühe, der ich mich hier unterziehe, ist ein Akt des Entgegenkommens Ihnen gegenüber. Ich will dafür keine besondere Anerkennung.« [ 92 ]

Lange Pause. »Sind die Rechte des Parlaments in irgendeiner Weise beeinträchtigt worden? Ich überlasse es den melancholischen Eiferern des Verfassungspuritanismus, darüber ihre Jammertraktate zu schreiben.« Das Zentrum und die Rechte vernahmen diese Formulierung mit Wohlgefallen. In beiden Rängen brachen die Abgeordneten in schallendes Gelächter aus, die Tribünen stimmten ein. Die Gattin des Herzogs von Aosta, Helena von Frankreich, lachte derart ekstatisch, daß sie ihre Tränen mit einem feinen Batisttaschentuch trocknen mußte. Die Botschafter Portugals und Ungarns, die in den Diplomatenlogen saßen, nickten voll Verständnis und Vergnügen. »Ich erkläre hiemit, daß die Revolution ihre Rechte hat. Und ich füge hinzu, damit jeder es wisse, daß ich an dieser Stelle stehe, um die Revolution der Schwarzhemden zu verteidigen und ihr auf allen Linien zum Durchbruch zu verhelfen ...« In den Reihen der Abgeordneten gab es deutliche Anzeichen von Erregung. Die meisten blickten besorgt hinauf zu den Tribünen, wo die squadristi hämisch grinsten. »Es wäre mir ohne weiteres möglich gewesen, den Sieg zu überdrehen. Ich wollte aber nicht.« Die Abgeordneten atmeten hörbar wieder auf. Viele nickten zustimmend. Diese beifällig nickenden Kollegen glichen jenem braven Mann, der sich hilflos einem bewaffneten Gewalttäter gegenübersieht. »Ich könnte schießen, wenn ich wollte, ich könnte dich umbringen!« droht der Gewalttäter. Und der Überfallene, der weiß, daß er den Widersacher nicht entwaffnen kann, lächelt, nickt und beteuert in entwaffnender Liebenswürdigkeit: »Aber natürlich, selbstverständlich, sicherlich könnten Sie das tun. Sie sind kräftig. Sie haben einen Revolver. Sie könnten alles tun, wenn Sie wollten. Niemand zweifelt daran. Aber Sie werden es nicht tun!« Mussolinis Antlitz verfinsterte sich. Er rollte drohend die Augen. Die Pupillen leuchteten wie die Scheinwerfer eines Autos in der Nacht. »Ich hätte aus diesem dumpfen, grauen Saal, wenn ich gewollt hätte, einen Lagerplatz für meine Kampfgruppen machen können. Ich hätte die Zugänge zum Parlament verrammeln können ...« [ 93 ]

Onorevole De Nicola, der Kammerpräsident, senkte die Augen. Das Plenum war mit einem Schlag wie gelähmt. Der 19. Brumaire, schoß es allen durch den Kopf, alle dachten an die Grenadiere Bonapartes. Die Liebhaber der öffentlichen Ruhe und Ordnung fühlten, wie eine eisige Hand nach ihren Herzen griff. Lange Pause. »Ich hätte es tun können, aber ich wollte nicht.« Wieder erleichtertes Aufatmen, das sich schwermütig durch die Ränge verbreitete. Manche Kollegen bekundeten durch eifriges Nicken ihre Zustimmung. Dem Duce bereitete das Ganze großes Vergnügen. Er glich der Katze, die die Maus schon zwischen den Pfoten hat und sie mit einem Hieb töten könnte, die ihr Opfer aber bald sanft streichelt, dann mit scharfen Krallen bedrängt, dann wieder ein paar Schritte laufen läßt, um ihm die Illusion der Freiheit zu geben, ehe sie wieder zuschlägt, um das Todesspiel von vorne zu beginnen. Wie die Katze mit der Maus – verfuhr der Duce mit der Kammer. Er fügte sogleich, höhnisch und sarkastisch, unausgesprochene Versprechungen und offen geäußerte Drohungen mit einer alles in Frage stellenden, alles und nichts bedeutenden Formulierung resümierend, hinzu: »Für den Augenblick wenigstens – habe ich es nicht gewollt.« Verzweiflung kroch durch die Reihen des Plenums. »Ich habe eine Koalitionsregierung gebildet. Aber nicht, um mir eine parlamentarische Mehrheit zu sichern. Ich brauche keine Mehrheit ...« Die Kammer war wie vor den Kopf geschlagen. »Mit tiefer Ehrerbietung verneige ich mich vor dem Souverän, der sich in letzter Stunde geweigert hat, die reaktionären Intrigen mitzumachen ...« »Viva il Re!« brüllte es von den Publikumstribünen. Die Abgeordneten erhoben sich und stimmten in den Ruf ein. Nur die äußerste Linke blieb stumm. Der Applaus dauerte gute zehn Minuten lang. Selbst onorevole Facta klatschte eifrig mit. In der Diplomatenloge konnte man die Freude über den Ausgang der Krise nicht länger verbergen. Der Monarch hatte im Grunde genommen großen Mut bewiesen. [ 94 ]

»Die verfassungsmäßigen Freiheiten werden nicht angetastet werden. Die Achtung des Gesetzes wird um jeden Preis gewährleistet werden. Der Staat ist stark und wird seine Kraft jedermann gegenüber beweisen, wenn es sein muß, auch gegenüber einer eventuellen faschistischen Ungesetzlichkeit.« Ein Ausdruck der Enttäuschung zeichnete sich auf den Gesichtern der squadristi ab, die sich über die Brüstungen der Publikumslogen beugten. Aber die Wirkung dieser Worte in der Kammer war enorm. Sogar Giolitti verzichtete – möglicherweise zum erstenmal in seiner Karriere – auf sein priesterlich-würdevolles Gehabe und ließ sich zu einem Applaus hinreißen. Nun ließen sich sogar die Abgeordneten der extremen Linken von der allgemeinen Begeisterung anstecken. Mussolini berührte in seiner Rede alle wichtigen Themen: die Wirtschaftspolitik, die Finanzpolitik und mit besonderer Ausführlichkeit die Außenpolitik. Die Abgeordneten hörten kaum hin. Was sie interessierte, war einzig und allein die Innenpolitik. Primum vivere! »Meine Herren, ich habe nicht die Absicht, gegen das Parlament zu regieren«, verkündete Mussolini. Doch fügte er, um keine falschen Hoffnungen aufkommen zu lassen, sogleich hinzu: »Solange mir dies möglich sein wird.« Wieder das Spiel der Katze mit der Maus. Der Duce sprach nun langsam, er skandierte die Silben, er kostete jeden Satz genüßlich aus. Die Abgeordneten sollten in aller Ruhe die höchsten Gipfel der Hoffnung erklimmen, um im nächsten Augenblick in die tiefsten Abgründe der Verzweiflung gestürzt zu werden. Es war ein Wunder, daß niemand vom Schlag getroffen wurde. »Die Kammer muß sich jedoch stets ihre besondere Situation vor Augen halten, ich meine die Tatsache, daß sie, wenn es sein muß, in zwei Tagen aufgelöst werden kann – oder auch erst in zwei Jahren, je nachdem.« Nun war es ausgesprochen. Mussolini bot den Abgeordneten ein Tauschgeschäft an. Die Kammer begriff sofort. In diesem Augenblick wurde – stillschweigend – die Kapitulation beschlossen. [ 95 ]

Mussolini skandierte: »Ich verlange außerordentliche Vollmachten.« Die Diktatur! Der Duce hielt sich streng an die klassischen Regeln der Taktik, die verlangen, daß dem Gegner nicht die Möglichkeit geboten werden darf, sich vom Gefühl der Schwäche und des Schreckens zu erholen. Mussolini schüchterte die Kammer nun durch Spott und Hohn ein. Kalt und langsam steigerte er sich in eine spannungsgeladene Präzision hinein. Daumen und Zeigefinger der rechten Hand berührten einander, so daß sie einen Kreis bildeten; langsam hob er diesen Kreis vor die Stirn, als wollte er tropfenweise Gift aus seinem Schädel zaubern: »Meine Herren, belästigen Sie die Nation nicht mit neuem sinnlosen Geschwätz. Es haben sich zweiundfünfzig Abgeordnete in die Rednerliste eingetragen, um zu meiner Erklärung Stellung zu nehmen. Zweiundfünfzig sind entschieden zuviel ...« Zweiundfünfzig Redner waren in der Tat zu viele. Aber die Art, mit der Mussolini die Einladung, die Rednerliste zu reduzieren, vorgebracht hatte, bedeutete den Gnadenstoß für das Parlament. Sicherlich, der Duce hätte es in der Hand gehabt, mehr zu sagen und auch mehr zu tun. Ehe Oliver Cromwell das Long Parliament auflöste, hatte er gelassen und ruhig zu den Abgeordneten gesprochen. Aber plötzlich ärgerte ihn etwas. Er verließ die Rednertribüne, stieg hinab ins Halbrund, setzte sich den Hut auf und zog ihn tief ins Gesicht. Dann rief er, zornig mit den Füßen stampfend: »Ihr wagt es, euch Parlament zu nennen? Ihr seid kein Parlament. Ihr habt Säufer unter euch.« Cromwell hielt inne und fixierte jenen Mr. Chaloner, der im Rufe stand, allzu häufig im Weinberg des Herrn zu verweilen. »Ihr habt hemmungslose Schürzenjäger in euren Reihen!« fuhr der Puritaner fort, und seine schrecklichen Augen verschlangen den kleinen Mr. Henry Martyn, dessen faunische Eigenschaften allgemein bekannt waren. »Unter euch gibt es Gauner, korrupte Betrüger, Sünder, die dem Evangelium zur Schande gereichen. Und ihr wollt ein Parlament sein?« Auch Mussolini schloß seine Rede wie Cromwell mit einer Anrufung Gottes. Aber anders als der Brite verzichtete der Duce [ 96 ]

darauf, die Schurken und Sünder an den Pranger zu stellen. Er ließ es nicht an Großmut fehlen. Die Kammer wußte dies zu würdigen. Sie sprach ihm mit großer Mehrheit das Vertrauen aus. Abstimmende: 422; dafür: 306, dagegen: 116; Stimmenthaltungen: 7. Diese sieben hatten offensichtlich nicht begriffen, worum es ging, sie hofften wohl noch auf höhere Erleuchtung. Giolitti, Bonomi, Salandra und De Nicola stimmten für die Regierung. Der Klub der Radikaldemokraten stimmte für den Duce, nur der achtzigjährige Obmann des Klubs, onorevole Cocco-Ortu, stimmte dagegen; noch am gleichen Tag legte er auch sein Amt als Klubobmann zurück. Die katholischen Demokraten gaben gleichfalls ein Ja ab. Die Gegenstimmen kamen von der kleinen linksdemokratischen Gruppe des Abgeordneten Amendola, von den Republikanern und der extremen Linken, Sozialisten und Kommunisten. Die Opposition strich im letzten Augenblick eine Reihe ihrer Redner, die gegen die Regierung argumentieren hätten sollen. Die eindrucksvollsten Oppositionsreden lieferten die Abgeordneten D’Aragona und Cao. Der Sozialist D’Aragona vertrat den Allgemeinen Gewerkschaftsverband, Cao unsere kleine Sardische Aktionspartei. D’Aragona, im Bewußtsein der historischen Stunde, äußerte eine Reihe ernster materieller Besorgnisse der Arbeiterbewegung, er glich dabei einem Matrosen, der, während das Schiff im Sturm in Brüche geht, nur darauf achtet, daß seine sauber gewichsten Schuhe nicht naß und schmutzig werden. D’Aragona schloß mit einem eindringlichen Appell zum Frieden; es war ein ehrliches Friedensangebot, denn nichts widerstrebte D’Aragona mehr als jede Form von Krieg. Onorevole Cao brach mehr als eine Lanze. Er war ein hervorragender Advokat und seine Anklagerede unerbittlich. Gleich zu Beginn erinnerte er daran, daß, während man hier sprach, ein Kollege im Spital lag, um die Wunden auszuheilen, die ihm von Regierungsorganen beigebracht worden waren. Damit spielte er auf mich an. [ 97 ]

Er schloß mit einem Frontalangriff auf den Duce: »Herr Mussolini, es lebe die Volkssouveränität, die niemand unterdrücken, niemand auslöschen kann! Es lebe das Parlament!« Als Cao das Rednerpult verließ, war er derart aufgeregt, daß die faschistischen Abgeordneten fürchteten, er wolle sich auf den Duce stürzen und ihn umbringen. Einige Faschisten verließen ihre Plätze und bauten sich im Halbkreis vor der Regierungsbank auf, um das Leben ihres Führers zu schützen. An dieser Stelle muß ich den Leser bitten, kurz die Augen zu schließen und vier Jahre verstreichen zu lassen. Wenn er dann die Augen wieder aufschlägt und die politische Bühne Italiens betrachtet, wird er sehen, daß beide, D’Aragona wie Cao, ihre Heimstatt im Faschismus gefunden haben: D’Aragona als verschämter, schüchterner Faschistenfreund, Cao als kämpferischer, gewalttätiger Parteigänger. Beide hatten genügend ideelle Gründe zur Hand, um die konkreten Gründe für den Gesinnungswechsel zu rechtfertigen. Derartige Konversionen waren im Italien jener Jahre durchaus keine Seltenheit; man bezeichnete sie als Bewußtseins- oder Gewissenskrisen. Kehren wir in die Kammer zurück. Triumphierend verließ Mussolini den Saal, strahlend vor Glück – wie der Dompteur nach der großen Nummer.

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eine Genesung machte rasche Fortschritte; doch mußte ich weiterhin im Spital das Bett hüten, da die Verwundung ernster war, als man zunächst gedacht hatte. Staatssekretär Lissia hatte Cagliari verlassen und war nach Rom zurückgekehrt. Das Befriedungsabkommen wurde von beiden Seiten respektiert: In der Stadt herrschten Ruhe und Ordnung. Gleichwohl trafen Tag für Tag neue Abteilungen von Guardie Regie und Carabinieri ein. Die Kasernen konnten die neuen Bataillone nicht fassen; es mußten mehrere öffentliche Gebäude geräumt werden, um Unterkünfte für die Polizeikräfte zu schaffen. Die Freunde, die mich besuchten, fragten besorgt, was diese Ansammlung von Polizeitruppen wohl zu bedeuten habe; ich konnte ihnen keine Auskunft geben. Die Zeitungen kündigten für den 27. November eine faschistische Großkundgebung in Cagliari an; alle Faschisten der Provinz sollten daran teilnehmen. Die Vorbereitungen für das Treffen liefen auf vollen Touren. Der Präfekt forderte die Bevölkerung auf, zum Zeichen der Gastfreundschaft alle Häuser zu beflaggen. Am Tag der Kundgebung präsentierten sich nur die öffentlichen Gebäude und die Häuser der Faschisten fahnengeschmückt. Die Stadt war empört über die Machtdemonstration, doch fraß man die Erbitterung in sich hinein. Die Führer der Opposition hatten die Losung ausgegeben, alle Provokationen zu unterlassen und das faschistische Fest nicht zu stören. Für den Vorabend der Kundgebung hatten die Oppositionellen eine friedliche Demonstration angemeldet, doch der Präfekt hatte sie verboten. Viele Oppositionsführer beschlossen, den Tag in den Dörfern der Umgebung zu [ 99 ]

verbringen, um dem faschistischen Spektakel nicht passiv und tatenlos beiwohnen zu müssen. Der 27. November war ein Sonntag. Schon am frühen Morgen trafen die ersten squadre der Schwarzhemden in der Stadt ein. Ein Musiktrupp mit Posaunen und Trommeln lief kreuz und quer durch Cagliari, um die Ankunft der Faschisten anzukündigen. Die Faschisten sammelten sich vor dem Sitz des fascio. Insgesamt waren es mehr als dreihundert. Nie zuvor hatte man auf Sardinien eine größere faschistische Ansammlung erlebt. Die Stadt ignorierte sie. Die Faschisten waren mit Knüppeln, Pistolen und Dolchen bewaffnet; alle trugen das schwarze Hemd. Die große Neuheit für die Insel war die Frauenabteilung: rund dreißig Faschistinnen, die – gemäß der Sitte der mittelitalienischen Frauen-squadre – nur mit Revolvern bewaffnet waren. Möglicherweise verzichteten sie auf Knüppel und Dolche, weil sie glaubten, dem Liebreiz des schwachen Geschlechts seien nur edlere Waffen zuträglich. Die Faschisten verzehrten ihre Menage – wie die Soldaten im Feld – unter freiem Himmel auf dem Sammelplatz. Eine Stunde nach Mittag begann, genau nach Programm, der Aufmarsch. Der Zug wurde von Guardie Regie und Carabinieri eröffnet; neben den normalen Bataillonen waren auch Abteilungen zu Pferd ausgerückt. Dann folgten faschistische Trommler, die Wimpelträger und die squadre. In der Mitte des Zuges marschierte die Musikkapelle. Die Nachhut wurde – wie die Vorhut – von Carabinieri und Guardie Regie gebildet. Die Carabinieri hatten für den Festzug nur etliche Dutzend Mann abgestellt; die Zahl der Guardie Regie überstieg dagegen die Tausendergrenze. Die eigentliche Polizei versah den Ordnungsdienst in Zivilkleidung. Die wichtigsten Punkte der Stadt und alle zentralen Straßenkreuzungen waren von Gruppen der Guardia Regia mit Maschinengewehren besetzt. Das faschistische Fest ließ sich gut an. »Tod den Vaterlandsverrätern!« brüllte die Spitze der Kolonne. »Tod!« wiederholten die anderen im Chor. »Hut ab!« schrien die Wimpelträger die Passanten an. [ 100 ]

Die Leute betrachteten das Schauspiel, ohne ihre Feindseligkeit offen zu bekunden. Niemand zog vor den faschistischen Standarten den Hut. Die Faschisten betrachteten dies als schwere Provokation; einige besonders rauflustige oder besonders empfindsame Schwarzhemden verließen die Reihen und attackierten die Bürger mit ihren Knüppeln. Die Angegriffenen, die nicht wußten, wie ihnen geschah, setzten sich zur Wehr, so gut sie vermochten. Es gab Raufereien und Zusammenstöße kleinerer und größerer Gruppen. Ein faschistischer Anführer wurde von seinem Haufen abgesprengt und von jungen Cagliaritanern umzingelt; er zitterte vor Angst und schrie, als man ihn dazu aufforderte, aus Leibeskräften: »Nieder mit Mussolini!« Die Unruhe griff um sich. Nach den ersten Zwischenfällen erschienen die Leute an den Fenstern und schrien: »Nieder mit dem Faschismus.« Die Bürger stürzten auf die Straßen. Die faschistischen Trompeter gaben nun das vereinbarte Zeichen zum Angriff. Die Faschisten begnügten sich nun nicht mehr mit den Knüppeln; sie zogen Pistolen und Dolche und stürzten sich blindwütig auf die Menschen. Nachdem das erste Blut geflossen war, rotteten sich die jungen Oppositionellen in Gruppen zusammen und warfen sich den Faschisten entgegen. Sie waren zwar zahlenmäßig stärker, aber unbewaffnet. Wie sich später herausstellte, trug kein einziger von ihnen eine Waffe bei sich. Die faschistische Marschkolonne wurde an mehreren Stellen angegriffen und, obschon sich die Schwarzhemden mit ihren Waffen zur Wehr setzten, in alle Winde zerstreut. Sogleich schritten Guardie Regie und Carabinieri zum Schutz der Faschisten ein. Die Truppen feuerten zunächst ein paar Warnsalven in die Luft ab und schossen dann direkt in die Menge. Mit einem Mal verwandelte sich die Stadt in ein Inferno. Viele Verwundete blieben am Boden liegen; andere versuchten zu flüchten und liefen an der nächsten Straßenecke den Polizeipatrouillen in die Arme und wurden verhaftet und abgeführt. Die Faschisten hatten offenbar alles bis ins kleinste Detail vorausgeplant. Das Stöhnen der Verwundeten, die Signalstöße der Trompeten, die Schüsse, die Schreie der Frauen und Kinder vereinten sich zu einem grauenvollen Getöse. Cagliari glich einer eroberten Burg, in [ 101 ]

der die siegreiche Soldateska mordend und marodierend ihren Rachedurst stillt. Ich lag im Spital, hörte das Echo ferner Schüsse, die Schreie und das immer stärker anschwellende Getöse, ohne mir erklären zu können, was vorging. Dann trafen die ersten Verwundeten ein, manche auf Tragbahren oder auf Sesseln, andere auf den Schultern von Freunden. Viele nur leicht Verletzte kamen allein ins Spital. Diese Verwundeten gaben mir als erste Bericht über das faschistische Fest. Dann kamen Freunde und informierten mich genauer über das Geschehen. Was konnte ich unternehmen? Ich war noch nicht imstande, mich auf den Beinen zu halten. So beschloß ich, dem Präfekten einen Brief zu schreiben. Ich protestierte gegen die hinterhältige Auslegung des Befriedungspaktes und gegen die Überrumpelung der friedfertigen, unbewaffneten Bürger. Ich bekundete mein grenzenloses Erstaunen über die Teilnahme der Polizeikräfte am faschistischen Überfall. Schließlich ersuchte ich den Präfekten, seine Autorität aufzubieten, um die Ruhe wiederherzustellen, und machte ihn für das Vorgefallene direkt und uneingeschränkt verantwortlich. Ein Freund, der Provinzialrat war, eilte mit dem Brief zum Präfekten. Dies erschien uns als die beste Lösung, zumal er den Präfekten persönlich kannte. Der höchste Repräsentant der Zentralgewalt konnte seine Aufregung nicht verbergen. Nervös riß er das Kuvert auf, las den Brief, faltete ihn zusammen, steckte ihn in die Tasche, holte ihn wieder heraus und las ihn noch einmal. »Mich trifft nicht die geringste Verantwortung«, sagte er. »Wieso soll gerade ich dafür verantwortlich sein?« Mein Freund, der Provinzialrat, schilderte ihm die Vorfälle, die er selber mitangesehen hatte. Der Präfekt hörte ihm interessiert zu; schließlich schien er sogar gerührt zu sein. »Das ist die Revolution«, sagte er. »Die Revolution nimmt ihren Verlauf. Ich vertrete hier die Regierung. Versetzen Sie sich bitte in meine Lage ...« Mein Freund erreichte vom Präfekten nicht mehr als einen Brief für mich. Der Brief enthielt einige patriotische Floskeln und schloß mit dem Wunsch, ich möge den außerordentlichen Ernst des Augenblicks in Erwägung ziehen. [ 102 ]

Die Lage war in der Tat zum Verzweifeln, von keiner Seite war Hilfe zu erwarten. Ich bedurfte nicht des Briefes des Präfekten, um den außerordentlichen Ernst des Augenblicks zu erkennen. Ständig trafen Verwundete im Spital ein. »Wir Dummköpfe haben uns übertölpeln lassen!« sagten alle. »Mit dem Befriedungspakt haben sie uns verzaubert und eingeschläfert. Wir hätten uns zur Verteidigung rüsten müssen.« Manche weinten vor Zorn. Jeder Verwundete brachte neue Lageberichte. Die faschistische Kolonne hatte sich im Schutz der Polizeitruppen wieder gesammelt. Der Aufmarsch wurde unter verstärkten Schutzvorkehrungen fortgesetzt; er verlief nun ungestört. Die faschistischen squadre und die Guardie Regie beendeten die Schießerei nicht. Da und dort wurden auch noch einzelne Passanten festgenommen. Mit den an den Straßenkreuzungen postierten Maschinengewehren wurden von Zeit zu Zeit Salven abgefeuert, um die Bürger einzuschüchtern. Nur hie und da schlich noch ein einzelner Mann die Mauern entlang, auf der Suche nach Schutz oder nach Freunden. Dafür wurde die faschistische Kolonne von oben, aus den Wohnungen angegriffen: Wasser, Stühle, Tische und die verschiedensten Haushaltsgeräte gingen auf die Schwarzhemden nieder; in einer Straße flog sogar ein Bettgestell auf die Marschkolonne herab. Aus den verrammelten Häusern schrien die Leute: »Mörder! Verbrecher! Mörder!« Ein Krankenwärter teilte mir mit, daß mich ein schwer verwundeter Mann zu sprechen wünsche. Ich ließ mich zu ihm bringen. Es war mein Kriegskamerad Efisio Melis. Melis hatte den ganzen Krieg als Infanterist an der vordersten Front mitgemacht; er war für tapferes Verhalten vor dem Feind mit einer Medaille ausgezeichnet worden. Nach dem Krieg hatte er geheiratet; sein erstes Kind war ein Jahr alt; die Frau erwartete gerade das zweite. Melis arbeitete in einem Industriebetrieb und war ein bekannter Antifaschist. Wir trafen uns oft. Der junge Mann war mir richtig ans Herz gewachsen. Nun lag er blaß und regungslos in einem Notbett. Die zwei Freunde, die ihn ins Spital geschleppt hatten, erzählten mir über [ 103 ]

seine Verwundung: Melis stand mit anderen Leuten an einem Platz, über den die Faschistenkolonne marschierte; er hielt sein Kind im Arm. Wie alle anderen behielt auch er beim Vorbeimarsch der Schwarzhemden den Hut auf dem Kopf. Ein Faschist, der im gleichen Viertel wohnte, stürzte sich auf Melis und versetzte ihm zwei Dolchstöße in den Unterleib. Melis war ein tapferer Mann, doch konnte er sich wegen des Kindes nicht zur Wehr setzen. Der Arzt, der ihn behandelte, flüsterte mir zu, daß für meinen Freund keine Hoffnung mehr bestand. Kaum saß ich an seinem kleinen Notbett, nahm er meine Hand und drückte sie fest. Er sah mir lange schweigend in die Augen, dann sagte er, kaum hörbar: »Der Krieg! Der Krieg!« Es waren seine letzten Worte. Was hatte er mir damit sagen wollen? Was bedeutete dieser seltsame Abschiedsgruß? Wollte er mir klarmachen, daß er es vorgezogen hätte, in einem richtigen Krieg zu sterben, im Schützengraben, wo man wenigstens mit der Waffe in der Hand fallen durfte? Oder sah er mit Schrecken, wie der an den Fronten beendete Krieg grausam und blutig den politischen Alltag eroberte? Am Abend schleppten sich auch fünf Buben verwundet ins Spital. Es waren Angehörige der Bubenarmee, die am Nachmittag in geschlossenen Reihen mit ihren Fahnen in den Kampf eingegriffen hatte. Die Guardia Regia hatte den Angriff der Buben mit einigen Gewehrsalven abgewehrt. Im Spital lagen hundertfünfzig Verwundete, alles Oppositionelle. Alle wiesen Dolchstiche oder Schußwunden auf. Manche schwebten in Lebensgefahr. Viele Verwundete hatten aus Furcht vor der Verhaftung nicht gewagt, das Spital aufzusuchen. Die Polizei hatte mehr als tausend Angehörige der Oppositionsparteien verhaftet und viele Verwundete vor den Eingängen zum Spital festgenommen und in das Gefängnis geschleppt. Ein Dutzend Faschisten hatte Prellungen und Hautabschürfungen davongetragen. Als die Nacht hereinbrach, war die Stadt wie ausgestorben. Gespenstische Stille senkte sich auf die Straßen, wie auf ein Schlachtfeld. Irgendwo erklang ein Trompetenstoß, rollten drohende Trommelschläge. Dann rückte in schwerem Marschschritt ein Trupp der [ 104 ]

siegreichen Eroberer an, der sich durch grölendes Triumphgeheul selbst Mut machte. Das Getrappel der berittenen Patrouillen der Guardia Regia belehrte die Bürger, daß alle Kräfte der Ordnung und des Staates den Sieg der Schwarzhemden legalisierten. In meinem Spitalzimmer nahm ich alle Geräusche wahr. Trommelwirbel und Pferdegetrappel erschienen mir als düstere, unheilvolle Boten einer Gespensterkavalkade, über der finstere Schwärme krächzender Krähen ihre Kreise zogen. Das Fieber stieg wieder auf 40 Grad. Ich kann mich nicht entsinnen, je eine ähnliche Nacht erlebt zu haben. Ich war im Krieg. Ich habe viele Gefechte mitgemacht. Ich erinnere mich an Augenblicke, in denen der Geist zwischen Vernunft und Wahnsinn flackerte. Aber all dies verblaßt, wenn ich an jene Nacht in Cagliari denke. Ein Gefecht ist schrecklich, zuweilen aber ist es viel schrecklicher, nicht kämpfen zu können. Hatte mein Freund Melis mit seinen letzten Worten dies sagen wollen? Spät in der Nacht wurden auch die Faschisten müde. Der ganze Haufen wurde in einer eigens geräumten öffentlichen Schule untergebracht. Die Präfektur zeigte sich großzügig: Sie ließ gewaltige Mengen Wein und Schnaps auftischen, um die Helden für die Mühen des Tages zu belohnen. Der Alkohol belebte die Geister. Man sang und tanzte zu wilden Trommelwirbeln wie in einem kriegerischen Feldlager. Der Lärm der Sieger erfüllte die Nacht. Vom Wein berauscht und siegestrunken sanken sie dann auf das Lager. Die Frauenmannschaft teilte mit den männlichen Kampfgefährten nach den Fährnissen des Tages auch die spartanische Härte des Nachtquartiers. An eben diesem Tage, um 15.45 Uhr, sprach Mussolini vor dem Senat. »Ich habe nicht die Absicht, den Rahmen des Gesetzes zu überschreiten, die Verfassung zu mißachten ... Ich will, daß nationale Disziplin kein leeres Wort sei, daß das Gesetz nicht länger als stumpfe Waffe gelte!« Am nächsten Morgen reisten die auswärtigen Faschisten aus Cagliari ab. Am Bahnhof spielte die Musikkapelle der CarabinieriLegion zum Abschied die Marcia Reale. Die faschistische Tageszeitung erschien mit einer gewaltigen Schlagzeile über die ganze erste [ 105 ]

Seite: »Vittoria! Vittoria! Vittoria!« Darunter folgte ein ausführlicher Bericht über das außergewöhnliche Geschehen. In der offiziellen Geschichte der faschistischen Revolution Professor Chiurcos wird dieses Sonntags in sehr synthetischer Form gedacht. In Band fünf heißt es: »27. November. In Cagliari ereignen sich während eines faschistischen Umzuges einige Zwischenfälle. Es gibt viele Verletzte.« Die Polizei nahm weitere Oppositionelle fest. Die bekanntesten Industriellen, Großagrarier und Kaufleute der Insel traten noch am gleichen Tag – gemeinsam mit den wichtigsten Staatsbeamten – der faschistischen Partei bei. Der Konsens begann sich einzustellen.

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V

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ierzehn Tage nach diesem Blutsonntag durfte ich das Spital verlassen. Efisio Melis, mein Freund, war gestorben: An seinem Begräbnis hatten fünfzigtausend Menschen teilgenommen. Freunde bestürmten mich, ich solle sofort nach Rom reisen und versuchen, etwas gegen die unhaltbare Lage auf der Insel zu unternehmen. Ich glaubte nicht daran, daß sich auf normalem Wege Abhilfe schaffen ließe. Ich hatte überhaupt keine Hoffnung mehr. Trotzdem gab ich nach und fuhr nach Rom. Den letzten Teil der Bahnreise legte ich in Begleitung eines höheren Generalstabsoffiziers, eines der Feldadjutanten des Königs, zurück. Wir kannten uns seit der Zeit vor dem Krieg; er war damals ein junger Subalternoffizier, ich Student. Im Krieg hatten wir uns auf dem Karst wiedergesehen: In zwei Schlachten waren wir miteinander im Feuer gelegen. Er war Artilleriehauptmann; seine Geschütze standen im Rücken meines Infanteriebataillons. Als ich ihn nun im Zug wiedersah, freute er sich herzlich über die Begegnung. Kriegserinnerungen und Kriegsfreundschaften waren damals noch relativ frisch. Wir begannen sofort über den Krieg zu reden, und wie es bei Erlebnisberichten üblich ist, erhöhten wir, ohne böse Absicht, den Gefährlichkeitsgrad der siegreichen Angriffe und die Zahl der Gefangenen und erbeuteten Waffen. Das reizende und gegenseitige Einverständnis stellte sogleich wieder die Atmosphäre alter Kameradschaft her. Glücklich über die aufkommenden Erinnerungen, bereicherte er die Aktionen seiner Batterien um einige vollkommen neue, geradezu tollkühne Operationsvarianten, und daß ich ein so dankbarer Zuhörer war, spornte [ 107 ]

ihn zu immer neuen taktischen Erfindungen an. Das Eis war gebrochen, die Distanz, die durch unsere Stellung vorgegeben war, überwunden. Allmählich gerieten wir auf das Parkett der Politik. Es interessierte mich sehr, von einem Mann, der im Königspalast ein und aus ging, zu erfahren, was er über die Lage dachte. Er beteuerte sogleich, er sei ein unversöhnlicher Antifaschist und sprach von Mussolini im Ton abgrundtiefer Verachtung. »Trotzdem«, wandte ich vorsichtig ein, um das Terrain zu sondieren, »der Kerl versteht sein Geschäft, und er hat seine Freunde.« »Nichts versteht er. Und was seine Freunde anlangt, ihretwegen verdiente er, hinterrücks erschossen zu werden!« »Wenn es so ist, weshalb hat ihm dann der König die Macht übergeben?« »Seine Majestät der König vertraut Mussolini nicht mehr, als der Kaiser von Österreich Wallenstein vertraut hat. Seine Majestät wollte ein Experiment durchführen.« »Aber die Spesen für dieses Experiment haben wir zu tragen, das italienische Volk.« »Das Volk wollte die Republik und den Sozialismus«, unterbrach mich der Feldadjutant höflich. »Sie werden einräumen, daß Seine Majestät sich nicht in einen Republikaner oder Sozialisten verwandeln konnte.« »Ich könnte diesen Einwand gelten lassen«, sagte ich nicht minder höflich, »wenn Republikaner oder Sozialisten an der Macht gewesen wären. Aber die Regierung lag doch in der Hand der Monarchisten. Woher das plötzliche Mißtrauen des Königs den Monarchisten gegenüber? Weshalb hat der Monarch sich geweigert, das Dekret über den Belagerungszustand zu unterschreiben?« »Die Umstände haben Seine Majestät dazu gezwungen, so zu handeln. Facta war ein Schwächling. Dazu das Durcheinander im Parlament. Und schließlich ist es kein Geheimnis, daß der Herzog von Aosta allerlei im Schilde führte.« Ich hatte einiges über die Intrigen des Herzogs gehört, doch wußte ich nichts Genaues darüber. »Was hat der Herzog von Aosta mit der Geschichte zu tun?« fragte ich. [ 108 ]

»Der Herzog ist Faschist. Mussolini hatte seinen Marsch auf Rom mit ihm abgekartet. Der König erfuhr im allerletzten Augenblick davon, so daß ihm keine Zeit mehr blieb, die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Der Herzog drohte, er werde sich an das Heer wenden: Er wollte den offenen Aufruhr, den Bürgerkrieg.« »Das hätte der Herzog ...?« »Nicht nur das«, unterbrach mich der Feldadjutant. »Er teilte dem König mit, daß es seine Pflicht sei, die Dynastie zu retten, auch auf die Gefahr hin, den König absetzen zu müssen.« »Glauben Sie, das Heer hätte dieses Spiel mitgemacht, wenn der Herzog sich an die Truppen gewandt hätte?« Er antwortete wie aus der Pistole geschossen, ohne auch nur einen Augenblick lang zu zögern: »Nein, niemals. Das Heer gehorcht nur seinem Oberbefehlshaber, dem König. Ich bin überzeugt, daß es im ganzen Heer nicht einen einzigen Offizier gibt, der angesichts eines königlichen Befehls nicht wüßte, was er zu tun hat, der auch nur zaudern könnte.« »Das Beispiel des Herzogs könnte immerhin das Gegenteil beweisen. Auch er ist Offizier, er hat ein Armeekommando.« »Der Herzog«, sagte mein ehemaliger Kriegskamerad leiser, als sollte es niemand hören, »ist von Ehrgeiz zerfressen. Daß er die III. Armee befehligen durfte, ist ihm zu Kopf gestiegen. Man hat ihm so oft eingeredet, daß er die III. Armee tatsächlich geführt habe, daß er es nun glaubt. Außerdem ist er ein Reaktionär und mit dem französischen Thronprätendenten verwandt. Er will dem Papst Rom wiedergeben und in Frankreich wieder die Monarchie installieren. Es will ihm nicht in den Kopf, daß er sein Leben als gewöhnlicher Prinz beenden soll, er will in Italien den Thron wiedergewinnen, den sein Herr Papa in Spanien verspielt hat.« »Jedenfalls durfte der König hoffen, daß das ganze Heer zu ihm stehen würde«, bohrte ich noch einmal. »Seine Majestät der König hat keinen Augenblick daran gezweifelt.« »Aber wieso hat er dann überhaupt auf die Prahlereien des Herzogs geachtet.« »Er wollte einen Skandal vermeiden. Der Skandal hätte das [ 109 ]

Prestige der Monarchie erschüttert. Und wie wäre Italien dann vor den Augen der Welt dagestanden? Sie können sich leicht vorstellen, was man im Ausland gesagt hätte.« »So haben wir Italiener also den Staatsstreich und die faschistische Diktatur dem unterdrückten Skandal bei Hofe zu verdanken?« »Die Italiener haben die Regierung, die sie verdienen. Es ist wahrhaftig seltsam, daß heute die nach Legalität und Verfassungstreue schreien, denen bis gestern nur um die Revolution zu tun war.« Ich hatte aufgehört, nach etwas zu schreien und etwas zu verlangen. Der Feldadjutant des Königs sprach dann über andere Dinge. Doch das Gespräch kam, gewollt oder nicht, immer wieder auf Mussolini. Ich war erstaunt darüber, mit welcher Beharrlichkeit er am Thema Duce festhielt. Der Zug fuhr gerade in den Bahnhof von Rom ein, als er mir lächelnd und leise sagte: »Ich kann einfach nicht begreifen, warum noch niemand daran gedacht hat, ihn umzubringen.« Ich war zerstreut und frage ahnungslos: »Wen? Den König?« »Was fällt Ihnen ein?« fuhr mich der Feldadjutant entsetzt an. »Mussolini natürlich.« Auf dem Bahnhof trennten wir uns. Ich sah den Feldadjutanten des Königs drei Jahre später, Ende 1925, wieder. Die Begegnung war rein zufällig, und wir wechselten nur ein paar Worte. Er hatte sich indessen in einen fanatischen Faschisten verwandelt. Man hielt auch auf dem Quirinal mit der Zeit Schritt. In der Hauptstadt herrschte vollkommene, selige Ruhe. Das Parlament war geschlossen. Die Oppositionsführer waren einmütig der Ansicht, daß man vorderhand nur abwarten könne. Man könne nur auf die Verfassung und auf den König vertrauen, sagten sie. Die Anschauungen über die Beständigkeit des Faschismus schwankten ganz beträchtlich: die einen gaben Mussolini zehn Jahre, die andern höchstens zwei Monate. Die Zweimonate-Theorie schien die am meisten verbreitete zu sein. Aus den Gesprächen mit den Exponenten der verschiedensten politischen Richtungen konnte ich keine brauchbaren Hinweise für ein praktisches Vorgehen ableiten. Die [ 110 ]

wenigen politischen Freunde, mit denen mich ein besonderes Vertrauensverhältnis verband, hatten Rom verlassen. Immerhin traf ich einen Führer der christdemokratischen Popolari, einen Mann, der den Kampf gegen den Faschismus mit bewundernswerter Folgerichtigkeit geführt und wiederholt zum Einsatz extremer Mittel geraten hatte. »Komm, gehen wir hinaus vor die Stadt«, sagte er. »Die Luft ist dort besser.« Daß seine Partei sich bereit gefunden hatte, in die Regierung Mussolini einzutreten, bedrückte ihn sehr. Er wollte sich mit mir aussprechen. Bei der Porta San Sebastiano ließen wir die Stadt hinter uns und spazierten gemächlich die Via Appia entlang, gegen die Castelli hin. Die Sonne strahlte wie im Frühling. Mein Freund sprach voller Bitterkeit über die politische Lage und berichtete mir über die jüngsten brutalen Repressalien der Faschisten. Die Vertreter seiner Partei, der Popolari, vertraute er mir an, würden demnächst ihr Koalitionsverhältnis aufkündigen und die Regierung verlassen. Als wir auf der Höhe der Kallixtus-Katakomben waren, blieb er stehen. »Da siehst du, was die Gewalt gegen den Glauben vermag!« sagte er und zeigte auf die Katakomben. »Was haben die römischen Kaiser mit ihren grausamen Verfolgungen erreicht? Die Gewalt zerstört die Materie, doch nicht die Seele, sie ist unzerstörbar. Das Christentum hat gesiegt, das Imperium ist zerfallen. Versuch einmal, dir vorzustellen, was geschehen wäre, wenn die ersten Christen sich mit der Waffe in der Hand verteidigt hätten? Die stärkere Gewalt kann eine schwächere Gewalt brechen, doch vermag sie nichts gegen eine im Glauben verschworene Gemeinschaft, gegen zähe Ausdauer. Dagegen hat keine Tyrannei eine Waffe.« »Aber anderseits ist jede Tyrannei unmoralisch, und es sollte somit Pflicht sein, sie zu bekämpfen, oder?« »Sicherlich, bekämpfen ja, aber ohne Wunden zu schlagen. Man kann sie bekämpfen, indem man ihr die Zustimmung versagt. Die Gewaltlosigkeit ist die Waffe des Geistes, der Kultur gegen die Barbarei.« [ 111 ]

»Jetzt möchte ich aber konkret wissen, wie eure Partei und die großen Massen, die ihr organisiert habt, sich angesichts der Gewalttaten verhalten wollen, die sich alltäglich ereignen, heute, morgen ...« »Du siehst doch!« sagte er und zeigte noch einmal auf die Katakomben. Hinter dem Grabmal der Caecilia Metella tat sich vor unseren Augen die Weite der römischen Campagna auf. Ein Bild des Friedens, aus der Ebene ragten die gewaltigen Reste des Claudius-Aquädukts: Die Ruinen schienen wie ein Heer besiegter und verstümmelter Riesen auf dem Rückzug. »Siehe da das Imperium!« sagte mein Freund sarkastisch. Er hatte noch nicht ausgesprochen und zeigte mit der ausgestreckten Hand auf das Gemäuer des Aquädukts, als ein großes Lastauto aus der Gegenrichtung herannahte. Das Auto war voll mit uniformierten und bewaffneten squadristi. Als sie an uns vorbeifuhren, riß der Anführer des Haufens den rechten Arm zum römischen Gruß hoch und brüllte: »A chi Roma imperiale? Wem gehört das Rom der Kaiser?« »A noi!« brüllte der Haufen. Mein Freund schien einen Augenblick lang völlig verblüfft, dann zog er den Hut und erwiderte den Gruß. »Wozu grüßt du?« fragte ich. Er war noch immer verwirrt und wußte nicht gleich, was er antworten sollte. Mit hochrotem Gesicht sagte er schließlich stokkend: »Du hast recht. Allmählich, ohne daß wir es merken, verwandeln wir uns in Sklaven.« Aus Sardinien trafen immer neue Telegramme ein, die mich über die Maßnahmen der Behörden gegen die Angehörigen der Opposition unterrichteten. Meine Freunde auf der Insel gaben sich noch immer der Hoffnung hin, ganz Italien werde sich gegen den Faschismus auflehnen. Sie ahnten nicht, wie hoffnungslos alles war. Wer in Rom von Volkserhebung sprach, galt als wahnsinnig. Ich setzte mich sogar mit kommunistischen Abgeordneten in Verbindung. Sie werteten die faschistische Gewalt übereinstimmend als [ 112 ]

antihistorisch, als geschichtswidrig. Es wäre sinnlos, belehrten sie mich, eine antihistorische Gewalt durch eine andere antihistorische Gewalt bekämpfen zu wollen; man müsse die Zeit und die Dinge reifen lassen, bis die Anwendung von Gewalt historisch gerechtfertigt sei. Ein Freund kam eigens aus Sardinien nach Rom, um mir Bericht zu erstatten. Er schloß: »Ich ertrage es nicht, in Schande und Schmach zu leben. Ich schneide mir die Adern auf.« Ich sagte ihm, daß die Lage in ganz Italien vollkommen trostund hoffnungslos sei, daß ihm wahrscheinlich nur dieser letzte Ausweg bleiben werde; da revidierte er im Handumdrehen seine Selbstmordabsichten: »So, meinst du?« entgegnete er. »Gut. Ich will dir reinen Wein einschenken. So kann es nicht weitergehen. Eines Tages werde ich noch zum Faschismus überlaufen. Betrachte mich meinetwegen als den letzten der Renegaten.« Der Leser wird später feststellen, daß der Mann eine prophetische Ader hatte. In Rom trafen ununterbrochen die eigenartigsten Nachrichten aus allen Provinzen des Königreiches ein. In Süditalien, wo der Faschismus vor dem Marsch auf Rom kaum Fuß gefaßt hatte, lief die Mehrheit der Gemeinderäte zu den Faschisten über – »um die Gemeinde zu retten«, wie sie beteuerten. In jenen Städten und Ortschaften, wo die Gemeinderatsmehrheit auf ihrer regimefeindlichen Haltung beharrte, schloß sich die Minderheit dem Faschismus an, um die Mehrheit aus dem Sattel zu heben – »im Interesse der Gemeinde«, beteuerten auch sie. Ein normaler Mensch begriff überhaupt nichts mehr. Nicht selten kam es vor, daß sowohl die Mehrheit als auch die Minderheit zum Faschismus überliefen, und daß sie einander weiterhin mit unverminderter Hartnäckigkeit bekämpften. Die einen beschimpften die andern als Opportunisten und Profitgeier, jede Seite pries sich als Hüterin der lautersten faschistischen Ideale an. Und die einen wie die andern sandten Boten und Vertrauensleute nach Rom, um Freunde zu werben, um Bündnisse anzubahnen, um das alte Spiel des Gebens und Nehmens, der uneigennützig-einträglichen Freundschaften ins neue System hineinzuretten. [ 113 ]

Häufig führten diese verworrenen Verhältnisse zu heftigen Zusammenstößen. Jede Seite wollte beweisen, daß sie über mehr Anhang im Volk, über größere Autorität unter den Bürgern verfügte. Noch vor ein paar Wochen waren diese Gemeindeväter Liberale oder Demokraten gewesen; nun zerfleischten sie einander wie hungrige Raubtiere. Das Landvolk, Pächter und Landarbeiter, machte die Wanderungen von einem politischen Lager ins andere mechanisch mit: es bildete die manövrierbare Masse der lokalpolitischen Strategen. Das Landvolk stand hier in diesem, dort in jenem Lager, ohne zu wissen weshalb und wozu. In vielen Gemeinden waren die Dinge noch verworrener. Wenn sich die eine Fraktion den Faschisten anschloß, dann übersiedelte die andere ins Lager der Nationalisten; so konnten sie die lokalen Machtkämpfe fortsetzen, ohne sich den Unmut der Regierung zuzuziehen. Faschisten und Nationalisten waren ein und dieselbe Sache; schließlich wurden die beiden Parteien auch fusioniert. Die Faschisten trugen schwarze Hemden, die Nationalisten blaue; die Faschisten waren direkt Mussolini untertan, Führer der Nationalisten war Kolonialminister Federzoni, der seinerseits auch wieder Mussolini untertan war. Es war keine Seltenheit, daß ein und dieselbe Person in einer einzigen Woche mehrmals das Hemd wechselte, von Schwarz auf Blau und wieder auf Schwarz, je nach den Konjunkturen der jeweiligen Farbe in Rom. Im Norden war die Lage anders, wenn auch nicht unbedingt übersichtlicher. Die Fabrikanten und die Großgrundbesitzer hatten sich nahezu ausnahmslos dem Faschismus angeschlossen. Arbeiter, Pächter und Landarbeiter blieben ablehnend. Doch kam es auch hier häufig vor, daß Ortsgruppen der Arbeiter- oder Landarbeitergewerkschaften das schwarze Hemd anzogen und den Faschisten die alten Kampffahnen übergaben, in der Hoffnung, sich damit von Überfällen und Plünderungen freizukaufen. Auf Sardinien ging indessen eine großangelegte faschistische Expedition vor sich. Ziel des Untemehmens war Terranova. Zwei Freunde kamen eiligst nach Rom, um mir zu berichten.

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erranova ist eine kleine Stadt im Nordosten der Insel. Es ist die erste Stadt, die man, aus Civitavecchia, vom Kontinent kommend, erreicht. Die Bevölkerung war antifaschistisch; nur einige Kaufleute hatten sich mit ihren Familien der Partei Mussolinis angeschlossen. Sie hatten sich mit den Gesinnungsgenossen von Civitavecchia in Verbindung gesetzt und mit ihnen den bewaffneten Eroberungszug vereinbart. Aus Civitavecchia brachen zweihundert mit Gewehren, Handgranaten und zwei Maschinengewehren bewaffnete Faschisten auf. Sie führten sogar vier Tragbahren mit sich. Die Abreise erfolgte heimlich, bei Einbruch der Nacht, mit dem Postdampfer, der am frühen Morgen Terranova erreichen sollte. Niemand außer den Polizeibehörden war über das Vorhaben unterrichtet. Die Operation war als Überraschungsangriff geplant. Einige Faschisten aus Terranova hatten sich als Führer zur Verfügung gestellt. Am nächsten Morgen, bei Tagesanbruch, ging der Dampfer in Terranova vor Anker. Die ahnungslosen Bürger schliefen noch, als plötzlich in den Straßen Handgranaten explodierten und Maschinengewehre ratterten. Die Faschisten hatten sich in squadre geteilt, sie umzingelten die Häuser der bekanntesten Antifaschisten, brachen die Tore auf und drangen in die Wohnungen ein. Carabinieri und Guardie Regie waren informiert. Sie hielten sich an die erhaltenen Weisungen und blieben in den Kasernen. Rund dreißig Anhänger der Opposition wurden aus den Betten gezerrt, gefesselt und durch die Straßen der Stadt geschleift. Andere [ 115 ]

konnten durch das Fenster oder über die Dächer fliehen und sich in der Umgebung in Sicherheit bringen. In der Morgendämmerung war es den Faschisten nicht gelungen, alle aus der Stadt ins Land führenden Wege und Straßen zu blockieren. In den Straßen hallten Gewehrschüsse, und Granaten explodierten im Rücken der Flüchtenden. Die Faschisten drangen auch in das Haus eines mit mir befreundeten Arztes ein. Der Arzt war zufällig nicht zu Hause. Die Faschisten fanden nur seine alte, kranke Mutter. Die arme Frau verlor vor Schrecken den Verstand. Die squadristi stürmten und plünderten die Lokale der Arbeiterorganisationen, des Frontkämpferverbandes und der Kriegsinvaliden. Die erbeuteten Fahnen wurden im Triumphzug durch die Straßen getragen. Als die Sonne aufging, war Terranova erobert. Die Geheimhaltung hatte den Erfolg ermöglicht. Die festgenommenen Regimegegner wurden auf den Hauptplatz geführt. Die meisten waren ehemalige Frontkämpfer. Im Hemd, manche barfuß, andere mit unverschnürten Schuhen an den Füßen, so wie man sie aus den Wohnungen geholt hatte, mußten sie durch das Spalier der squadristi hindurch. Die Faschisten hatten, um dem Spießrutenlauf einen besonders feierlichen Rahmen zu geben, sogar die Bajonette aufgepflanzt. Die große Siegesversammlung fand auf dem Hauptplatz statt. Hier strömten alle zusammen. In vorderster Reihe standen die lokalen Parteigrößen. Sogleich begann man mit den Vorbereitungen für die patriotische Taufe, die nach einem strengen Zeremoniell vor sich zu gehen hatte. Die Faschisten Ober- und Mittelitaliens hatten diese Zeremonien schon in den Jahren vor dem Marsch auf Rom häufig praktiziert. Die Taufe wurde nicht mit Weihwasser, sondern mit Rizinusöl vollzogen, das der Täufling – freiwillig oder unter Zwang – zu trinken hatte. In Turin, Mailand, Florenz, Bologna und andernorts hatte man manchen besonders verstockten Sündern gleich einen Liter Rizinusöl eingeflößt. Das erhöhte den Grad der Heiligkeit des Taufaktes und unterstützte dessen reinigende Wirkung. Nach der katholischen Lehre wird der Mensch durch das Taufwasser vom Makel der Erbsünde reingewaschen; die faschisti[ 116 ]

sche Religion lehrt, daß die Rizinustaufe den Regimegegner vom Urmakel des Antifaschismus, der letztlich nichts anderes als Hochverrat ist, reinigt und zum neuen Glauben bekehrt. Wenn der Täufling sich umstandslos in sein Los schickte und die ihm zugedachte Ration Öl hinunterwürgte, ging die Zeremonie rasch vor sich. Wenn aber ein Ungläubiger aufbegehrte, sich gegen die Taufe wehrte, dann wurde die ganze Angelegenheit langwieriger und komplizierter. Nicht wenige Antifaschisten waren ermordet worden, weil sie sich geweigert hatten, Rizinusöl zu trinken. Der Rebell, der sich der Reinigung und Bekehrung widersetzt, dient der Sache des Glaubens und des Vaterlandes als Toter mehr denn als Lebender. In der Romagna sind viele zu Märtyrern geworden, weil sie die Taufe verweigerten. Doch endete der Widerstand gegen die Bekehrung in den allermeisten Fällen weniger tragisch. Der Rebell wurde einfach gefesselt oder auf eine andere Art gezähmt; dann zwängte man ihm mit Hilfe einer besonderen, von altverdienten Faschisten erfundenen und patentierten Vorrichtung das Gebiß auseinander und goß ihm das Öl in den Schlund. Eine Florentiner squadra war dank derartiger Zwangstaufen zu Berühmtheit gelangt. Gegen besonders Widerspenstige wandten die Faschisten medizinische Sonden an. Die Menge des Rizinusöls wurde üblicherweise entsprechend der Verstocktheit und der Sündenlast des Taufkandidaten dosiert. In extremen Fällen wurde das Rizinusöl durch Petroleum oder Benzin, zuweilen auch durch Jodtinktur angereichert. Es war durchaus keine Seltenheit, daß die Opfer derartiger Kuren sich schwere Leiden zuzogen oder gar starben. Im allgemeinen blieb die Rizinusbehandlung den Männern vorbehalten, doch wurde sie zuweilen auch bei Frauen praktiziert. Sogar Rom, die zweifach geheiligte Stadt, hat solche Frauentaufen erlebt. In Sardinien hatte es bis dahin keine patriotischen Taufen gegeben. Terranova wurde also die Ehre einer insularen Premiere zuteil. Die Insel ist der Segnungen des Fortschritts und der nationalen Zivilisation stets mit einiger Verspätung teilhaftig geworden. Die Faschisten hatten richtig vorausgesehen, daß die Rizinusölvorräte in den Apotheken des Städtchens für eine Massentaufe nicht [ 117 ]

ausreichen würden, und vorsorglich eine größere Menge aus Civitavecchia mitgebracht. Vom logistischen Gesichtspunkt aus betrachtet, war die Organisation perfekt. Die Kampfgruppe hatte sogar ihren eigenen Militärkaplan, einen Mönch, der den Krieg mitgemacht hatte. Der Mönch war unbewaffnet. Statt der Pistole trug er ein Kruzifix in der Hand und ein rotes Kreuz am Ärmel. Trommelwirbel kündigte den Beginn der Zeremonie an. Der Anführer der Expedition hielt eine kurze Rede. Dann drückte er dem ersten Gefangenen den Lauf der Pistole an die Schläfe und sprach feierlich die Formel: »Trink – im Namen des Vaterlandes!« Nach und nach trank jeder seine Ration, die einen widerstrebend, die andern demonstrativ gleichmütig. Nur ein Mann – ein Landarbeiter und ehemaliger Frontkämpfer – weigerte sich zu trinken. Dies überraschte den Anführer der Schwarzhemden; er versuchte, vom Gefangenen herauszubringen, weshalb er nicht trinken wolle. Aber der Bauer, der all seine Denk- und Willenskräfte aufgeboten hatte, um standhaft zu bleiben, sprach kein Wort. Der Anführer hielt ihm die Pistole an die Schläfe – vergeblich. Die Faschisten fühlten sich in ihrer Würde verletzt; sie verlangten, daß man ihn an Ort und Stelle hinrichte. »Tod dem Renegaten!« brüllte der Haufen. Die Frauen von Terranova, die sich hinter den Reihen der Faschisten auf dem Platz gesammelt hatten, schrien vor Schrecken und weinten. »Ruhe!« brüllte der Anführer. Auf sein Zeichen setzte Trommelwirbel ein. Nachdem der Trommelwirbel verklungen war, wiederholte der Anführer ein letztes Mal und besonders feierlich die Aufforderung zu trinken. Dem Bauern riß die Geduld. Er machte einen raschen Schritt in Richtung auf den Anführer und schrie ihm ein Schimpfwort ins Gesicht, das alle italienischen Wörterbücher aus Gründen der Sittlichkeit verschweigen. Dem fügte er nichts mehr hinzu. Er hatte genug gesagt. Der heilige Taufakt war geschändet. Der Anführer der Faschisten war kein blutrünstiger Typ. »Einen ordentlichen Hieb auf den Schädel!« befahl er seinem Adjutanten. [ 118 ]

Dieser war ein Riese, die Brust voller Abzeichen, etliche patriotische Schärpen um den Bauch. Er stellte sich hinter den Bauern, ergriff mit beiden Händen seinen Knüppel und ließ ihn mit aller Gewalt auf den Kopf des Vaterlandverächters niedersausen. Der Bauer sackte zusammen. Der Anführer winkte eine Tragbahre herbei und ließ den Bewußtlosen nach Hause tragen. Die Feier schien ihrem Ende zuzugehen. Unter den Gefangenen befand sich auch ein sozialdemokratischer Rechtsanwalt, einer der bedeutendsten Vertreter der Opposition auf der Insel. Er war sechzig Jahre alt und kränklich. Die Sorgen um seine vielköpfige Familie und der natürliche Wunsch zu überleben hatten ihn an diesem Morgen zu einer ganz und gar unheroischen Unterwürfigkeit bewogen. Gefaßt hatte er sein Rizinusöl getrunken, obschon man ihm – seiner politischen Bedeutung entsprechend – die doppelte Ration, einen glattgestrichenen halben Liter, zugedacht hatte. In stoischer Ruhe, die Augen geschlossen, hatte er getrunken, insgeheim hoffend, die Eindringlinge würden, wenn er willfährig gehorchte, ihn wieder nach Hause gehen lassen. Der Advokat ahnte nicht, daß die Faschisten ihn als Hauptattraktion ihres Programms ausersehen hatten. Doch er erfuhr es bald. Nach Abschluß der Taufzeremonie ließ der Anführer der Faschisten einen großen Tisch inmitten des Platzes aufstellen. Dann forderte er den Advokaten höflich auf, auf den Tisch zu klettern und eine Rede zum Ruhm Mussolinis zu halten. Einem Rechtsanwalt fällt es gemeinhin nicht schwer, Ideen zu verfechten, die das genaue Gegenteil dessen sind, woran er innerlich glaubt. Aber der Advokat von Terranova raffte das bißchen Würde, das ihm nach der Kur mit dem Rizinusöl noch verblieben war, zusammen und erklärte ruhig, aber entschieden, daß er die Rede nicht halten werde. »Keine Umstände«, erwiderte der Anführer. »Sie haben Ihr Leben lang nur gelogen und den Menschen eingeredet, es sei die Wahrheit. Und nun, da Sie einmal ein Wort der Wahrheit sagen sollten, wollen Sie sich dem entziehen.« Er befahl dem Adjutanten, dem Advokaten zwei mäßige Schläge mit dem Knüppel zu verabreichen. Der Mann nahm die Schläge [ 119 ]

hin, ohne mit der Wimper zu zucken. Während diese umständlichen Vorbereitungen getroffen wurden, kamen zwei Töchter des Advokaten auf den Hauptplatz: Die eine war fünfzehn Jahre alt, die andere noch ein Kind. Die Frauen des Hauses hatten, da sie nicht wußten, wohin man das Familienoberhaupt verschleppt hatte, beschlossen, in alle Richtungen auszuschwärmen und den Mann zu suchen. Die beiden Mädchen fanden ihn zuerst. Sie schlängelten sich durch die Reihen der Faschisten und gelangten bis zum Tisch. Weinend warfen sie sich dem Vater um den Hals. Der Anführer der Faschisten zeigte keine Spur von Rührung. Ein Krieger, der etwas auf sich hält, darf sich weder durch Weinen noch durch eine feindliche Übermacht aus der Fassung bringen lassen. Er befahl, die beiden Mädchen fortzuschaffen, und ersuchte den Advokaten – wiederum betont höflich –, doch endlich seine Rede zu halten. Der Advokat blieb bei seinem Nein und bekam dafür wiederum zwei Hiebe. Der Mann verzog keine Miene. Aber die in der Menge eingekeilten Mädchen schrien: »Laßt ihn! Bringt unsren Vater nicht um! Bringt ihn nicht um!« Die Szene wiederholte sich ein drittes Mal: Der Kommandant ersuchte um die Rede, höfliches Nein des Advokaten. Doch ehe der Adjutant seinen Knüppel in Aktion setzen konnte, stürmten die beiden Mädchen durch die Reihen der Faschisten, die nicht wagten, sie mit Gewalt zurückzuhalten, und warfen sich dem Anführer zu Füßen: »Bitte, bringen Sie unseren Vater nicht um!« »So rede doch endlich!« brüllte der Kommandant in höchster Erregung. »Reden Sie endlich und ersparen Sie den beiden unschuldigen Geschöpfen die Tränen!« Die Rührung begann ihn zu übermannen. Die Mädchen erkannten, daß der Vater sich retten konnte, wenn er eine Rede hielt, und flehten ihn an: »Sprich, Vater! Tu, was sie sagen!« Was der Knüppel nicht vermocht hatte, brachten die Tränen der Töchter zuwege. Der Advokat entschloß sich zu reden und kletterte auf den Tisch. Ein Siegesgeheul erhob sich – ähnlich dem Jubel eines Bataillons, das den feindlichen Schützengraben endlich in seine Hand gebracht hat. Die Faschisten strahlten. Sie hatten gesiegt. Der Advokat begann zu sprechen. [ 120 ]

»Die gute Regierung Mussolinis ...«, fing er an. »Erzählen Sie uns zuerst etwas über die Verbrechen der Demokratie!« unterbrach ihn der Anführer in höchster Erregung. Der Advokat erzählte einiges über diese Verbrechen. »Sagen Sie, daß sie das Vaterland verraten haben.« Der Advokat sagte, daß die Demokraten das Vaterland verraten hatten. Die Faschisten hielten sich die Bäuche vor Lachen. Nach jedem Satz brachen neue Lachstürme aus, begleitet von Schmährufen. Der Kommandant behielt jedoch die Augen offen und erlaubte keinem, gewalttätig zu werden. »Und jetzt ein Lob Mussolinis«, befahl der Kommandant. Der Advokat sang das Lob Mussolinis. Alle lachten. Da geschah das Unerwartete. Der Advokat wurde blaß, torkelte und sank langsam in sich zusammen. Im Stürzen schrie er mit letzter Kraft: »Verbrecher! Banditen!« Dann fiel er wie tot vom Tisch. Zunächst dachten alle, er wäre wirklich tot. Der Mönch, der zugleich als Expeditionskaplan und als Sanitäter fungierte, stellte fest, daß es sich um eine einfache Ohnmacht handle. Fliegender Puls, aber nichts Ernstes. Der Kommandant befahl, den Mann auf einer Tragbahre nach Hause zu schaffen. So verließ der Advokat die Szene, von Faschisten getragen, begleitet von den weinenden Töchtem. Die Gefangenen wurden freigelassen. Die faschistischen squadre sammelten sich in Marschordnung. Dann zog die Kolonne – an der Spitze die Wimpel, am Ende die Tragbahren – zum Hafen. Jubelnd stieg der Refrain des Siegesliedes zum Himmel: Giovinezza, Giovinezza! Primavera di bellezza … Per la nostra libertà! »Für unsere Freiheit.« Die Bevölkerung blieb in den verbarrikadierten Häusern, bis die letzten Faschisten aus der Stadt verschwunden waren. Nun kamen [ 121 ]

auch Carabinieri und Guardie Regie aus ihren Kasernen, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die Züge verkehrten wieder normal, und der Postdampfer lief pünktlich auf die Minute aus. Als der Dampfer von der Mole abstieß, waren alle Faschisten an Deck. »A chi la Sardegna?« schrie der Kommandant. »A noi!« antwortete der Chor. Die Maschinengewehre ratterten. Handgranaten explodierten. Die Eroberung wurde ein letztes Mal gefeiert. Was sollte ich in Rom weiter tun? Was konnte ich hier noch erreichen? Ich beschloß, noch am gleichen Tag die Heimreise anzutreten. Vorher aber wollte ich noch mit dem Leiter der Abteilung für öffentliche Sicherheit, General De Bono, zusammentreffen. De Bono hatte gegen Ende des Krieges ein Armeekorps kommandiert und war im Oktober 1922 einer der vier Oberbefehlshaber des Marsches auf Rom, des sogenannten Quadrumvirats, gewesen. Ich hatte ihn während des Krieges auf dem Karst kennengelernt, als er das Bersaglieri-Regiment befehligte. Unser Regiment löste das seine ab. Die österreichischen Stellungen in diesem Frontabschnitt galten als uneinnehmbar. De Bono teilte diese Anschauung: Sein Regiment hatte die Österreicher immer wieder unter schwersten Verlusten angegriffen, jedesmal vergeblich. Bei der Ablöse hatte er uns gesagt: »Solltet ihr imstande sein, diese Stellungen zu erobern, dann reiße ich mir die Rangabzeichen herunter und trete als Gefreiter in euer Regiment ein.« Nachher hatte ich ihn nicht wiedergesehen. Wir hatten die österreichischen Stellungen in einer Reihe blutiger Kämpfe erobert. Unser Regiment wurde dafür in einem eigenen Tagesbefehl des Oberkommandos belobigt. Nach sieben Jahren stand ich ihm nun wieder gegenüber. Nun war er es, der die feindlichen Stellungen eroberte, während ich eine nach der anderen verlor. Der General empfing mich mit unverhohlener Feindseligkeit. Ich erinnerte ihn an unsere Begegnung auf dem Karst, ich damals Leutnant, er Oberst, und an sein Versprechen. Dann berichtete ich ihm haargenau alles, was ich über die faschistische Expedition gegen [ 122 ]

Terranova wußte. Ich sagte ihm, daß die Männer, die auf seinen Befehl hin aus den Häusern gezerrt, gefesselt und geschmäht worden waren, dieselben Frontkämpfer seien, von denen er seinerzeit gesagt hatte, er wolle mit Stolz als gewöhnlicher Gefreiter in ihren Reihen dienen. Ich habe wiederholt festgestellt, daß Generäle von einer eigenartigen Empfindsamkeit sind. Sie können kühl und ungerührt mit ansehen, wie zehn Regimenter hingemetzelt werden, serviert man ihnen aber die Erinnerung an ein solches Ereignis mit einigen literarischen Floskeln, sind sie zu Tränen gerührt. Der General war meinem Bericht mit zunehmender Aufmerksamkeit gefolgt. Plötzlich fuhr er sich mit dem Taschentuch über die Augen. Er weinte. Ich war verblüfft. Seine Tränen waren echt. Weshalb hätte er mir eine rührende Szene vorspielen sollen? Die menschliche Seele ist reich an unerforschlichen Abgründen. Zwei Jahre später, 1924, sollte De Bono noch einmal bittere Tränen vergießen, im Kreis seiner engsten Vertrauten, denen er über den Mord an Matteotti berichtete. Dieses Verbrechen wurde allgemein, auch von den Faschisten, ihm zugeschrieben. General De Bono hatte sich wieder gefaßt. »Ich gebe Ihnen mein Soldatenwort, daß sich derartige Schandtaten nicht wiederholen werden«, erklärte er entschieden. »Was sich in Terranova zugetragen hat, ist noch nicht die schlimmste Schandtat«, sagte ich und berichtete ihm über die Vorfälle in Cagliari. »Oh! Damit habe ich nichts zu tun.« »Wer außer Ihnen könnte den Polizeibehörden befehlen, sich so zu verhalten?« »Der Duce persönlich«, antwortete der General und breitete in einer Gebärde der Resignation die Arme aus. Plötzlich empfand er das Bedürfnis, mich ein wenig in die Geheimnisse seines Amtes einzuweihen. »Politik ist eine schmutzige Sache«, sagte er. »Ach, wie habe ich mich unter meinen Soldaten wohlgefühlt. Und nun stecke ich in einer üblen Patsche. Der freie Wille, von dem die Leute reden, ist ein Hirngespinst. Tag für Tag ereignen sich hunderterlei Dinge, für die wir nichts können, aber [ 123 ]

die gleichwohl unseren Willen bedingen. Man handelt in einer bestimmten Art, nicht weil man so handeln will, sondern weil man nicht anders handeln kann. Wir alle sind Sklaven des Schicksals.« Der General war nahe daran, in eine neue Rührungskrise zu stürzen. Er hielt sich zurück und fuhr fort: »Die Italiener reden über mich, als wäre ich ein Bandit. Widersprechen Sie nicht« – ich machte nicht die geringsten Anstalten, Widerspruch einzulegen –, »ich weiß alles. Ich habe meine Informationen. Aber nun sagen Sie mir ehrlich, als Ehrenmann: Glauben Sie, daß ich ein Bandit bin?« »Nun«, sagte ich, und wich einer eindeutigen Antwort aus, »steht die Polizei unter Ihrem Kommando oder steht sie nicht unter Ihrem Kommando?« »Natürlich steht sie unter meinem Kommando. Ich bin schließlich kein Strohmann. Ohne mich wäre der Marsch auf Rom nur ein Karnevalszug gewesen. Ich verstehe mein Geschäft. Mussolini hat von Kriegskunst soviel Ahnung wie ein Küchenkorporal. Aber ich kommandiere bis zu einem gewissen Punkt; jede Kommandogewalt hat ihre Grenzen. Kurz: ich kommandiere, aber ich muß auch gehorchen. Wahrhaftig, ich habe mich in eine saubere Patsche gesetzt.« »Herr General«, riet ich, »gewinnen Sie doch Ihre Freiheit wieder!« »Unmöglich. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich von nun an mein Leben für die Wiederherstellung von Recht und Ordnung einsetzen werde.« Der General schien in der Tat von einem plötzlichen, ganz und gar außergewöhnlichen legalitären Eifer besessen. Er rief seinen Sekretär und befahl ihm in meiner Anwesenheit, sofort nach Sardinien zu telegrafieren: jede faschistische Illegalität sei auf der Stelle zu unterbinden. »Die Frontkämpfer«, schrie er den Sekretär an, »haben – in welchem politischen Lager auch immer sie stehen – als die ersten Bürger Italiens zu gelten.« Zu mir gewandt fügte er hinzu: »Und nicht allein die Frontkämpfer. Alle sind Bürger Italiens. In Hinkunft müssen vor dem Gesetz alle gleich sein. Ich werde ihnen zeigen, was stählerne Energie heißt. [ 124 ]

Entweder der Ministerpräsident folgt mir auf diesem Wege, oder Italien wird Gelegenheit erhalten, über mich zu reden.« Der General hielt inne, sammelte sich einen Augenblick lang und setzte dann fort: »Nicht nur Italien, vielleicht auch Europa.« Das Gespräch hatte ungewöhnlich lange gedauert. General De Bono ließ es sich nicht nehmen, mich zur Treppe zu begleiten. Während ich langsam die Stufen hinabstieg, hörte ich ihn oben reden; über das Geländer gebeugt, rief er mir nach: »Bei der Ehre General De Bonos!« Er legte die rechte Hand ans Herz. Kurz vor der Abreise, am Abend, traf ich einen Parlamentskollegen aus Turin. Er berichtete mir über das Massaker, das sich in seiner Heimatstadt in der Nacht vom 18. auf den 19. Dezember zugetragen hatte. Einundzwanzig Arbeiter waren von den Faschisten aus den Betten geholt, auf einen Lastwagen gezerrt und im Morgengrauen vor den Toren der Stadt erschossen worden. Polizei- und Gerichtsbehörden hatten nichts unternommen. Konsul Brandimarte, Oberhaupt der Schwarzhemden von Turin, hatte in einem Interview erklärt: »Ich habe mich dazu entschließen müssen, um der Opposition eine furchtbare Lektion zu erteilen.«

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s war einige Tage vor Weihnachten. Ich hatte vor, das Fest wie immer bei meiner Mutter auf dem Land zu verbringen. In Sardinien feiert man Weihnachten noch in den ursprünglichen Formen, die sich durch die Jahrhunderte erhalten haben. Alle Kinder versammeln sich im Haus der Eltern; rund um das große Feuer im offenen Herd feiert man die Einheit der patriarchalischen Familie. Ich war überzeugt, daß die Festtage friedlich verlaufen würden. Hatte man nicht sogar während des Krieges in den Schützengräben aller Fronten den Weihnachtsfrieden respektiert? Doch der Bürgerkrieg braucht den Krieg höchstens um die schweren Kaliber zu beneiden. Kaum hatte ich in Terranova den Boden der Insel betreten, als ich eine ungewöhnliche Betriebsamkeit feststellte. Es war nicht schwer zu erkennen, daß ich von der Polizei beschattet wurde. Offenbar war meine Ankunft gemeldet worden. Immerhin hatte ich nun die Bestätigung dafür, daß die Telegramme des Leiters der Abteilung für öffentliche Sicherheit, General De Bonos, tatsächlich abgesandt worden waren. Nach einigen Minuten sprach mich ein Polizeikommissar an, um mir gesegnete Weihnachten zu wünschen. »Ich habe von meinen Vorgesetzten den Befehl erhalten«, sagte er, »Ihnen mitzuteilen, daß Sie sich nicht in Terranova aufhalten dürfen. Das heißt, der Befehl lautet, daß Sie natürlich tun können, was Sie wollen, bleiben oder abreisen, wie Sie wünschen. Aber wenn Sie hier im Ort bleiben, habe ich Befehl, alle Führer der Opposition in Terranova zu verhaften.« [ 126 ]

Er erklärte mir, daß die Carabinieri und Guardie Regie in Terranova durch neue Kontingente verstärkt worden seien. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß er durch sein Vorgehen indirekt die Bewegungsfreiheit eines Parlamentsabgeordneten beschränke. Doch der Kommissar wurde von keinerlei konstitutionellen Skrupeln geplagt. Unmittelbar danach kam ein Freund auf mich zu und unterrichtete mich, daß in der Stadt der Belagerungszustand herrsche; er beschwor mich, so rasch wie möglich abzureisen. Er sprach in höchster Erregung; offensichtlich lebten die Menschen in Terranova in Angst und Schrecken. Ich reiste mit dem nächsten Zug ab. In einem Nachbarwahlkreis ließ ich mir von politischen Freunden über die jüngsten Entwicklungen berichten. Vom Kontinent her trafen ständig neue Polizei- und Armee-Einheiten ein; auf der Insel wurden in aller Eile Unterkünfte für zwei Artillerieregimenter vorbereitet. Die neue Regierung schien entschlossen, ihre Autorität auf Sardinien zu konsolidieren. Von einigen Freunden bekam ich die seltsamsten Vorsätze und Pläne zu hören. »Ich werde mein Haus verbarrikadieren«, beteuerte ein Advokat, »und mich bis zur letzten Patrone verteidigen. Ich habe mich schon mit Stacheldraht versorgt! Sie sollen nur kommen, die Faschisten! Wenn sie mich aus dem Haus holen wollen, werden sie Artillerie brauchen.« Wie das Feuergefecht zwischen dem Advokaten und den Faschisten sich dann tatsächlich abgespielt hat, wird der Leser später erfahren. Eines möchte ich indessen hier schon vorwegnehmen: So groß die Wut des unerschrockenen Advokaten auf die Aggressoren auch war, der Endkampf verlief ohne Blutvergießen. Schließlich bestieg ich den Zug nach Cagliari. Bevor ich zu meiner Mutter weiterreiste, wollte ich wenigstens einen Tag in der Hauptstadt Sardiniens verbringen. In einer kleinen Station kam ein junger Aktivist unserer Partei in den Zug und suchte mich. Er war schrecklich aufgeregt. Ich dürfe auf keinen Fall nach Cagliari fahren, sagte er atemlos, ich müsse in einer anderen Station aussteigen, die meine Freunde ausgesucht [ 127 ]

hätten; dort würde ich erwartet und alles weitere erfahren. Daß nämlich Cagliari militärisch besetzt worden sei und sich nun bei weitem mehr Truppen in der Stadt befänden als am 27. November, am Tag des Faschistenüberfalls. Die Schwarzhemden hätten die Büros aller oppositionellen Parteien und die Redaktionen der Zeitungen überfallen und ausgeplündert. Die Faschisten seien auch in meine Wohnung eingedrungen und hätten unter anderem eine Fotografie von mir gestohlen, die sie dann als Zielscheibe für ein öffentliches Scheibenschießen benützt hätten. Die Faschisten erwarteten mich auf dem Bahnhof von Cagliari, um mich zu erschießen. Ich solle auf keinen Fall versuchen, in die Stadt zu gelangen, da niemand mich beschützen könne und da ich wehrlos dem faschistischen Haufen ausgeliefert sein würde. Alle meine Freunde säßen hinter Schloß und Riegel. Nur wenige seien der Verhaftung entkommen, und diese hätten, um mich zu warnen, einen Informations- und Alarmdienst entlang der Bahnstrecke organisiert, ein Mann in jedem Bahnhof. In der Eile habe man nur diese Behelfsorganisation auf die Beine stellen können, in der Überzeugung, daß nichts anderes mehr möglich sei, als die eigene Haut zu retten. Wir verließen den Zug in der von den Freunden festgelegten Station. Sie erwarteten uns voller Sorge. Aus ihren Berichten ging eindeutig hervor, daß nunmehr der gesamte Staatsapparat dem Faschismus gehorchte. Cagliari, die Hauptstadt der Insel und das Zentrum der demokratischen Oppositionsbewegung, war in der Hand der Faschisten. Durch die improvisierte Behelfsorganisation gelang es uns immerhin, für den nächsten Tag eine Sitzung der bedeutendsten Oppositionsführer nach Nuoro, einer Stadt im Herzen der Insel, einzuberufen. Wir wurden uns rasch darüber einig, daß eine offensive Bewegung unsererseits ausgeschlossen war; auch eine in großem Stil organisierte Defensive kam vorderhand nicht in Frage, da die Polizei sie sofort zerschlagen würde. Die einzige Möglichkeit, die uns blieb, war der individuelle Widerstand zur Verteidigung von Dingen und Personen. In Nuoro deckten sich die am meisten gefährdeten Oppositionspolitiker mit Waffen und Munition ein; in ihren Häusern wurden alle Vorkehrungen für eine Verteidigung getroffen. [ 128 ]

Ich reiste weiter. Um auf dem Weg zur Mutter nicht den Faschisten in die Hände zu fallen, nahm ich einen großen Umweg auf mich. Ich wählte die Küstenroute. Meiner Mutter telegrafierte ich, daß ich sicher bei Einbruch der Nacht zu Hause sein würde. In Senorbì verließ ich den Zug. Ich wollte, ehe ich mit einem Auto weiterfuhr, einige Stunden mit einem Freund zubringen. Es war der 24. Dezember. Senorbì ist ein Marktflecken inmitten einer bäuerlichen Umgebung. Die Bewohner des Ortes, vorwiegend Bauern und Landarbeiter, hatten bis dahin unserer Bewegung die Treue gehalten. Mein Freund, der mit mir an der Universität und im Krieg gewesen war, war der Kopf der Opposition in diesem Gebiet. Ich traf ihn zu Hause an, wo er mit dem Vater und einer Schwester lebte. Zwei Brüder lebten anderswo, doch waren auch sie in das Elternhaus gekommen, um gemeinsam Weihnachten zu feiern. Mein Freund erzählte, daß es im Ort heftig gäre, da gerade die erste reguläre faschistische Parteiorganisation gebildet worden sei; die Gründer des fascio von Senorbì seien einige Großgrundbesitzer des Ortes und einige Abenteurer aus Cagliari. Während wir uns unterhielten, kamen die beiden Brüder. Der eine war noch Universitätsstudent, der zweite Kriegsinvalide. Dieser war als Luftwaffenoffizier in einem Duell mit einem feindlichen Flieger verwundet und über österreichischem Gebiet abgeschossen worden. Daß er den Absturz überlebt hatte, war reiner Zufall. Er war ein kämpferischer Antifaschist. Er erzählte uns, daß das Telegramm an meine Mutter abgefangen worden sei, daß die Faschisten von meiner Anwesenheit in Senorbì wüßten und die Schwarzhemden sich schon auf dem Hauptplatz mit alles eher als friedlichen Absichten zu sammeln begännen. Wäre ich sofort abgereist, hätte dies nach feiger Flucht ausgesehen; deshalb zögerte ich. Das war reichlich unklug. Die Faschisten gewannen dadurch Zeit, einige squadre aus Nachbardörfern zu Hilfe zu holen und den Angriff zu organisieren. Das Geschrei vom Hauptplatz drang bis zu uns. Einer der Freunde ging hinaus, um die Lage zu erkunden. Er kam sofort wieder: Die Faschisten, sagte er, hätten das Haus umzingelt und meine Auslieferung verlangt. [ 129 ]

Noch während er redete, donnerten zwei dumpfe Schläge an das große Haustor. Jemand öffnete. Im Tor erschien ein Faschist im Schwarzhemd, mit Pistole und Dolch bewaffnet. Im Befehlston sagte er: »Sie haben fünf Minuten Zeit. Entweder Sie übergeben uns den Abgeordneten, oder wir greifen das Haus an.« »Verschwinde, Bandit!« schrie der Hausbesitzer wütend. Der Faschist verschwand. Das Tor wurde wieder geschlossen und verriegelt. Ich entschuldigte mich wegen der Ungelegenheiten, die ich meinen Gastgebern, ohne es zu wollen, bereitet hatte, und erhob mich. Ich wollte gehen. Der Zwischenfall ärgerte und bedrückte mich. Vor allem machte ich mir Sorgen um die Tochter des Hauses: Sie zitterte vor Furcht, als hätte sie Schüttelfrost befallen. So verängstigt sie auch war, sagte sie zu ihrem Bruder: »Es wäre eine Schande, wenn wir denen unseren Gast auslieferten. Lieber soll man mich umbringen.« Ich bat noch einmal, sie sollten mir das Tor aufsperren und mich gehen lassen. Da erhob sich der Vater und sagte mit der ganzen Strenge des Familienoberhauptes: »Ich hoffe sehr, daß Sie mich als Ehrenmann betrachten wollen. Sie werden das Haus nicht verlassen. Nie werde ich erlauben, daß eine derartige Schmach über unsere Familie kommt. Sie sollen uns angreifen, wenn sie unbedingt wollen. Wir werden uns zu wehren wissen.« Der alte Mann befahl, die Waffen zu holen. Es waren zwei Militärkarabiner und vier Jagdbüchsen. Was hätte ich tun sollen? Jedes weitere Insistieren wäre ein Verstoß gegen die Sitten der Gastfreundschaft gewesen. Ein Landarbeiter, der im Haus wohnte, verlangte, daß man auch ihm ein Gewehr gebe. Er hatte den Krieg an der Front mitgemacht. Insgesamt waren wir sechs Männer, vier davon ehemalige Frontkämpfer. Die Faschisten hätten sich auf ein Abwehrgefecht nach allen Regeln der Kunst gefaßt machen können. Dem einstigen Flieger wurde das lange Warten zuwider. Er schrie, so laut er konnte: »Die fünf Minuten sind längst vorbei. Kommt! Kommt herein! Tausend Lire für den ersten, der kommt!« Die Faschisten antworteten mit Schmährufen. Sie hatten das Haus umzingelt, doch wagten sie nicht, es anzugreifen. In Sprech[ 130 ]

chören wünschten sie mir den Tod. Wütend schlugen sie mit Knüppeln und Steinen ans Tor. Das Gekläff der Wachhunde begann das Geschrei der Belagerer zu übertönen. »Wie in Abessinien!« flüsterte die Tochter des Hauses, die zitternd neben ihrem Bruder kauerte. Sie war in England erzogen worden und dachte seither in kolonialen Horizonten. »Feiglinge!« brüllten von draußen die Faschisten. »Kommt heraus, wenn ihr den Mut habt!« So ging es einige Zeit. Ich machte keine Anstalten, das Haus zu verlassen, die Faschisten wagten nicht, ins Haus einzudringen. Der Lärm, den die Belagerer machten, wurde allmählich ohrenbetäubend. Der Gedanke, daß die Familie meinetwegen dieser Belagerung, die endlos dauern konnte, ausgesetzt war, bedrückte mich. Ich konnte das nicht länger ertragen. Die Gastgeber erkannten, wie unangenehm mir die Lage war, und schlugen einen Kompromiß vor: Ich sollte bis zum Einbruch der Nacht warten und dann im Schutz der Dunkelheit heimlich verschwinden. »Wenn es Nacht wird«, sagten sie, »werden die Leute von den Feldern kommen. Die Landarbeiter werden uns schon befreien.« Ich habe mich nie mit der Vorstellung zu flüchten anfreunden können. Sicherlich war daran in erster Linie ein Kindheitserlebnis schuld: Ich hatte gesehen, wie ein Mensch davonlief und die Carabinieri ihn verfolgten. Die Leute hatten aus Leibeskräften geschrien: »Haltet den Dieb!« Seither waren für mich Flucht und Dieb ein und dieselbe Sache. Ich glaubte auch nicht daran, daß die aus den Feldern heimkehrenden Landarbeiter uns aus der mißlichen Lage befreien würden. Ich wußte, daß die tapfersten von ihnen sofort bei der Rückkehr ins Dorf von den Faschisten verhaftet werden würden. Und die anderen würden ohne ihre Führer nicht viel ausrichten. Ich hatte meine Pistole in der Tasche. Ohne daß meine Freunde Zeit gehabt hätten, etwas dagegen zu tun, rannte ich zum Tor, riß den Riegel auf und stand Aug in Aug den Faschisten gegenüber. Das Unerwartete, Unvorhergesehene garantiert überall und jederzeit Erfolg: auf der Bühne nicht anders als im Leben. [ 131 ]

Die Faschisten verstummten und sahen mich, mehr überrascht als drohend, an. Das Spektakel hatte eine neue Wendung genommen. Ich fragte, was sie wollten. Als die Faschisten noch immer kein Wort herausbrachten, bemerkte ich erst, daß meine Gastgeber ebenfalls das Haus verlassen hatten und schützend hinter mir standen. Der Anführer der Faschisten hatte – ehe er zum Offizier avanciert war – als Unteroffizier in meiner Kompanie gedient; sein Bruder, ein Hauptmann, war mein Kamerad auf der Militärschule und im Schützengraben gewesen. Ich kannte auch die Familie. Der junge Mann hatte sich im Krieg wiederholt ausgezeichnet; er war einer jener rastlosen Charaktere, die nicht ohne Kampf sein können. Als der Krieg vorüber war, übertrug er seine Kampflust auf die Politik. Allerdings hatte er sich erst seit kurzem der faschistischen Partei angeschlossen. Nachdem ich ihn erkannt hatte, fragte ich ihn: »Sind Sie es, der diese Bande da kommandiert?« Er antwortete verlegen, redete sich auf Befehle aus, die er erhalten habe, und bat mich, nicht die Ruhe zu verlieren. Es war offensichtlich, daß die Lage weit weniger dramatisch war, als es kurz zuvor noch geschienen hatte. Der Anführer sagte mir, ich müsse in einen nahegelegenen »Klub« mitkommen, ich würde dort erwartet. Er ging voraus, ich folgte ihm. Die Faschisten und einige Neugierige, die herbeigelaufen waren, bildeten ein Spalier. Ich war darauf bedacht, meine Autorität zu wahren, und verhielt mich wie ein hoher Offizier, der eine Parade abnimmt. Ein alter, zahnloser Landarbeiter im Schwarzhemd grinste mich an, plötzlich aber verdüsterte sich sein Gesicht. Er riß die Pistole hoch und schrie: »Nieder mit Lussu!« Der Anführer blieb ruckartig stehen und drehte sich um. Er sprang einen Schritt zurück und versetzte dem Bauern einen Schlag auf den Kopf. Der Landarbeiter brach bewußtlos vor meinen Füßen zusammen. »Absolute Ruhe und Disziplin!« befahl der ehemalige Offizier. »Es lebe Lussu!« schrie nun einer der Faschisten, der offenbar die Lage nicht recht einzuschätzen wußte. [ 132 ]

»Es lebe Lussu!« riefen andere. Es ließ sich in der Eile nicht einwandfrei feststellen, woher die Rufe kamen, ob aus den Reihen der Neugierigen oder aus dem faschistischen Aufgebot. Meine Gastgeber folgten mir und ließen mich nicht aus den Augen. »Wenn es so weitergeht, habe ich in dem Haufen bald meine eigene Partei!« dachte ich. Der »Klub« war nicht weit entfernt. In einigen Minuten hatten wir ihn erreicht. Der Anführer verschwand, und ich blieb draußen, umringt von Faschisten. Während wir warten mußten, versuchte ich, meine nächsten Bewacher – durchwegs Bauern und Landarbeiter aus Senorbì – in ein Gespräch zu verwickeln. »Was wollt ihr eigentlich?« fragte ich. »Wir wollen Nizza, Savoyen und Dalmatien«, antwortete ein junger Mann wie aus der Pistole geschossen. »Der Sieg war ein Betrug.« Ich wollte in diesem Augenblick keine Diskussion über die Grenzen unseres Landes riskieren. »So holt sie euch!« sagte ich. »Ich werde euch daran sicherlich nicht hindern.« »Wir wollen endlich unsere Wasserleitung haben!« sagte der Älteste unter den Faschisten. Ich begriff nicht gleich, was er meinte. Er erklärte mir, daß es im Dorf noch immer kein Wasser gebe, obwohl man den Einwohnern seit fünfzig Jahren eine Wasserleitung verspreche. »Ich war noch ein Kind«, sagte er. »Da versprachen sie, wir würden die Wasserleitung bekommen. Jetzt habe ich weiße Haare, und wir haben noch immer kein Wasser.« Er setzte mir auseinander, daß sie einzig und allein wegen der Wasserleitung etwas gegen mich hätten; ich sei dagegen, daß die Wasserleitung gebaut werde, hätten die Anführer ihnen gesagt. Ich erklärte ihnen, daß ich Antialkoholiker sei und das Wasser jedem anderen Getränk vorzöge; daß es keinen Grund gäbe, den Bau ihrer Wasserleitung zu behindern; daß sie, wenn es auf mich ankäme, so viel Wasser im Dorf haben würden, daß sie alle wie Gänse darin schwimmen könnten. [ 133 ]

Einige Faschisten lachten. Ich faßte neuen Mut und fragte: »Und weil man euch gesagt hat, ich wäre gegen die Wasserleitung, wollt ihr mich umbringen? Glaubt ihr wirklich, daß man nur einen Abgeordneten umzubringen braucht, um eine Wasserleitung zu bekommen? Ich habe das Gefühl, ihr habt eher Durst nach Blut als nach Wasser.« Die Faschisten in den hinteren Reihen drängten nach vorne. Sie wollten hören, was ich sagte. Die Spannung löste sich. Es kam so etwas wie eine Atmosphäre der Sympathie auf. Einer der Faschisten trat vor und erzählte, daß er mit mir an zwei Gefechten auf der Hochebene von Asiago teilgenommen habe. Der Anführer kam heraus und bat mich, ihm in den Salon zu folgen. Wir gingen. In der Mitte des Salons stand ein großer Tisch, daneben saß ein älterer Herr, den ich sofort als den Notar des Ortes wiedererkannte. Er trug den Hut auf dem Kopf, vor ihm auf dem Tisch lagen Papiere und eine altmodische Aktentasche. Im ersten Moment dachte ich, er wolle mich veranlassen, mein Testament zu machen. »Aufstehen!« befahl der Anführer mit ungewohnt schneidender Stimme. Alle erhoben sich. Auch der Notar nahm den Hut ab, nachdem der Anführer ihn dazu aufgefordert hatte. Dann kramte er umständlich in seinen Papieren, nahm ein Blatt und reichte es mir: »Wollen Sie die Güte haben zu unterschreiben«, sagte er höflich. Rasch überflog ich das Blatt. Es war ein Notariatsakt. Er begann mit den Worten: »Im Namen Seiner Majestät Vittorio Emanuele III., von Gnaden Gottes und durch den Willen der Nation König usw.« In den folgenden zwei Sätzen sollte ich meiner politischen Vergangenheit abschwören und bestätigen, daß ich den Faschismus als die allein zur Rettung Italiens berufene Partei anerkannte. Und dann die lapidare Formel: »Gelesen, gebilligt, unterzeichnet.« Das hätte ich also unterschreiben sollen. »Haben Sie das aufgesetzt?« fragte ich den Notar. »Ja, ich. Ich schwöre es Ihnen«, sagte er höflich. »Dieses Dokument geht mich nichts an«, sagte ich, zum Anführer der örtlichen Faschisten gewandt. Zugleich reichte ich das Blatt dem [ 134 ]

Notar. Der Anführer war gegenteiliger Ansicht. Er wandte sich an seinen Haufen: »Faschisten! Er weigert sich zu unterschreiben.« »A noi!« brüllten die Faschisten und begannen mit ihren Knüppeln und Pistolen herumzufuchteln. Die Situation spitzte sich wieder zu. Die Anwesenden lärmten bedrohlich. Die Sympathien, die ich vorhin gewonnen hatte, waren verflogen. Zwei Faschisten, die mir am nächsten standen, drückten mir ihre Pistolen in die Rippen. Es fiel mir ein, daß auch ich bewaffnet war; aber was nützt einem eine Waffe unter solchen Umständen? Ich begann zu reden, um Zeit zu gewinnen. Vielleicht gelang es mir noch einmal, das Publikum auf meine Seite zu ziehen. Doch sooft ich zu sprechen ansetzte, brach ein Chor von Drohungen los. »Der Teufel soll die Wasserleitung holen!« dachte ich. »Laßt ihn reden!« hörte ich eine Baritonstimme. Es wurde still. Ich nützte die Gelegenheit und wandte mich direkt an einige Frontkämpfer, die ich wiedererkannt hatte: »Was ihr vorhabt, ist gemeiner Mord. Spart euch eure Munition für andere Gelegenheiten auf. Hier habt ihr meine Pistole. Wer den Mut dazu aufbringt, soll schießen.« Niemand rührte sich. Die in den vordersten Reihen senkten den Blick. Die Situation wandte sich wieder zu meinen Gunsten. »Gut!« sagte ich in die allgemeine Stille. »Wenn niemand schießen will, dann laßt mich gehen.« Ich steckte die Pistole ein und schickte mich an zu gehen. Die Faschisten rückten auseinander. Aber von hinten schrie einer: »Tod! Nieder mit ihm!« Der deus ex machina ist keine literarische Figur. In eben dem Augenblick wurde das Publikum vom Motorengedröhne eines Rennwagens abgelenkt. Das Auto blieb vor dem Eingang stehen, ein junger, hochgewachsener, hagerer Mann erschien im Saal, von oben bis unten mit Staub bedeckt. Es war der Vorsitzende der Kriegsinvaliden Sardiniens und mein Freund aus besseren Tagen. Die Faschisten hatten ihn mit einem Passierschein ausgestattet, der ihn ermächtigte, sich frei und unbehelligt auf der Insel zu bewegen. [ 135 ]

Als er mich inmitten der Faschisten erblickte, erfaßte er die Situation sofort. Er stürzte zum Tisch und erwies sich als vollendeter, gewandter Diplomat. »Viva l’Italia!« rief er aus. Dann umarmte er mich und den Anführer der Faschisten. Nach dieser Begrüßungszeremonie hielt er eine Rede; mit seiner warmen Stimme sprach er vom Krieg, vom Sieg, von Helden und Märtyrern, jeden Satz mit großen Gebärden begleitend. Das Publikum hörte wie gebannt zu. Er könne blind für mich garantieren, sagte er; sie sollten die Regelung der Angelegenheit also ihm überlassen. Wenn er, der Führer der Kriegsinvaliden, für einen einstigen Frontkameraden geradestehe, dann dürften sie seinem Wort vertrauen. Er packte mich beim Arm und führte mich, pausenlos redend, zum Auto. Niemand dachte daran, uns zurückzuhalten. Er setzte mich in den Wagen und brauste davon. Spät in der Nacht kam ich bei meiner Mutter an. Der Bruder kam mir am Hoftor entgegen; ich erzählte ihm rasch, was vorgefallen war. Meine Mutter hatte entsetzliche Ängste ausgestanden. Sie fürchtete, es sei mir ein Unglück zugestoßen. Weinend schloß sie mich in die Arme und begrüßte mich mit dem traditionellen Weihnachtsgruß: »Friede! Jesus Christus ist auf die Erde herabgestiegen.« Ich war zerstreut und dachte noch an den Notar, ich vergaß zu antworten. Meine Mutter wartete und sah mich erstaunt an. Der Bruder schloß zuerst mich und dann sie in die Arme und antwortete für mich: »Friede! Jesus Christus ist auf die Erde herabgestiegen.«

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ährend ich am Heiligen Abend im Haus meiner Freunde in Senorbì belagert wurde, unternahmen die Faschisten von Iglesias und Gonnesa eine Strafexpedition gegen Porto Scuso. Sie waren etwa fünfzig Mann stark und gut bewaffnet; es waren hauptsächlich squadre von ehemaligen Bergarbeitern, die der Faschismus in fixen Sold genommen hatte. Die Truppe wurde von einem gewissen De Filippi angeführt. Dieser De Filippi war 25 Jahre alt und einziger Sohn wohlhabender Eltern aus Terranova. Nach der Heimkehr aus dem Krieg hatte er sich vorwiegend damit beschäftigt, das elterliche Vermögen durchzubringen. Die Eltern hatten geraume Zeit seine Schulden geduldig bezahlt, schließlich aber sahen sie sich gezwungen, ihn aus dem Familienverband auszustoßen. De Filippi ließ sich nach einigem Herumirren in Iglesias als Chauffeur nieder und brachte es nach kurzer Zeit zum Führer der squadristi der Bergarbeiterstadt. Porto Scuso ist ein kleines Dorf am Meer, dessen Einwohner ausschließlich vom Fischfang und von der Küstenschiffahrt leben. Die Bootsleute hatten sich zu einer starken Gewerkschaft zusammengeschlossen, die auch die einzige ernstzunehmende politische Organisation im Dorf war. Die meisten Bootsleute hatten während des Krieges in der Marine gedient und hegten keine Sympathien für den Faschismus. Die Führer der Gewerkschaft waren die Brüder Fois, die einen großen Einfluß auf die Bevölkerung hatten. Diesen Einfluß dankten sie nicht zuletzt ihrer Mutter, einer alten Volksschullehrerin, die ihrer Güte und Hilfsbereitschaft wegen allgemein verehrt wurde. Die Brüder Fois hatten im Dorf nur einen Feind: den [ 137 ]

ehemaligen, bei den letzten Wahlen entmachteten Bürgermeister. Gegen ihn war ein Verfahren wegen Veruntreuung eingeleitet worden. Um sich zu rächen und zu verteidigen, hatte der Exbürgermeister in den Tagen nach der Eroberung Cagliaris in Porto Scuso eine faschistische Ortsgruppe gegründet. Er hatte die SchwarzhemdenExpedition gegen das Dorf organisiert. Die Faschisten fielen völlig überraschend über Porto Scuso her. Die meisten Fischer waren, als die squadre ins Dorf kamen, draußen auf dem Meer. Die anderen Männer gingen ihren Arbeiten in den Booten, auf der Mole und am Kai nach. Einige Frachtboote wurden gerade beladen. Die Männer bemerkten die Faschisten erst, als diese bereits im Hafen waren. »Wer von euch ist Salvatore Fois?« schrie De Filippi, der Anführer. »Presente!« antwortete ein junger Mann auf einem Boot militärisch. »Ich bin es.« Fois ging an Land. Im Nu war er von Faschisten umringt. Sie hielten ihm die Pistolen vor und forderten ihn auf, »Es lebe der Faschismus!« zu rufen. »Ich bin kein Feigling«, antwortete Fois. Jemand befahl: »Feuer!« Schüsse krachten. Fois brach tot zusammen. Als die Bootsleute die Schüsse hörten, lösten sie die Taue und flüchteten hinaus aufs Meer. Der jüngere Bruder des Ermordeten, der mit einigen anderen Männern auf der Mole stand, flüchtete nicht. Allein, mit bloßen Händen stürzte er sich auf die Faschisten. Er kam nicht weit. Plötzlich krachte eine zweite Salve, und er sank, von Kugeln durchsiebt, neben seinem Bruder zu Boden. »So werden alle Vaterlandsverräter krepieren«, sagte der ehemalige Bürgermeister. Die Männer sprangen in die Boote, lichteten die Anker und flüchteten aufs Meer hinaus. Die Faschisten feuerten ihnen einige Gewehrsalven nach. Dann ließen sie neben den beiden Toten eine kleine Wachmannschaft zurück und zogen singend durch die Straßen. Wahrhaftig, ein großartiger Sieg. [ 138 ]

Die Bevölkerung von Porto Scuso erlebte den Triumphzug der Faschisten nicht. Plötzlich läuteten die Kirchenglocken Sturm – wie in vergangenen Zeiten, als es galt, Angriffe der tunesischen Piraten abzuwehren. Die Alarmmuschel ertönte im Hafen; ihr Heulen war weithin übers Meer zu hören. Die Leute rannten, so schnell die Beine sie trugen, hinaus auf die Felder. Die wenigen Familien, die im Dorf blieben, verrammelten Türen und Fenster. Die Faschisten brachen in die Häuser der Gegner und der Arbeiterorganisationen ein und plünderten sie aus. Mutter Fois schleppte sich, von einer Tochter gestützt, zum Hafen, um ihre toten Söhne zu sehen. Die faschistischen Wachen erlaubten den Frauen nicht, sich den Leichen zu nähern, und versuchten, sie zu vertreiben. Aber alle Drohungen fruchteten nichts. Die Frauen ließen sich neben den geliebten Toten nieder. In ihren schwarzen Gewändern schienen auch sie im Tod erstarrt zu sein. Am Abend erlaubten die Faschisten den Frauen, die toten Brüder nach Hause zu bringen. In ihrem Geburtshaus wurden die Brüder Fois nebeneinander aufgebahrt, von überall her kamen die Frauen und deckten sie mit Blumen zu. Die verzweifelte Totenklage drang durchs ganze Dorf. Die Faschisten waren empört. Sie betrachteten die Trauer der Frauen als Beleidigung. Mit schußbereiten Waffen schritten sie ein. Die Frauen, die nicht zur Familie gehörten, wurden vertrieben. Der Mutter und den Schwestern der Toten verbot man das Weinen. Triumphierend kehrten die Schwarzhemden dann nach Iglesias und Gonnesa zurück. Porto Scuso war erobert. Nun war die Reihe am Präfekten; er löste die antifaschistische Gemeindeverwaltung auf und setzte den ehemaligen Bürgermeister als königlichen Kommissar ein. Polizei und Untersuchungsrichter hielten es für opportun, sich um die Vorgänge in Porto Scuso nicht zu kümmern. Ein Jahr lang wurde der Schleier des Vergessens über diesen Vorfall gebreitet. Die wenigen, die aufbegehrten und nach Gerechtigkeit riefen, wurden in bewährter Manier zum Schweigen gebracht. Aber die Familie Fois gab den Kampf nicht auf. Am 22. Dezember 1922 hatte die Regierung eine Amnestie für alle politischen Delikte [ 139 ]

erlassen. Die Morde in Porto Scuso hatten sich zwei Tage nach der Veröffentlichung des Amnestie-Erlasses ereignet, sie konnten also nicht unter die Amnestie fallen. Schließlich kam den Angehörigen der Brüder Fois auch noch ein Zerwürfnis unter den sardischen fascioFührern zu Hilfe: Sie erreichten, daß ein Gericht – das momentane Machtvakuum nützend – ein Strafverfahren gegen die Mörder einleitete. De Filippi und vier andere Faschisten wurden verhaftet und in Cagliari vor ein Geschworenengericht gestellt. Der Prozeß wurde unter außergewöhnlichen Sicherheitsvorkehrungen abgehalten. Die meisten Einwohner von Porto Scuso kamen nach Cagliari, um der Verhandlung beizuwohnen. Ich war einer der Anwälte der Nebenkläger. Vor dem Gerichtsgebäude wiederholte sich jeden Morgen die gleiche Szene: Wenn die Angeklagten aus dem Gefängnis zur Verhandlung vorgeführt wurden, empfingen sie die Faschisten von Cagliari mit Gesang, Hochrufen und Trommelwirbel. Den Angeklagten war jedoch nicht festlich zumute. Leichen belasten das Gewissen. Vor dem Gericht beteuerten die fünf Angeklagten, sie hätten nicht geschossen. »Nie werden wir zulassen, daß man hier den Marsch auf Rom unter Anklage stellt!« donnerten die faschistischen Verteidiger. »Aber meine Herren, meine Herren, was denken Sie«, wiederholte der Vorsitzende, »hier geht es einzig und allein um den Marsch auf Porto Scuso.« Der ehemalige Bürgermeister war als Zeuge geladen. Als er vor den Geschworenen erschien, trug er demonstrativ die Rosette des Kreuz-Ordens der italienischen Krone im Knopfloch. Dank seiner jüngsten Verdienste hatte er den Orden und den Titel Cavaliere erhalten. »Ich kann mit bestem Wissen und Gewissen erklären«, sagte der Bürgermeister als Zeuge, »daß seit dem Verschwinden, das heißt dem Hinscheiden der Brüder Fois, Ruhe und Ordnung in unserer Gemeinde nicht mehr gestört worden sind.« »Mörder!« schrie es von den Publikumstribünen und von der Zeugenbank. »Mörder!« Der Cavaliere wurde von allen Seiten beschimpft. Der Vorsitzende unterbrach die Verhandlung. [ 140 ]

Ehe die Verhandlung wieder aufgenommen wurde, ich war noch nicht an meinen Platz zurückgekehrt, wurde mir ein geschlossenes Kuvert gereicht. Ich riß es auf und fand darin einen Zettel mit der Aufschrift: »Entweder ihr haltet den Mund, oder wir werden euch wie Hunde erwürgen. Viva l’Italia. Eine Gruppe von Faschisten der ersten Stunde.« Der Präsident hatte trotz seiner unbestrittenen Autorität beträchtliche Mühe, die im Saal immer wieder aufflammende Erregung zu dämpfen. Als die Frauen im Zeugenstand aussagten, die Faschisten hätten ihnen mit vorgehaltenen Pistolen verboten, die Toten zu beweinen, brach ein Sturm der Entrüstung los. Der Staatsanwalt, der bis dahin nie eine Gelegenheit versäumt hatte, mildernde Umstände für die Angeklagten zusammenzutragen, erklärte empört: »Wenn ein Verbrechen diese Formen annimmt, dann gibt es keine politische Rechtfertigung dafür. Dieser Fall hat mit Politik nichts zu tun.« Aber die Politik hatte sehr wohl mit dem Fall zu tun. Der Präfekt versuchte auf allen möglichen Schleichwegen, sich private Kontakte zu den Geschworenen zu verschaffen, um diese von der Notwendigkeit des Freispruchs zu überzeugen. Alles, was Rang und Namen hatte, wurde in Bewegung gesetzt, um die Volksrichter zu beeinflussen; man bemühte sogar den Erzbischof, dessen Autorität in jenen Zeiten gewaltig war. Man redete den Leuten ein, daß das Prestige der Regierung in dieser kritischen Anlauf- und Aufbauphase nicht erschüttert werden dürfe. Die faschistische Presse arbeitete mit den gleichen Argumenten. Wer zwischen den Zeilen zu lesen verstand, fand auch mehr oder minder eindeutige Drohungen. Am Tag der Urteilsverkündung zog vor dem Gerichtsgebäude eine starke Abteilung von Faschisten mit Fahnen und Musikkapelle auf. Sie erwarteten einen Freispruch und wollten das Ereignis gebührend feiern. Autos standen bereit, um die Freigesprochenen und die anderen squadristi nach Iglesias zu bringen. In Iglesias selbst hatte man ein Bankett mit dreihundert Gedecken vorbereiten lassen. Die Helden sollten einen triumphalen Empfang erhalten. Für die Faschisten stand fest, daß es nur einen Freispruch geben konnte. [ 141 ]

Die Geschworenen sprachen die Angeklagten einmütig schuldig: zwischen dem Faschismus und der Seele des Landes, der Stimmung im Volk klaffte ein Abgrund. Nach der Urteilsverkündung erklärte einer der Angeklagten ungerührt: »Wir hätten Ärgeres verdient.« De Filippi war anderer Meinung. Er hatte fest mit einem Freispruch gerechnet. Als er sein Urteil vernahm – zwanzig Jahre Zuchthaus –, zuckte er zusammen. Aber dann gewann auch bei ihm das Führerbewußtsein die Oberhand. Er wandte sich mit demonstrativer Gelassenheit uns Anwälten zu und schrie: »Me ne frego! Scheiß drauf!« Der Ausspruch stammte aus dem – damals noch nicht kodifizierten – Wörterbuch des faschistischen Stils. Dank der außergewöhnlichen Umstände, unter denen De Filippi den Widersachern des Regimes sein me ne frego entgegengeschleudert hatte, gelangte der vielversprechende Mann in den Ruf eines Helden und Märtyrers. Die Schwarzhemden-Abteilung, die vor dem Gerichtsgebäude gewartet hatte, rückte ab. Die Musikkapelle blieb stumm. Die für die Angeklagten bereitgestellten Autos rollten in die Garagen zurück. Das Bankett in Iglesias wurde abgesagt. Der Gastwirt hatte sich in große Auslagen gestürzt und verlangte Wiedergutmachung. Der Streit um die Rechnung dauerte monatelang. Als der Gastwirt mit seinen ewigen Mahnungen lästig zu werden begann, schloß man ihn aus der faschistischen Partei aus. Die Begründung: unwürdig, einer patriotischen Organisation anzugehören. Das Geld, das die Partei ihm schuldete, bekam er nie. De Filippi gelang es, mir am Tag nach der Urteilsverkündung eine Botschaft zukommen zu lassen. Er ließ mich wissen, daß er nicht lange im Gefängnis sitzen werde; der Tag seiner Freilassung werde garantiert mein Todestag sein. Seine Prophezeiung traf nicht ein. Die Dinge verliefen anders, als er gedacht hatte. Der Faschismus betrachtete das Urteil von Cagliari als offenen Affront, als Herausforderung der Autorität des Regimes. Justizminister Rocco nahm sich persönlich der Sache an und klassifizierte den Wahrspruch der Geschworenen als Justizirrtum. Er mobilisierte [ 142 ]

die für souveräne Gnadenerlässe zuständigen Instanzen und erreichte, daß die Verurteilten nach zwei Jahren die Freiheit wiedererhielten. Nun konnten alle Festlichkeiten stattfinden, die Unvernunft und Unverständnis der Mitmenschen zwei Jahre zuvor verhindert hatten. In Iglesias wurde die Ankunft der freigelassenen Mörder enthusiastisch gefeiert. Nach Abschluß der weitläufigen Begrüßungszeremonien und Feiern wurde ein Triumphzug durch die Stadt veranstaltet, bei dem man ein Lied sang, das in Italien zwar nicht volkstümlich, aber jedenfalls allgemein bekannt geworden ist: Me ne frego de la galera, camicia nera trionferà. Als De Filippi das Gefängnis verließ, wurde ich gerade eingesperrt. Er hatte mich nicht vergessen und schrieb mir eine Postkarte: »Danken Sie dem Himmel, daß Sie im Kerker sitzen.« Zurück zur Weihnacht 1922. Die Faschisten von Cagliari ärgerten sich grün und blau darüber, daß ich der Falle von Senorbì entkommen war. Sie beriefen eine Versammlung ein und schworen heilige Eide, daß sie mich lebend oder tot fangen würden. Sie machten sich sofort ans Werk und bereiteten eine bewaffnete Expedition gegen mich vor. Doch meine Freunde konnten mich rechtzeitig warnen. So hatte ich genügend Zeit, mich für die Verteidigung zu rüsten. Das Dorf, in das ich mich zurückgezogen hatte, liegt in den Bergen. Man kann es nur über einige steile Wege erreichen, die zu umgehen unmöglich ist. Meine politischen Freunde besetzten alle Zugänge: So lebte ich zwei Wochen lang in sorgsam bewachter Isolation. Die Verteidigung war militärisch organisiert: vorgeschobene Posten, stärkere Besatzungen an strategischen Punkten, Horchposten und Patrouillen. Einstige Frontkämpfer bildeten das stärkste Kontingent. Vierzehn Tage lang war das Dorf vollkommen von der Umwelt abgeschnitten. [ 143 ]

Viermal versuchten die Faschisten, in unser Bergdorf vorzudringen. Lastautos hatten sie mit Maschinengewehren bestückt. Auf halbem Wege kehrten sie jedesmal wieder um, nachdem sie erfahren hatten, daß wir sie kampfbereit erwarteten. Es ist nicht einfach, sich durch unbekanntes, feindliches Gelände ins Gebirge zu wagen. Derart im Stolz verletzt und herausgefordert, riefen sie leichte Feldartillerie zu Hilfe. Der Präfekt verbot deren Einsatz jedoch kategorisch. Wir blieben unbehelligt. All diese Ereignisse waren nicht dazu angetan, auf der Insel jene Art von Frieden und Normalität herzustellen, die die Sieger sich als Frucht der Eroberungen erwartet hatten. Die Regierung hatte für alle politischen Delikte der Vergangenheit eine Amnestie erlassen. Doch ereigneten sich Tag für Tag neue Gewalttaten und Übergriffe. In der Marmilla, einem rein agrarischen Gebiet in der Nähe von Cagliari, hatte sich ein Faschistenführer namens Sanna hervorgetan. Er war während des Krieges wegen Fahnenflucht und mehrerer Raubüberfälle zum Tod verurteilt worden. Nun terrorisierte er an der Spitze seiner squadre die ganze Umgebung. In Desulo drangen Faschisten bei einem nächtlichen Überfall in die Häuser zweier Mitglieder der Opposition ein; als sie abzogen, nahmen sie alles Bargeld, das sie finden konnten, Wertgegenstände und große Mengen von Lebensmitteln mit sich. In Cagliari wurde der in der ganzen Stadt bekannte, hochdekorierte Frontkämpfer Cesare Frongia bei hellichtem Tag in einer belebten Straße ermordet. Die Faschisten respektierten nicht einmal den Friedhof: Sie überfielen und malträtierten die Witwe des ermordeten Efisio Melis, um sie daran zu hindern, das Grab des Gatten täglich mit frischen Blumen zu schmücken. Ganz Sardinien sprach von diesen Gewalttaten. Die Menschen betrachteten den Faschismus nicht als politische Partei, sondern als eine neue Form des Banditentums unter staatlichem Schutz. Es traten zwar die Großgrundbesitzer dem Faschismus bei, aber beim Großteil der Bevölkerung wuchs die Verachtung für die Schwarzhemden von Tag zu Tag. Diese Entwicklung lief den Plänen der Regierung zuwider. Mussolini wollte das Volk für sich gewinnen, vor allem die ehemaligen Kriegsteilnehmer, als deren unmittelbaren Repräsentanten er sich ausgab. [ 144 ]

Rom änderte also von heute auf morgen seine Politik. Alle Präfekten wurden aus Sardinien abberufen. Als Vertreter des Faschismus und der Regierung kam General Gandolfo nach Cagliari, den Mussolini mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattet hatte.

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egen Ende des Weltkriegs hatte General Gandolfo das 18. Armeekorps befehligt. Während der Schlacht von Vittorio Veneto, im Oktober 1918, passierte ihm im Frontabschnitt zwischen dem Montello und Grave di Papadopoli eine Reihe von Mißgeschicken. Deshalb entzog man ihm das Kommando. Danach trat er der faschistischen Partei bei und wurde einer ihrer bekanntesten Führer. Das Dienstreglement für die militärische Organisation der faschistischen Partei stammte aus seiner Feder, und er hatte am Marsch auf Rom teilgenommen. Man erzählte sich, daß Gandolfo individuelle Gewalt, wie die squadre sie praktizierten, ablehne, und daß er bei den Frontkämpfern sehr beliebt und geachtet war. Mussolini hielt ihn für den geeigneten Mann, um die Herzen der sardischen Kriegsteilnehmer für den Faschismus zu erwärmen und die öffentliche Meinung auf der Insel nach einer Periode zügelloser Gewalt mit dem Regime zu versöhnen. General Gandolfo kam nach Cagliari und erkannte sofort, daß man, um breitere Sympathien zu erringen, die Taktik ändern mußte. In seinen Reden verurteilte er die begangenen Verbrechen und versprach, er werde Verstöße gegen das Gesetz gnadenlos bestrafen. In einer Proklamation versicherte er die Frontkämpfer seiner Wertschätzung und lud sie ein, den fasci beizutreten. Gandolfos Haltung machte Eindruck, vor allem der Umstand, daß der General als Regierungsvertreter alle Gewalttaten verdammte, die im Namen und unter dem Schutz der Regierung begangen worden waren. Die Faschisten waren aufgebracht, die Oppositionellen hofften auf die Wiederkehr der Legalität. [ 146 ]

Während der General seine Friedensbotschaften verkündete, setzten einzelne Gruppen lokaler Faschisten ihren Kleinkrieg fort. Gandolfo ließ sie gewähren. Es war offensichtlich, daß er damit bedeuten wollte, daß er je nach den Umständen Frieden oder aber neuen Krieg bringen konnte. Um den auf der Insel vorhandenen, alten Faschismus zu bekämpfen, brauchte er einen neuen Faschismus. Er durfte auf den ersten nicht verzichten, bevor er sich nicht des zweiten versichert hatte. General Gandolfo nahm sich kein Blatt vor den Mund. Er weihte jeden – auch in der Öffentlichkeit – in die Geheimnisse seiner politischen Taktik ein. Die ersten Appelle des Generals blieben erfolglos, doch ließ er sich dadurch nicht entmutigen. Er stellte Verbindungen zu allen bekannten Politikern Sardiniens her und bat sie um klärende Aussprachen. Auch ich bekam eine Einladung zu einem Gespräch. Ich hielt eine derartige Unterredung für vollkommen unnütz. Ich war Mandatar einer demokratischen Bewegung, die für die Autonomie der Insel und für die Errichtung der Republik kämpfte. Was hätten wir einander schon geben, einander anbieten können? Freunde bedrängten mich, ich sollte hingehen, und so kam das Gespräch zustande. General Gandolfo und ich bezogen von allem Anfang an völlig gegensätzliche Positionen. Der General war bereit, alles zu gewähren, was wir wollten, doch verlangte er, daß meine Freunde und ich uns dem Faschismus anschließen sollten. Ich bewies ihm, daß ein derartiges Geschäft politisch ganz einfach absurd sei, und verlangte, daß die Regierung die Gesetze achte beziehungsweise für die Beachtung der Gesetze Sorge trage. Der General wollte nicht begreifen, daß wir uns darauf versteiften, in Opposition zu bleiben, obgleich er uns zu den Herren der Lage machen wollte. Ich tat mein Bestes, um ihm unsere Gründe klarzumachen, aber er wollte oder konnte mich nicht verstehen. Je klarer meine Beweisführung wurde, desto mehr schienen ihn meine Einwände zu verblüffen. Er ging vom elementaren Grundsatz aus, daß ich als ehemaliger Kriegsteilnehmer Faschist sein müsse. Alle anderen Erwägungen ließ er nicht gelten. »Ich bin kein Politiker!« sagte der General. »Eure theoretischen Positionen übersteigen mein Fassungsvermögen. Ich bin Soldat. Wo [ 147 ]

gekämpft wird, da bin ich. Und da der Faschismus ein Heer ist, das kämpft, weihe ich mein Leben dem Faschismus. Das ist der Kern der Sache. Alles andere zählt nicht.« General Gandolfo kam, wie im übrigen auch General De Bono, der Leiter der Abteilung für öffentliche Sicherheit, von den Bersaglieri, einer leichten, beweglichen Infanterietruppe, die von General La Marmora im Risorgimento gegründet worden war und ihre Feuertaufe im Krimkrieg erhalten hatte. Seit damals gelten Sportgeist, Geschwindigkeit und Tatkraft als Kennzeichen des Bersaglieri-Korps, als seine Kardinaltugenden. In der italienischen Armee war den Bersaglieri ungefähr jene Rolle zugedacht, die die Gewerkschaften in der Politik oder die Futuristen in der Kunst spielen. Meine Unterredung mit General Gandolfo endete ohne Ergebnis. Doch er ließ nicht locker. Nach einiger Zeit gewann er drei bekannte Oppositionspolitiker für sein Programm und begann eine umfangreiche Propagandakampagne. In sorgsam vorbereiteten öffentlichen Versammlungen wandte er sich direkt ans Volk. »Ich wende mich an alle Regimegegner, in erster Linie an die Frontkämpfer!« pflegte er zu sagen. »Ihr seid vor allem deswegen Antifaschisten, weil die Faschisten hier auf eurer Insel Kanaillen sind. Gut; ich lasse sie alle einsperren, vom ersten bis zum letzten.« Das Publikum applaudierte. »Hört nicht auf onorevole Lussu. Lussu ist ein Dichter. Aber Politik ist Prosa und hat mit Versen nichts gemein.« Auch dieses Argument verfehlte die Wirkung nicht. »Lussu will, daß dieser Krieg mit Haß und Blutvergießen weitergeht.« (Dies wollte ich nun wahrhaftig nicht.) »Ich bin euer Vater, nicht euer Feind. Ich bin euer General«, fuhr Gandolfo, an die Frontkämpfer gewandt, fort, »nicht euer Präfekt. Ihr beklagt euch darüber, daß die politischen Freiheiten bedroht sind. Nun denn, tretet in die faschistische Partei ein, und wir werden die politischen Freiheiten gemeinsam verteidigen. Ihr werdet die Herren der Insel sein. Ich liefere euch die Faschisten aus, und ihr könnt mit ihnen machen, was ihr wollt. Ihr müßt nämlich die wahren, die echten Faschisten sein.« Die Reden des Generals gefielen den Leuten. Viele meiner politischen Freunde begannen gefährlich zu wanken. [ 148 ]

»Ihr behauptet, daß ihr Demokraten seid«, sagte der General zu ihnen. »Bin ich vielleicht kein Demokrat? Ihr wollt die Autonomie, die Republik? Niemand hindert euch daran, das zu wollen. Der Faschismus ist ein reiches Mosaik: Die Buntheit der Farben und die Vielfalt der Details ergeben den überragenden Glanz des Ganzen.« Eines muß man Gandolfo lassen: Er war ein hervorragender Psychologe. Der Gewalt zu widerstehen war nicht einfach, es ist aber viel schwieriger, Lockungen und Schmeicheleien zu widerstehen. Viele, gegen die die Gewalt nichts vermocht hatte, ließen sich durch Lockungen und Schmeicheleien ködern. Ein junger Arzt aus unserer Bewegung pflegte uns mit den Worten Mut zu machen: »Der Freiheit bleibt man in ernsten Stunden treu. Ist sie bedroht, gilt es, sie zu verteidigen. Geht sie unter, dann hat man mit ihr zu sterben.« Der Präfekt bat den Arzt zu sich, dieser schwankte eine halbe Stunde lang, dann trat er dem fascio bei. Als wirksamster Köder erwies sich Gandolfos Versprechen, die Antifaschisten könnten sich, wenn sie Faschisten würden, für das ihnen zugefügte Unrecht rächen. Einer unserer Freunde in Pirri, einer Gemeinde in unmittelbarer Nähe von Cagliari, war von den Faschisten verprügelt und gezwungen worden, Rizinusöl zu trinken. Er hatte eine Aussprache mit General Gandolfo, trat der faschistischen Partei bei und ließ noch am selben Tag auf dem Dorfplatz den Anführer der squadristi, der die Aktion gegen ihn geleitet hatte, vor aller Augen verprügeln und Rizinusöl trinken. Der Bauer Melis aus Villamar in der Marmilla war als Oppositionsführer in der Gemeinde von den Faschisten dreimal eingesperrt und auch überfallen und verprügelt worden; außerdem hatten ihn die Faschisten in Ketten gelegt und ihm zwei große Rationen Rizinusöl eingegeben. Schließlich hatten die Schwarzhemden ihm untersagt, das Haus zu verlassen und seine Felder zu bestellen; als er gegen dieses Verbot verstoßen hatte, hatten sie ihm nachgeschossen: obwohl mehrfach verwundet, kam er mit dem Leben davon. Der General rief Melis zu sich, sprach lange mit ihm und erreichte, daß der Bauer sich in Villamar als neuer Faschistenführer einsetzen ließ. Er erhielt freie Hand gegenüber seinen einstigen Gegnern. Nach der [ 149 ]

Heimkehr löste er den alten fascio auf, gründete einen neuen und tobte sich eine Woche lang aus: Jeder der einstigen Peiniger bekam Prügel und Rizinusöl. In vielen anderen Gemeinden ereignete sich ähnliches. Die Polizei hielt sich strikt an die Weisungen der Behörden und stärkte, ohne zu diskutieren, den neuen »offiziellen« Faschisten den Rücken. Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, beteiligte sie sich nun an der Verfolgung derer, die sie bis gestern beschützt hatte, mit unvermindertem Eifer. Die Disziplin hörte auf, Disziplin zu sein, würde man den ihr Unterworfenen gestatten, über Sinn und Zweck der Befehle nachzudenken. Die Faschisten, die sich dank der Strafexpeditionen und der Gewalttaten billigen Heldenruhm erworben hatten, ließen nun, da sie in Ungnade gefallen waren, verschreckt alle Übel über sich ergehen, ohne sich dagegen zu wehren. So erfuhren sie am eigenen Leibe, wie sehr die Perspektiven sich verändern, wenn man im politischen Kampf den Schutz der Staatsmacht verliert. Mit den Verfolgungen und Unterdrückungen, denen sie ausgesetzt waren, wandelten sich allmählich auch ihre politischen Anschauungen. Einst waren sie für den starken Staat eingetreten. Nun sehnten sie sich nach einem dezentralisierten Staat mit großzügigen Lokalautonomien. Einst hatten sie eine harte Kriegspolitik gepredigt. Nun waren alle Pazifisten. Einst hatten sie sich über die unsterblichen Prinzipien lustig gemacht. Nun legten sie Glaubensbekenntnisse zu den Prinzipien der Demokratie ab. Innerhalb weniger Wochen wurden sie zu eifrigen Antifaschisten. Viele von ihnen bekundeten mir in Briefen und Telegrammen ihre bewundernde Anerkennung für meine Standfestigkeit und versicherten mich ihrer Mithilfe bei der Verteidigung der Freiheit. Wiederholt fragte ich mich, ob die Gedanken die Taten bestimmen oder umgekehrt. Die Beantwortung der Frage ist wahrhaftig nicht einfach. General Gandolfo frohlockte. Erinnert sich der Leser noch an jenen Freund, der mir in Rom die dramatische Absicht eröffnet hatte, sich die Pulsadern durchzuschneiden? Er lief als einer der ersten zum Faschismus über und erhielt einen hohen Posten. [ 150 ]

Oder an den Rechtsanwalt, der Mengen von Stacheldraht im Haus gestapelt und beteuert hatte, er wolle sich bis zur letzten Patrone verteidigen und auch vor faschistischer Artillerie nicht weichen? Er widerstand zunächst allen Versuchungen. Eines Tages aber stellte Präfekt Gandolfo ihn nach einem längeren Gespräch vor das Dilemma: »Entscheiden Sie sich. Entweder in den Faschismus oder in den Kerker.« Der Anwalt erbat fünf Minuten Bedenkzeit; ehe die fünfte Minute um war, hatte er für den Faschismus optiert. Der Präfekt betraute ihn mit einem Amt in den höchsten Rängen der faschistischen Hierarchie. Ich sah ihn einige Tage nach dem Frontwechsel wieder. Er besuchte mich in meiner Wohnung; ich weigerte mich, ihn zu empfangen; trotzdem drang er ungebeten zu mir ins Arbeitszimmer vor. »Haben sich die Auslagen für die viele Munition nun gelohnt?« fragte ich. »Und was gedenkst du mit dem vielen Stacheldraht anzufangen?« Er antwortete nicht. Er öffnete die Aktentasche und entnahm ihr einen alten Band aus dem 16. Jahrhundert und hielt mir den Titel des Werkes unter die Nase. Er lautete: Das letzte Glaubensbekenntnis des Simon Sinai aus Lucca, zuvörderst römisch-katholischer Christ, dann Kalvinist, dann Lutheraner, dann wieder Katholik, aber allezeit Atheist. Entsinnt sich der Leser noch meines Studienkollegen und Kampfgefährten, in dessen Haus in Senorbì ich von Faschisten belagert wurde? Er trat der faschistischen Partei bei – nicht anders als seine Brüder, der Flieger und der Student. General Gandolfo betrachtete diese Bekehrung als seinen größten Fischzug. Mancher entsinnt sich wohl auch noch jener Gruppe von Freunden, die mich am Heiligen Abend, als ich nach Cagliari unterwegs war, voller Angst um mein Los auf einem kleinen Bahnhof erwartet hatten. Zwei von ihnen waren besonders mutige Männer und fanatische Republikaner. Beide besorgten sich das faschistische Parteibuch. Ja, gerade diese beiden avancierten zu den eigentlichen Organisatoren und Erbauern des neuen Faschismus, der als Faschismus der zweiten Stunde in die Geschichte einging. Als Antifaschisten waren sie grausam verfolgt worden. Sie hofften, durch den Übertritt zum Faschismus nicht nur ihr persönliches Schicksal zu verbessern, sondern auch Gutes für Sardinien erreichen zu können. Sie wurden [ 151 ]

die persönlichen Adjutanten General Gandolfos. Beide gaben sich der Illusion hin, es werde ihnen gelingen, den Faschismus durch geschicktes Taktieren und Intrigieren von innen her zu verändern; doch ihre Träume zerrannen im Faschismus wie Spiegeleier in der Pfanne. Einige Jahre später saßen beide im Parlament; sie schlossen sich der radikalrevolutionären Strömung des Faschismus an, an deren Spitze der Abgeordnete Farinacci stand. In dieser neuen Rolle bereiteten sie mir nicht wenige Ungelegenheiten. Dann trennten sich ihre Wege radikal: Sie bekämpften einander bis aufs Messer, und jeder behauptete von sich, ein besserer Faschist als der andere zu sein. In meiner Rechtsanwaltskanzlei arbeitete ich mit einem Freund zusammen, der mit mir an der Universität und im Krieg gewesen war. Er war ein Graf: Graf Cao di San Marco. Als Republikaner und Demokrat unterschlug er jedoch das Adelsprädikat. General Gandolfo fiel es nicht schwer, ihn zu umgarnen. Graf Cao wurde Faschist, dann Abgeordneter, und als solcher entdeckte er auch Ahnen, Wappen und Titel wieder. Nach und nach verschwand der Faschismus der ersten Stunde vollkommen von der Bildfläche. Die Faschisten der zweiten Stunde verbrannten die Zeitung der Faschisten der ersten Stunde und besetzten die Redaktionsräume. Diese Kämpfe in den eigenen Reihen lenkten sie von den Antifaschisten ab. Eine Weile wurde ich nicht mehr belästigt. Ich brach alle Beziehungen zu den ehemaligen Freunden, die Faschisten geworden waren, ab, doch ließen sie mich durch Mittelsmänner immer wieder wissen, daß ich es allein ihrem Opfer zu danken hätte, daß ich überhaupt noch am Leben war. Die Lage war äußerst chaotisch, und zwar nicht nur in Sardinien, sondern in ganz Italien. Im Parlament diskutierte man über Probleme der Verwaltung. Über die großen Fragen des Landes zu diskutieren, war den Abgeordneten nicht erlaubt. Ich war der Ansicht, daß die nackte Diktatur ohne jede beschönigende Fassade schon um der Klarheit des politischen Kampfes willen diesem in qualvoller Agonie dahinsiechenden Scheinparlament vorzuziehen sei. Wir lebten in einem Gewaltstaat. Weshalb sollte man das Volk im trügerischen Glauben lassen, es spiele sich alles in den geordneten Bahnen der Verfassung ab? Ich reichte also meine Demission als Abgeord[ 152 ]

neter ein. Der Rücktritt wurde abgelehnt. Ich wiederholte die Demission. Die Kammer wollte sie wieder abweisen, doch löste ich das Problem dadurch, daß ich das Parlament fortab nicht mehr betrat. Die Faschisten der zweiten Stunde befanden sich bald in allerbester Gesellschaft. Alle Geschäftsleute, alle wohlmeinenden Bürger, denen Ruhe, Ordnung und Besitz am Herzen lagen, schlossen sich der erneuerten Partei an. Aber die Masse der kleinen Leute blieb ihr gegenüber feindselig. Für sie war die neue faschistische Linie um nichts einladender als die alte. Die faschistischen Aufmärsche und Feiern blieben wie früher ohne Publikum. General Gandolfo meinte, er müsse Sardinien durch eine eigene Milizlegion für die Kolonien elektrisieren. Gandolfos Überlegungen schienen Hand und Fuß zu haben. Die Sarden waren stolz auf ihre militärischen Traditionen; es galt also, die Sarden bei ihrem Stolz zu packen. Es dauerte nicht lange, und die italienische Nation betrachtete die Formierung der sardischen Koloniallegion als vordringlichstes Anliegen. Es sollte die erste eigens für den Kolonialkrieg ausgebildete faschistische Einheit werden. Sogar im Ausland schrieb und sprach man über diese Pläne. Für die Insel war das ein großes Ereignis.

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ie Guardia Regia wurde aufgelöst. Mussolini zweifelte an ihrer Regimetreue. An ihre Stelle trat die faschistische Miliz – das Heer der faschistischen Partei. Sie wurde im Dezember 1922 gegründet und dem Oberbefehl Mussolinis unterstellt. Der Dienst in der Miliz war freiwillig, doch gut besoldet. Die für die Strafexpeditionen verantwortlichen squadristi waren das organisatorische Rückgrat des faschistischen Parteiheeres. Die Organisationsstruktur der Miliz wurde von den alten Römern übernommen; deshalb bezeichnete man die Regimenter als Legionen, die Bataillone als Kohorten, die Kompanien als Centurien und die Züge als Manipel. Dasselbe galt für die Chargen: Konsul, Senior, Centurio und Decurio. Auch die Mannschaften wurden, zumindest auf dem Papier, mit klassischen Bezeichnungen bedacht: Sie hießen principi oder Triarier. Das Wappen der Miliz war der imperiale römische Adler mit ausgebreiteten Schwingen. Die Kolonialmiliz war als Spezialeinheit der faschistischen Miliz gedacht. General Gandolfo schritt ohne Verzug an die Verwirklichung seines ehrgeizigen Vorhabens. Zunächst erließ er eine leidenschaftliche Proklamation, um Freiwillige zu werben. Nach einem Monat hatten sich dreißig Freiwillige gemeldet. Damit war kein Staat zu machen. Gandolfo erließ eine zweite Proklamation, in der er den Freiwilligen höheren Sold in Aussicht stellte: sechzehn Lire pro Tag und Kopf, außerdem Kost und Kleidung frei. Die Freiwilligenmeldungen waren derart zahlreich, daß man etliche tausend abweisen mußte. Die faschistischen Zeitungen kommen[ 154 ]

tierten das Ergebnis stolz als Beweis für die faschistische Gesinnung der Sarden. Die neue Einheit, die die Bezeichnung Ia. Legione erhielt, war in der Tat die erste Milizlegion Italiens. Die Freiwilligen erhielten Uniformen, Waffen und eine rasche Ausbildung. Anläßlich der feierlichen Vereidigung wurde die Legion zum erstenmal der Öffentlichkeit vorgeführt. Die ganze Militärgarnison von Cagliari mußte der Feier beiwohnen. Die Legionäre leisteten ihren Eid, indem sie die Dolche zückten und dreimal gegen den Himmel stießen. Es hieß, die Legionäre im alten Rom hätten es ähnlich gehalten. Nach der Zeremonie zogen die Kohorten im Paradeschritt durch die Stadt. Ich sah mir das Schauspiel vom Fenster aus an. In den Reihen marschierten einige alte Bekannte mit. Viele Legionäre waren ehemalige Kriegsteilnehmer. Ein Centurio hatte als Gefreiter in meiner Kompanie gedient; auch mein Friseur hatte es zum Centurio gebracht. Die meisten höheren Chargen waren jedoch ehemalige Weltkriegsoffiziere. Der Konsul, der die Legion befehligte, war ein Oberst außer Dienst. Wir hatten einander im Krieg kennengelernt, als er Hauptmann und ich Leutnant gewesen war. Zuletzt hatte er ein Regiment kommandiert. Nachdem er aus Altersgründen pensioniert worden war, hatte er sich nicht mehr um Politik gekümmert. Er war ein gutmütiger Mensch und ein Liberaler der alten Schule. Die meisten konnten sich nicht erklären, warum er Faschist und Konsul geworden war. »Faschist bin ich nur in den Kolonien und nicht in Italien«, pflegte der Oberst zu antworten. »Die Araber haben keine Ahnung von Politik.« Unmittelbar nach der elementarsten militärischen Ausbildung der Truppe erhielt die Legion den Befehl, ihre Quartiere in Libyen zu beziehen. Der Konsul widersetzte sich: Er verlangte eine Verschiebung des Termins, damit die Ausbildung beendet werden könne. Doch siegten wie üblich politische Erwägungen. Die Legion wurde im Hafen von Cagliari eingeschifft. Der Tag der Abreise wurde zu einem richtigen Feiertag. Jeder fascio der Insel hatte Vertreter nach Cagliari entsandt. Auf den Kais [ 155 ]

drängten sich weinend die Frauen, Schwestern und Mütter der Legionäre. Zwischendurch schmetterten Trompeten ihre Signale; feierlicher Trommelwirbel rollte über den Hafen. General Gandolfo küßte das Feldzeichen, den imperialen römischen Adler, und hielt eine Rede, in der er den alten Jugurtha und die Ruinen Karthagos beschwor. Der Konsul kletterte auf die Kommandobrücke und schrie: »A chi l’Africa?« »A noi!« antworteten die Legionäre im Chor und streckten ihre Dolche zum Himmel. »A noi!« wiederholte die faschistische Menge auf den Kais. Nach der Abreise der Legion wurde in Cagliari ein Propagandafeldzug für Kolonialpolitik organisiert. Überall, in den Schaufenstern, in den Kaffeehäusern, in den Büros und in den Foyers der Theater, wurden gewaltige Landkarten Nordafrikas angebracht. Zwischen dem Nil und den Säulen des Herkules sproß neues lateinisches Leben aus altehrwürdigen Ruinen. Die Städte Alexandrien, Cyrenae und Leptis Magna waren durch römische Stadtmauern gekennzeichnet; wo einst Karthago gewesen war, prangte die getreue Nachbildung eines Feigenbaums, um an den berühmten Ausspruch Catos des Älteren zu erinnern. Zur Propagierung des kolonialen Gedankens wurde eine Reihe von Lichtbildvorträgen gehalten. Die Insel fieberte in patriotischer Hochstimmung. General Gandolfo kam wochenlang nicht zur Ruhe. Von der Legion hörte man gute zwei Monate überhaupt nichts. Dann begannen üble Gerüchte zu kursieren: Das bösartige Gerede ging von Mund zu Mund und hatte im Nu ganz Sardinien erfaßt. Bald traf genauere und verläßlichere Kunde ein: Die Legion hatte im Angesicht des Feindes gemeutert. General Gandolfo erkrankte. Folgendes hatte sich zugetragen: Arabische Stämme hatten die Oase von Kufra angegriffen. Der Gouverneur der Kolonie beschloß, daß der faschistischen Legion die Ehre zuteil werden sollte, die aufsässigen Araber zu bestrafen und zur Räson zu bringen. Der Gouverneur hatte aus Rom die Weisung erhalten, der Ia. Legione so rasch wie möglich die Gelegenheit zur Bewährung im Kampf zu bieten: Rom wollte durch Siegesmeldungen die Jugend begeistern und den Faschismus auf Sardinien veran[ 156 ]

kern. Nach dem Bürgerkrieg war es notwendig, endlich wirkliche Lorbeeren zu erringen. Als der Befehl zum Einsatz kam, protestierte der Konsul unter Hinweis auf die ungenügende Ausbildung der Legion. Der Gouverneur hielt ihm jedoch vor, daß es für die Kolonialmiliz eine große Auszeichnung sei, diese Operation durchführen zu dürfen, und der Kommandeur gab nach. Die Legion rückte aus. Die Araber bereiteten sich auf den Kampf vor; herausfordernd verfolgten ihre Erkundungspatrouillen den Vormarsch der Legionäre. Für die Faschisten in der Legion war es das erstemal, daß sie sich in offener Feldschlacht gegen einen bewaffneten Feind zu bewähren hatten. Die Erwartung war groß. Groß war auch die Überraschung. Als der Angriff erfolgen sollte, rührte sich die Legion nicht vom Fleck. Die Legionäre verlangten den rückständigen Sold. Sie erklärten, der Rekrutierungsvertrag sei nicht eingehalten worden, sie hätten nur sieben Lire Tagessold erhalten und nicht die sechzehn Lire, auf die sie Anspruch hätten; außerdem würde ihnen die Extrakost vorenthalten, sie bekämen nur den üblichen Kasernenfraß. Der Konsul unternahm alles, um seine Legion zu beschwichtigen und die Gefahr abzuwenden, doch vergeblich. Die ganze Kampflust der Legionäre konzentrierte sich auf den rückständigen Sold. Als der Konsul sah, daß seine Bemühungen nichts fruchteten, befahl er, die Rädelsführer zu verhaften. Da brach die Hölle los. Die Legionäre griffen zu den Waffen und verhinderten die Ausführung des Befehls. Die Lage war geradezu peinlich. Militärische Disziplin ist eine sehr ernste Sache, solange jeder militärisch stramm gehorcht; aber wenn es einmal mit diesem einen Detail nicht mehr klappt, dann können Soldaten schlimmer werden als ein Haufen rabiater Zivilisten. Seiner Art gemäß versuchte der Konsul zunächst Zeit zu gewinnen. Schließlich blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als die vorgesetzten Stellen zu informieren. Sofort wurden reguläre Heereseinheiten – Infanterie, Kavallerie und Artillerie – in Marsch gesetzt. Die Meuterer wurden umzingelt, Kanonen in Stellung gebracht. Erst jetzt [ 157 ]

beschlossen sie, vorerst Sold Sold sein zu lassen und die Befehle auszuführen. Die Legion setzte sich wieder in Marsch. In ihrem Rücken folgten die Einheiten des Heeres. Die Haltung der Legionäre erschreckte indes eher den italienischen Stab als die Araber. Nur ein Wahnsinniger hätte von einer solchen Truppe Tapferkeit und Ausdauer im Kampf erwarten können. Das Oberkommando sah ein, daß der Einsatz der Legion sinnlos war. Das Unternehmen wurde abgeblasen. Die Legionäre kehrten noch am gleichen Tag in ihre Quartiere zurück. Nach einigen Tagen wurde die Legion aufgelöst. Die einzelnen Centurien wurden Einheiten des regulären Heeres eingegliedert. Legion und Kohorten existierten nicht mehr, es gab nur noch die verstreuten, zusammenhanglosen Centurien. Die moralische Einheit war damit beendet, der Korpsgeist hatte den Todesstoß bekommen. Damit war auch jeder weitere Kampf um den rückständigen Sold und um die vertragliche Menage unmöglich geworden. Die Legionäre fügten sich und taten schlecht und recht ihren Dienst – für sieben Lire am Tag und bei gewöhnlichem Kasernenfraß. Einige Centurien wurden später sogar bei schwierigen Gefechten eingesetzt. Aber da die Legion keine organische, einheitliche Truppe mehr war, konnte sie auch den Faschismus nicht länger repräsentieren. Sie hatte jeden politischen Wert verloren. Außerdem kündigten die Legionäre massenweise ihr freiwilliges Dienstverhältnis wegen Nichteinhaltung des Rekrutierungsvertrages auf. Die Regierung befahl, daß die Legion in ihrer ursprünglichen Form zusammengezogen und nach Hause gebracht werde. Die Kunde von der bevorstehenden Ankunft der Koloniallegion verbreitete sich in Cagliari mit Windeseile. Alle wollten die Heimkehrer mit eigenen Augen sehen. Überall herrschte Neugier. Es gab in all den Nachkriegsjahren nur ein einziges Ereignis, dem die Sarden mit ebensolcher Spannung entgegengeblickt hatten, und zwar den angesagten, aber durch die Umstände leider verhinderten Besuch von Weißer Hirsch. Mit ihm hat es eine besondere Bewandtnis. Er galt als Nachfahre eines der berühmtesten Häuptlingsgeschlechter der nordamerikanischen Indianer; seine Vorfahren hatten angeblich jahrhundertelang die Region der Großen Seen im Grenz[ 158 ]

gebiet zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten beherrscht. In bunter Häuptlingstracht, mit Federschmuck und Pfeife reiste er durch Italien. Er hatte große Sympathien für den Faschismus bekundet und erklärt, seinen Stamm nach der Rückkehr in die heimatlichen Weidegründe faschistisch zu organisieren. Seine Rothäute würden mit Begeisterung das schwarze Hemd anziehen, sagte er, um aller Welt klarzumachen, daß sie von der schalen Demokratie der Erben und Jünger Washingtons nichts hielten. Die Faschisten und selbst der Duce fühlten sich geschmeichelt. Der Häuptling wurde überall mit höchsten Ehren empfangen. Der fascio von Florenz ernannte ihn zum Consul honoris causa und lud ihn ein, in Schwarzhemd und Federschmuck an einer Reihe faschistischer Zeremonien teilzunehmen. Die Rothaut erntete, wo sie sich im Theater zeigte, begeisterte Ovationen, und nicht wenige Damen der toskanischen Gesellschaft gestanden, daß sie sich in den Häuptling verliebt hätten. Weißer Hirsch war in der Tat eine stattliche Erscheinung. Er sollte auch Cagliari einen Besuch abstatten. Die Neugier, ihn zu sehen, war so groß, daß einen Monat vor seiner Ankunft Fenster- und Balkonplätze in Hafennähe an Interessenten zu Preisen angeboten wurden, die man normalerweise für einen Logenplatz im Theater zahlte. Dummerweise hatte Weißer Hirsch auf seinen Streifzügen durch Italien einige Grundregeln seines Metiers nicht genügend beachtet. Der Mann war zu selbstsicher geworden. Die Polizei schöpfte Verdacht und ließ ihn eines Tages verhaften. Es stellte sich heraus, daß der Indianer ein internationaler Hochstapler aus Holland und von den Polizeibehörden mehrerer europäischer Staaten zur Verhaftung ausgeschrieben war. Sein Besuch in Sardinien fiel ins Wasser. Nun erwartete Cagliari mit ähnlich krankhafter Neugier die Landung der Legion. Die ganze Stadt strömte zum Hafen, um das Spektakel zu genießen. Die Landung ging eher unordentlich vor sich. Einige Legionäre fielen von den Stegen ins Wasser. Die Soldaten machten auch durchaus keinen kriegerischen Eindruck: Sie trugen noch die Uniformen, die sie seinerzeit zur Abreise erhalten hatten. Hosen und Jacken waren zerfetzt, schmutzig, notdürftig geflickt – insgesamt ein armseliger, schäbiger Anblick. Manche Legionäre hatten afrikani[ 159 ]

sche Äffchen auf den Schultern oder in den Armen. Einige hatten sich schwere Krummsäbel umgehängt. Die Landungsoperationen zogen sich ungewöhnlich in die Länge, und die Legionäre verloren die Geduld. Sie schwärmten aus und verliefen sich. Viele setzten oder legten sich auf den Kais zur Ruhe. Andere gingen in die Kaffeehäuser des Hafenviertels und bestellten in barschem Befehlston etwas zum Trinken. Wenn es ans Zahlen ging, brüllten sie: »Die Rechnung bezahlt General Gandolfo!« Die Trompeter bliesen wiederholt zum Sammeln, aber die Legionäre wollten nichts hören. Sie lungerten müde herum, trällerten einschläfernde arabische Melodien oder schmetterten, vom Tamtam einer afrikanischen Trommel begleitet, kriegerische Gesänge. Es dauerte einige Stunden, bis Offiziere und Unteroffiziere die Mannschaften gesammelt und in Marschordnung gebracht hatten. Endlich konnte die Heimkehrerparade beginnen: an der Spitze des Zuges der Adler des Imperiums, am Ende die Feldküchen. Das Garnisonskommando hatte eine Regimentskapelle in Galauniform zur Begrüßung der Heimkehrer ausrücken lassen. Die äußerliche Pracht sollte die tiefsitzenden inneren Mängel überstrahlen, zumindest vor den Augen der Zivilbevölkerung. Schmutzwäsche wäscht man bekanntlich in der Familie. Die Musikkapelle intonierte einen sehr populären Marsch, Caesars Heimkehr. Aber die Legionäre, die jede Art von Militärmusik haßten, brachen in ein wildes Geheul aus, die Musikanten mußten den Marsch abbrechen. »Wir wollen unsern Sold! Zahlt, was ihr uns schuldig seid!« Die Menschen, die nie zuvor von Soldaten ähnliche Sprechchöre gehört hatten, bedrängten den Festzug von allen Seiten. Einzelne Legionäre blieben stehen und erklärten den Leuten freundlich, was geschehen war und weshalb sie protestierten: Man habe ihnen den vereinbarten Sold vorenthalten, man habe sie um die Menage betrogen, verraten und verkauft. In der Hauptstraße brach die militärische Marschordnung kläglich zusammen. Die Legionäre hatten das Defilee im Paradeschritt satt. Die Reihen lösten sich auf. Kinder liefen neben den Soldaten her und betrachteten neugierig und ausgelassen die Äffchen. Diese [ 160 ]

armen Tiere verschuldeten schließlich ein allgemeines Durcheinander. Einige Affen rissen sich los und sprangen den Menschen im Spalier auf Schultern und Köpfe. Die erschrockenen Frauen kreischten und fuchtelten mit Händen und Regenschirmen, um sich zu wehren. Die Affen flüchteten über das Spalier hinweg auf die Trottoirs. Kläffend setzten die Hunde den unbekannten Tieren nach. Die Affen retteten sich durch Sprünge und akrobatische Kletterkünste auf Laternenpfähle, Bäume, Fenster und Balkone. Längst waren die exotischen Tiere zur Hauptattraktion der Parade geworden. Alles schrie und rannte wild durcheinander. Die Legionäre kämpften sich wütend durch die Menge, um ihre Affen zu suchen und einzufangen. Die Affen waren inzwischen mißtrauisch geworden: Die Besitzer mußten ihnen gut zureden und schmeicheln, ehe sie sich wieder einfangen ließen. Die Legion hatte die Parade längst abgebrochen. Unordentlich trottete der Haufen dem Ziel entgegen. Schließlich ergaben sich auch die mißtrauischsten Affen und kehrten mit ihren Herren in die Reihen zurück. Mit letzter Kraftanstrengung gelang es den Offizieren, die Legion in die Kaserne zu bringen. Cagliari hat in seiner langen Geschichte niemals eine denkwürdigere Militärparade erlebt. Für die Kinder war sie ein epochales Ereignis, ein Vergnügen sondergleichen. In Hinkunft versprachen die Mütter schlimmen Kindern: »Wenn du brav bist, darfst du dir die faschistische Legion anschauen.« Von dem Tag an war die Miliz auf Sardinien populär geworden. Die Ia. Legione wurde am nächsten Tag endgültig aufgelöst. Die Legionsstandarte mit dem imperialen Adler verschwand in einer Rumpelkammer der Präfektur. Die ungestümsten Legionäre kamen vor das Militärgericht. Die übrigen landeten großteils bei der gewöhnlichen Miliz und versprachen, dem Vaterland in der Heimat treu und opferbereit zu dienen. Dieses Versprechen hielten sie, denn den Feinden in der Heimat, den Regimegegnern, stehen anders als den Arabern weder Wüsten noch Oasen, noch Waffen zu Gebote. Der Kampf gegen sie erfordert geringere Opfer und bei weitem weniger Mut. [ 161 ]

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weite Hälfte des Jahres 1923. Der Faschismus herrscht ungehindert, doch ist er immer noch auf der Jagd nach Zustimmung. In seiner Deutung des konkreten Universellen lehrt Giovanni Gentile, der Philosoph, daß der »Konsens eine Realität ist, gleichgültig, ob er spontan oder erzwungen ist«. Folgerichtig begeben sich alle Faschisten – mit Revolvern und Knüppeln bewaffnet – auf die Suche nach der Realität. Die Staatsgewalt ebnet ihnen die Wege. Der Opposition ist praktisch nur noch ein Betätigungsfeld geblieben: die Presse. Die faschistischen Zeitungen bleiben unverkauft liegen, Tag für Tag. Kein Mensch will sie lesen. Die bekannten Antifaschisten werden aus staatlichen und privaten Büros entlassen. Die Polizei behält sie im Auge und empfiehlt sie der Aufmerksamkeit der squadristi; die squadristi hetzen ihrerseits jenen Regimegegnern die Polizei auf die Fersen, gegen die sie nichts zu unternehmen wagen. Man bedient sich wechselseitig. Der Staat bezahlt und sorgt vor. Die Polizei, die faschistische Miliz und die squadristi genügen offensichtlich nicht: Das Regime schafft sich im Handumdrehen eine neue Spezialpolizei, die ihr Wirken nach wissenschaftlichen Kriterien organisieren soll. Doch der Faschismus fühlt sich noch immer nicht vollkommen sicher. Er hält es für erforderlich, alle Oppositionellen von der Stärke der Macht zu überzeugen. Dazu wird eine neue – horizontale und vertikale – Großoperation in die Wege geleitet. Jetzt protestieren auch die Katholiken gegen die Gewalttätigkeiten, und die Stimme des Heiligen Vaters verstärkt ihren Protest. Die christlichsozialen Abgeordneten haben schon im April die Koalition mit Mussolini aufgekündigt. Don Luigi Sturzo, der geistliche Grün[ 162 ]

der und Führer der Popolari, ist im Exil. Die Opposition breitet sich aus. Mussolini hat nur noch die Faschisten und die orthodoxen Liberalen auf seiner Seite. Der Freiheitsbegriff der Liberalen kennt keine Grenzen. In der Tat, entweder die Freiheit existiert oder sie existiert nicht. Wenn sie existiert, so bleibt sie auch dann noch Freiheit, wenn sie sich in den Dienst des Absolutismus stellt. Selbst die Tyrannei ist letztlich – betrachtet man die Dinge streng dialektisch – nichts anderes als ein Ansporn zur Freiheit. Der Philosoph und Parlamentsabgeordnete Orano, bis zum Marsch auf Rom überzeugter Antifaschist, widmet den eben dargelegten Gedanken zum Thema Freiheit eine umfangreiche philosophische Abhandlung. Die Oppositionszeitungen behaupten, hinter dem Faschismus stehe nur eine lächerlich kleine Minderheit des Volkes. Die Faschisten beteuern ihrerseits, die Opposition vertrete nur eine Minderheit. Wer von den beiden hat recht? Man beschließt, das Volk zum Schiedsrichter zu ernennen. Doch das Volk bedarf der Führung. Gewiß, das Volk hat immer recht, doch hat es auch die Angewohnheit, sich zuweilen völlig verkehrt zu äußern. Es gilt also, dafür zu sorgen, daß das Volk in diesem konkreten Fall keine falsche Antwort gibt. Mussolini nimmt eine Reform des Wahlrechts in Angriff. Das neue Wahlgesetz soll so beschaffen sein, daß es dem Faschismus auf alle Fälle eine Mehrheit in der Kammer sichert. Aber das Abgeordnetenhaus stellt sich dagegen. Die Parlamentarier geben sich unversöhnlich feindselig. Die Kammer habe schon zu viele Demütigungen ertragen; notfalls werde man ihre Rechte bis zum letzten Blutstropfen verteidigen. Alle bekunden eherne Entschlossenheit: »Wenn er es darauf anlegt, wird er unseren Widerstand brechen müssen. Beugen wird er uns nie.« Die Opposition berät sich, befragt jeden einzelnen Abgeordneten. Die Antworten ergeben eine eindeutige Mehrheit gegen Mussolini – wenngleich nur um wenige Stimmen. Diesmal gilt es, die Geschlossenheit zu wahren! Keiner darf aus der gemeinsamen Front ausbrechen! Es geht um Leben und Tod! Ich hatte das Parlamentsgebäude seit Monaten nicht betreten. Zweimal hatte ich mein Mandat zurückgelegt, doch hatte die Kam[ 163 ]

mer meine Demission jedesmal abgewiesen. Verfassungsrechtlich war ich also nach wie vor Abgeordneter. Eines Tages erschien nun eine Parlamentarierabordnung bei mir in Cagliari und setzte mir auseinander, daß es beim Kampf um das neue Wahlgesetz auf jede Stimme ankomme. Die Abwesenheit eines einzigen Abgeordneten könne die Opposition unter Umständen um den sicheren Sieg bringen. »Du wirst doch nicht Fahnenflucht begehen?« beschworen mich die Kollegen. »Du wirst doch im Angesicht des Feindes nicht ausreißen?« Es fiel ihnen nicht schwer, mich zu überzeugen. Es gab im Augenblick nur eine wirkliche Schlacht: die ums Wahlrecht. Und es gab nur eine Möglichkeit: daß alle geschlossen dagegen stimmten. Der Kampf tobte. Mussolini ließ halbamtlich verlauten, er werde, sollte das Wahlgesetz abgelehnt werden, das Parlament trotzdem und in jedem Fall auflösen und einen zweiten Staatsstreich machen. Diese Kunde verursachte einige Verwirrung, doch gelang es, die Wankelmütigen wieder aufzurichten und die Reihen zu schließen. Onorevole Giolitti freilich riet seinen Freunden, es nicht an jener klugen Vorsicht mangeln zu lassen, welche die patriotische Weisheit jetzt erfordere. »Wir ziehen es vor, als Löwen zu sterben, denn als Schafe weiterzuleben!« antworteten die katholischen und laizistischen Demokraten dem alten Staatsmann. Sie schienen von mystischer Opferbereitschaft erfüllt. »Gut«, sagten die Faschisten. »Dann machen wir eben einen zweiten Marsch auf Rom.« »Noch einen Marsch auf Rom?« »Wenn es sein muß, werden wir Rom in Schutt und Asche legen.« »Dann wird man Rom eben evakuieren.« »Was fand Napoleon, als er nach Moskau kam?« »Einen Haufen Asche.« Am Abend vor der entscheidenden Sitzung im Abgeordnetenhaus hatte man den Eindruck, es stehe eine Feldschlacht bevor. Rom war voller Schwarzhemden. Bewaffnete Faschisten rasten auf neuen, schnellen Lastautos durch die Straßen. Es war ein bedrohlicher Anblick. [ 164 ]

»Tod den Verrätern!« »An den Galgen!« Mehrere Abgeordnete wurden von Faschisten auf offener Straße angerempelt und beschimpft. Die Situation nahm ernste Formen an. Die festgefügten Reihen begannen zu wanken. Wäre es nicht doch besser, wenn man Klugheit und Vorsicht walten ließe? Hat am Ende nicht doch wieder Giolitti recht? Er hat schon so oft recht behalten, warum nicht auch diesmal? Wem nützt man schon mit einer Demonstration der Unnachgiebigkeit? Man darf nicht an die eigenen Interessen denken, sondern muß das Wohl des Landes im Auge behalten. Wer soll das Wohl des Landes hüten, wenn sich die Abgeordneten, die Mandatare des Landes, einfach umbringen lassen? Endlich kam der große Tag. Die Sitzung war erhebend, feierlich. Die Presse hat sie als historisch bezeichnet. Alle Abgeordneten waren anwesend. In den Publikumsrängen spielten Faschisten ungeniert und vergnügt mit Revolvern. Einige Spaßvögel im Schwarzhemd hatten die Dolche gezogen und schnitten sich damit die Fingernägel. Die Abgeordneten taten so, als sähen sie nichts. »So etwas von ungehobelt ...!« raunte mir empört der Nachbar zur Rechten ins Ohr. »Glaubst du, daß sie schießen werden?« flüsterte der Nachbar zur Linken. »Hast du einen Revolver bei dir?« fragte ich ihn. »Was denkst du? Bist du irrsinnig?« »Nein«, erwiderte ich. »Willst du ein Bonbon?« »Danke.« Wozu soll ich die ganze Geschichte der Sitzung erzählen? Kommen wir zur Sache. Anwesende und Abstimmende: 450. Für das neue Wahlgesetz: 303. Dagegen: 140. Weiße Stimmzettel: 7. Die laizistischen und die katholischen Demokraten stimmten nahezu geschlossen für das Gesetz. Die Faschisten begrüßten den Ausgang der Abstimmung mit unbeschreiblichem Jubel; der Lärm dauerte eine gute halbe Stunde lang. Mussolini schritt aus dem Saal, glückstrahlend wie ein Firmling. [ 165 ]

Ich war der erste Abgeordnete, der das Parlamentsgebäude verließ. Die Piazza Montecitorio war schwarz von Menschen. Die Menge drängte sich Kopf an Kopf in allen Nebenstraßen, bis hinüber zur Piazza Colonna. Spannung lag in der Luft. Die Leute wußten noch nicht, wie die Abstimmung ausgegangen war. Mein Erscheinen auf der Treppe verriet ihnen, daß die Sitzung aus sein mußte. Stumm fragend, starrten sie mich an. »Das Gesetz ist mit großer Mehrheit angenommen worden!« sagte ich trocken, tonlos. Seit diesem Tag begreife ich die in orientalischen Monarchien herrschende Sitte, derzufolge die Minister, die dem Souverän die Kunde einer Niederlage zu überbringen hatten, sich der traurigen Pflicht dadurch entzogen, daß sie sich mit eigener Hand entleibten. Der Tod war den Unheilsboten ohnehin gewiß. Durch den Selbstmord wurde er um etliche Minuten oder Stunden vorverlegt, doch ersparten sie sich so den Groll und die grausame Rache des Herrn. Ich hatte eine zweifache Unvorsichtigkeit begangen: einmal, daß ich das Parlament durch den Hauptausgang auf die Piazza Montecitorio verlassen hatte; zum zweiten, daß ich der Menge völlig kommentarlos das Abstimmungsergebnis mitgeteilt hatte. Statt zu sagen, das Gesetz sei angenommen worden, hätte ich den Leuten sagen müssen: »Bürger, ich habe dagegen gestimmt. Doch muß ich euch leider mitteilen, daß das Gesetz trotzdem angenommen worden ist.« Und dann hätte ich klugerweise sofort wieder im Parlamentsgebäude verschwinden müssen. Ich packte an dem Tag alles verkehrt an. Nachdem ich den Leuten die Nachricht vom Ausgang der Abstimmung kundgetan hatte, stieg ich langsam die Treppe zum Platz hinab. Ein Schrei der Empörung erhob sich. Aus tausend Mündern wurde ich verflucht, beschimpft, verhöhnt. »Feiglinge!« »Verräter!« »Ihr habt das Volk verkauft!« »Ihr fürchtet wohl um eure Gehälter!« »Absetzen! Zurücktreten!« »Tod den Verrätern!« Ich war als einziger Parlamentarier für sie greifbar. Deshalb [ 166 ]

ließen sie ihre Wut an mir aus. Ich dachte nicht einmal daran, daß ich ihnen hätte sagen können, wer ich war, und daß ich gegen das Gesetz gestimmt hatte. Möglicherweise fehlte mir dazu die Zeit. Ich entsinne mich jedoch, daß ich intensiv über die ganz und gar außergewöhnliche Lage nachdachte, in die ich geraten war. Ich hatte mich für diesen Tag auf alles mögliche gefaßt gemacht, nur nicht darauf, daß Gesinnungsgenossen mich überfallen und mißhandeln würden. Mein Hut und die Krawatte waren schon verschwunden. Verzweifelt verteidigte ich mein Jackett; ich wollte auf keinen Fall in Hemdsärmeln dastehen. Plötzlich fiel mir der Parlamentspräsident ein, über dessen Amtsführung ich mich sehr geärgert hatte. »Der Kerl hat wieder einmal Glück gehabt!« dachte ich. »Wenn er als erster herausgekommen wäre auf den Platz ...« Möglicherweise wäre ich in Stücke gerissen worden, wenn nicht ein Zug Grenadiere des Wachekorps eingegriffen hätte. Schließlich erschien auch Polizei auf dem Platz, und die Ordnung wurde wieder hergestellt. Die Kammer blieb noch ein paar Monate im Amt. Anfang 1924 wurde sie aufgelöst. Die Neuwahlen wurden für den 6. April ausgeschrieben. Das neue Wahlgesetz sicherte dem Faschismus von vornherein die Mehrheit in der Kammer. Abgesehen davon, ist es in Italien äußerst selten, daß eine Regierungspartei Wahlen verliert. Es hat sich nämlich die Gewohnheit eingebürgert, daß die Präfekten, die obersten Verwaltungsorgane in den Provinzen, immer als die wichtigsten Stimmenschlepper für die Regierungsparteien auftreten und handeln. Giolitti hatte als Ministerpräsident die Kunst, Wahlergebnisse zu fabrizieren, zu höchster Vollkommenheit entwickelt. Die Opposition war in zwei Lager gespalten. »Die Wahlen müssen boykottiert werden!« forderten die einen. »Wir müssen uns unbedingt zur Wahl stellen!« erklärten die andern. Jede der beiden Ansichten hatte einiges für sich. Viele befürchteten, die Wahlenthaltung würde als Mangel an Zivilcourage gedeutet werden. Die Anhänger der These, daß man sich zur Wahl stellen müsse, siegten ohne besondere Mühe. [ 167 ]

Aufgrund eines Beschlusses unserer Bewegung kandidierte ich wiederum in meinem sardischen Wahlkreis. Im Wahlkampf war es nur wenigen Kandidaten der Opposition möglich, in Versammlungen aufzutreten. Viele wurden buchstäblich aus ihren Wahlkreisen verbannt: Die Faschisten bedrohten sie mit dem Tod. Andere durften sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen, um die Wähler nicht zu gefährden. Die Schwarzhemden kündigten grausame Repressalien an. Außerdem trafen sie organisatorische Vorkehrungen, um unter Bruch des Wahlgeheimnisses feststellen zu können, für welche Partei besonders verdächtige Wähler sich entschieden hatten. Eine neue Terrorwelle wogte durch das Land. Der sozialistische Kandidat Piccinini wurde ermordet, weil er sich der Anordnung, seinen Wahlkreis zu verlassen, nicht gefügt hatte. Auf Sardinien lagen die Dinge ähnlich. Der Faschismus der ersten Stunde befürchtete schlimme Repressalien und söhnte sich mit dem Faschismus der zweiten Stunde aus. Die Reihen der Schwarzhemden waren wieder fest geschlossen. Einige meiner zum Faschismus übergelaufenen Freunde kandidierten für die Regierungsliste, allen voran Graf Cao di San Marco, der an der Spitze bewaffneter Trupps eine großangelegte Einschüchterungskampagne führte. Die fasci hatten Weisung erhalten, mich mit allen Mitteln an Wahlreden zu hindern. Doch hielt die Masse des Volkes trotz allem unserer Bewegung die Treue; ich konnte überall meine Reden halten, ohne gestört zu werden. Nur in Masullas, einer Landgemeinde im Herzen der Insel, fiel meine Wahlversammlung ins Wasser. Die Faschisten hatten den Leuten befohlen, die Häuser nicht zu verlassen. Als ich ankam, versperrte mir eine Gruppe bewaffneter Schwarzhemden den Weg. Ich konnte nicht ins Dorf. Der Königliche Kommissar hielt, angetan mit der Trikoloreschleife der Bürgermeister, eine Rede: »Herr Abgeordneter! Ich kämpfe für die Freiheit, denn wer nicht für die Freiheit kämpft, verdient nicht zu leben. Doch gilt es zu unterscheiden zwischen Freiheit und Freiheit. Allen steht die Freiheit zu, dem Vaterland zu dienen; niemand darf die Freiheit haben, das Vaterland zu verraten. Als Philipp der Makedonier ...« [ 168 ]

Ich vergaß zu erwähnen, daß der Kommissar von Beruf Volksschullehrer war und ein Gefäß humanistischen Wissens. »Als Philipp der Makedonier einst die Freiheit Griechenlands bedrohte, handelte Demosthenes richtig, als er ...« »Herr Kommissar«, unterbrach ich den Redefluß. »Wollen Sie die Güte haben, einiges aus unserer Gegenwartsgeschichte zu erzählen!« Die Lage war nicht ganz einfach. Der Kommissar hatte den Empfang für mich gründlichst vorbereitet. Man hatte auf der unebenen Straße einen Tisch aufgestellt; auf dem wackeligen Tisch stand der Kommissar, um seine Rede zu halten. Und damit er nicht vom Tisch fallen konnte, hielten zwei Faschisten seine Unterschenkel fest umklammert. Außerdem hatte der Kommissar seine Rede Wort für Wort aufgesetzt, so daß ihn meine Aufforderung, sich mit der Gegenwart zu befassen, völlig aus dem Konzept brachte. Er hob die Augen von seinem Blatt, sah mich grimmig an und rief: »In Ordnung.« Nach einer kurzen, effektvollen Pause streckte er die Hand aus, zeigte auf mich und befahl: »Verhaftet ihn!« Unter den Faschisten befand sich einer, der seinerzeit als Unteroffizier in meinem Bataillon gedient hatte. Er ergriff meine Verteidigung und befreite mich aus der Klemme, in die ich mich leichtfertigerweise begeben hatte. Ich konnte den Ort ohne weitere Zwischenfälle verlassen. In Cagliari redeten einige Faschisten einem irren Fanatiker ein, das Wohl des Vaterlandes und der Nation erfordere es, daß man mich aus der Welt schaffe. Der Mann lauerte mir in der Nähe meiner Wohnung, mit einem Jagdmesser bewaffnet, auf. Er war derart von der ihm aufgetragenen Mission besessen, daß er sich im Eifer der Vorbereitungen selbst verriet. Zwei Burschen entwaffneten ihn und brachten ihn in die nächste Kaserne der Miliz. Der Kommandant ließ den Messerhelden laufen und nahm die beiden Burschen in Gewahrsam. Ihre Proteste fruchteten nichts. Sie wurden wegen Verleumdung vor Gericht gestellt. Ich blieb im Wahlkampf unbehelligt. Meine Freunde mußten jedoch mit großer Umsicht zu Werke gehen, um den Wahltag nicht im Gefängnis verbringen zu müssen. In meinem Heimatdorf wurden am Samstag vor dem Wahltag einige Pächter meiner Familie verhaf[ 169 ]

tet. Dadurch wollte man der Bevölkerung beweisen, daß ich politisch völlig machtlos war. Der Kandidat für die Stadt Sassari, der Advokat Berlinguer, wurde während einer öffentlichen Wahlversammlung von Faschisten mit Dolchen überfallen. Seine Freunde stürzten sich auf die Gewalttäter, und der Redner kam mit einigen leichten Verletzungen davon. Die Regierungsliste errang einen triumphalen Wahlerfolg: Sie erhielt vier Millionen Stimmen. Rund drei Millionen Wähler hielten der Opposition die Treue. Auch ich wurde wiedergewählt. Im Mai hielt die neugewählte Kammer ihre erste Sitzung ab. Der sozialistische Abgeordnete Giacomo Matteotti geißelte in einer feurigen Rede die Gewalttätigkeiten im Wahlkampf und die zahllosen Übergriffe am Wahltag. Er erklärte die Wahl für ungültig. Die faschistischen Abgeordneten tobten. Einen Augenblick lang schien es, als würde die Sitzung tragisch enden. Onorevole Matteotti sprach weiter – unter dem wütenden Gebrüll der Mehrheit. Als er die Rede beendet hatte, ging er auf seinen Platz und sagte scherzend zu seinen Freunden: »Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte. Jetzt könnt ihr meine Grabrede vorbereiten.« In den Kommentaren zur Sitzung der Kammer warfen die faschistischen Zeitungen ihren Abgeordneten unverzeihliche Toleranz gegenüber Matteotti vor. Am nämlichen Abend unterhielt sich onorevole Mussolini mit einigen Anhängern, durchwegs erfahrenen Veteranen von Strafexpeditionen, und sagte: »Wäret ihr nicht ein Haufen von Feiglingen, dann hätte keiner gewagt, eine solche Rede zu halten.« Als König Heinrich II. die Kunde von der Exkommunizierung seiner Getreuen durch Thomas Becket erhielt, ließ er seine Wut an den Höflingen aus. »Wird denn keiner von den feigen Knechten, die sich an meinem Tisch die Bäuche vollschlagen, imstande sein, meine Ehre zu rächen?!« Sogleich brachen, wie die Historiker berichten, vier Reiter auf. Sie ermordeten den Erzbischof, während er in der Kathedrale von Canterbury den Gottesdienst zelebrierte. [ 170 ]

Gegen Matteotti zogen fünf Mann aus – im Herzen Roms. Niccolò Machiavelli lehrt im Principe: »Wer sich in seinem neu erworbenen Fürstentum der Notwendigkeit gegenübersieht, sich der Feinde zu versichern, Freunde zu gewinnen, die eigene Macht durch Gewalt oder Betrug durchzusetzen, wer dem Volk Liebe und Furcht beibringen will, wer sich Verehrung und Gefolgschaft der Soldaten erhalten will, wer diejenigen, die ihm Übles zufügen können oder müssen, beseitigen will, wer schließlich mit neuen Mitteln die alte Ordnung erneuern will ..., der wird keine frischeren Vorbilder finden als die Taten dieses Mannes.« Dieser Mann war niemand anderer als Cesare Borgia. Mussolini hatte wenige Wochen zuvor den Ehrendoktor der Universität Bologna erhalten. Zum Thema seiner Dissertation hatte er den Principe gewählt.

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G

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iacomo Matteotti wurde am 10. Juni 1924, während er auf dem Weg ins Parlament war, überfallen, in ein Auto gezerrt und vor den Toren Roms in einem Wäldchen ermordet und verscharrt. Das unruhige Parlament hatte seine Lektion auf imperiale Weise erhalten. Die Einzelheiten des Falles Matteotti sind in aller Welt bekannt. Ich war gerade in Rom. Die Nachricht vom Verschwinden Matteottis schlug bei den Kollegen wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein. Mich überraschte sie nicht. Es erschien mir natürlich, daß sich nun auch in Rom ereignete, was in allen Teilen Italiens geschehen war. Nun war das Parlament an der Reihe. Das Echo im Lande war enorm. An der Spitze der faschistischen squadra, die Matteotti entführt hatte, stand Amerigo Dumini. Er war eine Berühmtheit. Sechs Monate zuvor hatte er den sozialistischen Journalisten Giannini in einem römischen Theater überfallen lassen. Giannini forderte ihn zum Duell. Der Journalist war ein hervorragender Fechter. Dumini bekam es nach den ersten Hieben seines Gegners mit der Angst zu tun und ergriff die Flucht. Bei seinen faschistischen Freunden galt er als Beispiel der Unerschrockenheit. Sein Ruf hatte ganz Italien durcheilt. Es hieß, er halte den absoluten Mordrekord. Wenn er sich jemandem vorstellte, pflegte er zu sagen: »Dumini. Neun Morde.« Seine mutigste Tat hatte er in Carrara vollbracht – vor aller Augen. Er ohrfeigte ein Mädchen, weil es eine rote Nelke an der Brust trug. Die Mutter und der Bruder des Mädchens stellten Dumini zur Rede; er antwortete mit der Pistole und schoß beide nieder. [ 172 ]

Nun wirkte er in Rom, im Pressebüro des Ministerpräsidiums. Er konnte zwar kaum lesen und schreiben, galt jedoch in Fachkreisen als guter Schreiber. Er bezog ein fürstliches Gehalt und reiste stets erster Klasse, umgeben von teils fix angestellten, teils fallweise engagierten Sondersekretären. Duminis vier Spießgesellen bei der Verschleppung Matteottis konnten ihrem Chef in puncto Berühmtheit nicht das Wasser reichen. Aber keiner war ein unbeschriebenes Blatt. Sie waren eigens aus der Provinz nach Rom geholt worden, um Dumini im Pressebüro des Duce bei seinen Schreibarbeiten zu unterstützen. Tagelang blieb das Verbrechen im Dunkeln. Niemand wußte, was aus dem verschwundenen Parlamentarier geworden war. Am 12. Juni gab Mussolini in der Kammer eine Erklärung ab. Viele behaupten, der Duce wäre damals verlegen gewesen. Ich entsinne mich genau der Details jener Sitzung und des Ausdrucks und der Gesten, mit denen der Regierungschef vor dem Abgeordnetenhaus sprach. Mussolini war alles eher als verlegen oder verwirrt. Als er erklärte: »Ich wünsche mir, daß der Abgeordnete Matteotti sehr bald wieder seinen Platz mitten unter uns einnimmt!« fixierte er die Reihen der Linken: Sein Antlitz verriet völlig andere Gedanken: »Der erste ist weg. Ich hoffe, ihr werdet die Lektion begreifen. Die Abrechnung hat begonnen.« Der republikanische Abgeordnete Eugenio Chiesa erriet diese unausgesprochene Drohung. Er sprang plötzlich auf, zeigte auf Mussolini und schrie: »Die Regierung ist Komplizin dieses Verbrechens.« Mussolini war an diesem 12. Juni seiner Sache vollkommen sicher. Die faschistischen Abgeordneten gaben sich gut gelaunt. Die squadristi frohlockten und Farinacci, der Harte, jubelte. Das Blatt wendete sich erst einige Tage später, als nach und nach die Namen der in die Matteotti-Entführung verwickelten hohen Persönlichkeiten des Regimes auftauchten: Cesare Rossi, der Chef des Pressebüros des Ministerpräsidenten; Marinelli, Generalsekretär der faschistischen Partei für Verwaltungsangelegenheiten; Filipelli, der Chefredakteur des faschistischen Blattes Il Corriere degli Italiani; und schließlich General De Bono, der Leiter der Abteilung für öffentliche Sicherheit. De Bono hatte sich unmittelbar nach dem Verbrechen mit [ 173 ]

Dumini in Verbindung gesetzt, damit Polizei und Verbrecher gemeinsam alle Spuren verwischen konnten. Mussolini, der Regierungschef, wurde also unmittelbar mit dem Fall in Verbindung gebracht. Das Land war erschüttert. Empörung und Wut vereinten, über alle Klassenbarrieren hinweg, die Bürger. Die Oppositionsabgeordneten zogen aus dem Parlamentsgebäude am Montecitorio aus. Sie erklärten, erst dann wieder in den Saal zurückzukehren, wenn ein ordentliches Gericht alle für das Verbrechen Verantwortlichen verurteilt haben würde. So begann die berühmte Sezession des Parlaments, die man, in Analogie zum Auszug der römischen Plebejer aus der Stadt auf den nahen Hügel, als Aventin bezeichnete. Die öffentliche Meinung war gespalten: Nach Ansicht der Mehrheit hatte Mussolini persönlich den Befehl zur Verschleppung Matteottis gegeben; das andere Lager, zu dem auch viele Faschisten gehörten, vertrat dagegen die Meinung, es handle sich um eine schändliche, verbrecherische Privatinitiative einiger Subalterner. Ich zweifelte keinen Augenblick an Mussolinis uneingeschränkter Mitschuld. Im übrigen stimmten beide Strömungen darin überein, daß sie zumindest eine politische Mitverantwortung des Regierungschefs für gegeben annahmen. Die meisten Faschisten waren orientierungslos und wußten nicht, was sie sagen und denken sollten. Nur eine Minderheit behauptete, ohne zu zögern, so liefe die Sache richtig, das sei der Weg, den der Faschismus einschlagen müsse. Rom erlebte dramatische und hektische Tage. Von allen Seiten verlangte man den Rücktritt der Regierung. In den Wohnungen, in den Büros, in den Fabriken, in den Kaffeehäusern und beim Friseur sprach man von nichts anderem als vom Verschwinden Matteottis. Die Oppositionsführer erhielten auf offener Straße Applaus. Bekannte Faschisten wurden dagegen mit Pfiffen und Schmährufen überschüttet. Viele nahmen ihr Wappen vom Rockrevers und beteuerten hoch und feierlich, sie würden es erst dann wieder anstekken, wenn ein Gericht die Schuldlosigkeit Mussolinis festgestellt habe. Andere Faschisten verzichteten auf das Parteiwappen, um der sicheren Wut der Bevölkerung und den möglichen Gefahren zu [ 174 ]

entgehen. Kein Schwarzhemd in den Straßen – so weit das Auge reichte. Viele Abgeordnete, die zuvor nur im schwarzen Hemd in der Kammer erschienen waren, entdeckten plötzlich wieder die gewöhnlichen weißen Hemden mit gestärktem Kragen. Viele faschistische Parlamentarier suchten Kontakt zu Kollegen von der Opposition und beteuerten leutselig, sie wären immer schon absolute Gegner der Gewalt und der Willkür gewesen. Der Abgeordnete Terzaghi, ein Faschist der ersten Stunde, verlangte öffentlich den Kopf des Duce. Kollege Graf Cao di San Marco, den ich geraume Zeit nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte, besuchte mich eines Tages, um mir einen gewichtigen Vorschlag zu unterbreiten: Was immer auch in Italien geschehe, meinte er, wir sollten uns bemühen, ein friedliches Übereinkommen für Sardinien zu finden. Offensichtlich quälte ihn die Angst, seiner Person könne irgendein Schaden zugefügt werden. Ich erinnerte ihn an sein hämisches Grinsen während Mussolinis Rede vom 12. August, an das dreiste Selbstbewußtsein, das er damals ausgestrahlt hatte. »Genierst du dich nicht, gerade jetzt zu mir zu kommen?« fragte ich. »Nein. Wahrhaftig nicht«, sagte er. »Weshalb sollte ich mich schämen?« Ein römischer Advokat, mit dem ich befreundet gewesen war, ehe er zu den squadristi und Faschisten übergelaufen war, kam eines Abends verzweifelt zu mir und bat mich, ihn für einige Tage zu verstecken. Er befürchtete, die Antifaschisten seines Viertels würden sein Haus stürmen. »Was treibt dich zu mir?« fragte ich ihn. »Haben dich deine Parteifreunde im Stich gelassen?« »Meine Parteifreunde«, gestand er ehrlich, »stecken in der nämlichen Haut wie ich. Sie sind alle auf und davon. In ganz Rom findest du keinen mehr. Die meisten haben sich aufs Land verzogen, die andern sind irgendwo in der Stadt untergekrochen. Es sind schreckliche Zeiten.« »Immerhin«, sagte ich, »kenne ich dich als begeisterten Anhänger der Gewalt. Jetzt kannst du dein Credo praktizieren. Jetzt ist der ideale Augenblick dafür.« [ 175 ]

»Mussolini hat uns betrogen und verraten«, sagte er. »Ist es nicht gerade umgekehrt?« bohrte ich. »Vielleicht verratet ihr Mussolini, indem ihr euch von ihm abwendet.« »Mussolini hat uns verraten«, wiederholte er. »Er hat Matteotti ermorden lassen, während die Kammer tagte. Er mußte wissen, daß er das ganze Land gegen uns aufbringen würde. Er hat es leicht. Wenn er will, kann er in ein Flugzeug steigen und ist weg. Aber wer von uns hat schon eine Luftflotte zur Verfügung?« »Das hieße also, daß auch du davon überzeugt bist, daß Mussolini Matteotti umbringen hat lassen?« »Wer denn sonst? Glaubst du, ich hätte es getan?« »Ein grandioser Sieg«, warf ich ein. »Das Imperium kann stolz sein. Glaubst du noch an das Imperium?« »Imperium, laß mich in Ruhe mit dem Imperium«, erwiderte er zornig. »Man wird uns alle umbringen, und wir werden nicht einmal ein anständiges Begräbnis bekommen!« Mussolini schloß sich im Viminal, dem Sitz des Innenministeriums, ein. Infanteriebataillone übernahmen den Schutz. Der Duce zog es vor, seine Sicherheit nicht der Miliz anzuvertrauen. Einige Tage nach dem Verschwinden Matteottis war die Generalmobilmachung der römischen Miliz angeordnet worden, doch das Unternehmen war kläglich gescheitert. Viele Familien hatten die Milizangehörigen nicht ausrücken lassen, weil sie sich vor der Wut der Bevölkerung fürchteten. Die Mutigsten waren unterwegs umgekehrt, nachdem die Menschen auf den Straßen sie mit Hohn und Spott überschüttet hatten. Der ganze Faschismus schien in Agonie zu liegen. Wie lange würde er noch durchhalten? Wenn fünfhundert beherzte Antifaschisten damals die Ministerien angegriffen hätten, das ganze Volk von Rom wäre mit ihnen marschiert, und Mussolini hätte die Macht ebenso rasch wieder verloren, wie er sie gewonnen hatte. In den anderen Hauptorten war die Lage nicht viel anders. Die Zeitungen tobten gegen den Faschismus, auch die bescheidensten Provinzblätter nahmen sich kein Blatt vor den Mund. Die faschistischen Parteilokale blieben in vielen Provinzen geschlossen. Niemand kaufte eine faschistische Zeitung. [ 176 ]

Die Miliz war wie vom Erdboden verschluckt. Aber die Führer der Antifaschisten dachten nicht an eine Erhebung. Das hätte ihrer Mentalität und ihrer Haltung widersprochen. Die Opposition wies jeden Gedanken an ein illegales Unternehmen weit von sich. Der Aventin war konstitutionell, verfassungstreu; er berief sich auf die Parlamentsordnung und auf die Verfassungsgesetze, von daher bezog er auch seine Rechtfertigung und seine moralische Kraft. Die alten Parlamentarier sammelten alle Präzedenzfälle: Rücktritte von Regierungschefs und Ministern wegen geringster Verfehlungen, die sich in Italien, in Frankreich oder in Großbritannien ereignet hatten. Die Verfassung wurde in allen möglichen Richtungen ergründet, kommentiert, auf ihre Aussage und auf ihren Geist hin geprüft. Für den Aventin stand fest, daß der Duce die Pflicht hatte, zurückzutreten, und daß er unter dem Druck der öffentlichen Meinung oder durch ein Machtwort des Souveräns zum Rücktritt gezwungen sein würde. Doch die Regierung Mussolini war keine gewöhnliche parlamentarische Regierung, und der König hatte sich mit dem Faschismus so sehr kompromittiert, daß er nicht im Traum an die Zerstörung seines eigenen Werkes denken konnte. Obendrein hatte die Opposition keine Waffen – der Faschismus dagegen war mehr oder weniger gut bewaffnet. Dem Aventin gehörten die folgenden Gruppierungen an: die christlichsozialen Popolari, die reformistischen Sozialisten, die Linkssozialisten, die Demokraten und die Republikaner. Nur die Republikaner plädierten für eine Volkserhebung. Sie waren jedoch nicht mehr als eine Handvoll Leute; außerdem widerstrebte es ihnen, die Einheit zu zerstören, die der Aventin im Parlament und im Lande geschaffen hatte. Sie wollten die Kommunisten nachahmen, die sich zunächst, zwei Tage lang, dem Aventin angeschlossen hatten und dann wieder ausgezogen waren. Die Kommunisten hatten sich auf diese Weise isoliert, niemand folgte ihnen, der Schritt hatte ihre Unfähigkeit zur legalen und zur revolutionären Aktion dramatisch offenbart. Mit Ausnahme der Republikaner und der Kommunisten widersetzten sich alle Parteien auf Grund ihrer politischen Prinzipien jeder illegalen Aktion. Es liegt auf der Hand, daß der Aventin – als Summe [ 177 ]

gesetzestreuer Parteien – nur im Rahmen der striktesten Legalität wirken konnte. Seine Kraft waren die Einheit und der breite Konsens im Volk. Er war sich der Tatsache bewußt, daß die große Mehrheit der Bevölkerung hinter ihm stand. Wenn der König damals die Bedeutung des historischen Augenblicks erkannt und der Volksstimmung gemäß gehandelt hätte, die Monarchie hätte sich in Italien auf Jahrhunderte hinaus konsolidieren können – wie in England. Und ich schließe die Möglichkeit nicht aus, daß wir Republikaner dann vom wütenden antifaschistischen Volk an Bäumen und Laternenpfählen aufgeknüpft worden wären. König Vittorio Emanuele III. hielt sich gerade in Spanien auf. Er beglückwünschte Alfonso XIII. zum Geschick, mit dem er – in der Auslegung der verfassungsrechtlichen Pflichten dem italienischen Vetter folgend – sich des Parlaments und der Politikerkaste entledigt hatte. Daß Alfonso XIII. sein Geschick dem – leider – nur hölzernen Schwert des Generals Primo de Rivera anvertraut hatte, konnte Vittorio Emanuele nicht ahnen; zunächst sieht jedes Schwert neu und mächtig aus. Wäre der König aus England nach Italien zurückgekehrt, dann hätte er seine Entscheidung wahrscheinlich gründlich erwogen. Vittorio Emanuele III. kam jedoch aus Spanien heim nach Rom, und auf der Iberischen Halbinsel hatte er nur Generäle und Oberste, Bischöfe und Kardinäle, Granden der spanischen Krone und Ritter des Heiligen Grabes zu Gesicht bekommen. Die Luft, die er vor der Heimkehr ins Vaterland geatmet hatte, enthielt keine Spuren von demokratischem Sauerstoff. Niemand hatte ihm in Madrid die Grundprinzipien des liberalen Staates in Erinnerung gebracht. Während der König sich in Madrid auf die Heimkehr vorbereitete, brachte Mussolini der öffentlichen Meinung, die ihn arg bedrängte, ein erstes Opfer: Er zwang den Staatssekretär im Innenministerium, onorevole Finzi, zum Rücktritt. Finzi schloß sich nach der Aussprache mit Mussolini in seiner Wohnung ein. Er glaubte, der Duce wolle ihm ans Leben. Er verrammelte Fenster und Türen, rief ein paar bewaffnete Freunde zu Hilfe und verfaßte ein Memorandum, in dem er Mussolini als den Auftraggeber des Mordes an Matteotti bezeichnete. Dieses Memorandum ließ er den Führern der Opposition in die Hände spielen. [ 178 ]

Als nächster kam Cesare Rossi an die Reihe. Er verlor seinen Posten als Chef des Pressebüros des Ministerpräsidenten. Da er befürchtete, daß es damit nicht genug sei, schrieb er den berühmt gewordenen – und im Kreis der Vertrauten sofort publik gemachten Brief an den Duce: »Du zitterst bereits in panischer Angst. Sollte Dein Zynismus Dir raten, mich ermorden zu lassen, um mich zum Schweigen zu bringen, so laß Dir gesagt sein, daß Deine politische Karriere und die Amtsdauer Deiner Regierung damit beendet wären.« Auch Rossi verfaßte ein Memorandum und verkroch sich vor Angst in einem Versteck, in dem niemand ihn finden konnte. Filipelli büßte seinen Posten als Chefredakteur ein und flüchtete aus Rom. Auch er verfaßte ein Memorandum: Bekenntnisse im Angesicht des Todes. »Finzi zurückgetreten. Rossi entlassen!« Gierig nahmen die Italiener die Kunde auf. Der Aventin lenkte und leitete diesen unblutigen Feldzug mit meisterhafter Strategie. Mussolini entledigte sich im Handumdrehen seines gesamten Generalstabs: Er warf wertvollen Ballast über Bord, um den Schiffbruch zu vermeiden. Nun kam auch General De Bono an die Reihe. Er mußte sein Amt als Leiter der Abteilung für öffentliche Sicherheit zur Verfügung stellen. Weinend lief er durch Rom und verglich sich mit der tragischen Gestalt Belisars. Aber das Volk begnügte sich nicht mit diesen Opfern. Es verlangte den Rücktritt des Regierungschefs. Sogar unter den Faschisten wurden Komplotte gegen den Duce geschmiedet: Onorevole Delcroix fahndete fieberhaft nach einem möglichen Nachfolger. Mussolini aß nicht mehr – der Appetit war ihm vergangen. Farinacci vertraute Freunden unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, der Duce habe acht Kilo verloren. Trübe Tage für den Diktator. Am Nachmittag des 16. Juni kehrte der König aus Spanien nach Rom zurück. Halb Rom strömte zum Bahnhof. Das Exekutivkomitee des Avertins wußte nicht, was es tun sollte. Durften und sollten die Vertreter der monarchistischen Opposition um eine Audienz [ 179 ]

beim König nachsuchen? Was würde geschehen, wenn der König die Audienz verweigerte? Im letzten Augenblick setzte sich die Erkenntnis durch, daß es in jedem Fall ratsamer sei, dem König nur das Memorandum des Exstaatssekretärs Finzi zukommen zu lassen. Mussolini galt den meisten als tot und erledigt. Doch von Memoranden ist noch nie jemand getötet worden. Der König war wieder in Rom. Ganz Italien hing an seinen Lippen. Aber die Pflichten der Krone sind mannigfaltig. Die ganze Affäre wurde rasch im Schoße der Familie bereinigt. Mussolini demissionierte, aber nur als Innenminister; die Leitung dieses Ressorts übernahm der Nationalist Federzoni, ein Mann, der als Legalist galt und der das Vertrauen des Königs genoß. Dumini und seine Bande wurden verhaftet. Auch Filippelli, Marinelli und Rossi saßen hinter Schloß und Riegel. Was wollte man mehr? Die Opposition ließ sich durch diese Manöver verwirren, aber im Land gärte es weiter. Am 24. Juni sprach Mussolini im Senat: »Von nun an gelten nur noch Klarheit und Gerechtigkeit. Die letzten Reste der überholten, unheilvollen Ungesetzlichkeit werden ausgemerzt. Die Herrschaft des Rechts wird für immer wiederhergestellt werden.« Der Senat war zufrieden. Einige Teile der Rede Mussolinis gingen in tosendem Applaus unter. Senator Spirito klatschte und jubelte derart heftig, daß er mit einem Asthma-Anfall in die Erste-Hilfe-Station gebracht werden mußte. Auch die Faschisten waren zufrieden. Sie zeigten sich wieder in der Öffentlichkeit, in den schwarzen Hemden, mit Revolvern und Dolchen und schrien: »Viva Dumini!« An den Milizkasernen tauchte eine Aufschrift auf: »Wer die Miliz anrührt, bekommt Blei!« Nach und nach holte Mussolini die acht Kilo, die er zunächst verloren hatte, wieder auf; ja er nahm sogar zwei weitere Kilo zu. Zeit heilt alles. Nun konnte er wieder rückhaltlos sagen, was er dachte: »Sollten unsere Feinde eines Tages Gelüste verspüren, von ihrem Geschwätz zu Taten überzugehen, so werden wir sie zu Streu und Stroh zertrampeln.« [ 180 ]

Der Aventin verspürte keine Gelüste dieser Art. Nun tröstete man sich mit dem Gerücht, daß der Duce – trotz seines blühenden Aussehens – an Magengeschwüren leide. Besonders gut informierte Gewährsleute versicherten, daß die Geschwüre tödlich seien. Man setzte alles Vertrauen auf die Mikroben. Im August wird der Leichnam Matteottis gefunden. Sofort ist das Land wieder in Aufruhr. Der Kampf beginnt von neuem, mit vermehrter verbaler Schärfe. Und wiederum wird der 4. November – der Tag des Sieges – zu einem Schicksalstag. Offensichtlich eignet sich dieses Datum besonders gut für große Verschwörungen. Die Kriegsinvaliden organisieren in ganz Italien große Volksversammlungen. Der Tag des Sieges wird zu einer gewaltigen Kundgebung gegen den Faschismus. Niemand hatte zu hoffen gewagt, daß die Abneigung gegen das Regime so tief sitze und so allgemein sei. »Die Ereignisse dieses Tages«, erklären die monarchistischen Oppositionellen, »haben dem König die Augen geöffnet. Jetzt muß und wird er sich entscheiden.« Manche wollen gar wissen, der König habe die antifaschistischen Kundgebungen ausdrücklich erbeten. Der König scheint indessen von dem außergewöhnlichen Spektakel nichts gemerkt zu haben. Als letzte Munitionsreserven in der sich bereits zu Ende neigenden Schlacht werden die Memoranden hervorgeholt. Die Führer des Aventins hatten diesen Papieren eine entscheidende strategische Rolle zugedacht. Die Memoranden von Filippelli und Rossi werden dem König durch Mittelsmänner im Quirinal übergeben. Der König nimmt die Papiere ungerührt entgegen. Amendola hat das ewige Warten satt. Am 29. Dezember veröffentlicht er in der Zeitschrift Il Mondo das Memorandum Rossis. Die meisten Zeitungen Italiens drucken das Dokument nach. Die Causa ist dem König entzogen und wieder direkt in die Hände der Nation gelegt. Wird sie als Berufungsinstanz Recht schaffen? Das Land lodert vor Wut und Empörung. Ist es also wahr, daß Mussolini Auftrag gegeben hat, Matteotti zu entführen und zu ermorden? Undenkbar, daß der Mann auch nur einen Tag länger Regierungschef bleibt. Man verlangt die Veröffentlichung des Filippelli-Memorandums. Dieses soll dem Duce den Gnadenstoß versetzen. [ 181 ]

Mussolini verteidigt sich, indem er angreift. Er verhängt eine präventive Pressezensur und ordnet die Generalmobilmachung der Miliz an. In der Tat, diesmal hat Mussolini keine Zeit zu verlieren. Drei Minister demissionieren, weil sie nicht als Komplizen des Duce dastehen wollen. Aufgrund einer ihm vom König zugegangenen Information mahnt Amendola zur Ruhe, zum Maßhalten: Mussolini werde zum Rücktritt gezwungen werden. Der Aventin bedarf solcher Warnungen nicht: Er ist die institutionalisierte Ruhe. An die dreißig illustre Persönlichkeiten bekunden nach anfänglichem Zögern – ihre Bereitschaft, sich für die Nation zu opfern und das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen. Auch Delcroix meldet seine Kandidatur für das Amt an, wiewohl ein solcher Schritt, wie er betont, seiner allgemein bekannten Bescheidenheit schlecht anstehe. Dreißig Ministerpräsidenten auf einmal sind nicht ohne weiteres unterzubringen. Jeder ist sich seiner Sache gewiß, und manche begeben sich schon auf die Suche nach Ministern. In einem halben Tag gibt es nicht weniger als dreihundert Anwärter auf Regierungsämter. Der Sieg scheint zum Greifen nahe. Ein Korrespondent in Rom meldet seiner Zeitung in Reggio Calabria, die Regierung Mussolini sei gestürzt. Im Nu ist die ganze Stadt auf den Beinen. Man läßt Arbeit Arbeit sein, schließt Läden und Werkstätten und feiert das Ereignis. In einem breiten Strom wälzt sich die Bevölkerung durch die Straßen, holt die Oppositionspolitiker aus den Häusern und trägt sie auf den Schultern im Triumphzug mit. Die besonders kompromittierten Faschisten tauchen unter. Die andern beteuern, sie hätten vom vergangenen Regime genug, und bitten, sich dem Festzug anschließen zu dürfen. Die Antifaschisten lassen sich rühren. Keine nachträgliche Rache! Allgemeine Verbrüderung! Der Präfekt und der Polizeipräsident erklären, sie hätten ihr Amt im Interesse des Landes nicht ablehnen können. Man vergibt auch ihnen. Strich unter die Vergangenheit. Man feiert die wiedergewonnene Eintracht. In Gonnessa auf Sardinien veröffentlicht ein faschistisches Lokalblatt zum Spaß die Nachricht vom Rücktritt Mussolinis. Die [ 182 ]

Menschen hatten schon so lange auf diese Nachricht gewartet, daß sie die Geschichte sofort für bare Münze nehmen. Das ganze Dorf ist auf der Straße. Die faschistischen Anführer von Gonnessa haben weniger Glück als ihre Gesinnungsgenossen in Reggio: Sie können nicht mehr rechtzeitig fliehen und werden von den Leuten übel zugerichtet. Die unbedeutenden Faschisten sperren sich in ihren Häusern ein. Ihre Frauen bitten händeringend um Gnade und Großmut für die Männer. Die Gnade wird gewährt. Menschen, die nie zuvor eine Rede gehalten haben, sprechen öffentlich zum Volk. Einmütig werden unter freiem Himmel Glückwunschtelegramme an die neue Regierung beschlossen. Es gibt keine neue Regierung. Mussolini ist nach wie vor im Amt. Das Land bebt vor Erregung. Am 3. Jänner 1925 hält Mussolini in der Kammer eine Rede. »Ich erkläre vor dieser Versammlung und vor dem italienischen Volk, daß ich allein die moralische, politische und historische Verantwortung für alles übernehme, was geschehen ist.« Der Kampf ist aus, die Schlacht verloren. Alle Hoffnungen sind zunichte. Der Aventin – gedemütigt, geschmäht – ist am Ende. Der 3. Jänner signalisiert die Geburt einer neuen Ordnung. Jene Faschisten, die aus Angst, Mussolini sei mitschuldig an der Entführung und Ermordung Matteottis, das Parteiabzeichen vom Rockrevers entfernt hatten, stecken es nun, da die Befürchtung zur Gewißheit geworden ist, eiligst wieder an. Nun kann auch die Gerechtigkeit – jenseits des verworrenen demokratischen Geschwätzes – ihren Lauf nehmen. Um von vornherein Klarheit darüber zu schaffen, welcher Art die neue Zeit sein wird, ernennt Mussolini Farinacci zum Generalsekretär der faschistischen Partei. Farinacci ist der Marat der faschistischen Revolution. Für Marinelli, Rossi und Filippelli werden eigene Amnestiedekrete erlassen; die drei Musketiere verlassen das Gefängnis, ohne den Gerichtssaal gesehen zu haben. Der Fall De Bono kommt zwar vor den hohen Militärsenat, doch wird der General in der Voruntersuchung freigesprochen. Die fünf Mann der Dumini-Bande werden von einem Geschworenengericht dem Va[ 183 ]

terland und der aktiven Politik wiedergegeben. Überall herrschen eitel Glück und Zufriedenheit. Immerhin, die Recken müssen ihren Lohn für die ausgestandene Qual erhalten. Der schweigsame Marinelli, der einzige, der in stoischer Ruhe jeder Anfechtung, ein Memorandum zu schreiben, widerstanden hat, erhält seine Auszeichnung sofort, gewissermaßen noch vor den Augen des Feindes: Mussolini macht ihn zum Generalinspektor der Partei, und der König erweist ihm die außerordentliche Ehre einer Privataudienz. General De Bono wird Kolonialminister: Als solcher kann er die in der Heimat teuer erprobten Praktiken mit gleichem Erfolg, aber geringeren Skrupeln gegen Araber und andere Afrikaner einsetzen. Auch diese Tragödie hat ihren Epilog. Die Witwe Matteotti und ihre beiden Buben werden auf offener Straße als Unruhestifter und Provokateure beschimpft. Der Abgeordnete Giovanni Amendola, der puritanische Feldherr des waffenlosen Heeres der Regimegegner, wird auf faschistische Art in den ewigen Schlaf befördert. Die italienischen Frontkämpfer wollen das letzte Wort in dieser Affäre haben. Sie halten in Assisi, in der Heimat des heiligen Franziskus, ihren Kongreß ab. Trotz aller Einschüchterungsversuche beschließen sie mit großer Mehrheit eine Resolution, in der sie das Regime tadeln und die Wiederherstellung aller verfassungsmäßigen Freiheiten verlangen. Der Präsident der Frontkämpfer-Vereinigung, der Abgeordnete Viola, begibt sich mit einer Delegation des Kongresses zum König, der sich gerade auf seinen Gütern in San Rossore aufhält. An den steifen Heldenbrüsten, die nicht zu atmen wagen, glänzen und funkeln die goldenen Tapferkeitsmedaillen. Onorevole Viola steht kerzengerade da, die Hacken gegeneinander geschlagen, und verliest dem König die Resolution. Dann erläutert er den Beschluß in einigen wohlgesetzten, aber durchaus offenen Worten. Es ist ein feierlicher Augenblick. Der Abgeordnete Viola fühlt sich als Mandatar des italienischen Volkes, als Inkarnation all dessen, was die Söhne dieses Volkes im Krieg gelitten und vollbracht haben. Jeder in der Delegation denkt: »Jetzt ist die historische Stunde da.« Alle halten den Atem an. Nur ihre Augen verraten den Ernst der ihnen aufgetragenen Mission. Nie hat eine heidni[ 184 ]

sche Abordnung mit ähnlichem Bangen der Stimme des Orakels geharrt. Der König hört sich mit blassem Gesicht die Resolution und die Rede an. Dann setzt er ein düster-gespenstisches Lächeln auf und sagt: »Meine Tochter hat heute morgen zwei Wachteln geschossen.« Die Delegation ist wie vor den Kopf geschlagen. Die Veteranen erblassen. Einer antwortet verwirrt, zitternd, in kaltem Schweiß gebadet und mit dem gespenstischen Lächeln des Königs: »Oh, ich mag Wachteln gern, gebraten, mit Erbsen.« Damit endet die Geschichte der feierlichsten Botschaft, die das italienische Volk seinem Souverän zukommen ließ, um die Freiheit zu retten. Der Abgeordnete Viola schüttete mir sein Herz aus. Er schloß die Erzählung über die Episode in San Rossore mit dem Ausruf: »Aber wir werden aufrecht sterben!« Es ist beinahe überflüssig anzumerken, daß auch onorevole Viola sich hat beugen lassen. Welchen Sinn hat es, dem unbesiegbaren Feind den Weg verstellen zu wollen? Ist es nicht klüger, man wirft die Flinte ins Korn und schließt sich dem Sieger im Sieg an?

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er Aventin lebt nur noch von weinerlichen Erinnerungen. Die Trumpfkarte der Opposition – die Intervention des Königs – hat nicht gestochen. Andere Trümpfe gibt es nicht. Die Demokratie ist auf ihrem eigenen Boden, dem der Gesetze und der Moral, geschlagen worden; die politische Auseinandersetzung ist zu einer Frage der Gewalt verkommen. Der Demokratie bliebe nur noch die Möglichkeit, ihrerseits Gewalt anzuwenden. Doch fehlt ihr dazu das psychologische Rüstzeug. Den Geist zur gewaltsamen Aktion erzieht man sich nicht von heute auf morgen an. Der Faschismus holt das während der Matteotti-Krise verlorene Terrain Schritt für Schritt wieder auf. Mit einiger Geduld gelingt es Mussolini, auch die Armee in seine Hand zu bekommen: Er wird Kriegsminister. Onorevole Amendola wird von einer Bande Faschisten überfallen und brutal zusammengeschlagen. Er stirbt wenig später in einer französischen Klinik an den Folgen der Verletzungen. Der Chef der Bande, onorevole Scorza, wird für diese Aktion zum stellvertretenden Generalsekretär der faschistischen Partei befördert. Die katholischen Abgeordneten nehmen den Tod der KöniginMutter zum Anlaß, um den Aventin zu verlassen und ins Parlament des Regimes zurückzukehren; damit ist die parlamentarische Sezession praktisch beendet. Doch die Faschisten treiben die Popolari mit Gewalt wieder aus dem Parlament. Der Aventin verläuft sich, während der Duce allmächtig wird. Einige Attentate – von denen man nicht weiß, ob sie echt oder bestellt sind – verleihen ihm eine Patina unverwundbarer Heiligmäßigkeit und liefern den [ 186 ]

Vorwand für ein allgemeines Wiederaufleben der Gewalttätigkeiten. Die Sozialistische Partei und die Freimaurerei werden verboten. So verstreichen zwei Jahre in Erwartung der Schicksalsstunde, in der man endlich das schwarze Imperium ausrufen kann. Am 31. Oktober 1926 wird während einer faschistischen Massenversammlung in Bologna ein Pistolenschuß auf den Duce abgefeuert. Wer war der Schütze? Der Fall ist auch heute noch ein Geheimnis. Die Menge greift einen Täter auf: einen ehemals faschistischen, 16 Jahre alten Jugendlichen namens Zamboni. Er wird vor den Augen des Duce gelyncht. Ein Orkan blindwütigen Terrors bricht über Italien herein. Die bekannten Vertreter der Opposition müssen sich vor der Wut der Fanatiker in Sicherheit bringen; ihre Wohnungen werden geplündert, verwüstet. Die Redaktionen der Zeitungen, die das Regime bekämpft haben, werden gestürmt und zerstört. Es sind Tage des Schreckens. Ich saß an diesem 31. Oktober daheim, in Cagliari, in meiner Wohnung. Gegen neun Uhr abends kam völlig außer Atem ein Freund zu mir, um mir mitzuteilen, die Faschisten bliesen zur Sammlung. Wir beschlossen, gemeinsam in die Stadt zu gehen, um nachzusehen, was los war. Im Haustor stießen wir auf einen anderen Freund. Er wußte Näheres. Die Faschisten und die Präfektur hatten die Nachricht vom Mordanschlag auf den Duce erhalten. »Ich habe mir heimlich eine Kopie des Telegramms beschaffen können. Alle Faschisten sind mobilisiert worden, auch hier, um Vergeltungsmaßnahmen durchzuführen. Dein Leben ist bedroht. Du bist nicht sicher in deinem Haus. Du mußt sofort die Stadt verlassen. Versteck dich bei verläßlichen Freunden.« Während er sprach, hörten wir die Trompetensignale, die die squadristi zur Sammlung riefen. Ich ging zurück in die Wohnung und schickte die Haushälterin fort. Nun brauchte ich mir nur mehr um mich selbst Gedanken zu machen. Als ich zum Haustor zurückkam, erwarteten mich schon neue Nachrichten: Die Faschisten sammelten sich in ihrem Haupt[ 187 ]

quartier; sie setzten Autos ein, um die Leute rascher zum Sammelplatz zu bringen; man habe Morddrohungen gegen mich gehört. Ich verabschiedete mich und ging in ein Restaurant, das nur wenige Schritte von meiner Wohnung entfernt war. Während ich beim Essen saß, erfuhr ich, daß die Faschisten die Schließung der Theater, Kinos und anderer Stätten öffentlicher Belustigung angeordnet hatten; die faschistischen squadre zogen bewaffnet durch die Straßen; in der fascio-Zentrale organisiere man eine Strafexpedition gegen mich; die Anführer hielten feurige Reden, um die Mannschaften in kämpferische Ekstase zu versetzen; in spätestens einer halben Stunde würden die Faschisten bei mir sein. Der Kellner, der mich bediente, war während des Krieges Soldat in meinem Bataillon gewesen. Obwohl er inzwischen der faschistischen Partei beigetreten war, bewahrte er mir, seinem einstigen Offizier, gegenüber die alte Achtung. Er war sehr verlegen. Er vermied es, mit mir zu sprechen. Ich ermutigte ihn auch nicht dazu. Schließlich platzte es nach einigen verlegenen Anläufen aus ihm heraus: »Herr Hauptmann, ich beschwöre Sie, ich kenne die Befehle, gehen Sie heute nicht nach Hause. Reisen Sie sofort ab. Es kann sich nur um ein paar Tage handeln. Dann wird alles wieder in Ordnung kommen. Sie werden sehen.« »Glaubst du, daß ich recht habe oder daß ich im Unrecht bin?« fragte ich ihn. »Sie haben vollkommen recht«, antwortete er. Er errötete und nahm automatisch Habtachtstellung an. »Wenn ich recht habe, warum sollte ich dann davonlaufen?« Die Frage verwirrte ihn noch mehr. Er wußte keine Antwort und schwieg. Als ich ging, fragte ich ihn noch: »Warum bist du eigentlich Faschist geworden?« »Herr Hauptmann«, sagte er, »die Zeiten sind schwer. Man hat mir das Blaue vom Himmel versprochen ... Wer kann heute schon gegen die fasci leben?« In einer knappen Minute war ich zu Hause. Meine Wohnung lag im ersten Stock. Fünf Fenster gingen hinaus auf den Platz. Neben mir im gleichen Stock wohnte ein Richter, Rat des Berufungsgerichts; ich wußte, daß er zu Hause war. Ich läutete mehrmals an [ 188 ]

seiner Tür. Ich wollte ihn unter Berufung auf sein Gewissen als Richter bitten, daß er – was immer geschehen sollte – Zeugnis über die gegen mich angewandte Gewalt ablege. Niemand rührte sich. Offensichtlich saß dem Richter die nackte Angst in den Knochen. Die höheren Stockwerke schienen unbewohnt; die Familien hatten wohl bei Freunden Zuflucht gesucht. Der Platz vor dem Haus – der zentralste der Stadt – war wie ausgestorben. Tore, Läden, Fenster – alles war verschlossen. Aus der Ferne hörte ich den Gesang der Faschisten. Ich war allein in einem leeren Haus. Sorgsam bereitete ich mich auf die Verteidigung vor. Ein Jagdgewehr, zwei Revolver aus dem Krieg, genügend Munition. Zwei schwere, eiserne Streitkolben, Trophäen aus dem Krieg gegen die Österreicher, hingen an der Wand. Zwei junge Freunde stürzten die Treppen herauf und teilten mir aufgeregt mit, daß eine starke Faschistenkolonne zu mir unterwegs sei; die Faschisten forderten meinen Kopf. Als ich ihnen sagte, daß ich nicht an Flucht dächte, boten sie sich an, mir bei der Verteidigung zu helfen. Ich mußte sie unter Aufgebot meiner Autorität zwingen, die Wohnung und das Haus zu verlassen. Kaum war das Haustor ins Schloß gefallen, hörte ich das Geschrei der näherrückenden Kolonne. Drohend wurde mein Name gerufen. Ich löschte die Lichter und lehnte die Jalousien an. So konnte ich, ohne gesehen zu werden, verfolgen, was auf dem taghell erleuchteten Platz vorging. In der Straße, die rechts von meinem Wohnhaus auf den Platz mündete, befand sich die Druckerei der christdemokratischen Zeitung Il Corriere. Die Faschisten stürmten das Gebäude und plünderten es. Dann kam die Kanzlei des Advokaten Angius an die Reihe. Die Faschisten hatten das Büro in wenigen Minuten verwüstet. Nachdem diese beiden Unternehmungen erfolgreich beendet waren, wandten sich die Faschisten meinem Haus zu. »Nieder mit Lussu!« »A Morte!« Die Kolonne wurde von Graf Cao, meinem einstigen Kollegen und Freund, befehligt. Seit Jahren hatte ich kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Trotzdem überraschte es mich, ihn an dem Abend [ 189 ]

an der Spitze der bewaffneten Strafexpedition gegen mich zu sehen. Ich sah in den Reihen der Schwarzhemden auch einige andere bekannte Gesichter wieder. Am meisten verwundert war ich über die Anwesenheit eines gewissen Fois aus Cagliari, eines Anarchosyndikalisten, der einst die Gewerkschaft der Seeleute aufgebaut und geführt hatte. Fois, früher ein überzeugter Antifaschist, war von den Faschisten mehrfach überfallen und verhaftet worden. Als die Faschisten dann die Büros seiner Gewerkschaft besetzt hatten, war er arbeitslos und wußte nicht, wie er seinen Lebensunterhalt verdienen sollte. Also beschloß er, nach Frankreich auszuwandern; ich schrieb ihm Empfehlungsbriefe für einige Freunde und bat sie, ihm Arbeit zu beschaffen und auch sonst in jeder Hinsicht zu helfen. Vor seiner Abreise nach Frankreich kam er zu mir: Wir sprachen damals lange über die Schwierigkeiten, denen er sich gegenübersah, vor allem über die Sorgen um seine Familie, die Frau und drei Kinder. Seine Kinder hießen Libertà, Spartaco und Libero. In Frankreich gelang es ihm nicht, Arbeit zu finden. Verzweifelt kehrte er nach Cagliari zurück. Ende September war er, wie ich erfuhr, dem fascio beigetreten. Die Faschisten hatten ihm daraufhin wieder die Leitung seiner – indessen faschistisch gewordenen – Gewerkschaft übertragen. Traf er einstige Gesinnungsgenossen, so rechtfertigte er seinen Fahnenwechsel mit dem Hinweis auf seine drei Kinder, die schließlich essen müßten: sein anarchosyndikalistischer Glaube, beteuerte er, sei jedoch unerschütterlich. Ich frage mich jetzt noch, weshalb er an jenem Abend – bewaffnet unter den anderen Bewaffneten – mir den Henker an den Kragen wünschte. Ich weiß, daß er später die Namen seiner Kinder dem neuen herrschenden Geist der Zeit angepaßt hat. Es ist wohl nicht ganz unwahrscheinlich, daß die jungen Fois, sollten Zeiten und Umstände sich wieder ändern, abermals umgetauft werden. Ich habe einmal die Geschichte eines Christen gelesen, der in maurische Gefangenschaft geriet und im Berberland Gelegenheit fand, siebenmal zu konvertieren, vom Christentum zum Islam und umgekehrt. [ 190 ]

Möglicherweise hätte ich auch andere Bekannte identifizieren können, wenn mir die Zeit dazu geblieben wäre. Aber plötzlich hörte ich ein Krachen, das mir verriet, daß die Angreifer das Haustor aufgebrochen hatten. Im Nu füllte sich der Treppenaufgang mit einer wild durcheinander brüllenden Meute. Ich hatte angenommen, die Wohnungstür werde sofort nachgeben, und hatte meine Verteidigung danach eingerichtet. Aber die Tür hielt stand. Ich warnte die Faschisten, daß ich sie mit der Waffe in der Hand erwartete. Draußen wurde es ruhiger. Offenbar sagten sich die Schwarzhemden nach den ersten vergeblichen Versuchen, die Tür aufzubrechen, daß man nicht unbedingt übertreiben solle. Die Kolonne auf dem Platz teilte sich in drei große Gruppen. Die erste blieb vor dem Haustor stehen, als strategische Reserve für jenen Haufen, der ins Stiegenhaus eingedrungen war; die zweite Gruppe versuchte, die Balkone vom Platz her zu erklimmen; die dritte schließlich begab sich zur Rückseite des Hauses, um vom Hof her in die Wohnung zu gelangen. So viel Kriegskunst hatte ich von den Faschisten nicht erwartet und ich würde Mühe haben, mich zugleich gegen drei von verschiedenen Seiten kommende Angriffe zu verteidigen. Ich rannte von einem Raum in den anderen, stets gefaßt, dem ersten Eindringling gegenüberzustehen. Ich gestehe, daß ich mich in meinem Leben schon behaglicher gefühlt habe als an jenem Abend. Auf dem Platz war die Hölle los: Alles tobte und schrie wild durcheinander. Die Menge feuerte die Männer an, die die Balkone stürmten. Als der erste Mann den Balkon erreicht hatte und über die Brüstung kletterte, schoß ich. Der Unglücksvogel stürzte hinunter auf den Asphalt. Erschreckt stob die Menge auseinander. Mit einem Mal war der Platz menschenleer. Auch im Stiegenhaus war alles still. Graf Cao di San Marco bemühte sich mehrfach, die Kolonne wieder zu sammeln und zu einem neuen Angriff zu führen – umsonst. Mein Haus kam den Faschisten offenbar gespenstisch vor. Der den Lesern bereits bekannte Herr Nurchis benahm sich als Führer der squadra disperata, der Kampfgruppe der Verzweifelten, alles eher [ 191 ]

als römisch-heldenhaft. Als er den Schuß hörte, fiel er in Ohnmacht; er glaubte, ich hätte auf ihn geschossen. Seine Kumpane ließen ihn liegen und setzten ihn vorderhand auf die Verlustliste. Nurchis war ein Veteran der manganello- und Rizinusölfeldzüge. Nach der Periode des sportlichen Ur-Faschismus hatte auch er sich in die Aktion gestürzt. Er galt als wagemutig, kühn und blutrünstig. In der Tat hatte er viele wagemutige Operationen gegen verlassene Häuser, unbewaffnete, einsame Feinde, gegen Frauen und Kinder unternommen. Er überstand auch den Schrecken jener tragischen Nacht: Nach einer kurzen Krise siegten bei ihm wieder der alte Hochmut und die Kommandantenallüren. Dank einem ärztlichen Zeugnis gelang es Nurchis sogar, sein schwindelanfälliges Temperament zu rechtfertigen. Die Fürsten der Partei sorgten dafür, daß der Skandal unter sich blieb. Eine halbe Stunde später erschien die Polizei. Zuerst tauchten Polizisten auf, dann kam ein gewaltiges Carabinieri-Aufgebot. Meine Wohnung wurde von allen Seiten streng bewacht. Nachdem das Haus von den Carabinieri umzingelt und der Platz kriegsmäßig besetzt war, kamen auch die Faschisten wieder, doch hielten sie sich in sicherem Abstand: zuerst einzelne stumme Späher, gleich danach die brüllenden Haufen. Sie hatten neuen Mut gefaßt. Jemand trommelte an die Wohnungstür. »Offnen Sie, onorevole!« Es war der Polizeipräsident. Ich erkannte seine Stimme. »Mein Ehrenwort, onorevole. Ich schwöre bei meinen Söhnen, ich bin nur da, um Sie zu verteidigen.« Sein Gefolge versicherte im Chor: »Wirklich, wir wollen Sie nur beschützen, onorevole.« Ich erläuterte dem Polizeipräsidenten durch die geschlossene Tür, daß ich mich in der unangenehmen Lage befände, seinen Beteuerungen nicht ohne weiteres vertrauen zu können. »Wenn Sie unbedingt wollen, treten Sie ein«, sagte ich. »Doch mache ich Sie darauf aufmerksam, daß es herinnen finster ist und daß ich mit meiner Pistole hinter der Tür stehe. Kommen Sie herein, aber allein, und die Hände hoch!« [ 192 ]

»Unmöglich«, sagte der Polizeipräsident. »Unmöglich! Ein Quästor des Königs kann nicht mit erhobenen Armen einen Raum betreten«, fügte er seufzend hinzu. »Gut. Wenn Sie nicht können, lassen Sie einen Kommissar hereinkommen.« Ich nannte ihm den Namen eines Kommissars, der ihn begleitete und dessen Stimme ich erkannt hatte. »Ausgezeichnete Idee«, lobte der Polizeipräsident. »Gehen Sie, Herr Kommissar!« Der Kommissar schlüpfte wie vereinbart mit erhobenen Armen durch die Tür. Unten auf dem Platz standen mittlerweile nicht weniger als tausend Carabinieri. Nach einer Stunde ließ ich den Polizeipräsidenten eintreten. Einigermaßen verlegen verkündete er mir persönlich den Haftbefehl. Ich holte das Strafgesetzbuch vom Regal und las ihm die Abschnitte über berechtigte Notwehr vor. Er setzte mir auseinander, daß er nur die eine peinliche Pflicht habe: mich zu verhaften. Da das Strafgesetzbuch nichts nützte, suchte ich Zuflucht bei der Verfassung. Ich sei Abgeordneter zum Parlament, sagte ich, und als solcher stünde ich unter dem Schutz des im Grundgesetz verankerten Rechtes auf Immunität, das den Mitgliedern des Parlaments während der Legislatur Unverletzlichkeit garantiere. Auch dieser Einwand fruchtete nichts. Ich wurde in Handschellen gelegt und von einer Abteilung Carabinieri ins Gefängnis geleitet. Die Stadt kam auch am nächsten Tag nicht zur Ruhe. Die Gewalttätigkeiten gingen weiter. Alle führenden Köpfe der Opposition wurden verhaftet. Die Faschisten plünderten ihre Wohnungen aus. Mein Wohnhaus erfreute sich weiterhin des Schutzes einer starken Carabinieri-Einheit. Für den erschossenen Faschisten ordnete die Regierung ein feierliches Begräbnis an. Alle Beamten, die Schüler der öffentlichen Schulen, die Miliz und Delegierte der fasci der ganzen Provinz, Vertretungen von Marine und Heer, die komplette Richterschaft, der Präfekt und der Kommandant des Divisionskommandos nahmen an der Begräbnisfeier teil. In den offiziellen [ 193 ]

Reden wurde der Tote mit den Helden des Risorgimento verglichen. Die Bevölkerung blieb der Zeremonie fern. Die Familie des Faschisten erhielt sofort die den Angehörigen von Kriegsgefallenen zustehende Pension. Später wurde eine Legion der avanguardisti, der paramilitärischen Parteijugend, nach dem Toten benannt. Graf Cao di San Marco wurde kurz nach dem Ereignis Staatssekretär im Verkehrsministerium. Es war der Lohn, wenn schon nicht für den Erfolg des Unternehmens, so doch für den guten Willen. Das Attentat von Bologna hatte einschneidende politische Auswirkungen. Alle Reisepässe wurden eingezogen, die Grenzen gesperrt. Alle Vereine und politischen Parteien wurden aufgelöst, alle Zeitungen mit Ausnahme der faschistischen verboten. Die Mandate der oppositionellen Abgeordneten wurden für verfallen erklärt. Alle im Verfassungsgesetz und im Strafgesetzbuch vorgesehenen Rechtsgarantien wurden annulliert. Um die Opposition wirksamer als bisher bekämpfen zu können, wurde die Todesstrafe wieder eingeführt und die Möglichkeit geschaffen, unbequeme Zeitgenossen auf Inseln zu deportieren. Das alte Regime war tot und begraben, der Faschismus unumschränkter Herr des Landes. Und über allem thronte als absoluter Herrscher der Diktator.

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ch verbrachte dreizehn Monate im Gefängnis meiner Heimatstadt. Das Leben im Gefängnis ist in Italien kein Vergnügen, in anderen Ländern wahrscheinlich auch nicht. Das Untersuchungsverfahren gegen mich hätte in einem Tag abgeschlossen werden können. Doch der Generalstaatsanwalt hielt es für angebracht, die Sache in die Länge zu ziehen. Vielleicht entsinnt sich der Leser noch jenes Freundes, der zuerst die Absicht geäußert hatte, sich die Adern durchzuschneiden, und der dann zum Faschismus übergelaufen war. Ich war auch sein Trauzeuge gewesen. Hier will ich seinen Namen nicht länger verschweigen. Es war Rechtsanwalt Giuseppe Pazzaglia, mein Spielund Studiengefährte. Eines Tages erschien er bedrückt in meiner Zelle und teilte mir den Beschluß der eben von den Faschisten eroberten Rechtsanwaltskammer mit, mich als Feind des Regimes aus den Reihen der Anwälte auszuschließen. Pazzaglia war Sekretär der Kammer. Ich erinnerte ihn an die fernen Selbstmordabsichten und äußerte mein Bedauern, daß er jener Eingebung nicht gleich gefolgt sei. Er erwiderte, ohne mir in die Augen zu schauen, daß er immerhin lebte, während ich hingegen eine Leiche sei. Damit hatte er sicher recht: er lebte. Das sah man ihm an: Er war dick, rund und gesund, ich war dagegen nur noch Haut und Knochen. Ich hatte mir in der feuchten, zugigen Zelle eine Bronchitis und eine Pleuritis geholt. Bei den häufigen nächtlichen Inspektionen bestand keine Möglichkeit, der Zugluft zu entgehen. Mancher Leser mag sich auch noch meiner beiden republikanischen Freunde entsinnen, die zur Zeit des Generals Gandolfo zu den [ 195 ]

Faschisten übergelaufen waren. Einer von ihnen, Prof. Paolo Pili, hatte, als ich verhaftet wurde, schon eine steile Karriere hinter sich: Er war Abgeordneter zum Parlament und Führer des fascio von Cagliari. Augusto Turati, der Generalsekretär der faschistischen Partei, hielt ihm Verweichlichung der Faschisten von Cagliari vor, die nicht imstande gewesen seien, mich trotz günstiger Umstände umzubringen. Um seine Härte zu beweisen, verfasste onorevole Pili geharnischte Artikel für die Lokalzeitungen, in denen er die Richter aufforderte, mit aller Strenge des Gesetzes gegen mich vorzugehen. Zwischen den Zeilen drohte er den Richtern Repressalien an. Freunden, die sich über soviel Haß verwundert zeigten, gestand er: »Wenn ich jetzt nicht lauter heule als die Wölfe, bin ich verloren.« Um seine Karriere zu retten, schrieb er sogar, daß es »ein Verbrechen gegen das Vaterland und die Menschheit wäre, wollte man einem tollen Hund (damit war ich gemeint) Milde zuteil werden lassen.« In der zum Beginn des Gerichtsjahres üblichen Rede bezeichnete der Generalstaatsanwalt meine Tat als »abscheuliches Verbrechen«. Graf Cao di San Marco stellte sich im Verlauf der Voruntersuchung als Zeuge zur Verfügung und sagte aus, er habe am bewußten Abend zu mir kommen wollen, um mich zu verteidigen, und nicht, um mich anzugreifen. Der Präfekt von Cagliari wurde in den Ruhestand versetzt, weil er erlaubt hatte, daß Carabinieri und Polizei sich als meine Parteigänger aufgeführt hatten. Ein bekannter squadrista und Freund des Herrn Nurchis, ein gewisser Baldussi, ließ es sich nicht nehmen, meine alte, kranke Mutter in unserem Bergdorf aufzusuchen und zu beschimpfen. Baldussi hatte am Angriff auf meine Wohnung teilgenommen und sich, wie andere auch, nach dem Schuß durch die Geschwindigkeit ausgezeichnet, mit der er den Platz verlassen hatte. Das hatte seiner Reputation bei den Kameraden arg geschadet. Daß die andern, die sich über ihn lustig machten, nicht minder rasch gelaufen waren, hatten die meisten vergessen und verdrängt. Durch sein kühnes, unerschrockenes Auftreten meiner Mutter gegenüber gelang es Baldussi, seinen Ruf einigermaßen zu reparieren. Alle öffentlichen Stellen, die sich mit mir befassen mußten, wurden von Partei- und Regierungsseite bearbeitet und unter Druck [ 196 ]

gesetzt. Der Generalstaatsanwalt verlangte in seinem Bericht zum Abschluß der Voruntersuchung, daß man mich vor das Geschworenengericht stelle. Das konnte zwanzig Jahre Zuchthaus bedeuten. In der Begründung des Antrags standen einige begeisterte Sätze über den »jungen, für das Vaterland gefallenen Helden«. In Italien ist der Generalstaatsanwalt direkt der Regierung unterstellt; sein Amt ist dem des Polizeidirektors näher als dem des Richters. Mussolini ließ die fasci Sardiniens wissen, daß der Prozeß gegen mich nicht vor einem insularen Gericht, sondern auf dem Kontinent stattfinden werde. Als wahrscheinlicher Gerichtsort wurde Chieti in den Abruzzen genannt. Dort würde ich die meinem Verbrechen angemessene, absolut unparteiische Richterschaft vorfinden. Das Geschworenengericht von Chieti war zu nationaler Berühmtheit gelangt, weil seine Geschworenen – alles Faschisten – während des Prozesses gegen die Mörder Matteottis den Angeklagten zu Beginn jeder Verhandlung freundlich die Hand geschüttelt hatten. Die Sarden lehnten sich gegen diese Demütigung der Insel auf und vereitelten die Pläne der Regierung. Selbst der Vater des erschossenen Faschisten weigerte sich, sich dem Verfahren gegen mich als Privatkläger anzuschließen. Er ließ mir durch gemeinsame Bekannte die Botschaft zukommen, daß er bedauere, seinen Sohn bei einem verbrecherischen Unternehmen verloren zu haben; viel größeren Schmerz verursache ihm jedoch der Umstand, daß ich im Namen seiner Familie zum Gegenstand so gemeiner und hartnäckiger Verfolgung geworden sei. Die Richter widerstanden allem Druck und sprachen mich in der Voruntersuchung frei. Das Strafgesetz und die Prozeßordnung waren noch nicht in faschistischem Sinne reformiert. Die Empörung der Faschisten kannte keine Grenzen. Sofort wurden lärmende Demonstrationen gegen die Richter und gegen mich organisiert. Professor Pili startete eine neue Pressekampagne gegen mich. Einige einflußreiche Faschisten schlugen vor, mich zu lynchen. Nach dem Freispruch hätte ich unverzüglich auf freien Fuß gesetzt werden müssen. Aber die Gefängnisse sind dem Innenministerium, nicht dem Justizministerium unterstellt. Ich wurde also weiter im Gefängnis festgehalten, »aus Gründen der öffentlichen [ 197 ]

Sicherheit«. Aufgrund der Ausnahmegesetze zur Verteidigung des faschistischen Staates trat eine Kommission zusammen und verurteilte mich auf administrativem Wege als »unversöhnlichen Feind des Regimes« zu fünf Jahren Verbannung. Als dies geschah, lag ich fiebernd im Bett. Meine Temperatur sank nie unter 38 Grad. Die Ärzte erklärten in einem Gutachten, daß meine Deportation auf eine Insel Mord wäre; nie würde ich das Klima überleben können. Der Duce erkundigte sich höchstpersönlich nach meinem Gesundheitszustand: Der ärztliche Befund wurde nach Rom telegrafiert. Einige Tage später traf in Cagliari die Weisung ein, ich sei sofort nach Lipari in Marsch zu setzen. Lipari ist eine kleine, felsige Insel im äolischen Archipel zwischen Sizilien und Kalabrien. Es war, als sollte ich auf einer Boje im offenen Meer ausgesetzt werden. »So kann er eines natürlichen Todes sterben, ohne daß auch nur ein Tropfen Blut vergossen wird«, erklärte Professor Pili seinen Freunden, die wegen der Milde des Urteils enttäuscht waren. Mein Gesundheitszustand ließ die sofortige Überführung nach Lipari nicht zu. Man mußte warten, bis das Fieber sank. Der Gefängnisarzt hielt sich an die gesetzlichen Bestimmungen und bescheinigte meine Transportunfähigkeit. Die zuständigen Regierungsstellen in Rom ordneten trotzdem an, mich sofort nach Lipari zu schaffen. Die Stadt, die von meinem bevorstehenden Abtransport erfuhr, war in heller Aufregung. Deshalb wurden Abteilungen des Heeres zur Sonderbewachung des Gefängnisses abkommandiert. Man befürchtete, ich könnte ausbrechen. Während der Nacht löste eine Inspektion die andere ab. Der Präfekt telefonierte fortwährend, um sich zu erkundigen, ob ich noch in der Zelle säße. Der Polizeidirektor wollte meiner Abreise aus dem Gefängnis persönlich beiwohnen. »Die Insel Lipari«, sagte er zu mir, »ist weltberühmt. Dort wächst eine Rebe, von der man einen vorzüglichen Dessertwein gewinnt.« Er kam auf mich zu und reichte mir die Hand. Ich antwortete trocken, daß ich keinen Alkohol trinke, und dispensierte ihn von allen weiteren Komplimenten. Die psychische Verfassung eines [ 198 ]

politischen Gefangenen ähnelt der eines Prinzen in einem despotischen Staat. Meine eigens nach Cagliari gekommene Mutter zu begrüßen, wurde mir nicht gewährt. Eilends wurde ich zum Hafen gebracht. Während der ganzen Fahrt sah ich in den Straßen nur ein Spalier von Soldaten und bewaffnete Fahrradpatrouillen. Die Kais waren menschenleer. Die Arbeit im Hafen ruhte. Überall standen Posten, Patrouillen drehten gelangweilt ihre Runden. Als ich zum Polizeiboot gebracht wurde, lief ein Fischerboot mit vollen Segeln in den Hafen ein. Ein junger Fischer erkannte mich und begriff sogleich, was vorging. Er richtete sich am Bug auf und schrie: »Viva Lussu! Viva la Sardegna! Es lebe Lussu. Es lebe Sardinien!« Das war der Abschiedsgruß meiner Insel. Die Patrouillen im Hafen stürzten sich auf das landende Boot. Ich sah gerade noch, wie der Fischer von Bewaffneten umringt wurde und dann im Getümmel verschwand. Während der Reise fieberte ich ununterbrochen. Zwei Tage später ging ich in Lipari an Land – in Handschellen und in Ketten gelegt. Ich war am Ende meiner Kräfte. »De profundis!« höhnte ein faschistischer Milizsoldat, als er mich kommen sah. Seine Freunde brachen in grölendes Gelächter aus. Offenbar bereitete ihnen die Vorstellung, daß ich bald sterben würde, Vergnügen. Sie ahnten nicht, daß der Überlebenswille eines politisch überzeugten Menschen – wenn man nicht mit Schwert oder Feuer dazwischenfährt – bei weitem stärker ist als der eines politischen Agnostikers. Ich wurde bald für die gespenstische Begrüßung entschädigt. Alte Freunde aus gemeinsamen politischen Kämpfen kamen mir entgegen. Die meisten saßen schon seit einem Jahr auf Lipari. Im Begrüßungskomitee befanden sich etliche Abgeordnete: Beltramini, Morea, Basso, Volpi, Picelli, Repossi, Rabezzana, Grossi, Binotti. Auch der Chef der Freimaurerei, Domizio Torrigiani, befand sich in der Runde. Noch am gleichen Tag konstituierten wir eine Kleinausgabe des Parlaments. Jemand brachte sogar den Antrag ein, wir sollten die Monarchie für verfallen erklären und die Republik ausrufen. Nach reiflicher Überlegung beschlossen wir jedoch, der Krone noch eine Chance zu geben. [ 199 ]

Ich habe nichts über mein Leben in der Gefängniszelle berichtet, ich will auch über mein Leben als Deportierter schweigen. Nur soviel: Gefängnis und Deportation sind im Grunde genommen dasselbe. Gefängnisbiographien sind eine langweilige Art von Literatur. Doch möchte ich versuchen, das Ambiente zu schildern und einen Eindruck vom Leben jener Schicksalsgefährten zu vermitteln, die sich auch auf der Insel befinden. Lipari ist die angenehmste der Inseln, auf denen das Regime seine Gegner zu internieren pflegt. Vor dem Faschismus waren hier gewöhnliche Verbrecher untergebracht, die als unverbesserlich galten. Das für die Deportierten reservierte Gebiet war etwa einen Quadratkilometer groß; heute ist es auf einige hundert Quadratmeter eingeschränkt. Alle Zugänge werden von Patrouillen und Wachposten abgeschirmt. Zu meiner Zeit kamen auf fünfhundert Deportierte dreihundert Polizisten und faschistische militi. Die Bewachung wurde seither verbessert: Heute kommen auf fünfhundert Internierte fünfhundert Milizsoldaten. Auf jeden Regimefeind ein Bewacher. Einigen wenigen Deportierten – Kranken oder solchen, die die Familie bei sich haben – ist es erlaubt, in Privathäusern zu wohnen. Die andern sind in den Kasematten innerhalb der Mauern des alten Schlosses untergebracht. Die Bevölkerung empfindet Sympathie und Mitgefühl für die Verbannten, doch sind alle Beziehungen zwischen den Einheimischen und den Deportierten streng verboten. In den zwanzig Monaten, die ich zwischen November 1927 und August 1929 auf der Insel verbrachte, kam ich nur mit einem einzigen Einheimischen in Kontakt: mit dem Arzt. Der Deportierte darf keine Verbindung zur Außenwelt haben. Ausländische Journalisten, denen man den Besuch Liparis gestattete, konnten nur mit Agenten der Polizei und der Partei sprechen. Ein amerikanischer Journalist kam zu Weihnachten 1927 eigens nach Lipari, um das Fest mit seinem Freund, dem Abgeordneten Morea, zu verbringen. Er wurde zurückgeschickt, ehe er den Boden Liparis betreten hatte. Das Meer rund um die Insel wird scharf bewacht. Ununterbrochen kreisen Schnellboote der königlichen Marine und ein Kanonenboot um das Eiland. Alle Boote sind mit Scheinwerfern und [ 200 ]

Maschinengewehren ausgerüstet. Sie sind Tag und Nacht unterwegs. Die Schiffe, die die Insel anlaufen, werden nach den Vorschriften kontrolliert, die während des Krieges galten. Alle Besucher von auswärts müssen sich einer Leibesvisitation unterziehen. Während des Sommers herrscht auf Lipari tropische Hitze. In den anderen Jahreszeiten ist das Klima gemäßigt, aber unbeständig. Ich war kaum einen Monat auf der Insel, als ich schon wieder an einer schweren Brustfellentzündung erkrankte. Dr. Noldin, ein Exponent der Opposition der deutschen Südtiroler, an das rauhere Bergklima gewöhnt, zog sich auf Lipari eine lokale Fieberkrankheit zu. Er starb im Alter von 39 Jahren. Viele der Deportierten erkranken – aber das kleine Spital, das den Verbannten zur Verfügung steht, kann nur einen geringen Teil der Kranken aufnehmen. Die Deportierten sind allesamt Regimegegner, die eine faschistische Kommission in einem administrativen Verfahren konfiniert hat. Alle politischen Parteien sind hier vertreten. Es fehlen auch die Vertreter der Deutschen Südtirols und der Slawen der Venezia Giulia nicht. Die einzige Schuld der Deportierten besteht darin, daß sie gegen das Regime sind; keiner von ihnen kann einer konkreten, greifbaren Tat gegen den Faschismus oder das Regime beschuldigt werden. Läge eine solche Tat vor, dann fiele das in die Zuständigkeit des neu geschaffenen faschistischen Sondergerichtshofes, der in sogenannten ernsten Fällen auch die Todesstrafe verhängen kann. Die meisten Deportierten sind mittellos. Auch diejenigen, die einmal vermögend waren, haben im Verlauf der politischen Verfolgungen ihre Ersparnisse eingebüßt. Viele sind Land- oder Industriearbeiter. Lipari kann einem Dutzend Spezialisten Arbeit bieten. Alle anderen sind auf die von der Regierung bezahlte Tagesdiät angewiesen: Zu meiner Zeit waren das zehn Lire. 1931 ist die Diät auf fünf Lire pro Tag gesenkt worden. Auch die Deportierten, die ihre Familien bei sich haben, erhalten keinen Centesimo mehr. Das Geld reicht nicht aus, um die Ausgaben für Lebensmittel, Bekleidung, Wäsche, Seife und Licht zu bestreiten, auch wenn man sich noch so sehr einschränkt. Die tägliche Planung von Einnahmen und Ausgaben ist auf Lipari zu einer hochentwickelten Kunst geworden. Doch sind zusätzliche Verdienstmöglichkeiten rar, und die faszinierendsten ökonomischen Er[ 201 ]

kenntnisse sind nicht imstande, den Hunger zu stillen. Aus diesen Gründen sind viele an Tbc und an Ruhr erkrankt. Die Deportierten sind zu Müßiggang verurteilt. In den ersten Jahren konnte man sich die Zeit noch mit Büchern und Sport vertreiben. Nach 1929 wurde der Sport verboten, und die bescheidenen Zirkel, die sich gebildet hatten, wurden aufgelöst. Die von den Deportierten schon 1927 organisierte Gemeinschaftsbibliothek wurde geschlossen. Bücher werden streng zensuriert. Man darf nur lesen, was die faschistische Sonderpolizei zuläßt. Die Verbannten hatten auch Schulen gegründet, in denen sie einander Unterricht erteilten. Seit 1928 sind diese Schulen verboten. So bleibt nur noch das Gespräch. Doch größere Ansammlungen und Gruppenbildungen stellen ein Verbrechen dar, und wer über Politik redet, riskiert das Gefängnis. Trotzdem ist die Politik das Hauptthema bei allen Gesprächen; die Internierten haben sich einen eigenen Jargon zurechtgelegt, den die Faschisten nicht verstehen; außerdem stellt man Wachposten auf, die politisierende Gruppen rechtzeitig warnen können. Der Briefwechsel unterliegt einer strengen Zensur; häufig werden Postsendungen einfach vernichtet – das verkürzt das Zensurverfahren. Der sogenannte freie Ausgang in dem den Internierten reservierten Areal hat nach genauen Stundenplänen zu erfolgen, die je nach Jahreszeit verschieden sind. Es gibt häufige Zählappelle, bei Tag und bei Nacht. Jeder Appell ist mit einer eingehenden Polizeikontrolle verbunden. Derzeit finden bis zu zwölf Appelle pro Nacht statt. Hat man auf diese Weise eine Nacht verloren, holt man den Schlaf bei Tag nach. Jeder Verstoß gegen das Reglement der Strafkolonie wird mit Gefängnishaft zwischen drei und sechs Monaten geahndet. Das Reglement umfaßt einige Dutzend Einzelvorschriften. Artikel 7 lautet beispielsweise: »Es ist dem Deportierten verboten, ein zweideutiges Verhalten an den Tag zu legen.« Die Deportierten, die nicht wenigstens einmal wegen Verletzung des Reglements verurteilt worden sind, kann man an den Fingern einer Hand abzählen. Der Sommer ist zwar tropisch heiß, trotzdem wurde er sehnsüchtig erwartet. Da konnten wir den ganzen Tag im Meer schwimmen oder [ 202 ]

am Strand herumliegen. Inzwischen ist das Baden verboten worden, und die Strände sind für die Internierten gesperrt. Es ist nicht gerade ein fröhliches Dasein. Man will die Deportierten Tag für Tag die Macht des Regimes spüren lassen. Oben auf dem Schloß spielt eine faschistische Musikkapelle die fascio-Hymnen; Gruppen der Miliz marschieren durch die Gassen und singen Hohnlieder auf die machtlosen Gegner. Solange ich auf Lipari saß, waren faschistische Provokationen eher rar. Jetzt sind sie an der Tagesordnung. Die Miliz hat den ausdrücklichen Befehl, zu provozieren. Ein Faschist, der nicht provoziert, wird mangelnder revolutionärer Gesinnung beschuldigt und macht sich verdächtig. Die Offiziere gehen mit gutem Vorbild voran. Auch der Mut bedarf ja des Trainings. Wenn die Deportierten sich Provokationen nicht gefallen lassen und sich zur Wehr setzen, greifen Polizei und Justiz ein. Zwischen September 1929 und Dezember 1931 sind 272 Deportierte wegen »Beleidigung der faschistischen Miliz« verurteilt worden. In den Kasematten tauchen immer wieder Agents provocateurs auf. Ihr Gewerbe ist in den letzten Jahren in Italien sehr einträglich geworden. Der Agent provocateur kommt als Internierter auf die Insel. Alle halten ihn für einen unglücklichen Gesinnungs- und Kampfgenossen, nur die faschistische Polizei weiß, wer und was er wirklich ist. Der Agent spielt sich als engagierter Regimegegner auf, versucht Verschwörungen anzuzetteln und schmiedet Komplotte zum Sturz des Regimes. Es ist lächerlich, von Lipari aus das Regime stürzen zu wollen. Aber der Agent provocateur weiß es besser. Es komme auf den festen Willen an. Er hat diesen Willen. Die meisten schöpfen Verdacht und entfernen sich mißtrauisch; andere hören sich an, was der Mann zu sagen hat, sei es aus Naivität, sei es aus Höflichkeit. Die Polizei erfährt davon und sieht die Fundamente des Vaterlandes bedroht. Den Agenten befällt eine Gewissenskrise, er verflucht, daß er an Vaterlandsverrat gedacht hat, und legt ein Geständnis ab. Dann folgen Massenverhaftungen. Zu Weihnachten 1927 wurden in einer einzigen Nacht zweihundertfünfzig Deportierte verhaftet: zweihundert kamen bald wieder frei, die restlichen fünfzig mußten ein Jahr im Gefängnis zubringen. Seit damals ist dieses Experiment dreimal wiederholt worden. [ 203 ]

Diese gewissermaßen legalen Aggressionen werden durch kriegerische ergänzt. Die faschistische Miliz hat sich angewöhnt, ihre Aversion gegen die Vaterlandsfeinde nicht nur mündlich, sondern auch in handfesten Taten zu bekunden: als Training für mögliche größere Kriegsabenteuer. Fausto Nitti berichtet in seinem Lipari-Buch über viele gewaltsame Übergriffe der Miliz. Doch haben die Faschisten seit 1929 beachtliche Fortschritte gemacht. Sie brauchen die Aktion als ihr Lebenselement. Wenn das Regime gerade in einer Krise steckt und zu wackeln scheint, dann beweist die Miliz den Regimegegnern durch Gewaltaktionen, daß das Regime nicht wackelt. Wenn das Regime einen besonderen Erfolg, eine neue Errungenschaft feiert, dann läßt die Miliz die Oppositionellen die vermehrte Macht fühlen. Im einen wie im andern Fall sind die Deportierten das Opfer. Im Winter 1930 wurden sechs namentlich bekannte Deportierte – Campanile, Triburzi, Sentinelli, Tulli, Consiglio und Corsi – so verprügelt, daß sie ins Spital gebracht werden mußten. Campanile lag drei Monate lang im Bett. Er war der jüngste von den sechs, ein Universitätsstudent. Daß man den Jungen gegenüber besonders energisch verfahren muß, ist einer der pädagogischen Grundsätze der Miliz. Die Ziegen leben auf Lipari mitten unter den Menschen; für sie gilt die Einteilung der Insel in Häftlingsreviere und Zivilistenrayons nicht. Am Heiligen Abend 1929 bei Sonnenuntergang mußte eine Ziege an der Absperrungslinie niesen. Die faschistischen Wachposten in der Nähe erschraken. Was sollte das seltsame Geräusch? War es ein Signal? Hatten heimliche Verschwörer das Zeichen zum Aufstand gegeben? Sie brachten die Gewehre in Anschlag und riefen: »Halt! Wer da!« Die Ziege antwortete nicht. Die Milizsoldaten eröffneten das Feuer. Sogleich witterten alle anderen Wachen und Patrouillen die Gefahr, warfen sich zu Boden und begannen ebenfalls aus allen Rohren zu schießen. Auf dem Schloß wurde das Alarmsignal geblasen. Die Milizsoldaten stürzten aus den Kasernen, irgendwohin, warfen sich zu Boden und feuerten drauflos. Wie bei allen Gefechten feuert der Gefechtslärm die Kämpfenden an. Die Schlacht wurde immer heftiger. Die Motorboote holten die Anker ein, fuhren hinaus aufs Meer und schossen aus allen Waffen. [ 204 ]

Das Kanonenboot lief aus und feuerte einige Schüsse in Richtung Horizont ab. Als die Munition ausging, verebbte der Kampflärm. Eine schwere Schlacht, ein grandioser Sieg der Faschisten. Man zählte 35 Verwundete unter den Internierten und 16 Verwundete unter den Einwohnern von Lipari. Die Leute waren von der Schießerei beim Spazierengehen überrascht worden und hatten sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Eine Woche darauf wurde die siegreiche Milizeinheit durch eine faschistische Truppe aus Oberitalien abgelöst. Die neue Mannschaft verzichtete auf den Einsatz der Feuerwaffen: So modernes Gerät eignet sich in Wahrheit nur auf offenem Felde oder gegen große Menschenmassen. Für den Einsatz in dicht bewohnten Gebieten empfehlen sich einfachere Mittel. Alte Hausmittel sozusagen. Die Milizsoldaten verhafteten den römischen Antifaschisten Milo und sperrten ihn ein. Milo hatte sich einige abfällige Bemerkungen über die Strategie der jüngsten Land- und Seeschlacht um Lipari zuschulden kommen lassen. In der Gefängniszelle wurde er nackt ausgezogen, mit Lederpeitschen mißhandelt und dann in ein Salzwasserbad gesteckt. Von dem Tag an wußten die Deportierten über die feineren Kampfmethoden der Neuankömmlinge Bescheid. Ihre Autorität setzte sich schlagartig durch. Paolinelli, ein Journalist aus Rom, richtete eine schriftliche Beschwerde an die Leitung der Strafkolonie. Er wurde noch am selben Tag verhaftet und nackt in eine feuchte Zelle gesperrt, die ganze Nacht. Diese Beispiele häuften sich. Die Miliz verbesserte ihre Arbeitsmethoden von Fall zu Fall. Das Salzwasserbad wurde durch ein sehr viel hygienischeres Essigbad ersetzt, und die Geißelungen beschränkte man schließlich auf die Fußsohlen. Derart verminderte man die Fläche und vergrößerte zugleich die Intensität. Zuweilen werden alle Methoden vereint angewandt. Dies geschieht jedoch nur zu besonderen Anlässen. Ein Landsmann von mir, ein Sarde, mußte diese Kumulativmethode erproben. Zunächst geißelte man Körper und Fußsohlen; dann wurden Salz und Essig in die Wunden gestreut; da der Mann keinen Laut von sich gab, beschlossen die Milizsoldaten, kräftigere Mittel anzuwenden: möglicherweise, [ 205 ]

meinten sie, sind die Eingeweide weniger widerstandsfähig. Der Mann wurde auf einen Tisch gebunden und erhielt ein Klistier mit Salzwasser, Essig und Pfeffer. Das Leben der Deportierten wird jedoch nicht angetastet. Nun, da das Regime die Todesstrafe wieder eingeführt hat, ist es Sache der Gerichte und nicht der faschistischen Miliz, Widersacher umzubringen. Natürlich kann es Umstände geben, in denen es für das Ansehen und die Würde des Regimes abträglich wäre, wenn man sich an die langwierigen Prozeduren eines Gerichtsverfahrens hielte. In solchen Fällen wird höchst summarisch Justiz geübt. Der Deportierte Iwan Filippich, ein Slawe aus Istrien, wurde am 21. Jänner 1930 zu Tode geprügelt. Der Deportierte Solazzo, ein Arbeiter aus Parma, wurde durch Bajonettstiche in die Halsschlagader getötet. Der erste hatte sich durch die Erklärung, er sei Slawe und nicht Italiener, schuldig gemacht; der zweite hatte, ohne sich ein Blatt vor den Mund zu nehmen, das faschistische Regime kritisiert. Auf Lipari, wo jeder jeden kennt und jeder mit jedem lebt, wird die Ermordung eines Deportierten zu einer Familientragödie: in beiden Fällen nahm die Miliz, um unbedachten Reaktionen vorzubeugen, Massenverhaftungen vor. Wenn der faschistische Sondergerichtshof, der Tribunale Speciale, auf dem Kontinent einen Angeklagten zum Tode verurteilt, feiert die Miliz auf Lipari. Sie rückt zu einem Triumphzug aus, mit Fanfaren und Trommeln, und singt Siegeslieder. Die Deportierten sperren sich in den Kasematten ein und warten, bis der Siegestaumel abgeklungen ist. Um das Leben auf Lipari zu ertragen, muß man körperlich gesund sein und starke Nerven haben. Nicht alle halten durch. Zwei Deportierte haben sich erhängt: einer 1929, der andere 1930. Wie soll man dieser Hölle entfliehen? Jeder stellt sich diese Frage. Das Reglement sieht für Fluchtversuche Haftstrafen von über drei Jahren und Geldbußen von 20 000 Lire vor. Die Wachposten dürfen ohne Anruf auf Flüchtende schießen. Trotzdem, jeder Deportierte denkt ständig an Flucht. Jeder brütet Pläne aus, unterbreitet Vorschläge, grübelt über die Mittel. Man diskutiert, was ratsamer ist – das Boot, das Flugzeug oder ein Luftballon. Der Gedanke an [ 206 ]

Flucht wird zur Manie, zur Besessenheit. Er ist die schwerste Krankheit, die auf der Insel grassiert. Ende 1929 gelang mir mit zwei Freunden – Professor Carlo Rosselli und Fausto Nitti – die Flucht von Lipari. Rosselli und Nitti waren wie ich zu je fünf Jahren Deportation verurteilt. Rosselli hatte in Florenz eine antifaschistische Zeitung herausgegeben und die Flucht Filippo Turatis, des Führers der reformistischen Sozialisten, nach Frankreich organisiert; wegen dieses Verbrechens war er zu einem Jahr Haft verurteilt worden. Nittis Verbrechen bestand darin, daß er den Namen eines ehemaligen Ministerpräsidenten, seines Onkels Francesco Saverio Nitti, trug und daß er sich auf eigene Faust mit Politik befaßte. Er hatte, ehe er nach Lipari kam, schon eine eindrucksvolle Inselwanderung hinter sich gebracht: Favignana, Ustica und Lampedusa. Wir drei bildeten den Klub der Ausreißer. Wenige kennen das Mittelmeer so gut wie wir. Zwanzig Monate lang haben wir es Quadratmeter für Quadratmeter studiert, gründlicher als jeder Hochseekapitän. Nitti spezialisierte sich auf Felsen, Klippen und Küsten. Rosselli befaßte sich mit Hochseenavigation. Ich betrieb intensiv Astronomie. Zusammengenommen ergaben unsere Spezialstudien ein achtbares Fachwissen. Hätte man uns jedoch allein im Mittelmeer ausgesetzt, wären wir innerhalb weniger Minuten – streng wissenschaftlich – ertrunken. Rosselli genoß zwei Privilegien. Er war mit einer Engländerin verheiratet, die sich unserer politischen Kämpfe annahm. Frau Marion erwirkte die Erlaubnis, mit ihrem Mann auf Lipari leben zu dürfen. Wir nahmen sie sogleich als viertes Mitglied in unseren Klub auf. Für einen richtigen Briten bedeutet eine Flucht übers Mittelmeer nicht mehr als für unsereinen ein Bad in der Wanne. Die Frau beschloß, mit ihrem Mann zu fliehen. Es gelang uns, sie von dieser Idee abzubringen; denn sie wollte ihr Baby ebensowenig fremden Menschen anvertrauen wie den Fährnissen eines mehr als problematischen Schiffahrtsunternehmens aussetzen. Ich erleichterte Frau Marion den Entschluß: Sie hatte von Anfang an eine gewisse Abneigung gegen meine Kenntnis der aristotelischen Logik an den Tag gelegt; den Ausschlag gab [ 207 ]

jedoch die Tatsache, daß ich eines Abends unvorsichtigerweise den Polarstern mit dem Planeten Mars verwechselte. Da wußte Frau Marion, daß es keinesfalls ratsam war, ihren kleinen Sohn unseren vereinten Fähigkeiten anzuvertrauen. Frau Marion erfreute sich einer gewissen Bewegungsfreiheit und war für uns daher doppelt wertvoll. Dank ihres englischen Passes konnte sie ohne besondere Schwierigkeiten und Kontrollen Auslandsreisen unternehmen. So war es ihr auch möglich, die Kontakte zu unseren Freunden in Frankreich aufrechtzuerhalten, die an den Vorbereitungen für unsere Flucht beteiligt waren. Rossellis zweites Privileg war, daß er das von seinen Vorfahren in soliden Festlandgeschäften angesammelte Vermögen in unser geplantes Marine-Unternehmen investieren konnte. Ohne dieses Geld wären wir wahrscheinlich bis heute elegische Dichter und trübe Amateurastronomen in der grauen Eintönigkeit Liparis geblieben. Heute kann ich das zugeben. Viermal scheiterten unsere Fluchtversuche. Viermal gelang es uns – in verschiedenen Jahreszeiten – durch den Sperrgürtel zu kriechen und das offene Meer zu erreichen. Enttäuscht, entmutigt, erschlagen kehrten wir jedesmal ins Lager zurück. Unsere Freunde waren nicht zum vereinbarten Treffen erschienen. Glücklicherweise merkte die Polizei nichts von unserem Vorhaben. Einige Deportierte, die unsere Rückkehr miterlebt hatten, schwiegen. Der fünfte Versuch glückte. In einer mondlosen Nacht kamen zwei Freunde mit einem schnellen, getarnten Motorboot von weit her nach Lipari. O., der Schiffskapitän, war emigriert, um sich einer Verurteilung aus politischen Gründen zu entziehen. D. war einst unser Gefährte gewesen und hatte die vier gescheiterten Fluchtversuche mitgemacht. Nach Ablauf seiner Strafe war es ihm gelungen, heimlich nach Frankreich zu gelangen und unsere Operationsbasis zu erreichen. Die beiden setzten ihr Leben aufs Spiel, um uns zu retten. Sie manövrierten das Boot unter den Augen der bewaffneten Milizmannschaften in den Hafen; der Erfolg belohnte ihre Kühnheit. Was haben wir in den wenigen Stunden erlebt! Kaum waren wir an Bord, wurde Alarm geschlagen. Polizei und Miliz verloren, wie wir es vorhergesehen und eingeplant hatten, den [ 208 ]

Kopf. Ehe die Verfolgung einsetzte, waren wir schon weit draußen auf dem Meer. Das Schicksal hielt es mit den Ausreißern. Als der neue Tag dämmerte, hatten wir Lipari weit hinter uns gelassen. Einer von uns suchte mit dem Fernrohr den Horizont ab. »Achtung, ihr traurigen Gestalten!« sagte der Kapitän. »Haltet die Augen offen und seid still. Seht ihr den schwarzen Punkt dort vorne bei Kap X.? Wißt ihr, was das ist?« Wir verstummten. In der Ferne tauchte – für das freie Auge kaum wahrnehmbar – ein Umriß auf. Der mit dem Fernrohr behauptete, es sei ein Kriegsschiff. Automatisch griff jeder von uns zu den Waffen. Waffen? Steinschleudern gegen ein Schlachtschiff. »Die Marinebasis in Y. hat die Verfolgung befohlen«, sagte einer. »Besser im Meer ersaufen als in Lipari verfaulen«, antwortete ein anderer. Das Schiff kam näher. Es war ein großer Frachtdampfer der Handelsmarine. Wir umschifften ihn in einem weiten Bogen. Bald entschwand er unseren Blicken. Wir atmeten auf. Das Gespräch wurde wieder lebhafter. »Wird denn der Faschismus ewig währen?« »Wohin man schaut, Diktaturen.« »In Spanien sitzt die Diktatur fest im Sattel.« »Und erst in Portugal!« »Gib her den Schnaps!« »Und in Polen.« »In Jugoslawien ist auch der Teufel los.« »Was wird in Frankreich passieren? Coty ist Korse. Man sagt, daß er Kaiser werden will.« »Wo sind die Zigaretten?« »Wenn ich an Ungarn denke ...« »In Deutschland werden die Nazis immer stärker.« »Vorsicht. Wir haben Benzin an Bord.« »Die Welt geht nach rechts.« »Die Welt geht weder nach rechts noch nach links. Sie dreht sich um sich selbst, wie eh und je, mit regelmäßigen Sonnen- und Mondfinsternissen.« [ 209 ]

C LAUS G ATTERER [ N ACHWORT ZUR DEUTSCHEN E RSTAUSGABE 1971 ]

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roß, knochig, hager, stets dunkel gekleidet, mit dem kantigen, weißen Spitzbart eines Musketiers, um die dünnen Lippen das wissende, ein wenig ironische Lächeln des Mannes, der, was man in acht langen Jahrzehnten erleben und erleiden kann, erlebt und erlitten hat: Das ist Emilio Lussu, der Schriftsteller, der Politiker, der Held. Held? Es ist so viel Schindluder getrieben worden mit diesem Begriff, daß man sich scheut, ihn zu gebrauchen. Hier aber steht er zu Recht für einen außergewöhnlichen Menschen, der durch Zivilcourage, Geradheit, Kohärenz, leidenschaftlichem Einsatz für die Armen und Entrechteten und durch sein Schicksal »aus der Menge herausragt«. Kein Held im elitären Sinn – kein Laster ist ihm mehr zuwider als der Hochmut, der solches Heldentum trägt. Emilio Lussu will die Menge nicht überragen, sondern sie aus den Niederungen der Not, des Unwissens, der Unterdrückung, der Ausbeutung, des Nur-Mittel-Seins herausführen ins Reich der Freiheit, der bürgerlichen Selbstbestimmung, der sozialen Gerechtigkeit. Emilio Lussu ist ein Ewig-Morgiger, überzeugt von der Güte des Menschen wie von Verbesserungsfähigkeit der Welt, ein revolutionärer, sozialistischer Humanist. Lussus Karriere ist Kampf, nicht Literatur. Die Etappen seiner achtzig Jahre lassen sich nicht durch die Titel seiner Bücher bestimmen; es ist vielmehr das Auf und Ab der politischen Aktion – Kampf, Hoffnung, Realisierung, wiederum Kampf –, das die Stationen dieses Lebens markiert. Politische Reden und Streitschriften, nicht literarische Essays bilden den größten Teil seiner »Gesammelten Werke«, sollten sie je gesammelt werden. Wenn die Umstände ihn zur Unterbrechung der politischen Aktion, zur unfreiwilligen Muße zwangen, dann kämpfte der Politiker Lussu mit dem Literaten Lussu um die Nutzung solcher Mußeperioden: Sollten sie der [ 211 ]

politisch-historischen oder der schönen Literatur geschenkt werden? Zuweilen zwangen ihn Freunde, die seine erzählerische Ader kannten, schöne Literatur zu schreiben: Da entstanden dann essayistische Erzählungen wie Ein Jahr auf der Hochebene oder Il cinghiale del diavolo (Der Eber des Teufels). Zumeist aber behielt der Politiker Lussu die Oberhand. Emilio Lussu ist – ich möchte diesen Satz aus dem Nachwort zum Jahr auf der Hochebene bewußt wiederholen – »Literat wider Willen«. Als im Frühjahr 1968 sein Buch Sul Partito d’Azione e gli altri erschien, veröffentlichte eine bürgerlich-konservative Zeitung Sardiniens an Stelle einer Rezension einen Brief des Schriftstellers Francesco Masala an den politisch im entgegengesetzten Lager stehenden Autor: »Lieber Emilio Lussu ... Wir sind Dir dankbar für Dein jüngstes, wunderschönes Buch, das ein unerbittliches, grausames Zeugnis über die letzten vierzig Jahre unseres unglücklichen Landes darstellt. Nach Marsch auf Rom und Umgebung, nach dem Jahr auf der Hochebene hältst Du uns nun ... schonungslos die Diagnose jener Krankheit vor Augen, welche Italien aus der bürgerlich-kapitalistischen Diktatur von gestern in die bürgerlichkapitalistische Demokratie von heute geführt hat ... Lieber Lussu, wenn es in diesem Land von wandelnden Leichnamen einen lebenden Sarden gibt, einen, der als Schriftsteller, als Mensch, als Freund der Arbeiter und der Armen neben Antonio Gramsci zu stehen verdient, dann bist Du’s.« Hier wird die Problematik der Unterscheidung zwischen schöner und politisch-zeitgeschichtlicher Literatur im Fall Lussu offenbar. Das gesellschaftliche Engagement ist im einen wie im andern Genre wirksam; der Zeithistoriker Lussu kann den Essayisten und Erzähler nie verleugnen; anderseits verrät auch Lussus nüchternste Budgetrede im Parlament noch das Bemühen um Stil und Form. Außergewöhnlich ist auch Lussus Lebenslauf – selbst für einen antifaschistischen Emigranten, einen politisch Verfolgten seiner Generation. Verfolgt zu sein war für ihn, den ewigen Oppositionellen, den Rufer aus der Wüste gegen alle Regime und alle Establishments, selbstverständlich. Nie wäre es ihm eingefallen, ein Aufhebens daraus zu machen. Er verzehrte sich nicht in klagendem Selbstmitleid, er erlaubte sich nie Konzessionen an die Opfer-Mentalität. Wer A sagt, hat auch B zu sagen und notfalls das ganze Abc durchzumachen, bis zum Z; wer gegen Mussolini auftritt, muß in Kauf nehmen, daß Mussolini ihn mit faschistischem Haß und faschistischen Mitteln bekämpft. Wer das Wesen des Faschismus erkannt hat, jammert nicht darüber, daß der Faschismus sich wesensgerecht verhält; er bemüht [ 212 ]

sich vielmehr, den demokratischen Faschismusgegnern Rezepte zu verordnen, die auch gegen den Faschismus wirken. Die Periode der Unfreiheit, des Exils waren für Lussu ein finsteres Intermezzo, eine lähmende Erkrankung, die sich nur überwinden ließ, indem man an die Wiederkehr des Lichtes glaubte, indem man der Lähmung aktiv entgegenwirkte. Lussus Einstellung zum delikaten Emigranten-Thema Heimweh sagt alles über diese seine allgemeine Attitüde: »Siebzehn Jahre lang habe ich meine Inselheimat nicht betreten dürfen, und dennoch habe ich nie das Gefühl des landläufigen Heimwehs gekannt. Ich habe ganz einfach an mein Bürgerrecht geglaubt, in der Heimat leben beziehungsweise ohne jede besondere Erlaubnis in die Heimat zurückkehren zu können. Und daran habe ich festgehalten«, schreibt er im Vorwort zum Cinghiale del diavolo. Anderseits deckt Lussus Biographie sich weithin mit der Geschichte Italiens sowie mit jener des italienischen und europäischen Antifaschismus (in Paris zählte er beispielsweise Otto Bauer und Oda Olberg-Lerda zu seinen Freunden). Und seine Verwurzelung im bäuerlichen Milieu bewahrte ihn zumeist nicht nur vor den Irrtümern und Enttäuschungen, denen andere Emigranten in ihren theoretisierenden Plan- und Sandkastenspielen über die ferne Heimat gerne verfielen, sie befähigte ihn auch, den Verlauf »der Krankheit, die Italien heißt« (Masala), über weite Strecken vorauszusehen. Daß man dem Diagnostiker nicht glaubte, daß man nicht auf ihn hörte, ist nicht seine Schuld.

Aus Lussus Lebenslauf Am 4. Dezember 1890 in Armungia auf Sardinien geboren. Jurist. Kriegsfreiwilliger. Offizier in der Brigata Sassari – zuerst in den blutigen Karstschlachten, dann an der Südtiroler Front auf der Hochfläche von Asiago, schließlich wiederum auf der Bainsizza und im Karstgebiet. Ein Jahr auf der Hochebene (Un anno sull’altipiano) ist ein Ausschnitt aus der Geschichte dieser Brigade: ein Kriegsjahr, episodenhaft dargeboten, mit den duldenden, kämpfenden, sterbenden unbekannten Soldaten als den eigentlichen Protagonisten. Die Brigata Sassari spielt in der Geschichte Sardiniens wie im Leben Emilio Lussus eine zentrale Rolle; für die Insel bedeutet sie das »geistige Erwachen«, die »regionale Renaissance« (Luigi B. Puggioni). Lussu und viele seiner jungen Freunde begriffen – mitten unter ihre engsten Landsleute [ 213 ]

gestellt – ihre Aufgabe als Offiziere auch im Sinne von Soldaten-Vertretern, von Soldatenräten; sie wollten ihre Leute nicht nur befehligen, sondern sinnvoll und menschlich führen. Masala zufolge erzählt ein einstiger Unteroffizier Lussus: »Als der Oberst (Regimentskommandeur) Lussu befahl, uns aus dem Schützengraben hinauszuführen in ein sinnloses Gemetzel ..., sagte der Hauptmann ruhig: ›Ich bin kein Mörder, Herr Oberst. Ich gehe allein hinaus.‹« Der Schritt vom Offizier-Soldatenrat zum Politiker ergab sich von selbst, als – noch während des Krieges – innerhalb der Brigade eine Kerngruppe von Offizieren entstand, die nach Kriegsende für die Autonomie Sardiniens kämpfen wollte, und als sich dann 1919 aus der Frontkämpfer-Vereinigung der Partito Sardo d’Azione (Sardische Aktionspartei) konstituierte, dessen Kader die Offiziere und Unteroffiziere der Sassari waren. Das italienische Heer kennt normalerweise – mit Ausnahme der AlpiniTruppen – keine nach regionalen Gesichtspunkten formierte Einheiten; von der radikalen Mischung der Mannschaften versprach man sich die Entstehung eines einheitlichen National-Heeres, in dem es keine regionalen oder sonstigen Lokalpatriotismen mehr geben sollte; zugleich fürchtete der Zentralstaat jede die nationale Einheitsidee zersetzende regionale Solidarität. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs beschloß man indessen, um die kämpferischen Qualitäten der Sarden so total wie möglich zu nützen und »auszubeuten«, von der Regel abzugehen und eine reine Sarden-Brigade zu bilden. Doch war es dann nicht allein das Fronterlebnis, das die Angehörigen der Brigata Sassari zur gesellschaftlich verschworenen Gemeinschaft vereinte, das die Schützengraben-Solidarität zur politischen Partei-Solidarität reifen ließ, sondern in zumindest ebensolchem Ausmaß das Erlebnis des reichen Kontinents, des entwickelten, industrialisierten Oberitalien. »Wie prachtvoll waren die Äcker, die Felder der Lombardei und Venetiens! Wie viele Straßen und Eisenbahnen es hier gab! Mit einem Mal kamen uns die Landschaften unserer Insel traurig und armselig vor ..., ohne Straßen, ohne Wege. Wir fragten uns, weshalb diese Landstriche so reich und blühend seien und unsere Heimat so arm und elend ... Wir forschten nach den Ursachen und erkannten, daß wir manche bei uns auf Sardinien zu suchen hatten und andere anderswo. In erster Linie aber lag die Schuld bei uns. Wir waren nie imstande gewesen, unseren Willen einmütig zu bekunden, wir waren unfähig gewesen zu handeln, wir waren ganz einfach geschichtslos gewesen, ohne Selbstvertrauen … Niemand hatte unsere [ 214 ]

Sache je verteidigt, auch jene nicht, die man dazu gewählt hatte. Niemand hatte sich je (gegen Ausbeutung, Unterdrückung) erhoben.« (L. B. Puggioni.) Die Infanteristen der Sassari waren Hirten, Pächter, Landarbeiter, Kleinbauern, die meisten Analphabeten: vom besseren, kontinentalen Italien bis gestern als Nomaden verachtet, von jeder Mitbestimmung ausgeschlossen, Ausschußware der Nation. Im Krieg avancierten sie zu den Mustersöhnen der Nation: Es war ein Avancement von Schützengraben zu Schützengraben, von Sturmangriff zu Sturmangriff, über Tausende gefallene Kameraden, Landsleute, Brüder hinweg. Das Vaterland bezeugte seine Dankbarkeit durch zwei Goldmedaillen für die Brigade und durch »Versprechungen, die – wären sie erfüllt worden – die Insel in eine zweite Lombardei verwandelt hätten; indes – nach dem Viertelstündchen Berühmtheit dank dem legendären Heldenmut ... fiel Sardinien wieder der Vergessenheit anheim«. (R. Carta Raspi, Breve storia della Sardegna) Die 1919 gegründete Sardische Aktionspartei, nach deren Vorbild auch in Süditalien regionalistische Bewegungen entstanden, war linksbürgerlichföderalistisch, republikanisch, mit starken sozialistischen Flügeln. Sie verfocht die Umwandlung Italiens in eine moderne Bundesrepublik, eine Agrarreform, die wirtschaftliche Entwicklung der Insel. Der Aufschrei der sardischen Irredenta wurde in Italien als Separatismus, als Versuch zur Bildung einer Insel-Republik denunziert. In Wahrheit begriff sich der Sardismus als Leidens- und Kampfgefährte aller vom italienischen Zentralismus und vom kontinentalen Kapitalismus unterdrückten, ausgebeuteten, getretenen Volksschichten und Klassen. »Italien wird vom freien italienischen Volk erneuert werden, so wie Sardinien vom freien sardischen Volk erneuert werden wird«, schreibt Puggioni. Diese überregionale Solidarität des Sardismus ging so weit, daß viele ehemalige Offiziere und Unteroffiziere der Brigata Sassari die Auflösung ihrer ruhmreichen Brigade verlangten, nachdem diese auf dem Kontinent 1919/20 mehrfach – vor allem in Turin und in Biella – zur Unterdrückung von Arbeiterunruhen eingesetzt worden var. Wir wissen indessen von Gramsci, der selbst Sarde war, daß für die in Turin gegen die streikenden Fiat-Arbeiter aufgebotenen sardischen Soldaten das unruhige Industrieproletariat ganz einfach zu den Reichen, den (auch politisch) Vermögenden gehörte. »Wir sind gekommen, um auf die Herren zu schießen, die streiken«, und »Hier sind alle Herren; hier haben alle Kragen und Krawatte; ... ich kenne die Armen, ich weiß, wie arme Leute [ 215 ]

angezogen sind«, sagten die Soldaten der Sassari zu den Turiner Sozialisten, die sie zur Solidarität mit den Streikenden gewinnen wollten. Marcia su Roma e dintorni – durch das den Fremdenführern entlehnte Anhängsel und Umgebung macht Lussu auf das Abenteuerlich-Touristische des Mussolinischen Unternehmens aufmerksam – ist sozusagen die Negativ-Geschichte des Sardismus, die menschliche Chronik der Vernichtung einer demokratischen, reformatorischen, von enthusiastischem Erneuerungswillen getragenen politischen Bewegung durch eine undemokratische, gewalttätige, sich revolutionär gebärdende Bewegung, die letztlich aus dem nämlichen sozialen Boden – dem der Heimkehrer, der ehemaligen Frontkämpfer – gewachsen war. Zwischen den beiden Bewegungen lassen sich in der Tat frappante Parallelitäten feststellen: Der Sardismus und der Faschismus entstehen 1919; beide verstehen sich als Überwindung der bestehenden Parteien; da wie dort besteht eine gewisse Abneigung gegen den traditionellen Parlamentarismus, die sich beim Faschismus folgerichtig zum Antiparlamentarismus weiterentwickelt, wogegen die Sardisten ihr Reformwerk einerseits über die gewählten Körperschaften – von den Gemeinderäten bis zum zentralen Parlament – voranbringen, anderseits die parlamentarischen Strukturen selbst radikal reformieren und durch Regionalräte (Landtage) ergänzen wollen. In beiden Bewegungen wirken ehemalige Frontoffiziere und Unteroffiziere als Führer auf den verschiedenen Ebenen, tatenhungrige Studenten stellen die Eliten; da wie dort trachten die höheren Kader, die Mannschaften von einst im Sturm der Frontkameradschaft zu gewinnen; da wie dort besteht das Bestreben, möglichst die Gesamtheit der mündigen Bürger der trägen Routine der Traditionsparteien zu entziehen und für die eigene Bewegung zu werben. Damit freilich hören die Parallelitäten auf. An dieser Stelle trennen sich die Wege radikal. Man kann sogar die Behauptung wagen, daß sich die Charaktere scheiden. Für den Sarden, der der Bewegung seine Freizeit und seine demokratisch-patriotische Leidenschaft opfert, ist und bleibt die Politik nur Mittel zu einem Ziel, Ringen um ein menschlicheres Leben; für den Faschisten ist Faschist-Sein Endstation: Ziel und Beruf. »Was macht Ihr Sohn? Studiert er?« »Nein. Er ist jetzt Faschist.« Drastischer als in diesem vom Faschisten Leo Longanesi (In piedi e seduti) aus der Frühzeit des Faschismus berichteten Dialog läßt sich der Faschismus als Ersatz-Beruf, als Ersatz-Karriere nicht formulieren. [ 216 ]

Aus all dem ergibt sich noch ein Moment, das zur Wertung des Buches wesentlich ist: Die sogenannten Faschisten der ersten Stunde waren nicht nur Lussus Altersgenossen, sie waren mit ihm auch durch die Mittelschule und die Universität gegangen, waren mit ihm an der Front gewesen. Man kannte einander. Man war miteinander per du. Zuweilen war die verbindende Vergangenheit sogar stärker als die trennende Gegenwart. So ist es vollkommen natürlich, daß der Leser in dem Bericht über den Kampf gegen den Faschismus immer wieder Dialoge mit Faschisten findet. Was ist Marsch auf Rom und Umgebung – Literatur? Historiographie? Wahrheit und Dichtung? Wie soll man das Werk rubrizieren? In welche Literaturgattung, in welchen ...ismus läßt es sich einordnen? Die Fachleute zerbrechen sich die Köpfe. Sie befassen sich mit Fächern und ...ismen. Die Kategorie Mensch ist nicht ihr Fach. Für Lussu aber steht der Mensch über allen Kategorien. Marsch auf Rom und Umgebung ist – wenn man so will – Historiographie auf der Menschen-Etage, nicht Staats-, nicht NationalGeschichte, sondern Menschen-Geschichte. Und als Menschen-Geschichte ist das Buch eine radikale Demythisierung und Entheiligung der etablierten Geschichtsschreibung. Lussu stürzt die Gestalten, die die Historiker verherrlichen oder verteufeln, vom Podest ihrer Autorität: Er stellt den General gleichrangig neben den Oberkellner, der hohe Repräsentant der Zentralregierung gilt ihm nicht mehr als der kleine Matrose im Hafen. Die Professoren-Historiographie hat bis heute kein Werk hervorgebracht, das die Dimensionen des Lussuschen hätte. So griffen viele italienische Mittelschullehrer zu Lussus Marsch auf Rom und Umgebung, um den Schülern im zeitgeschichtlichen Unterricht das Phänomen des Faschismus, sein Werden und Wuchern, von der menschlichen Seite her zu erschließen. Nach der am 27. Juli 1929 erfolgten Flucht aus Lipari, die Lussu, Rosselli und Nitti über Tunis nach Paris führte, und dem italienischen Antifaschismus in einer Welt, die sich längst mit Mussolini arrangiert hatte ein Viertelstündchen Berühmtheit bescherte, wurde in Paris die 1925 in Florenz gegründete antifaschistische Kampfbewegung Giustizia e Libertà (Gerechtigkeit und Freiheit) wiederbelebt. Anders als die meisten anderen Antifaschisten waren die Gefolgsleute Rossellis nicht bereit, auf das natürliche Absterben des Faschismus in Italien zu warten. Sie bereiteten eine bewaffnete Erhebung, den Bürgerkrieg, vor und gingen gleich daran, den Unter[ 217 ]

grundkampf in Italien zu organisieren. »Heute in Spanien, morgen in Italien!«, schrieb Carlo Rosselli, als 1936 der Spanische Bürgerkrieg begann. Die faschistische Geheimpolizei OVRA fürchtete, wie man heute weiß, nach 1930 nur zwei Feinde: die Untergrundzellen der KPI und die illegalen Gruppen von GL. Kommunisten und GL-Anhänger stellten von da an auch die meisten Opfer im antifaschistischen Kampf. In Paris, im Exil, hatte Lussu endlich Muße. Obendrein mußte er trachten, rasch zu Geld zu kommen, damit er sich eine ärztliche Behandlung leisten konnte. Die Tuberkulose, die er sich im Gefängnis von Cagliari zugezogen, hatte sich auf Lipari gefährlich verschärft. Lussu schrieb. 1929 erschien La catena (Die Kette), sein erstes Buch über den Faschismus. 1932 kam Marsch auf Rom und Umgebung heraus. 1936 publizierte er Teoria dell’Insurrezione, eine Abhandlung über die Volkserhebung. Das mit den Büchern verdiente Geld investierte er in eine Lungenoperation und in einen Sanatoriumaufenthalt in der Schweiz. Dort schrieb er, dem Drängen seiner Freunde folgend Ein Jahr auf der Hochebene. Das Buch erschien 1938. Eine seltsame Fügung. Der Feind in Lussus Jahr auf der Hochebene ist – militärisch gesehen – Österreich; als das Buch in den Schaufenstern der Buchhandlungen erschien, gab es Österreich nicht mehr. Die Stiefel triumphierten. Abessinien, Spanien, Österreich, die Tschechoslowakei ... Im Juni 1937 wurde Carlo Rosselli gemeinsam mit seinem Bruder Nello von Schlächtern der Cagoule im Auftrag Mussolinis in der Nähe von Paris ermordet. Die französischen Faschisten erhielten als Lohn etliche hundert Gewehre und ein paar alte MGs. Lussu übernahm – obschon noch immer in ärztlicher Behandlung stehend – die Führung von Giustizia e Libertà in einer Zeit, in der niemand auf Antifaschisten hören wollte, in der die braun-schwarze Nacht über Europa zur bequemen und beruhigenden Normalität geworden schien. Der Sarde aus dem kleinen, verschlafenen Bauern- und Hirtendorf Armungia nannte sich in Paris aus konspirativen Gründen Mister Mill. Der Deckname saß ihm wie angegossen. Ursprünglich gegen die Schnüffeleien der OVRA ausgeklügelt, bewährte er sich 1940, als – mit Hitlers Armeen die Gestapo in Paris einrückte und die italienischen Emigranten, deren sie habhaft wurde, Mussolini auslieferte. Lussu gab nicht auf. Im Gegenteil. Italiens Kriegseintritt an der Seite Hitlers mußte – wie er dachte – dem Antifaschismus neue Möglichkeiten [ 218 ]

erschließen. Doch hatte sich mit dem Beginn des Weltkriegs die Situation radikal gewandelt. Nun galt es einerseits, durch die Volkserhebung in Italien der militärischen Niederlage des Faschismus zuvorzukommen, Italien sollte sich selbst befreien; zugleich wollte Lussu jedoch eine zweifache Garantie der Alliierten erhalten: Es sollte klargestellt werden, daß nicht das italienische Volk als solches für die Untaten des Faschismus zu büßen haben würde; außerdem sollten die Alliierten eine Partisanenbewegung in Italien materiell unterstützen. Mister Mill hatte sich nach Südfrankreich gerettet. Seine Gattin Joyce Salvadori (halb Süditalienerin, halb Britin) lernte dort von einem italienischen Emigranten das Dokumentefälschen und versorgte Antifaschisten aller Nationalitäten mit Pässen. Lussu begann wieder Fäden nach Sardinien zu spinnen und unternahm dann zwei ausgedehnte »diplomatische Reisen«, die ihn über Spanien und Portugal nach London, New York, Malta und wiederum nach London führten. Es gehört zum politischen Stil Lussus, daß er diese Reisen selbst finanzierte (beziehungsweise von italienischen Gesinnungsfreunden mitfinanzieren ließ), weil er nicht in der Schuld einer der künftigen Siegermächte stehen wollte. [Über dieses Intermezzo schrieb Lussu das Bändchen Diplomazia clandestina (Geheim-Diplomatie), Joyce Lussu das Buch Fronti e frontiere (Fronten und Grenzen).] Im Sommer 1943, als Lussu eben zum Aufbruch nach Sardinien rüstete, wurde Mussolini gestürzt. Der Nachfolger des Duce, Marschall Pietro Badoglio, verbot dem eilends nach Italien heimgekehrten Lussu die Heimkehr nach Sardinien: Die Militärs wollten nichts riskieren, solange die Deutschen noch im Lande standen, und Lussus faschistische Leumundszeugnisse ließen das Ärgste befürchten. In dem von den Deutschen besetzten Rom führte Lussu nach dem italienischen Waffenstillstand vom 8. September 1943 die Exilbewegung Giustizia e Libertà mit dem 1942 in Italien gegründeten Partito d’Azione zusammen. Im gemeinsamen Programm setzte er nach zähem Kampf eine Formulierung durch, die ihm seit den Tagen des Exils am Herzen lag: »Der faschistische Staat kann nicht verändert oder modifiziert werden, er muß zerstört werden, und zwar mit all seinen politischen, wirtschaftlichen, militärischen und polizeilichen Strukturen.« Die »Vernichtung des Faschismus in jenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ursachen, die ihn möglich gemacht haben«, erschien Lussu und seinen Freunden als unerläßliche Voraussetzung für jede demokratische Neuordnung Italiens. Es blieb beim Programm, bei der Hoffnung. [ 219 ]

Lussu wurde Zentralsekretär der neuen Aktionspartei (der sich auch der wiedererstandene Partito Sardo d’Azione anschloß). Er saß im römischen Führungsgremium des Comitato di Liberazione Nazionale (Nationales Befreiungskomitee), dem die fünf wichtigsten Parteien angehörten. Er war Minister in zwei Kabinetten. Und er wurde 1946, ein knappes Jahr nach Kriegsende, von seinen alten sardischen Wählern als Abgeordneter in die verfassunggebende Nationalversammlung gewählt, in der er, mit geringem Erfolg, versuchte, seine föderalistischen Ideen durchzusetzen. Von 1948 an wurde Lussu in alle Parlamente gewählt. 1968 verzichtete er aus eigenem auf die Wiederwahl als Senator. Der Partito d’Azione, der im Partisanenkampf neben den Kommunisten den höchsten Blutzoll gezahlt hatte, zerfiel 1947. Die Partei vereinte in sich die integersten Männer, die besten Köpfe und die eigenwilligsten Charaktere Italiens: Sie scheiterte an der Konzentration so vieler Potenzen, denen obendrein – wie die Wahlen geoffenbart hatten – die gesellschaftliche Basis fehlte. Lussu, der radikale, demokratische Sozialist, schloß sich zunächst dem Sozialismus Pietro Nennis an und übersiedelte dann, als der PSI sich 1964 spaltete, mit seinem insularen Anhang zum Partito Socialista di unità proletaria (PSIUP), in der die bäuerlich-proletarische Seele seiner Sarden eher verwandte Seelen fand als in den anderen Arbeiterparteien, in denen emanzipierte, vielfach verbürgerlichte Stehkragen- und Overall-Proletarier den Ton angeben. Der Schriftsteller und Politiker Lussu wird nur aus seiner sardischen Heimat verständlich. Armungia, das allmählich sich entvölkernde Dorf im Gebirge Sardiniens, im Herzen der Insel. Land der Hirten-Bauern, dessen herbe Schönheit im vollkommenen Einklang von Landschaft, Mensch und Tier begründet scheint. Am unteren Ende des Dorfes ein weitläufiges Gehöft: das Haus der Lussu, der Ansitz bäuerlicher Patrizier. Die Räume sind wie einst nach ihrer Zweckbestimmung benannt: hier die domus fürs Korn (die Sarden gebrauchen für Haus das lateinische domus), hier die domus für die Schinken, für die Weinfässer, die Pferdesättel. Es wird kaum noch Korn angebaut. Die Rösser sterben aus. Die Schweinezucht wurde aufgelassen. Aber die Bezeichnung der Räume ist geblieben: erstarrte Haus- und Familiengeschichte.

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In der 1969 veröffentlichten Erzählung Il cinghiale del diavolo schreibt Lussu: »Ich habe als Knabe die letzten Jahre einer patriarchalischen Gemeinschaft erlebt, ohne Klassen und ohne Staat. Die öffentliche Ordnung im Dorf war die überkommene Ordnung, gewährleistet von der freiwilligen Vereinigung der Hirten-Bauern, deren Ältestenrat die Aufgabe oblag, alle Angelegenheiten innerhalb des Territoriums zu regeln ... In der Tat waren die Gärten, die kleinen, umfriedeten Grundstücke am Rand des Dorfes und die schmalen Streifen der Kornäcker und Weinberge durch die überkommene Ordnung besser behütet ... als später durch die Gesetze des nationalen Staates.« Die überlieferte Ordnung dieser freien Gemeinschaft der Hirten-Bauern ist untergegangen, nicht nur in Armungia, sondern in ganz Sardinien. Eine neue Ordnung konnte nicht entstehen, weil man ihr nicht die Freiheit ließ, sich gemäß den Erfordernissen des kleinen Lebens zu entwickeln. Es gibt Gesetze, Carabinieri, Gerichte, aber die Ordnung, die sie vorschreiben und hüten, ist fremd, importiert, am Reißbrett entworfen, nicht aus der alten, untergegangenen Kultur gewachsen. Die Gemeinschaft von einst ist atomisiert. Im Cinghiale del diavolo erzählt ein Jäger von der »guten, alten Zeit«: »Es waren auch das schlechte Zeiten, damals. Kein Regen. Mensch und Tier lechzten nach Wasser. Ein Jahr regnete es, das nächste Jahr blieb der Himmel trocken. Die Weiden verdorrten. Aber die Christenmenschen mußten nicht Hunger leiden wie heute; und sie starben daheim, in ihren Häusern, wo sie hingehörten, und nicht in Amerika.« Hier haben wir in der unpolitischen Jagderzählung die wesentlichen Motive vereint, die Lussu zum Revolutionär, zum kämpferischen Linkssozialisten machten: die klassenlose Gesellschaft der Gleichen und Gleichberechtigten, die freie Gemeinschaft der Freien, Selbstverwaltung in Gemeinde und Territorium, das Recht auf Heimat, welches mit dem Recht auf Arbeit in der Heimat beginnt. Lussu hat indessen nie aus dem Auge verloren, daß die Armungia zahllos sind – in Italien und in der Welt. Politische Kritiker von links und rechts haben nie zu begreifen vermocht, mit welch zäher Verbissenheit Lussu, dieser Sprößling archaischsardischen Bauernpatriziats, eine radikale Agrarreform (Das Land den Bauern) verfocht. La terra, la terra, la terra (Die Agrarreform, die Agrar[ 221 ]

reform, die Agrarreform) blieb neben dem föderalistisch-autonomistischen Programm ein konstanter Fixpunkt in Lussus politischem Kampf, und er zerriß sich, um alle Parteien – Aktionspartei, PSI und PSIUP – darauf zu verpflichten: »Heute ist es mit der Zerschlagung des Latifundus nicht mehr getan. Es muß der gesamte agrarische Großbesitz aufgeteilt werden. Wenn wir eine wirksame Agrarreform machen wollen, müssen wir jeden agrarischen Besitz, der mehr als hundert Hektar umfaßt, in die Reform einbeziehen.« (Sul Partito d’Azione e gli altri, predigte er 1945 und immer wieder seither.) Mit diesem Programm scheint sich Lussu in der Tat gegen den Zeitgeist und gegen die – wahre oder vermeintliche – ökonomische Vernunft gestellt zu haben. In Osteuropa orientiert man sich auf immer größere agrarische Einheiten. Die EWG-Agronomen träumen von einer Art Ackerbau-, Obstbau- und Viehzucht-Großindustrie, die weder für die Bauern der österreichischen oder schweizerischen Alpen noch für den Landhunger des italienischen (und europäischen) Agrarproletariats Raum ließe. Deshalb wird auch die italienische Agrarreform – gerade weil sie Latifundus und Großgrundbesitz nur angekratzt hat – beinahe allgemein gelobt. Das Problem hat indes seine menschliche Seite, die die Nationalökonomen nicht erkennen: die Sehnsucht des Landarbeiters, einen Teil von dem Boden, den seine Familie und er selber im Schweiß des Angesichts, für schäbigen Lohn bearbeitet haben, einmal selber zu besitzen und durch den Besitz seßhaft, beheimatet, »gleicher« (wenn auch nicht gleichberechtigt), »freier« (wenn auch nicht frei im Stil und Umfang der Reichen) zu werden. Die Entwicklung der letzten Jahre hat Lussu auch in diesem Punkt recht gegeben. Sarden, Sizilianer, Süditaliener kehren nach jahrelanger Arbeit in den Industrien Oberitaliens, der Schweiz, Deutschland oder Belgiens in die Heimat zurück und erfüllen sich selbst den alten Traum vom eigenen Stück Boden: Sie investieren ihre Ersparnisse in ein Schneuztüchl Land, rackern und schuften ärger als je zuvor; und sie schicken die Kinder als Fremdarbeiter in die Wirtschaftswunderstädte, um mit dem, was sie ersparen, den »Besitz« vergrößern oder um wenigstens die wichtigsten agrarischen Geräte anschaffen zu können. Der Staat, die Gesellschaft haben die Agrarreform nicht gemacht. Die kleinen Leute holen wieder einmal mit eigenen, schwachen Kräften nach, was die Gemeinschaft versäumt hat. Sie werden betrogen, ausgebeutet, übervorteilt ...

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Emilio Lussu ist auch als Achtzigjähriger noch nicht am Ziel. Italien ist Republik – doch ist es nicht die Republik, für die er gekämpft hat, für die seine Freunde gestorben sind. Die neue Verfassung hat die autonomen Regionen geschaffen – von Föderalismus und echter Selbstregierung ist das Land jedoch noch weit entfernt. Die großkapitalistischen Stützen des Mussolinischen Regimes sind geblieben und mächtiger geworden: Stützen jenes demokratischen Regimes, das sie – nach ihren Erfordernissen – erweitern, gängeln, ummodeln können. Francesco Masala definierte das Italien von 1968 als »Gesellschaft von Ungleichen«, als »ungerechte Gesellschaft, wo nicht einmal das Recht für alle gleich ist«, als »Gesellschaft, wo das Wort vorwiegend als Werkzeug des Betrugs dient«, als ein Land, in dem sogar »Antifaschismus und Widerstandskampf zum Mythos und zur Legende entartet« sind. Und direkt an Lussu gewandt, fügt Masala hinzu: »Du kommst mir vor wie der Sohn, der Arzt ist, und gleichwohl nicht vermocht hat, die tödliche Krankheit der Mutter zu kurieren.« Wie könnte Emilio Lussu sich da am Ziel fühlen? In den Dörfern Sardiniens erzählen die Alten, wenn sie abends auf den Schwellen vor den Haustoren oder auf den niedrigen Hockern rund um die offenen Herde bei Brot und Wein sitzen, den Jungen von Lussus Taten. (»Auf dem kleinen Dorfplatz bei uns daheim, da warst du eine Legende!« schreibt Masala.) In Cagliari lassen die Arbeiter, wenn Lussu sich auf der Straße zeigt, das Werkzeug fallen, sie drücken dem alten Mann die Hände, umarmen ihn und räumen behend das Schild »Vorsicht, Bauarbeiten!« aus dem Weg, damit es den Greis nicht behindere. Lussu hat den Leuten nie nach dem Mund geredet. Er hat die Wahrheit immer beim Namen genannt. Seine Ironie brennt wie Salz in offenen Wunden. Sein Humor ist selten befreiend, zumeist wirkt er bitter wie Galle. Und dennoch lieben und verehren ihn die Bauern, Hirten, Arbeiter, Fischer seiner Insel in einer Weise, die für unsere Zeit ganz und gar außergewöhnlich ist. Das Volk liebt Revolutionäre, solang es sie braucht. Ein sattes, ein zufriedenes, ein über sich selbst bestimmendes Volk braucht keinen Revolutionär. Was bedeutet Emilio Lussus schriftstellerisches Werk für die italienische Literatur? Leo Ferrero hat in einem Essay festgestellt: [ 223 ]

»Sich für die Welt interessieren heißt vor allem sie erleiden. Jede Literatur ist Ergebnis ... dieses moralischen Erleidens. Man kann ohne weiteres sagen, daß ... die moralische Leidenschaft die eigentliche Triebkraft der Literatur ist. Derart wird auch die Erforschung des eigenen Landes vom Wunsch nach Gerechtigkeit inspiriert und geleitet ... Die Schriftsteller sollen sich nicht vom reichlich naiven Hochmut zur Anschauung verleiten lassen, sie müßten mit jedem Buch, das sie schreiben, eine neue literarische Gattung begründen; sie sollen vielmehr die große Tradition fortsetzen, indem sie sie erneuern; zuvörderst aber sollen sie aus der Wüste ausziehen und wieder Menschen werden.« In Emilio Lussus Werk und Leben sind diese Anforderungen erfüllt.

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