Leseprobe ansehen - Lesejury

schleifenden Geräusch aufschwang und den. Blick auf die kleine Zelle dahinter freigab. „Und erwarte bloß keine allzu überschwäng- liche Begrüßung. Er sitzt immerhin schon seit mehr als acht Jahren in diesem Drecksloch fest.“ Die schwere Tür schlug mit lautem Poltern hinter Taleor zu, doch dieser blickte nicht zu- rück.
271KB Größe 3 Downloads 326 Ansichten
Carmen Graf

Weltenhüter Das Gold der Grenze Fantasy

LESEPROBE

2

© 2016 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2016 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag Coverbild: Carmen Graf Printed in Germany Taschenbuch: Großdruck: eBook epub: eBook PDF: Sonderdruck

ISBN 978-3-8459-1804-4 ISBN 978-3-8459-1805-1 ISBN 978-3-8459-1806-8 ISBN 978-3-8459-1807-5 Mini-Buch ohne ISBN

AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin www.aavaa-verlag.com eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken! Alle Personen und Namen innerhalb dieses eBooks sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

3

Kapitel 1 Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis das letzte Grau der Abenddämmerung endlich einem tiefen Schwarz wich, welches sowohl den Himmel als auch die höchsten Gipfel der Berge und das ganze restliche Land überspannte. Dunkle Schatten streckten sich über den Erdboden und verbargen jegliche Silhouetten vor den Blicken nächtlicher Wanderer. Den ganzen Tag schon wartete Taleor voller Ungeduld auf das endgültige Einbrechen der Nacht, welches aufgrund des untätigen Herumsitzens länger auf sich warten gelassen hatte als ansonsten. Nun war es aber endlich soweit und der junge Mann konnte sich vorsichtig aus seinem Versteck am Fuße der Felsen wagen und sich dem Gefängnis langsamen Schrittes nähern. Seltsam, dachte er als er sich achtsam einen Weg die Felsen hinauf bahnte, wie langsam die Zeit doch vergeht, wenn man auf etwas wartet. Besonders, wenn einen die 4

gigantischen Berge rundherum beinahe zu erdrücken schienen. Seit drei Tagen saß Taleor nun schon im Verborgenen, unweit von der Festung entfernt, welche das größte Gefängnis ganz Lacriems beinhaltete und überlegte sich, wie er am besten hineingelangen konnte. Heute allerdings war der Tag gekommen, da sein Vorrat an Verpflegung allmählich zur Neige ging und ihm war klar geworden, dass die Zeit zum Handeln gekommen war. Da Taleor keinen sinnvollen Plan ausgearbeitet hatte, musste er auf sein Glück und Geschick vertrauen und das Risiko eingehen, vielleicht dabei erwischt zu werden, wie er unerlaubt ins Gefängnis eindrang. Jedenfalls würde er nach der langen Reise, die er hinter sich hatte, diesen Auftrag nicht einfach abbrechen, kaum stellte sich ihm einmal ein Hindernis in den Weg. Dazu brauchte er das Geld viel zu dringend. Mit der Dunkelheit kam auch die Kälte und Taleor zog fröstelnd seinen dünnen Umhang enger um sich, um die eisige Luft möglichst 5

von seinem Körper fernzuhalten. Bald hatte er den Aufstieg geschafft und als das Tor der Festung in Sicht kam, verlangsamte er seine Schritte. So hoch in den Bergen war kaum Vegetation vorhanden, dafür aber reichlich Eis und Schnee, welche ihm allerdings keine Deckung geben konnten. Also duckte er sich hinter einen einigermaßen breiten Felsbrocken, von wo aus er einen guten Blick auf die riesigen Flügeltüren des Gefängnisses hatte. Zwei in Rüstungen steckende Wachen hatten sich links und rechts davon aufgestellt und ließen ihren Blick über die felsige Einöde um sie herum schweifen. Die Speere in ihren Händen glänzten bedrohlich im Mondlicht. Taleor fragte sich, ob die beiden wohl Ascender waren, doch obwohl dieses Volk hier im Astrayr-Gebirge heimisch war, bezweifelte er, dass sie sich so nah am Rand des Gebirges blicken lassen würden. Außerdem konnte er von dem was man so über die Ascender hörte ableiten, dass sie wohl eher keiner Arbeit nachgehen würden, für die man nächtelang in der 6

Kälte stehen musste. Doch das waren bloß Gerüchte, Taleor war noch nie persönlich einem Ascender begegnet. Wenn er Geschäfte mit ihnen abzuwickeln gehabt hatte war das stets auf irgendeine Weise indirekt erfolgt. Der junge Mann konzentrierte seinen Blick wieder auf die beiden Wachen vor dem und Tor und begann ungeduldig mit den Fingern auf den Boden zu trommeln. Während der drei Tage, die er nun schon aus sicherer Entfernung das Gefängnis und seine Wachen beobachtete, hatte Taleor bloß eine einzige Möglichkeit erkannt, in das Innere der Festung zu gelangen: Die Wachablösung, welche jede Nacht zu genau derselben Uhrzeit stattfand. Wenn die Wachen für diese Angelegenheit ins Innere des Gefängnisses verschwanden, blieb das Tor für einige sehr kurze Augenblicke unbewacht, ehe zwei neue Wachen als Ablösung eintrafen. Diese wenigen Sekunden waren Taleors einzige Chance, dem ewigen Warten in der Kälte ein Ende zu machen und der Erfüllung seines Auftrags endlich ein ganzes 7

Stück näher zu kommen. Natürlich war ihm bewusst, wie riskant dieses Vorhaben war, aber einen anderen Weg ins Gefängnis hinein hatte er noch nicht entdeckt. Die Sterne wanderten gemächlich über den Nachthimmel, während der junge Mann in seiner kauernden Position verharrte und gerade als er anfing, seine hart antrainierte Geduld zu verlieren, kam Bewegung in die Wachen. Wie auf Kommando und ohne einander auch nur anzuschauen, geschweige denn einander ein Zeichen zu geben, drehten sich die beiden Männer um und stießen die schweren Flügeltüren der Festung auf. Auf Taleor wirkte das Ganze wie eine eingeübte Abfolge von Bewegungen und er war so fasziniert von der stummen Übereinkunft der beiden, dass er beinahe seine einzige Chance verpasst hätte. Hastig sprang er auf und kaum hatten die Wachen ihm den Rücken zugekehrt sprintete er auch schon mit voller Kraft aufs Tor zu. In diesem Moment war er mehr als froh um seine langen Beine, denn wäre er nicht so ein 8

schneller Läufer, würden die nachfolgenden Wachen ihn erwischen und womöglich noch in dieser Nacht in eine ihrer Zellen stecken. Ohne sich umzuschauen rannte Taleor auf das Tor zu, ständig in Bereitschaft, nach dem Bogen auf seinem Rücken zu greifen und einen seiner zahlreichen Pfeile zu zücken, dich das war gar nicht nötig. Unentdeckt und leise wie ein Schatten stieß er die Doppeltür auf und schlüpfte eilig ins Innere des Gefängnisses. Dort blieb ihm allerdings keine Zeit, aufzuatmen oder sich zu orientieren, denn jeden Moment würde die Wachablösung hier vorbeimarschieren und ihn dabei erwischen, wie er in unbefugtem Terrain herumlungerte. Taleor beschloss, sich die Dunkelheit des Ganges, in dem er sich befand zu Nutze zu machen und drückte sich so eng er konnte gegen die Wand. In der Hoffnung sein schwarzer Umhang würde ihn mit der Finsternis des nur durch wenige Fackeln beleuchteten Ganges verschmelzen, verharrte er dort und hielt 9

gespannt seinen Atem an. Schritte näherten sich und Taleor wagte kaum zu blinzeln, als zwei Männer in den gleichen klappernden Rüstungen wie ihre Vorgänger an ihm vorbeischlenderten. Den Göttern sei Dank waren sie in ein ernstes Gespräch vertieft und traten ins Freie, ohne Taleors Anwesenheit zu bemerken. Der junge Mann konnte sein Glück kaum fassen, als er sich von Wand löste und den düsteren Gang entlangschlich. Vielleicht war sein Vorhaben ja doch nicht so aussichtslos, wie es im zu Beginn erschienen war. Er war jedenfalls schon weiter gekommen, als er jemals vermutet hätte. Allmählich drang schwaches Licht an Taleros Augen und der Gang, in dem er sich befand wurde zunehmend schmaler, bis er schließlich in einem großen, kreisrunden Saal endete, bloß noch wenige Schritte von Taleor entfernt. Er hörte Stimmen aus der Richtung des Saals und auch leise Schritte auf dem steinernen Boden. Der Geruch nach vergilbtem Papier, 10

der ihm in die Nase stieg, wirkte hier seltsam deplatziert. Unschlüssig, was er als nächstes tun sollte, blickte Taleor sich um. Er glaubte aus dem Augenwinkel eine rasche Bewegung wahrgenommen zu haben und wollte gerade nach dem Messer an seinem Gürtel greifen, als etwas aus dem Schatten auf ihn zuschoss und gegen seine Brust drückte. Er wurde gegen die Wand gepresst und die Luft wich bei dem unsanften Aufprall aus seiner Lunge. Taleor keuchte auf und wollte die Gestalt wegdrücken, welche ihn angegriffen hatte, doch ihr Griff war zu fest. Das Herz des jungen Mannes fing an zu rasen und er versuchte, die aufsteigende Panik, welche sich in ihm breitmachte, zu unterdrücken. Das war‘s wohl. Sie hatten ihn entdeckt. Eigentlich war es ja nur eine Frage der Zeit gewesen, vermutlich hatten sie schon von Anfang gemerkt, dass er in die Festung eingedrungen war. Was sie jetzt wohl mit ihm vorhatten? Ihn in eine ihrer Zellen stecken? Ihn foltern? Oder drohte einem 11

beim Einbruch in das landesgrößte Gefängnis sogar die Todesstrafe? Taleor hatte keine Ahnung, doch eines wusste er mit Sicherheit: Keine dieser Möglichkeiten würde er sich einfach so gefallen lassen. Gerade wollte Taleor ausholen und seinem Gegenüber einen heftigen Hieb ins Gesicht verpassen, da vernahm er von diesem eine vertraute Stimme. „Was soll das eigentlich, hier so blauäugig in den Gängen herumzuspazieren? Ist dir klar, was passiert, wenn du von den anderen Wärtern erwischt wirst?“, zischte der kleine, stämmige Mann, welcher Taleor mit einer Hand gegen die Wand drückte. Nun lag sein Gesicht im Schein einer kleinen Fackel und Taleor erkannte es ebenso wie zuvor die Stimme. Ein Gefühl immenser Erleichterung machte sich in ihm breit. „Lass mich los, Sael“, befahl Taleor wütend und versuchte, sich dem eisernen Griff des Gefängniswärters zu entwinden. „Du solltest wissen, dass es keine gute Idee ist, sich an ei12

nen bewaffneten Mann heranzuschleichen.“ Bei diesen Worten lachte Sael spöttisch auf, ließ aber von Taleor ab und trat einen Schritt zurück. „Als ob du mit deinem lächerlichen Bogen hier drin irgendeinen Schaden anrichten könntest“, gab der Kleinere zurück und stemmte seine wulstigen Hände in die Hüften. Taleor musterte ihn rasch von oben bis unten und stellte fest, dass Sael weder die Rüstung noch den Speer trug, wie die Wachen vor dem Tor es taten. Lediglich ein einfacher Brustharnisch schützte seinen Oberkörper und an seiner rechten Hüfte baumelte ein breites Säbel, welches zur Selbstverteidigung bestimmt vollkommen ausreichte. Vermutlich rechneten die Wärter innerhalb der Mauern nicht damit, dass irgendjemand bedrohliches überhaupt bis zu ihnen vordringen könnte. Nun, da belehrte Taleor sie wohl gerade eines Besseren. „Dieser Bogen hier funktioniert einwandfrei, keine Sorge. Aber das tut jetzt hier nichts zur Sache“, meinte Taleor und zupfte die Kapuze 13

seines Umhangs zurecht, sorgsam darum bemüht, möglichst viel von seinem Gesicht in deren Schatten zu verbergen. „Wieso tauchst du erst jetzt auf? Ich dachte, du wolltest mir helfen. So lautet jedenfalls die Vereinbarung.“ „Du musst mich nicht daran erinnern, wie die Vereinbarung lautet. Ich habe zugestimmt, dir dabei zu helfen, zum Gefangenen zu gelangen. Davon dich in die Festung einzuschleusen war nie die Rede“, brummte der Mann und kratzte sich an den Stoppeln seines Bartes. „Aber wie ich sehe, hast du das auch ganz gut alleine hinbekommen.“ „Das siehst du ganz richtig. Jetzt aber genug geredet, bring mich zu der Zelle, über die wir uns unterhalten haben.“ Taleors Blick war eindringlich auf den stämmigen kleinen Mann vor ihm gerichtet, welcher bei seinen Worten argwöhnisch die Augen zusammenkniff. „Erst meine Bezahlung“, verlangte Sael und richtete sich zu seiner vollen, nicht besonders beeindruckenden Grösse auf. „Ich traue Leuten von deiner Sorte nicht.“ 14

Taleor verschränkte die Arme vor der Brust. Aus der Halle in ihrer Nähe drang das Geräusch von Schritten, die Zeit zu handeln wurde allmählich knappt. Doch deshalb würde er jetzt nicht einfach klein beigeben. „Leute von meiner Sorte haben ihre Aufträge zu erledigen. Und dieser hier duldet keinen weiteren Aufschub. Du bekommst deine Bezahlung, sobald du deinen Teil der Vereinbarung erfüllt hast und keine Sekunde früher, verstanden“, knurrte Taleor, mühsam darum bemüht, seine Stimme gesenkt zu halten. Er beugte sich zu Sael hinüber und starrte den älteren Mann so drohend an, wie er konnte. Dieser zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Hör zu, Junge“, zischte er ebenso warnend wie misstrauisch. „Das Ganze hier fällt mir nicht gerade leicht. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, bin ich gerade dabei, wegen dieser Vereinbarung all die Leute in diesem Gefängnis und meine ganze Arbeit als ehrenhafter Wärter zu verraten. Es ist also nur gerecht, 15

von dir die Bezahlung zu verlangen, für die ich all das hier tue.“ Taleor packte Sael unsanft bei den Schultern und sprach mit eindringlicher Stimme. „Glaubst du etwa, es gefiele mir auch nur im Geringsten besser als dir, einen GefängnisInsassen aus einer Zelle zu befreien, in welcher er bestimmt aus gutem Grund sitzt? Das tut es nämlich nicht! Aber ich habe meinen Auftrag zu erfüllen und dazu muss ich nun mal zu diesen Maßnahmen greifen. Entweder hörst du auf zu zetern und hilfst mir jetzt wie versprochen dabei, oder wir vergessen die Bezahlung und ich finde selbst einen Weg, ihn aus seiner Zelle zu holen.“ Sael schwieg für einen Moment und befreite sich unwillig aus Taleors Griff, die Augen verärgert auf das Gesicht des jungen Mannes gerichtet. Er knirschte mit den Zähnen, doch obwohl er so lange zögerte, wusste Taleor, dass er ihn bereits am Haken hatte. Sael mochte vielleicht ein Feigling sein, doch er hielt 16

seine Versprechen, das hatte Taleors Auftraggeber ihm versichert. „Als ob du hier alleine auch nur weiter als drei Schritte kommen würdest, ohne entdeckt zu werden“, murrte der Gefängniswärter mehr zu sich selbst und nickte schließlich widerwillig. „Na gut, komm mit. Ich bringe dich zu der Zelle. Versuch, auf dem Weg dorthin möglichst den Mund nicht aufzumachen. Und glaube mir, wenn du auch nur daran denkst, mit meiner Bezahlung in der Tasche wieder aus dem Gefängnis zu fliehen, werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass man dich in eine der Zellen im Kerker wirft, wo du den Rest deines Lebens vor dich hin faulen kannst.“ Ohne Taleors Reaktion auf diese Drohung abzuwarten, trat Sael zurück in den Gang und bedeutete dem jungen Mann mit einer Geste, ihm zu folgen. In dem riesigen Saal am Ende des Ganges befand sich nichts Weiteres als ein großer, steinerner Tisch, auf dem sich ordentlich gefaltete 17

Umschläge und Schriftrollen aus Pergament stapelten. Auch dieser Raum war bloß von einigen wenigen Fackeln beleuchtet und so hätte Taleor die breite Gestalt, welche hinter dem Tisch auf einem kleinen Stuhl saß, aufgrund der Düsternis beinahe nicht bemerkt. Beim zweiten Blick allerdings fragte sich Taleor, wie er die Gestalt hatte übersehen können. Sie war riesig und trotz des fahlen Kerzenscheins zeichnete sich ihr Buckel deutlich hinter dem breiten Tisch ab, ebenso wie die prankenartigen Hände, welche geschäftig auf ein ordentliches Stück Pergament kritzelten. So lange Taleor das merkwürdige Wesen auch anstarrte, er konnte einfach nicht bestimmen, um was für eines es sich handelte oder welchem Volk es angehörte. Noch nie zuvor hatte er eine Gestalt wie diese hier gesehen und er hoffte schwer, dass er auch nie wieder einer solchen begegnen würde. Noch während die beiden Männer sich dem Tisch in der Mitte des Raumes näherten, packte Sael Taleor am Arm und zückte kommen18

tarlos sein Säbel, das Gesicht zu einer steinharten Fratze verzogen. Obwohl Taleor sich hierbei alles andere als wohl fühlte, blieb ihm jetzt nichts anderes übrig, als auf Sael zu vertrauen und darauf, dass dieser ihn nicht verraten würde. Auch wenn dieser dazu Grund genug gehabt hätte. Vor dem steinernen Tisch blieb Sael stehen und zwang Taleor mit einem Ruck am Arm dazu, es ihm gleich zu tun. Der Gefängniswärter blickte ihn nicht an und gab ihm somit auch keinen versteckten Hinweis darauf, was als nächstes geschehen würde. Er wandte sich direkt an das bucklige Wesen hinter dem Tisch, welches inzwischen endlich von den staubigen Pergamentrollen vor ihm aufblickte und die beiden Männer kritisch musterte. Dabei fiel Taleor auf, dass die Augenhöhlen der Gestalt vollkommen leer waren und sein Gesicht aschfahl und eingefallen, was im starken Kontrast zu seiner ansonsten ziemlich gewaltigen Statur stand. Das Wesen wirkte irgendwie unwirklich, wie es da vor ihnen saß und 19

sie ohne Pupillen anblickte, die bleichen Lippen fest aufeinandergepresst und die Hände mitten in der Bewegung erstarrt. Seine Haut war grau und kränklich, so als würde es nur selten das Sonnenlicht zu Gesicht bekommen, was bei der Arbeit, die es hier zu verrichten hatte, vermutlich auch der Fall war. Im Großen und Ganzen wirkte es etwa wie jene Monster, von denen Eltern ihren Kindern erzählen, um sie davon abzuhalten, allein im Wald spielen zu gehen. Nur dass sein ganzes furchteinflößendes Auftreten durch die zahlreichen Papierstapel, hinter denen er Platz genommen hatte, ziemlich abgeschwächt wurde. „Oberster Wärter“, meldete sich Sael mit erstaunlich klarer Stimme zu Wort und blickte dem Wesen vor ihm direkt in die leeren Augenhöhlen. Taleor wusste nicht, ob er dies auch hinbekommen hätte, denn der Anblick des Obersten Wärters jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Schnell konzentrierte er sich wieder auf Sael und dessen Worte. 20

„Ich habe diesen Mann hier erwischt, als er hinter den Wachen ins Gefängnis eingedrungen ist. Scheint so als hätte er vorgehabt, hier herumzuschnüffeln.“ Der Oberste Wärter legte die Schreibfeder in seiner Hand zurück neben das Tintenfässchen und lehnte sich über den Tisch hinweg zu ihnen vor. Taleor konnte nicht mit Sicherheit sagen, wen von ihnen er ansah oder ob er überhaupt etwas sehen konnte, aber wenn doch, dann war der Blick des buckligen bestimmt auf ihn fixiert. „Ein Schnüffler, was?“, knurrte er mit merkwürdig hohler Stimme, die von den kalten Steinwänden widerzuhallen schien. „Nennt mir seinen Namen.“ Sael räusperte sich und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Das ist das Problem, Herr. Er will mir weder seinen Namen noch seine Absichten hier verraten. Ich habe ihm bereits gedroht, doch er schweigt weiterhin hartnäckig.“ Sael sagte dies so ernsthaft und ungerührt, dass Taleor es ihm vermutlich 21

selbst geglaubt hätte, hätte er es nicht besser gewusst. Der Oberste Wärter jedenfalls schien überzeugt und Taleor zog überrascht die Augenbrauen hoch. Wer hätte gedacht, dass in diesem einfachen Gefängniswärter ein so geübter Lügner steckte? Der Bucklige kratzte sich am Kinn und nahm dann wieder seine Schreibfeder zur Hand, ebenso wie ein leeres Stück Pergament. „Nun, solche wie ihn gibt es h hier ja haufenweise. Wir werden all das schon noch aus ihm herausquetschen, da habe ich keine Zweifel. Wirf ihn für die Nacht in eine Zelle und morgen werden wir seine Zunge ein wenig lockern“, befahl er und begann, in krakeligen, unleserlichen Buchstaben etwas auf die leere Seite zu kritzeln. Für ihn war die Sache damit beendet und Taleor spürte, wie Sael neben ihm erleichtert aufatmete. „Natürlich, Herr. Ich werde ihn höchstpersönlich in eine der Zellen im Westturm bringen“, meinte er und sein Griff um Taleors Handgelenk verstärkte sich, während er den 22

jungen Mann vom Tisch wegzog und in Richtung der hinteren Wand zerrte. „Tu das“, sagte der Oberste Wärter, bereits wieder völlig in seine Arbeit vertieft und ohne den beiden Männern weitere Beachtung zu schenken. Noch immer ohne ein Wort zu sagen steuerte Sael Taleor eine breite Treppe hinauf, welche letzterem bisher noch gar nicht aufgefallen war. Erst jetzt, da er sich vom steinernen Tisch entfernt hatte, bemerkte er, dass von diesem Saal aus zahlreiche Gänge und Treppen in die unterschiedlichsten Richtungen wegführten und plötzlich war er froh, dass Sael in diesem Moment an seiner Seite war und ihn in die richtige Richtung lenkte. Ohne ihn hätte der junge Mann bestimmt Tage gebraucht, um dieses Labyrinth zu durchschauen und jene Zelle zu finden, in der sich seine Zielperson befand. Wenn er nicht vorher von dem buckligen Obersten Wärter höchstpersönlich erwischt und in eine seiner wertvollen Zellen geworfen worden wäre. 23

Die beiden Männer bogen in einen langen, tunnelartigen Gang ein, welcher derart viele gewundene Abzweigungen besaß, dass es Taleor beinahe schwindlig wurde. Ihre Schritte hallten laut von den Wänden wider und ließen das Schweigen zwischen den beiden noch unheilvoller erscheinen, als es ohnehin schon war. Saels Hand umklammerte noch immer das Heft seines Säbels, welches inzwischen wieder in seiner Scheide steckte und um sich davon abzulenken beschloss Taleor, ein Gespräch zu beginnen. „Eure Sicherheitsmaßnahmen sich recht fragwürdig, was?“, meinte er mit einem Seitenblick auf Sael, welcher noch immer eine völlig ausdruckslose Miene zur Schau trug. „Was lässt dich das glauben?“, erwiderte der Wärter gelassen. Wieder ging es eine Treppe hinauf, dieses Mal allerdings eine schmale Wendeltreppe. Taleor zuckte beiläufig die Achseln. „Nun ja, für mich war es ja nicht gerade schwierig, hier hineinzugelangen. Das habe ich eurer unvor24

sichtigen Wachablösung zu verdanken. Und der Oberste Wächter scheint auch nicht gerade ein wachsames Auge zu sein.“ Bei dieser Bemerkung musste Taleor unwillkürlich schmunzeln, als er an die leeren Augenhöhlen des buckligen Monsters dachte. „Außerdem sind wir auf unserem Weg bisher noch keinem einzigen anderen Wärter begegnet.“ Sael warf Taleor einen Seitenblick zu und runzelte die Stirn. „Du solltest eigentlich froh sein, dass bei dir bisher alles so reibungslos verlaufen ist. Unsere Sicherheitsmaßnahmen sind mehr als ausreichend, glaub mir. Dieses Gefängnis wird nicht umsonst das ‚bestgesicherte Gefängnis im ganzen Land‘ genannt.“ Er warf einen Blick über die Schulter und beschleunigte seine Schritte. „Und dass wir keinen Wärtern begegnet sind liegt daran, dass in diesem Teil des Gefängnisses bloß sechs Zellen besetzt sind. Und bloß eine davon befindet sich hier im Westturm. Dennoch sollten wir uns besser beeilen.“ 25

Er zerrte Taleor unsanft die Treppe hoch, wobei dieser mehrmals stolperte, aber das schien Sael nicht sonderlich zu kümmern. Er wollte das hier so schnell wie möglich hinter sich bringen, das war alles. Nach einer anstrengenden Weile kamen die beiden am oberen Ende der Treppe an, wo ihnen eine steinerne Wand mit einem auf Augenhöhe eingelassenen, vergitterten Loch darin den Weg versperrte. Taleor blieb verwirrt stehen und blickte Sael an, als hätte dieser den Verstand verloren. „So, da wären wir. Das hier ist die Zelle, nach der du gefragt hast“, sagte der ältere mit einem düsteren Ausdruck in den Augen. „Soll das ein Witz sein?“, gab Taleor ungläubig zurück und starrte Sael wütend an. „Hier gibt es ja nicht einmal eine Tür! Das hier ist bloß eine verdammte, türlose Steinwand!“ Sael lächelte geheimnisvoll und trat einen Schritt näher an die dicke Wand heran. „Für dich vielleicht schon. Aber für uns Wärter gibt 26

es hier sehr wohl eine Tür. Man braucht nur den richtigen Schlüssel.“ Er zückte etwas aus seiner Tasche, das tatsächlich große Ähnlichkeit mit einem Schlüssel aufwies und stach damit scheinbar ziellos in die Wand. Zu Taleors Überraschung blieb der Schlüssel stecken und der Stein darum herum begann zu verschwimmen und Wellen zu werfen, genauso wie wenn man einen Kiesel ins Wasser wirft. Es sah fast so aus, als würde die Wand direkt vor seinen Augen schmelzen und zerfließen und Taleor blinzelte ungläubig, ohne recht zu verstehen, was da vor sich ging. Erst, als sich aus der scheinbar flüssigen Wand eine Tür herauszubilden begann, begriff Taleor, dass Sael die Wahrheit gesagt hatte. Hinter dieser Wand befand sich tatsächlich eine Zelle, und zwar genau die Zelle, in welcher jene Person eingesperrt war, wegen der der junge Mann die beschwerliche Reise hierher auf sich genommen hatte. „Du solltest dich beeilen, Junge. Wir haben nicht alle Zeit der Welt hier“, riet Sael ihm, als 27

die schwere Steintür mit einem unheimlichen, schleifenden Geräusch aufschwang und den Blick auf die kleine Zelle dahinter freigab. „Und erwarte bloß keine allzu überschwängliche Begrüßung. Er sitzt immerhin schon seit mehr als acht Jahren in diesem Drecksloch fest.“ Die schwere Tür schlug mit lautem Poltern hinter Taleor zu, doch dieser blickte nicht zurück. Sael stand draußen auf der anderen Seite und passte auf, dass diese kleine Unterhaltung hier ungestört vonstattengehen würde, darauf vertraute Taleor. Er hoffte bloß, dass er inzwischen gelernt hatte, sein Vertrauen in die richtigen Personen zu setzen. In der Zelle erwartete ihn alles verschlingende Dunkelheit und so konnte er sich schon mal die Zeit sparen, sich darin genauer umzusehen. Es gab keine Öllampen, keine Fackeln, nicht einmal eine einzige, winzige Kerze und das einzige Licht im Raum war ein Streifen Mondlicht auf dem Boden, welches durch das kleine, vergitterte Fenster in der hinteren 28

Wand hereinfiel. Doch der Insasse dieser Zelle saß nicht wie erhofft inmitten das blassen Lichtstrahls- das wäre natürlich viel zu praktisch für Taleor gewesen. Stattdessen hielt er sich irgendwo in einer Ecke im Dunkeln verborgen, was die ganze Sache bloß unnötig verkomplizierte. Taleor seufzte und kniff die Augen zusammen, in der Hoffnung, vielleicht wenigstens so etwas wie einen Schatten ausmachen zu können, welcher sich möglicherweise von der restlichen Finsternis hier im Raum abhob. Vergebens. Er musste es wohl anders versuchen, denn er hatte nun wirklich keine Zeit für irgendwelche Spielchen. Er trat noch einen Schritt in den Raum hinein und der modrige Geruch der Verwesung stieg ihm in die Nase und ließ ihn beinahe würgen. Er unterdrückte den Brechreiz und rief mit möglichst klarer und deutlicher Stimme in die Düsternis hinein: „Ich weiß , dass du irgendwo hier drin bist und dich verbirgst. Wieso lassen wir dieses Versteckspiel nicht einfach 29

und du zeigst dich mir?“ Stille folgte auf seine Worte, dann glaubte Taleor zu seiner Rechten ein Rascheln zu vernehmen, ganz leise nur, wie wenn jemand in Stroh wühlt. Sofort weckte dieses Geräusch seine Aufmerksamkeit. „Ich bitte dich. Ich möchte mir bloß mit dir unterhalten.“ Noch immer vollkommenes Schweigen. Eine Weile noch wartete Taleor auf eine Antwort, während er es allmählich leid wurde, hier inmitten dieser stockfinsteren Zelle zu stehen und ins Nichts hinein zu sprechen. Er kam sich dabei vor wie ein Verrückter. Doch plötzlich erhob sich eine Stimme, genau in jener Richtung, aus welcher zuvor das raschelnde Geräusch erklungen war. Sie war rau und leise, aber dennoch hatte sie einen sehr tiefen, vollen Klang. Eindeutig männlich. …

30

Fast alle im AAVAA Verlag erschienenen Bücher sind in den Formaten Taschenbuch und Taschenbuch mit extra großer Schrift sowie als eBook erhältlich. Bestellen Sie bequem und deutschlandweit versandkostenfrei über unsere Website: www.aavaa.de Wir freuen uns auf Ihren Besuch und informieren Sie gern über unser ständig wachsendes Sortiment.

31

www.aavaa-verlag.com

32