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17.06.1971 - tik und Publizistik an der Freien Universität Berlin studiert. Daneben schrieb und .... Plus Auslösung und Erschwerniszulage.« »Als Honorarkonsul?« ... Personal für die Instandhaltung von Bohrinseln. Sie sind jung, machen ...
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BETTINA KERWIEN

Machtfrage

A LT E F E I N D S C H A F T E N

© Foto Hollin

Ex-RAF-Mitglied Martin Landauer glaubt mittlerweile eher an die Macht des Geldes als an den bewaffneten Kampf. Er räumt ein Erddepot seiner früheren Gesinnungsgenossen aus und vermehrt das Geld an der Börse. Zusammen mit Lennard Johannson gründet er eine Stiftung, die sich der Wiedergutmachung von gesellschaftlichem Unrecht widmet und viel Geld in soziale Projekte steckt. Nicht nur deshalb ist die Stiftung Hans Grendel, dem Staatssekretär, ein Dorn im Auge. Als die Festung Auenwehr, der Sitz seiner Ahnen, zur Versteigerung ansteht, überbietet ihn die Stiftung und siedelt sich dort an. Ab sofort setzt Grendel alles daran, der Stiftung zu schaden und die Festung zurückzuerlangen. Johannson kann im Kampf gegen Grendel Alexander Schmidt für sich gewinnen, einen jungen Mann, der eigentlich nur sein Leben leben will. Er wurde von Johannsons neuer Lebensgefährtin aufgezogen, ahnt nicht, wie tief er in den Konflikt verstrickt ist. Die Situation eskaliert, als die totgeglaubte RAF-Legende Michael Glass einen Anschlag plant.

Bettina Kerwien wurde 1967 geboren und hat Amerikanistik und Publizistik an der Freien Universität Berlin studiert. Daneben schrieb und fotografierte sie für verschiedene Zeitungen. 1989 gründete sie die Werbeagentur »Horizonte« und hob die Berliner Handball-Fachzeitschrift »HiB« aus der Taufe. 1997 erwarb sie gemeinsam mit sieben Kollegen ein traditionelles Stahlbau-Unternehmen. Nach einer beruflichen Zäsur im Jahr 2004, die sie zur Geschäftsführerin dieses Unternehmens machte, widmete sie sich dem Schreiben. Mit »Machtfrage« gibt sie ihr Debüt im Gmeiner-Verlag.

BETTINA KERWIEN

Machtfrage

Kriminalroman

Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Elmar Klupsch

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet: www.gmeiner-verlag.de © 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0 [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2015 Lektorat: Sven Lang Herstellung: Mirjam Hecht Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – Burger Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-8392-4673-3

Für Bine

soll der geier vergissmeinnicht fressen? hans magnus enzensberger verteidigung der wölfe gegen die lämmer

Gläubige, gebt Almosen von eurem risq (dem, was ich euch zum Unterhalte verlieh), bevor der Tag kommt, an dem es kein Unterhandeln, keine Freundschaft und keine Fürbitte mehr gibt. Der heilige Koran, Sure Al-Bakarah 2:254 

PROLOG berlin, am hohenzollern-kanal donnerstag, 17. juni 1971, 16:32 uhr Michael Glass trägt enge Jeans mit Schlag und eine taillierte Lederjacke. Es ist Frühsommer. Die Vögel singen. Der Hohenzollernkanal glitzert in der Sonne. Glass geht spazieren, schiebt den Kinderwagen am Wasser entlang. Da teilen sich links die Büsche. Vier Vermummte springen auf den Weg, schießen ohne Vorwarnung. Glass reißt den Kopf herum, duckt sich. Die Kugel dringt oberhalb des rechten Ohrs in seinen Schädel ein. Er bricht zusammen, fällt auf den Kinderwagen. Der Wagen rollt los, Richtung Kanal. Zwei Vermummte stoppen ihn, zerren den leblosen Körper zu Boden. Das Kind schreit wie am Spieß. Ein Angreifer hebt die Babydecke hoch, presst sie dem Kleinen aufs Gesicht. Dann ist Ruhe. Ein Funkgerät knistert. »Status?«, schnarrt es. »Finaler Rettungsschuss.« »Gratuliere!« Die Vermummten rollen einen schwarzen Plastiksack aus. Sie ziehen den Reißverschluss auf, wälzen den toten Michael Glass hinein, beschweren den Sack mit einer Kette. Einer sticht Löcher in das Plastik. Danach wuchten sie ihn in den Kanal. Er schaukelt noch ein bisschen auf der Wasseroberfläche, dann versinkt er. Als die letzten Luftblasen aufsteigen, tauschen die Vermummten zufriedene Blicke. Bleibt nur noch der Kinderwagen und sein lästiger Inhalt. 7

berlin-spandau, kraftwerk reuter west, block D montag, 28. juni 1993, 8:58 uhr Alexander Schmidt klappte das Visier herunter und drückte auf die Vorschubtaste. Es spritzte und puffte. Der verdammte Gaskegel zerflatterte ihm, als hätte er zum ersten Mal in seinem Leben eine Schweißpistole in der Hand. Eine Kaltfront aus Skandinavien. Im Radio hatten sie vor Bodenfrost gewarnt. Die Stahlträger waren viel zu kalt. »Hallo? Junger Mann?« Eine hohe Zitterstimme. Besuch. Auch das noch. Der Mann sah aus wie ein dicklicher Tatort-Kommissar kurz vor der Pensionierung. Er presste sich mit dem Rücken an die Tür des Lastenfahrstuhls und beäugte misstrauisch die Gitterroste vor ihm. Der arme Kerl musste sich verlaufen haben. Schmidt klappte das Visier seines Schutzhelms hoch und legte die Schweißpistole beiseite. Hier auf Block D konnte man durch die Gitterroste 75 Meter in die Tiefe sehen. Der Fremde umklammerte mit einer Hand seine Aktentasche, mit der anderen winkte er zaghaft. Schmidt nahm den Helm ab und schraubte seine Gasflaschen zu. Unter ihm lag halb erstarrt die Spree im Frühnebel. Er warf seine Handschuhe über den Drahtvorschub. »Herr Schmidt?« Der Besucher tastete sich einen Schritt vor, als würde er eine Eisfläche betreten. »Sind Sie das?« »Warten Sie.« Schmidt wollte auf gar keinen Fall unhöflich erscheinen. Er balancierte über den Träger, an dem er gerade noch geschweißt hatte, hinüber zum Fahrstuhl. »Ich bin Alexander Schmidt«, sagte er. Der Besucher umklammerte seine Hand wie einen Rettungsanker. »Der, den sie Ali nennen? Originelle Abkür8

zung für Alexander. Aber eigentlich kein Name für jemanden, der aussieht wie’n Zehnkämpfer. Wo kommt der Spitzname her?« Schon in der Grundschule hatten sie ihn so gerufen. Die anderen hatten Mahmut oder Hassan oder Erkan geheißen, und so hatten sie entschieden, sein Name solle Ali sein. »Passte irgendwie«, sagte er. Sein Haar war dunkler gewesen als das seiner Schulkameraden, auch war er größer und seine Haut heller. »Ganz schön luftig haben Sie es hier.« Der Mann lächelte gequält. »Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich? Mein Name ist Karl-Heinz Harvichsbeck.« Er fischte eine Visitenkarte aus der Innentasche seines Trenchcoats und hielt sie Ali hin. Ali nahm die Karte. »Private Arbeitsvermittlung? Sind Sie sicher, dass Sie den richtigen Fahrstuhl genommen haben?« Harvichsbeck grinste und wies mit dem Kinn auf Alis Schweißgerät. »Ich suche nach dem Mann, von dem ich in der Kantine gehört habe, dass er – und ich zitiere – einfach alles zusammenbrät, was man ihm hinlegt.« Ein Lieblingsspruch von Richtmeister Krause. »Das bin ich dann wohl«, gab er zu. Harvichsbeck lächelte. »So wie der Meister geschwärmt hat, hätte ich einen älteren Mann erwartet. Alle Achtung. Machen Sie was draus. Ich hab ein Jobangebot für Sie. Interessiert?« Der Wind blies Raureif über das Kesseldach und wehte ein paar Eiskristalle zu ihnen hinein. Sie tanzten in der Sonne. Das konnte Harvichsbeck nicht gesagt haben, entschied Ali. Er schob ihn beiseite und drückte auf den Fahrstuhlknopf. »Ich habe jetzt Pause«, sagte er. 9

»Ihre Kollegen sitzen ja schon seit einer halben Stunde in der warmen Kantine.« Harvichsbeck lächelte bauernschlau. Darüber machte sich Ali keine Illusionen. Es war kurz vor neun, und er war seit 5 Uhr auf den Beinen. Ohne Frühstück. Dafür mit einem beständig zunehmenden Druck in den Stirnhöhlen. »Die lassen Sie hier die Drecksarbeit machen«, bemerkte Harvichsbeck. »Verdienen Sie wenigstens gut?« Ali strich sich das Haar aus der Stirn. Suchte in der Brusttasche seines Blaumanns nach Taschentüchern. Fand sie nicht. »Sie fragen den Meister, ob er einen guten Schweißer hat«, sagte er. »Sie wollen mich abwerben. Das ist auch Drecksarbeit.« Harvichsbeck tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Sagen wir mal, Sie verdienen 20 Mark die Stunde.« Seine hohe Stimme überschlug sich vor Begeisterung. Warum kam der verdammte Fahrstuhl nicht? »Ich kann Ihnen einen Job vermitteln, wo Sie das Doppelte verdienen. Plus Auslösung und Erschwerniszulage.« »Als Honorarkonsul?« »Sie sind Schweißer, also biete ich Ihnen einen Job als Schweißer an. Bei einer Ölgesellschaft. Die suchen gutes Personal für die Instandhaltung von Bohrinseln. Sie sind jung, machen Sie was aus Ihrem Leben. Sie können die Welt sehen, und das ist ein Sprungbrett für eine schöne Karriere. Mit Pensionsansprüchen.« Ali überlegte, ob Krause ihn kurz zur Apotheke gehen lassen würde, Aspirin holen. Harvichsbeck hatte sich warm gequasselt. »Sie fahren zur Schulung in die Staaten  – ein, zwei Monate Texas. Sonnenschein, Mädels, Bier, Rodeo – was 10

Sie wollen. Und dann geht es los, ab auf eine Ölbohrinsel vor Norwegen oder nach Alaska oder in den Mittleren Osten. – Sie können doch Englisch?« Der Aufzug kam. Es war ein riesiger Lastenfahrstuhl, aber Harvichsbeck baute sich so dicht vor ihm auf, dass Ali trotz seiner zuschwellenden Nase billiges Rasierwasser roch. »Klingt das super?«, fiepte der Arbeitsvermittler. Ali sah durch ihn hindurch. Er würde nirgendwo hingehen, schon gar nicht zum Rodeo. »Wollen Sie mal einen Mustervertrag sehen?« Harvichsbeck machte Anstalten, seine Aktentasche zu öffnen. Ali packte ihn am Kragen seines Trenchcoats und hob ihn hoch. Dickerchen war leichter, als er gedacht hatte. Ein paar Nähte platzten. Ein Knopf sprang ab. Harvichsbeck wurde blass. Seine Augen quollen aus den Höhlen. Ali hielt ihn einen Moment fest. »Ich habe kein Interesse«, sagte er ruhig. Stellte ihn wieder ab. Harvichsbeck hyperventilierte, riss an seinem Hemdkragen. Der Fahrstuhl stoppte, die Türen glitten auf. Harvichsbeck schoss an Ali vorbei ins Freie, lief im Krebsgang vor ihm her. »Sie machen einen Fehler!« Seine Stimme kiekste vor Wut. »Warum benutzen Sie statt Ihrer Hände nicht mal Ihren Kopf? Rufen Sie mich an. Aber warten Sie nicht zu lange! Andere sind nicht so zögerlich!« Texas, dachte Ali. Die Vorstellung jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Er wusste nicht mehr über Amerika als das, was man im Fernsehen sah, aber er war 23, er war Westberliner, und manchmal wurde er von einem ungeheuren Fernweh gepackt, das ihm die Luft abdrückte. 11

Weggehen. Die Kondensstreifen der Flugzeuge. Das Meer sehen. Alaska. Irgendwann würde er das tun. Aber nicht in diesem Sommer. Denn dies war der Sommer, in dem Onkel Roberto sterben würde.

bonn, innenministerium montag, 28. juni 1993, 10:25 uhr Der Tag nach Bad Kleinen. Zwei Tote, zwei Verletzte bei der Operation ›Weinlese‹. Als Polizeikoordinator des Innenministeriums hatte Hans Grendel seit mehr als 24 Stunden nicht geschlafen. Ein Desaster. Statt eines kontrollierten Zugriffs ein Shoot-out im wilden Osten. Und jetzt machte die Presse die Täter zu Opfern: RAF-Terrorist Wolfgang Grams sei von der GSG 9 hingerichtet worden, hieß es. Durch das Fenster des Sitzungssaals konnte Grendel den Rhein sehen, dessen breites Band unter einer kalten Sonne glitzerte. Er hatte keine Zeit für Krisensitzungen. Auf dem Videomitschnitt des Einsatzes hatte er etwas Unglaubliches gesehen, das nach seiner Aufmerksamkeit schrie. Aber der Innenausschuss tobte, verlangte Antworten, Notfallpläne. Köpfe sollten rollen. Der Innenminister hatte Grendel zu diesem informellen Treffen ins Ministerium geschickt, nur ihn, ein hochrangiges Kabinettsmitglieder und den BKA-Terrorismus-Chef. Der Kollege von der Bundespolizei hatte einen Bogen Packpapier mit einer Tatortskizze vom Bahnhof Bad Klei12

nen an eine Tafel gepinnt. Nervös fasste er die gestrigen Geschehnisse zusammen. Der Mann hatte offenbar Angst um seinen Job. Er knetete seinen Zeigestock. »Die Aktion ›Weinlese‹ war nur auf Frau Hogefeld ausgerichtet. Sie hat mit unserem V-Mann einen Kurzurlaub in Wismar verbracht. Wir hören sie ab, sie sagt dem V-Mann, sie will sich nachher noch mit anderen Genossen treffen. Wir entscheiden, dass wir dieses Treffen abwarten und dann erst zugreifen. Hogefeld und der V-Mann steigen also in einen Zug nach Bad Kleinen, treffen dort um 13 Uhr ein.« Der BKA-Experte wies mit einem Zeigestock auf Bahnsteig 1/2. »Um 14 Uhr beobachten wir dann, dass Hogefelds Lebensgefährte Wolfgang Grams ankommt.« »Wie viele Beamten hatten Sie am Bahnhof?«, fragte der Minister. »120  Mann. Bundeskriminalamt und Bundesgrenzschutz.« Der Mann machte sich eine Notiz. »Das erscheint mir ausreichend.« Der BKAler nickte und schluckte hart. »Während sich Hogefeld und Grams begrüßen, entscheidet das Lagezentrum zuzugreifen.« Das war der Kardinalfehler, dachte Grendel, dabei hatten die im Lagezentrum beste Sicht auf alle Observationskameras. Erschreckend. Er fröstelte. Mittlerweile war er in eine Position aufgerückt, die ihm jegliche Illusion über Deutschland raubte. Der Bundespolizist tippte mit seinem Zeigestock auf die Tatortskizze. »Hogefeld, Grams und der V-Mann essen im Bahnhofsrestaurant. Die GSG 9 postiert sich in der Gleisunterführung. Es gibt nur diesen einen Weg aus dem Bahnhof. Die Zielpersonen gehen die Treppe runter. Frau 13

Hogefeld bleibt hier stehen, liest den Fahrplan. Grams und der V-Mann gehen vor, warten am Treppenaufgang zum Bahnsteig 3/4. Sieben Kollegen kommen von hier um die Ecke. Ein Beamter fixiert Frau Hogefeld vor dem Fahrplankasten am Boden. Wolfgang Grams flieht die Treppe hinauf zum Bahnsteig 3/4. Die Beamten hinterher. Grams zieht seine Waffe, erschießt einen Kollegen, schießt den zweiten an. Dann wird er selbst getroffen. Er fällt auf die Bahngleise und stirbt.« »Stirbt?« Der Minister knallte eine Zeitung auf den Tisch. »Im SPIEGEL lese ich, die GSG 9 hat Wolfgang Grams exekutiert? Hier: Grams liegt hilflos auf den Gleisen, und Ihre Leute erledigen ihn mit einem aufgesetzten Schuss in die Schläfe. Ein Super-GAU, Mann. Es hagelt schon Solidaritätsbekundungen aus der Bevölkerung.« Der Minister sprang auf. »Wir kommen rüber wie ein gottverdammter Polizeistaat. Der Innenausschuss fordert eine plausible Erklärung.« Der Bundespolizist wand sich. »Wenn unsere Leute Grams tatsächlich erschossen haben, ist das das Ende der GSG 9, Helden von Mogadischu oder nicht. Und der Innenminister kann auch den Hut nehmen.« Der Minister wurde blass. »Mein Vorschlag: Grams hat sich selbst erschossen. Denken Sie, der Generalbundesanwalt kann das verkaufen?« Grendel schüttelte den Kopf. Der Minister tat ihm leid. Persönlich hatte der Mann sich nichts vorzuwerfen. Trotzdem – entweder ein Mann war ministrabel oder er war bloß ein netter älterer Herr. Der Minister fuhr sich durch die grauen Haare. »Fassen Sie noch mal zusammen, mit wem wir es zu tun haben, Herr Grendel. Vielleicht ergibt sich ein Ansatzpunkt.« 14