Lüge und Linguistik: Pragmalinguistische ... AWS

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Dennis Strömsdörfer

ÜGE inguistik UND

L

Pragmalinguistische Untersuchungen am Beispiel von Politikeraussagen

Diplomica Verlag

INHALT Einleitung ..................................................................................................................... 1 I. Die Lüge in der Sprache – und was sie nicht ist ....................................................... 2 II. Die Lüge in der Linguistik – Zur Sprechakttheorie und darüber hinaus ................. 5 II.1 Erste pragmatische Annäherung................................................................... 5 II.2 Der Ansatz der Sprechakttheorie .................................................................. 6 II.3 Die Konversationsmaximen ......................................................................... 7 II.4 Zur Lügendefinition ..................................................................................... 8 II.5 Lüge als sprachliche Täuschung................................................................. 11 II.6 Relevanz ..................................................................................................... 12 II.7 Lüge und Psychologie ................................................................................ 13 II.8 Lüge und Moral .......................................................................................... 14 II.9 Dialoggrammatik ........................................................................................ 15 II.10 Diskursanalyse und Dialoganalyse........................................................... 16 II.11 Indirektes Lügen ....................................................................................... 16 II.12 Die Lüge in der Politik ............................................................................. 17 II.13 Zusammenfassung .................................................................................... 19 III Empirischer Teil – Wer lügt, gewinnt.......................................................... 21 III.1. Zum Korpus ............................................................................................. 21 III.1.1 Konzept und Hintergrund der Sendung ........................................ 21 III.1.2 Die Transkription .......................................................................... 22 III.2 Analyse des Transkripts ............................................................................ 22 III.2.1 Prinzipientreue – überraschend ** auch anders sein können..... 22 III.2.2 Definition der Lüge – lüge heißt in kenntnis der wahrheit * also bewu"sst * die u"nwahrheit zu sagen ................................ 30 III.2.3 Beim Lügen ertappt – sie sind doch ga"nz weit weg von der wahrheit ....................................................................................... 33 III.2.4 Die Lüge als Ritual – man [...] versucht sich herau"szuwinden ....................................................................... 35 III.2.5 Irrtum und Lüge – möglicherweise hat er einen blackout gehabt .......................................................................................... 41 III.2.6 Lügen-Vorwürfe – das i"mmer und immer die lü"genkeule geschwungen wird ..................................................................... 50 III.2.7 Glaubwürdigkeit – die fernsehbürger [...] sind der e"ffektivste ...... lügenausschuss der republik ..................................................... 53 III.2.8 Wahrheit ist unpopulär – kleines karo gegen großen entwurf ...... 58

III.2.9 Zwischen Lüge und Wahrhaftigkeit – als ob es in der politik nur ko"ntradiktorische gegensätze gäbe .................................................. 70 III.2.10 Relevanz der Aussage – dann ist es mir auch egal wie lang sie währt ................................................................................................... 72 III.2.11 Fakten – ich wei"ß nich wer da was zu papier bringt ............... 75 III.2.12 Trittin und der Krieg – klar * ich hab mich geirrt .................... 81 III.2.13 Fehler in der Politik – wir schwimmen in dieser dicken soße nicht mit .................................................................................................. 83 III.2.14 Die Wirklichkeit im Fernsehen – das plenum des bundestages ist eine bü"hne .......................................................................................... 85 III.2.15 LÜGEN anhand der Sprache erkennen ....................................... 88 III.3 Ergebnisse ................................................................................................. 90 IV Ausblick – Ansätze zu einer kritischen Pragmatik ............................................... 92 V. Bibliographie ......................................................................................................... 94 V.1 Literaturverzeichnis .................................................................................... 94 V.2 Software...................................................................................................... 99 VI. Anhang ............................................................................................................... 100 VI.1 Transkriptionszeichen nach DIDA.......................................................... 100 VI.2 Teilnehmer .............................................................................................. 101 VI.3 Abkürzungen ........................................................................................... 101 VI.4 Transkription ........................................................................................... 102 VI.4.1 Teil I ............................................................................................ 102 VI.4.2 Teil II........................................................................................... 140

Einleitung

Das Lügen aus pragmalinguistischer Perspektive zu beschreiben, ist das Ziel dieser Untersuchung. Dabei kann und darf jedoch das Erkenntnisinteresse nicht dergestalt verstanden werden, dass der Autor versuche, gleichsam eine Definition der Lüge und damit der LügenErkennbarkeit anhand der Sprache zu liefern – ein solcher Versuch muss scheitern, denn die möglicherweise für wünschenswert gehaltene Utopie eines Lebens ohne Lüge ließe alles Weiterleben scheitern und bedeutete das Ende der (sprechenden) Menschheit.1 Wer behauptet, einen Lügner2 zweifelsfrei erkennen zu können, der lügt selbst!3 Aus diesen Gründen soll vielmehr die Position der Lüge in der Pragmalinguistik dargestellt und untersucht werden. Daher spezialisiert sich diese Arbeit auf den verbalen und handlungstheoretischen Aspekt der Sprachhandlung LÜGEN. Weiterhin sollen meine Untersuchungen einen Einblick in die linguistische Einordnung der Lüge und des Lügenbegriffes geben, wobei ich jedoch andere Phänomene sprachlicher Täuschung nicht berücksichtige.4 Zuerst sollen – auch im Hinblick auf den Titel der Arbeit – der Rahmen und die Einordnung erarbeitet und formuliert werden: Was will und kann diese Arbeit aus welchen Gründen leisten und wo liegen ihre Grenzen? Im zweiten Kapitel werden linguistische Ansätze zu einer Pragmatik der Lüge in einem Forschungsüberblick dargestellt: Welche linguistischen Hilfsmittel und Methoden zur Erforschung des Lügens gibt es, was können diese (sprachtheoretischen) Ansätze leisten und wie sind sie zu beurteilen? Der Hauptteil dieses Buches, das dritte Kapitel, bezieht sich auf eine Transkription einer Fernsehsendung, anhand derer die im zweiten Kapitel dargelegten Thesen zu einer Pragmalinguistik der Lüge untersucht werden sollen. Dabei werde ich wegen des zugrunde liegenden Korpus insbesondere auf die Lüge in der Politik eingehen. In Kapitel vier werde ich die Ergebnisse zusammenfassen und einen Ausblick für weitere Forschungen im Bereich der Pragmalinguistik geben.

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Die Annahme mit der Lüge zu leben, zeigt sich auch in Titeln wie z.B. „Kultur(en) der Lüge“ oder „Leben in Lüge“ (Ugreši 1995, Kuran 1997 und Mayer 2003). Vgl. auch die in der linguistischen Lügenforschung wenig beachtete These Sommers, dass die Lüge einen Evolutionsvorteil biete (Sommer 1992; Kritik dazu in Benseler/Blanck/Greshoff/Loh 1993). Aus Gründen der Vereinfachung werde ich in diesem Buch nicht an jeder Stelle sowohl die weibliche als auch die männliche Form verwenden, weise aber darauf hin, dass die jeweils andere immer gleichberechtigt mitgemeint ist. Zu den geschlechtlichen Unterschieden beim Lügen vgl. die Studie von DePaulo/Epstein/Wyer 1993. Und es gibt viele Arbeiten, die sich auf die Erkennbarkeit der Lüge sowohl anhand nonverbaler als auch anhand konkret sprachlicher Merkmale konzentrieren (z.B. forensische Aussagepsychologie); vgl. Ekman 1989, Ders./Frank 1993, Fiedler 1989, Feldman/Forrest/Happ 2002. Ironie, Euphemismen, Metaphern und Schweigen werden ausgeschlossen. Was eine Lüge ausmacht, soll Kapitel II klären.

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I. Die Lüge in der Sprache – und was sie nicht ist

Das Lügen ist ein Sprachspiel, das gelernt sein will, wie jedes andre.5

Warum sollte sich eine pragmalinguistische Untersuchung des Lügens nun auf Ludwig Wittgenstein (zurück)besinnen? Ich meine, dass seine wesentlichen und grundlegenden Gedanken zum Sprachspiel sehr nützlich sein können. Als erster erkannte er die handlungsbezogene Kraft der Sprache6 und versuchte in der Spätphase seines Schaffens jenseits des Ideals einer abstrakten Sprache, das Sprechen der Menschen als Handlungen zu sehen, wodurch er aktuellen theoretischen Ansätzen sehr nahe kommt: Das Wort soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform. (Hervorhebung im Original)7

Auf der Grundlage einer bestimmten Lebensform können Menschen dadurch miteinander sprechen, dass sie Sprachspiele spielen. Erst durch den Gebrauch erlangen diese kommunikative Bedeutung.8 Das Erlernen von Regeln, also das Sich-Verlassen auf Sprachspiele9, erlaubt den Mitgliedern einer Gesellschaft, sich mittels Sprachspielen gegenseitig Bedeutungen mitzuteilen, sich zu verständigen.10 Regeln zu folgen lernen wir durch ihre Anwendung, dadurch, daß wir bestimmte Tätigkeiten ausführen.11

Wittgenstein geht von der prinzipiellen Erlernbarkeit aller erdenklichen Regeln aus, weil sie sich im Gebrauch selbst beweisen müssen und auch ändern können. Außerdem erkennt er die Bewusstheit des Lügens12 und die Absichtlichkeit der Sprache:

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Wittgenstein 1984, PU 249. Dagegen jedoch: Brown 1998, 115: I suggest that it is false that lying is a language game. Nor can pretending be. Zur Rechtfertigung der Sprachspielidee (teilweise auch zum Lügen) vgl. Sedmark 1999. Die gemeinsame menschliche Handlungsweise ist das Bezugssystem, mittels welches wir uns eine fremde Sprache deuten. (Wittgenstein 1984, PU 206); vgl auch Majetschak 1996. Wittgenstein 1984, PU 23. Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. (Ebd., PU 43) Ich verzichte hier darauf, die oft zu Missverständnissen führende Interpretation dieses Satzes im Bereich der Semantik fortzusetzen; vgl. hierzu Kilian 2003, bes. 161. Ich will eigentlich sagen, daß ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas verläßt. (Wittgenstein 1984, ÜG 509). Wittgenstein spricht von Erfahrungssätzen unumstößlicher Gewissheit, von grammatischen Sätzen (z.B. in ebd., PU 474, 251, 248; Z 346; ÜG 274), wodurch sich die Menschen kraft der Übereinstimmung von Urteilen verständigen (Ebd., PU 224). Übereinstimmungen im Regel-Folgen und in irgendeiner Form danach handeln (d.h.: verstehen): Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen. Eine Sprache verstehen, heißt, eine Technik beherrschen. (Ebd., PU 199). Harras 1983, 101. Inwiefern ist mir die Lüge bewußt, während ich lüge? Nur insofern, als sie mir nicht später erst zum Bewußtsein kommt, und ich doch später weiß, daß ich gelogen habe. Das Sich-der-Lüge-bewußt-sein ist ein Können. (Hervorhebung im Original, Wittgenstein 1984, Z 190). Zur Lüge bei Wittgenstein siehe Falkenberg 1980.

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Wenn man das Element der Intention aus der Sprache entfernt, so bricht damit ihre ganze Funktion zusammen.13

Das Lügen als ein weit verbreitetes, alltägliches Phänomen ist gleichsam eine kalkulierte Form sprachlichen Handelns, das bestimmten Regeln folgt. Bevor meine Thesen zu einer pragmatischen Lügenforschung aufgestellt werden können, muss ein noch immer stark verbreitetes Vorurteil über Sprache an sich ausgeräumt werden: Nur ein Sprecher, niemals die Sprache selbst, kann lügen, denn [l]ügende Worte, Sätze oder Sprachen – all diese Wendungen hilfloser, zumal antifaschistischer Sprachkritik – sind ebensolcher Unsinn wie denkende Worte oder ängstliche Sätze.14

Wohl verleitet die Dynamik der Sprache, die Mancher als Unvollkommenheit deutet, den einen oder anderen zu der Annahme, dass die Sprache ihre Benutzer zum Lügen verleite. LÜGEN ist jedoch auf keinen Fall ein erbärmlicher Akt oder eine Strategie der Schwäche15. Vielmehr stellt die Sprache solche Möglichkeiten zur Verfügung, weil sie gerade kein starres System ist, sondern von der unendlichen Vielfalt des Sprechens und ihrer Sprecher lebt. Schon Bolinger erkannte 1973: The words may be there, but it takes people to put them together, and so people may be liars but words are not.16

Weiterhin soll die Wahrheit nicht als eine essentialistische Größe, die einen Wesenskern und einen Ursprung impliziert, Gegenstand dieser Arbeit sein.17 Wahrheit wird nur insofern vorausgesetzt, als die Lüge einem bestimmten Sachverhalt entgegengesetzt werden muss, um überhaupt zu existieren. Daher gehe ich von der Wahrhaftigkeit als Gegenteil der Lüge aus, weil Wahrhaftigkeit sich – im Gegensatz zur Wahrheit – auf eine Äußerung aus der persönlichen Sicht des Sprechers, auf sein Fürwahrhalten, bezieht. Sprecher verfügen über ein im Verlauf der sprachlichen Sozialisation in mehr oder minder festen Regeln unbewusst erlerntes Anwendungswissen der Sprache. Dieses Wissen des Regel-Folgens erstreckt sich auch auf eine Lügen-Kompetenz: Sei es, um zu lügen, oder sei es, um eine Äußerung als Lüge zu bewerten. Regeln des Sprachgebrauchs, also auch des Lügens, werden gelernt und sind veränderbar. Die Anwendung dieser Regeln, das Regel-Folgen, kann dabei glücken oder missglücken. Daraus folgt, dass die Lüge kein Missbrauch und ständiger 13 14 15

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Wittgenstein 1984, PB 20. Burkhardt 1992, 832. Böhme 1994, 84. Vgl. auch folgende Äußerungen: Lügen ist überhaupt eine Sache der Unterdrückten und Untergebenen. [...] Aufrichtigkeit ist also eine Tugend der Vornehmen, Lüge eine Strategie der Unterdrückten. (Ebd., 79 f.). Vgl. dagegen die durchweg positive Bewertung von Täuschungshandlungen in von Senger 1999. Bolinger 1973, 541. Eine meiner Ansicht nach problematische Sichtweise zur Lüge besteht in der Festlegung auf die Wahrheit als Gegenteil der Lüge; z.B. in Campbell 2003. Einen Überblick zur Geschichte der Lüge geben Dietzsch 1998, Shibles 2000, Schockenhoff 2000, Bettetini 2003.

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Regelverstoß sein kann, sondern dass sie ein regelhafter, absichtlicher und bewusster Gebrauch von Sprache – Wittgenstein würde sagen: ein eigenes Sprachspiel – sein muss.18 Geht man von LÜGEN als Sprachgebrauch aus, so muss meiner Meinung nach der Zweck oder das Ziel der Lüge stets berücksichtigt werden, wobei der Erfolg einer Lüge nicht als kausaldeterminierte Folge angesehen werden kann. Die Situation gibt nicht nur Aufschluss über Motive, sondern sie gibt auch Hinweise auf die Erkennbarkeit einer Lüge a posteriori, so dass in einer angewandten Lügenforschung der Kontext nicht vernachlässigt werden darf. Dabei wird auch zu überlegen sein, inwiefern Wertungen in Bezug auf kontextuelle Einflüsse, auf Ziele oder den Zweck in einer Pragmatik der Lüge integriert werden müssen. Denn meiner Meinung nach kann diese nicht isoliert als bloße Theorie gesehen werden, sondern muss vielmehr die Praxis, die Anwendung oder den konkreten Sprachgebrauch mit in die Untersuchung einbeziehen. Die Sprachhandlung LÜGEN ist demnach kein Missbrauch, sondern ein erlernter und damit regelkonformer Gebrauch von Sprache mit bestimmten Zielen, der nur a posteriori erkennbar ist. Eine praxisorientierte Pragmalinguistik der Lüge muss dabei den jeweiligen Kontext und die daraus resultierenden Konsequenzen analysieren und bewerten. Die empirische Untersuchung im Hauptteil soll diese These belegen sowie deren Möglichkeiten und Grenzen aufzeigen.

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So auch schon in ersten Ansätzen Bolinger 1973, 542: [...] when two parties are in communication, anything that may be used which clogs the channel, and is not the result of an accident, is a lie. In zahlreichen neueren Untersuchungen findet sich noch die Missbrauchsthese: Lügen ist sicher – wie jedes andere Symptom [einer Krankheit, D.S.] – die Manifestation einer Störung [...]. (O’Shaughnessy 1998, 60). Auch in der (Ratgeber)Literatur wird oft die These des Missbrauchs der Sprache angeführt; vgl. z.B. Bok 1980, Tarr-Krüger 1997, Ulfkotte 2001.

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II. Die Lüge in der Linguistik – Zur Sprechakttheorie und darüber hinaus

Die Erforschung der Lüge blickt auf eine lange Tradition zurück. Hier soll aber vor allem ein Überblick über die linguistische Lügenforschung gegeben werden, die sich seit ihren Anfängen mit folgendem Problem konfrontiert sieht: [W]ie lassen sich kommunikative Akte analysieren, die darauf angelegt sind, alle Indizien ihrer Existenz zu tilgen?19 Dieses Kapitel soll zeigen, wie bisher mit diesem Dilemma umgegangen wurde und welche theoretischen und praktischen Ansätze die Linguistik bietet.20

II.1 Erste pragmatische Annäherung Eine der ersten und gleichzeitige eine viel beachtete linguistische Beschäftigung mit der Lüge liefert Harald Weinrich21 zu einer Zeit, in der eine pragmatische Methodologie noch nicht zur Verfügung steht. Er entwickelt seine Sicht aus einer die Semantik in den Mittelpunkt stellenden Position. Dies führt dazu, dass er Behauptungen wie Wörter verkleiden das Denken22 ausschließt, aber dennoch betont: Es besteht kein Zweifel daran, daß man mit Sätzen lügen kann.23 Daraus folgert Weinrich, dass beim Lügen das Gegenteil – nämlich die Wahrheit – gedacht werden muss, so dass er Augustinus’ Forderung der Täuschungsabsicht scheinbar erweitert: Die Linguistik sieht demgegenüber eine Lüge als gegeben an, wenn hinter dem (gesagten) Lügensatz ein (ungesagter) Wahrheitssatz steht, der von jenem kontradiktorisch, d.h. um das Assertionsmorphem ja/-nein abweicht.24

Problematisch ist dabei die Sichtweise, dass der Lügner im Besitz der einzig gültigen Wahrheit ist und dass diese Wahrheit das Gegenteil des Gesagten sein muss.25 Außerdem lässt diese Definition keine Abstufung des Lügens, wie es sie gerade im alltäglichen Sprachgebrauch so reichlich gibt, zu. Ich zweifle diese Behauptung Weinrichs an, denn allein schon eine Ausrede, die eindeutig auch unter den Begriff Lüge fällt, muss nicht das Gegenteil dessen sein, was zu verbergen versucht wird. Darüber hinaus ist es bis heute nicht bewiesen, ob das Denken denselben Regeln folgt, die auch für die Sprache gelten, ob es sich also um ein gleichsam stilles Sprechen „für oder mit sich selbst“ handelt.

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Mecke 2003, 274. Denn die Lüge sei eine semiotische Anomalie (Ebd.). Falkenberg 1982 und Giese 1992. Weinrich 2000 (6. Auflage; Erstausgabe 1966). Ebd., 33. Ebd., 34. Ebd., 41. So auch die Kritik in Eggs 1976, 316 und 320 f.

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II.2 Der Ansatz der Sprechakttheorie26 John L. Austin27 gibt zu Beginn seiner Ausführungen mögliche Fehlertypen an, die sich durch einen gewissen Grad von Misserfolg auszeichnen, weil die [...] performative Äußerung in der einen oder anderen Weise verunglückt [unhappy]28 ist. Damit der Sprechakt nicht nur vollzogen, sondern im Sinn des Glückens auch erfolgreich ist, muss Folgendes gelten: Zum Zeitpunkt meiner Äußerung muß ich natürlich, um nicht unehrlich zu sein, die Absicht haben [...]29. Er stellt dazu eine Liste von Fehlertypen30 zusammen, von denen 1 (Unredlichkeit) und 2 (Inkonsequenz) einen Missbrauch des Verfahrens darstellen, obwohl die Handlung zustande kommt (also erfolgreich ist).31 1

Wenn, wie oft, das Verfahren für Leute gedacht ist, die bestimmte Meinungen oder Gefühle haben, oder wenn es der Festlegung eines der Teilnehmer auf ein bestimmtes späteres Verhalten dient, dann muß, wer am Verfahren teilnimmt und sich so darauf beruft, diese Meinungen und Gefühle wirklich haben, und die Teilnehmer müssen die Absicht haben, sich so und nicht anders zu erhalten,

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und sie müssen sich dann auch so verhalten.32

Die Handlung findet nach Austin statt, ist jedoch unredlich, wenn der Sprecher z.B. die vorgebrachten Gefühle nicht hat. Für Meinungen stellt Austin sogar eindeutig fest: [...] hier macht die Unehrlichkeit den wesentlichen Unterschied zwischen Lüge und der zutreffenden Behauptung aus33. Darüber hinaus setzt er, wie gerade gezeigt, die Absicht voraus.34 Einen Irrtum unterscheidet Austin bereits von der Lüge, da ein Sprecher hierbei von falschen Voraussetzungen ausgeht.35 Austin grenzt zwar die Lüge schon in einigen Ansätzen durch Unehrlichkeit und Absichtlichkeit ein, jedoch geht er von einem parasitären Gebrauch der Sprache aus, der gerade in Bezug auf seine Fehlertypen zu der problematischen Einschätzung des Missbrauchs von Sprache führt. John R. Searle36 erweitert die Ausführungen seines Lehrers Austin und geht davon aus, [...] daß man alles, was man meinen kann, auch sagen kann37. Dabei gilt jedoch nicht, dass alles, was 26

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Überblicksdarstellungen zur Sprechakttheorie finden sich u.a. bei Henne 1975, 55-82; Wunderlich 1976; Hindelang 2000; Meibauer 2001, 84 ff.; Ernst 2002, 91 ff. Austin 2002 (Vorlesungen von 1955, Originalausgabe (posthum) 1962, dt.1972). Ebd., 37; auch infelicities/Unglücksfälle (Ebd., 36). Im Folgenden werde ich bei den klassifikatorischen Benennungen der Unglücksfälle, um mögliche Missverständnisse beim Übersetzen zu vermeiden, auch jeweils die englischen Begriffe anführen. Zu den Fehlertypen in Bezug auf die Lüge vgl. Falkenberg 1990, 131 f. Austin 2002, 62. Lehre von den Unglücksfällen [infelicities] (Ebd., 36); vgl. Tabelle in ebd., 40. Austin nennt dies Auszehrung [etiolation] der Sprache (Ebd., 44). Ebd., 37 und 58. Ebd., 60. Er verweist auch auf den Unterschied zwischen „Wir meinen wirklich, daß es so ist“ und „Es ist wirklich so, wie wir meinen“, obwohl der Sprechakt vollständig zustande kommt, d.h. glückt (z.B. beim Schuldspruch „Schuldig!“, ohne die entsprechende Meinung haben). Vgl. Fußnote 29. [Austin 2002, 62] Ebd., 71. Searle 1983 (Originalausgabe 1969, dt. 1971).

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man sagen kann, auch verstanden werden kann – es gibt also die Möglichkeit des Irrtums und des Missverständnisses. Jedoch kann ein Sprecher auch absichtlich etwas sagen, was der Hörer in einer vom Sprecher intendierten Weise versteht, um den Hörer zu belügen.38 Searle geht auf diesen Punkt leider nicht näher ein. Das Prinzip der Ausdrückbarkeit39 ist im Bereich des Lügens eng verknüpft mit der Aufrichtigkeitsbedingung, die das wirkliche Vorhandensein der Sprecherabsicht fordert. Für BEHAUPTEN formuliert Searle, [...] daß der Sprecher irgendeinen Grund für die Annahme haben muß, daß der behauptete Satz wahr ist; die Aufrichtigkeitsbedingung besteht darin, daß er den Satz für wahr halten muß [...].40

Die Einstellung des Sprechers in Bezug auf seine Äußerung wird deutlich: Er muss den Satz fürwahrhalten – unabhängig von der ihn umgebenen Realität. Dadurch besteht auch die Möglichkeit eines Irrtums. Allerdings versäumt es Searle an dieser Stelle, darauf einzugehen, wenn ein Sprecher die Aufrichtigkeitsbedingung absichtlich bricht und somit lügt. Am Sprechakt VERSPRECHEN zeigt er dann, dass die Handlung zustande kommt und somit erfolgreich ist, unabhängig von der Aufrichtigkeit des Sprechers.41 Es bleibt noch das Problem, dass es ein unaufrichtiges Versprechen wohl kaum geben kann, so dass zwar die Beobachtungen Searles in Bezug auf die Lüge – und ein falsches Versprechen ist nach der Alltagserfahrung sicher eine Lüge – nützlich sind, dass aber seine Benennung diffus und problematisch bleibt.42

II.3 Die Konversationsmaximen Mit der Formulierung der Konversationsmaximen und seinem Rahmenkonzept der konversationellen Implikatur hat H.P. Grice43 nicht nur wichtige Überlegungen zur Untersuchung indirekter Sprechakte geliefert, sondern er hat damit auch, ohne jedoch dies

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Ebd., 32. Er nimmt davon allerdings ungenügende Sprachkenntnisse, Sprachstörungen, fehlende Wörter u.Ä. aus. Für jede Bedeutung X und jeden Sprecher S ist, wann immer S X meint (auszudrücken beabsichtigt, in einer Äußerung mitzuteilen wünscht usw.), ein Ausdruck E möglich derart, daß E ein exakter Ausdruck oder eine exakte Formulierung von X ist. (Ebd., 35). Man kann E auch so interpretieren, dass dies die Lüge des S ist, die von H mittels der Bedeutung X geglaubt werden soll. Ebd., 34 ff. (Kapitel 1.5). Dass alles gesagt werden könne, was der Sprecher auch denken kann, legt ein sehr problematisches Verständnis einer Sprache-Gedanken-Entsprechung nahe, die so bisher nicht nachgewiesen werden konnte. Außerdem spricht gegen diese Auffassung, dass sich viele Sprecher im Moment des Sprechens und auch danach nicht bewusst sind, warum sie sich genau auf diese Art und Weise äußern, um Gedanken zu kommunizieren, und nicht etwa anders. Ebd., 99. Zur Unaufrichtigkeit und Unredlichkeit siehe auch Falkenberg 1984. Alle Bedingungen für VERSPRECHEN in Searle 1983, 88-95; vgl. zusammenfassend Meibauer 2001, 90. Vgl. Falkenberg 1990, 135 ff. Grice 1979 (hier noch: konversationale Implikatur); einen Überblick über die Konversationsmaximen geben Meibauer 2001, 25, 31 ff. und Ernst 2002, 123.

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explizit zu erwähnen, auf den Sprechakt LÜGEN hingewiesen. So lautet die Maxime der Quantität gemäß der alltäglichen Auffassung von LÜGEN als „nicht die Wahrheit sagen“: Versuche deinen Beitrag so zu machen, daß er wahr ist. [...] 1. Sage nichts, was du für falsch hältst. 2. Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen.44

Ein solches Handeln, etwas Unwahres oder etwas möglicherweise Unwahres zu sagen, ist nach Grice außerdem unkooperativ und verletzt die die Konversationsmaximen überwölbende Forderung nach Kooperation: Mache deinen Gesprächsbeitrag jeweils so, wie es von dem akzeptierten Zweck oder der akzeptierten Richtung des Gesprächs, an dem du teilnimmst, gerade verlangt wird.45

Aber auch hier kommt der Fall LÜGEN nicht vor – lediglich als Andeutung in der Abweichung von Maximen.46 Die theoretischen Überlegungen Grice’ müssen also als Idealbild einer Kommunikationssituation gesehen werden, die an einigen Stellen sogar konventionell durchbrochen werden.47 Bei der konversationellen Implikatur werden die Konversationsmaximen gebrochen, jedoch mit der Absicht, dass der Hörer dies bemerkt oder zumindest bemerken kann. Dass auch auf diese Weise gelogen werden kann, zeige ich bei Falkenberg im folgenden Kapitel und in Kapitel II.11.

II.4 Zur Lügendefinition Mit Gabriel Falkenbergs Dissertation48 liegt die erste und bisher auch einzige umfassende Monographie zur linguistischen Lügenforschung vor. Diese stützt sich vor allem auf sprechakttheoretische und logische Konzeptionen, anhand derer eine linguistische Definition der Lüge erarbeitet wird. Er geht von der Proposition p aus, über die ein Sprecher S einen (oder mehrere) Hörer belügt: S sagt, dass p, obwohl nicht-p. Dabei muss nicht-p nicht zwangsläufig das Gegenteil von p sein, sondern eben nur ein Sachverhalt, der nicht mit p identisch ist.49 Falkenberg setzt folgende fünf Merkmale einer Lüge voraus: Eine Lüge ist (a) personal (ein Sprecher lügt), (b) sozial (die Lüge ist innerhalb einer Kommunikationssituation an einen oder mehrere andere gerichtet) (c) temporal (sie findet zu einem bestimmbaren Zeitpunkt statt)

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Grice 1979, 249. Ebd., 248: Kooperationsprinzip. So z.B. als Irreführen (durch Maximenverletzung) oder als Maximenkollison (Ebd., 253). Z.B. bei der Höflichkeit im Verstoß gegen die Maxime der Relevanz. So räumt Grice auch ein, dass eine Maxime wie ‚Sei höflich’ denkbar ist (Ebd., 249 ff.). Falkenberg 1982. Ebd., 71 ff.

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(d) intentional (nicht unabsichtlich), und (e) verbal (durch die Äußerung von Sprache).50

Allerdings meine ich, dass diese Anforderungen um eine sechste ergänzt werden muss: (f) Eine Lüge ist zweckgerichtet51 (der Sprecher hat ein Lügenmotiv), denn die Lüge dient dazu, bestimmte Folgehandlungen des Hörers zu beeinflussen, sie dient nur vordergründig allein zur Informationsübermittlung.52 Als Definition für den zentralen Fall, der jeweils in Teilen modifiziert und ergänzt wird, so dass einzelne Besonderheiten erklärt werden können, setzt Falkenberg: A hat zu t gelogen gdw (a) A hat zu t behauptet, daß p (b) A glaubte aktiv zu t, daß nicht-p53

Auf die Glückensbedingungen der Sprechakttheorie gehen die Einteilungen des Lügenerfolgs zurück. Geglückt ist eine Lüge, wenn die verbale Äußerung, dass p, so geschieht, dass damit auch verstanden werden kann, dass p (etwas äußern). Eine Lüge gelingt, wenn der Hörer verstanden hat, dass p, dadurch dass der Sprecher behauptet hat, dass p (anlügen).54 Glaubt der Hörer das, was der Sprecher sagt, so ist die Lüge auch noch erfolgreich und der Hörer wurde angelogen.55 Die Glückensbedingungen führen Falkenberg zu dem Vorschlag, eine Lüge als Wertung auf einer Skala einzutragen.56 Er formuliert drei Arten der Lüge, mit deren Hilfe verschiedene Mischformen des Lügens betrachtet werden können, wobei allerdings die Skalierung selbst nicht angegeben, sondern vielmehr der formale Rahmen geschaffen wird. Etwas äußern meint bei Falkenberg nur die Realisation von Sprache durch die Sprechwerkzeuge. Deshalb wird die kommunikative Qualität des Sagens „sageni“ (illokutives sagen) genannt57: Durch das Äußern von Worten („sagend“, direktes sagen) ergibt sich Mit-Gemeintes oder besser: der illokutionäre Zweck einer Äußerung.58 Sageni soll die Intentionalität der Äußerung

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Ebd., 14. Vgl. Kapitel II.9. Grice meinte noch, dass Kommunikation ausschließlich dem maximal effektivem Informationsaustausch (Grice 1979, 250) diene. Falkenberg 1982, 75 (A = Sprecher, t = Zeitpunkt, gdw = genau dann wenn, p = Proposition); Abkürzungen im Anhang Kapitel VI.3. Man könnte auch formulieren: Eine Lüge ist geglückt, wenn der Hörer die Illokution (Täuschungsabsicht) nicht erkennt (vgl. Reichert 1999, 65). Vgl. hierzu Falkenberg 1982, 19, 92 f und 106 f. Ebd., 135 ff. Es wird zwischen starken und schwachen, direkten und indirekten und harten und weichen Lügen unterschieden. Hundsnurscher nennt die Differenzierungen Stärke-, Glaubens- und Nahelegungsskala (Hundsnurscher 1994a, 100). Vgl. auch Falkenberg 1990, 140 f. Ebd., 27. Ebd., Kapitel 10; vgl. ähnlich auch Austin in seiner 8. und 9 Vorlesung (Austin 2002, 112-136).

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bezeichnen: Ein Sprecher vollzieht [einen illokutionären Akt], indem [er] etwas sagt59. Es wird deutlich, dass sagend die wörtliche Äußerung ist, mit der man etwas sagti. Darüber hinaus geht Falkenberg davon aus, dass eine Lüge immer eine Behauptung ist in der Weise, dass das Geäußerte wahr oder falsch sein kann60, denn: Wir behaupten, daß p, um zu bewirken, daß unser Gesprächspartner glaubt, daß p61. Ob die Proposition dabei wahr oder falsch ist, spielt keine Rolle.62 Der Irrtum wird aus der Definition der Lüge ausgeschlossen, weil hier die obligatorische Täuschungsabsicht, beim Hörer eine Vorstellung, die man selbst nicht teilt, zu erwecken, fehlt63: Man kann nicht unabsichtlich lügen – es muß immer die Absicht vorliegen.64 Allerdings rechnet Falkenberg die Täuschungsabsicht zur Behauptung dazu, so dass diese bei der Lüge nicht extra genannt werden muss.65 Ein Irrtum dagegen kann auch eine Lüge sein, wenn der Sprecher seinen Irrtum nicht bemerkt: [...] um zu lügen, daß p, ist es nur nötig, daß man glaubt, daß nicht-p, während man behauptet, daß p.66 Daher ist nicht die Wahrheit, sondern die Wahrhaftigkeit das Gegenteil der Lüge67, so dass ein Sprecher nicht wissen muss, was er sagt, sondern dass er daran glauben muss, was er sagt68: Ob [ein Sachverhalt, D.S.] tatsächlich falsch ist, ist für die Frage der Lüge unerheblich.69 Hier wird meine Forderung (f) nach dem Zweck deutlich, denn es kommt vor allem darauf an, was der Sprecher mit dem Gesagten erreichen will, welchen Zweck er verfolgt. Auch mit der Wahrheit kann man in Lügenabsicht versuchen, jemanden zu täuschen – wichtig ist hierbei nur, dass der Sprecher etwas fürwahrhält, was nicht dem entspricht, was er sagti. Es ist außerdem denkbar, dass er mit einem (nach Grice) indirektem Sprechakt lügt: implizites oder indirektes lügen („sagenimpl“).70 Für seine Definition der Lüge fordert Falkenberg außerdem, den Zeitpunkt t einer Lüge zu berücksichtigen.71 Denn nur wenn klar ist, zu welchem Zeitpunkt ein Sprecher behauptet, dass p, und ob er zu diesem Zeitpunkt auch glaubt, dass nicht-p, kann eine Äußerung eine Lüge sein.72 59

60 61 62 63

64

65 66 67 68 69 70

71

Ebd., 117 und dort auch Anm. 28: Illokutionäre Akte als etwas Nicht-Sprachliches zu deuten, ist grober Unfug [...]. Falkenberg 1982, 50 und 77 ff. Ebd., 81. Ebd., 50 und 54 ff. Man kann auch mit der Wahrheit lügen: vgl. Kapitel II.11. Ebd., 50 ff. So muss man auch die Selbsttäuschung ausschließen, da hier Sprecher und Hörer dieselbe Person sind; vgl. auch die Arbeit von Bruder/Voßkühler 2009. Abraham 1979, 253; meint: Die Absicht, zu äußern (sagend) dadurch, dass man behauptet, dass p, und dem gleichzeitigen Fürwahrhalten, dass nicht-p.; vgl. auch Falkenberg 1982, 77. Ebd., 121. Ebd., 102 (dort: Fußnote 9). Ebd., 55. Vgl. die ausführliche Argumentation in ebd., Kap 12 und 14. Ebd., 42. Falkenberg spricht allgemein von „implikatieren“ oder „nahelegen“ (Ebd., 125; vgl. zur indirekten Lüge auch ebd., 137). Ebd., 75.

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Weiterhin sollen nach Falkenberg bestimmte Einstellungen und Eigenschaften des Sprechers in die Definition der Lüge integriert werden. So nennt er [...] die Eigenschaft von einer Person, für wahrhaftig gehalten zu werden, [...] ‚G l a u b w ü r d i g k e i t ’73. Außerdem spricht er Personen, die ein Hörer für sachkundig hält, Vertrauenswürdigkeit zu.74 Sind sie zudem wahrhaftig, gelte ein Sprecher als Autorität für einen Hörer.75 Ich denke, dass ‚Kompetenz’ beide Begriffe ersetzen kann, da die von Falkenberg gemeinte Autorität besonders für die alltägliche Kommunikation kaum angenommen werden kann.76

II.5 Lüge als sprachliche Täuschung Bettina Giese bezieht sich in ihrer Dissertation ‚Untersuchungen zur sprachlichen Täuschung’ von 199277 in vielen Punkten auf Falkenbergs theoretische Vorarbeit und erweitert diese auf den großen Bereich der sprachlichen Täuschung. Sie entwirft anhand der sprechaktanalytischen Kategorien eine Typologie für sprachliche Täuschungshandlungen78, die sie in den Teilakten bestimmt. So untersucht sie nicht nur Täuschungen auf der Ebene des Äußerungsaktes (z.B. durch Stimmen-Imitation), sondern auch Verstöße oder Verletzungen der von Searle formulierten Glückensbedingungen. Dennoch ist auch in dieser Arbeit die Vorannahme enthalten, dass sprachliche Täuschung – und besonders der bei Giese nur kurz behandelte Spezialfall der Lüge79 – stets ein Missbrauch sei anstatt ein Gebrauch der Sprache dergestalt, dass Regeln falsch angewandt werden mit dem Ergebnis der Täuschung.80 Ich meine, dass auch sprachliche Täuschung nach gewissen Regeln verläuft, die zwar vom Kommunikationspartner nicht oder nicht sofort erkannt werden, die jedoch dadurch, dass sie einem bestimmten Zweck dienen, bewusst und absichtlich eingesetzt werden. Giese geht auf diesen Aspekt nicht näher ein, da sie über die Sprechakttheorie nicht hinaus, gleichsam auf den Hörer nicht zugeht81:

72

73 74 75 76

77 78 79 80

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Man denke an ein Versprechen, das man zum Zeitpunkt t gegeben hat, um es einzuhalten, das man aber später nicht kann (oder will), weil sich die Rahmenbedingungen geändert haben; hier ist es problematisch, von einer Lüge zu sprechen. Ebd., 95 (Hervorhebung im Original). Ebd., 96. Ebd., 98. Hiermit meine ich die einer Person zugeschriebenen Fähigkeiten vom Typ ‚kompetent sein auf dem Gebiet X’ und ‚fachlich begabt sein’. Die Verwendung bleibt jedoch problematisch, da besonders die soziologische Diskussion um den Begriff ‚Kompetenz’ weit verzweigt ist. Giese 1992. Ebd., 122-127. Zur Lüge: Ebd., 89-97. Ebd., 22: Handeln, auch sprachliches Handeln, beinhaltet die Möglichkeit des Abweichens von den Regeln und damit die Möglichkeit des Fehlermachens und des Täuschens. Sie untersucht nur die Rückmeldungsakte des Hörers und weist so in Ansätzen auf ein umfangreicheres Konzept für sprachliche Täuschung auch in Bezug auf den Hörer hin.

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Sprechakttheoretisch gesehen sind sprachliche Täuschungen Perlokutionen sprachlicher Handlungen.82

II.6 Relevanz In der Relevanztheorie von Dan Sperber und Deidre Wilson83 soll eine Kombination von Kognition mit Pragmatik, die auf die Gricesche Maxime der Relevanz zurückgreift, psychische mit sprachlichen Prozessen verbinden, so [...] daß Pragmatik die Untersuchung der kognitiven Prinzipien und Fähigkeiten der Äußerungsinterpretation betrifft.84

Neben dem Mitteilungssignal des Sprechers (Ostension) gehen Sperber/Wilson auch von einem beim Hörer vorliegenden logischen Prozess aus, wodurch Bedeutung abgeleitet wird (Inferenz): Every act of ostensive communication communicates the presumption of its own relevance.85 Diese Relevanz ist das Bestreben nach ökonomischer Effizienz, stets die größtmögliche Menge an Information bei kleinstmöglichem Verarbeitungsaufwand zu erzielen: Das Optimum ist ein Maximum an Information bei einem Minimum an Aufwand. Our claim is that all human beings automatically aim at the most efficient information processing possible. This is so whether they are conscious of it or not; in fact, the very diverse and shifting conscious interests of individuals result from the pursuit of this permanent aim in changing conditions. In other words, an individual's particular cognitive goal at a given moment is always an instance of a more general goal: maximising the relevance of the information processed.86

Man kann so jedes Verstehen einer Äußerung als Versuch ansehen, einen möglichst großen kognitiven Effekt bei möglichst geringem Prozessaufwand zu erzielen – dies kann auch eine Lüge sein. Das Prinzip der Relevanz sorgt beim Hörer dafür, dass dieser zunächst einmal unterstellt, dass die Äußerung relevant ist und in der Hoffnung, dass dies wirklich zutrifft, die eigene kognitive Umwelt nach Kontexten, in denen diese Hoffnung gerechtfertigt erscheint, abgesucht wird: Der Hörer interpretiert eine Äußerung dadurch, dass er die Propositionen im Allgemeinen und die für den Kontext relevanten Propositionen ermittelt. Dadurch erhält eine Äußerung für ihn die konkrete kontextuelle Bedeutung. Accounts of communication are neither not psychological at all [...] or else they assume that a communicator's intention is to induce certain specific thoughts in an audience. We want to suggest that the communicator's informative intention is better described as an intention to modify directly not the thoughts but the cognitive environment of the audience. The actual cognitive effects of a modification of the cognitive 82 83 84 85 86

Ebd., 75. Sperber/Wilson 1995. Meibauer 2001, 121. Sperber/Wilson 1995, 158. Ebd., 49.

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