Klaus Frühauf

Jäger, o weh, o weh Bist blind, noch so blind, wie die Schwalbe im. Schnee … Kapitel 4 ..... schlags und allen anderen Hintersättler-Familien oft nur die Nacht.
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Wolfgang Held

WIE EINE SCHWALBE IM SCHNEE

Historischer Abenteuerroman

MV Taschenbuch

Impressum Zuerst erschienen 1987, Verlag Das Neue Berlin © Wolfgang Held, Rostock 2004 Titelbild: Johann Elias Ridinger (1698-1767) Texterfassung und Vertrieb: BS-Verlag-Rostock Angelika Bruhn Print Ebook (epub) Ebook (pdf_PC)

ISBN 978-3-89954-098-7 ISBN 978-3-86785-982-0 ISBN 978-3-86785-983-7

Inhalt Impressum Kapitel 1 Dem Wind und mir und der Nachtigall, Uns sind Herrgott und Herrschaft gewogen. Denn ein leises Lied stört die Ruh’ nicht im Land, Nur wer schreit, dem wird’s Fell abgezogen …

Kapitel 2 Den Has’, den Hirsch und die wilde Sau, Die bringt Christoph, der Jäger, in Schrecken, Doch das Hasenherz, in der Jägerbrust, Das kann so leicht keiner entdecken! 0 Jäger, o Jäger, o weh, o weh, Bist schwach, ach so schwach wie die Schwalbe im Schnee …

Kapitel 3 Da sind’ soviel Narrkopf die meinen, die Welt, Die sei so fein eingericht’, wie’s dem Herrgott gefällt, Darob sing’ ich dem Jäger und euch, wie es ist: Je feister das Vieh, desto größer sein Mist! O Jäger, o Jäger, o weh, o weh Bist blind, noch so blind, wie die Schwalbe im Schnee …

Kapitel 4 Da schwatzen die Leut’, da munkelt’s im Wind; Ihr Jungfern, ihr Burschen, die Liebe macht blind! Kein’ Bange, ihr Schnäbler, herzt weiter und lacht, Die Lieb’ hat manch’ Toren erst sehend gemacht! O roter Jäger, o Jäger, o weh, Werd’ klug, werd’ bald klug, sei nicht Schwalbe im Schnee!

Kapitel 5 Vor dem Blitz, vor dem Wolf und im Himmelreich, Da sind die Armen und Reichen noch gleich, Doch hier auf Erden, da beißt das Recht Die armen Leut’ nur, die Fröner und Knecht’! O roter Jäger, o Jäger o weh, Brauchst Hilf’, brauchst Hilf’, wie die Schwalbe im Schnee! 4

Kapitel 6 Die Hag’butt ist rot wie des Jägers Schopf, Und das Spiel geht für ihn bald um Kragen und Kopf, Geschriebenes Recht ist kein’ Pfifferling wert, Steht ein Junker dagegen mit Reichtum und Schwert! O roter Jäger, o Jäger o weh, Denk’ doch, o denk’ an die Schwalbe im Schnee!

Kapitel 7 Der Jäger, der ist nicht wie du oder ich, Im Fronvolk, da lebt er wie im Wasser der Fisch, Doch nicht müder Schlei, nein, pfeilschneller Hecht, So schnappt er die Reichen und packt sie beim Recht! O Roter Jäger, O Jäger o weh, Was wird, was wird sein mit der Schwalbe im Schnee …

Kapitel 8 Er trifft mit der Büchs’ den Falk’ auch im Fliegen Und macht, daß die Leutschinder Hosenschiß kriegen, Und bleibt euch trotz Ketten und Kerkerjoch Mit Herzlieb und Wahrheit der Stärkere doch! O roter Jäger, o Jäger o weh, ’S ist kalt, viel zu kalt für die Schwalbe im Schnee …

Autor

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1 Dem Wind und mir und der Nachtigall, Uns sind Herrgott und Herrschaft gewogen. Denn ein leises Lied stört die Ruh’ nicht im Land, Nur wer schreit, dem wird’s Fell abgezogen … ______ Der Esel schniefte. Hitze flimmerte über den grünen thüringischen Tälern und Hügeln. Heiteres Tirilieren der Lerchen über den Feldern und das schrille Zirpen der Grillen im Gras am Wegrand begleiteten das Lied des reitenden Sängers. Das Jahr 1730 gönnte dem Land einen weiteren Sommer zwischen den Kriegen. Die Nachricht, daß in diesen Tagen verwegene Araberheere die Portugiesen aus dem fernen Sansibar vertrieben, würde erst in ein paar Wochen an den herzoglichen Höfen der umliegenden Residenzen Gotha, Rudolstadt und Weimar für Gesprächsstoff sorgen. Jetzt redete man dort von der neuen Elbebrücke, die August der Starke in Dresden von seinem Baumeister Daniel Pöppelmann errichten ließ. Man bewunderte die gerade bekanntgewordene Matthäus-Passion des in Eisenach geborenen, einstigen Weimarer Hofkonzertmeisters und jetzigen Thomaskantors zu Leipzig, Johann Sebastian Bach, oder man witzelte über eine Maschine zum Schreiben, die ein blinder Mathematikus namens Saunderson angeblich in Cambridge gebaut haben sollte. Der junge Mann auf dem Esel schenkte derartigen Meldungen nur mäßige Aufmerksamkeit. Ebenso wenig interessierten ihn Neuigkeiten wie die kürzlich von einem gewissen Gray gemachte Entdeckung, daß manche Körper jener bisher kaum beachteten Elektrizität leichteren Durchgang gestatteten, wohingegen andere deren Fortbewegung bedeutende Hindernisse entgegensetzten. Für den Eselreiter wogen diese ganz und gar nutzlose Elektrizität oder das gerade von einem Monsieur Reaumur in Frankreich angefertigte Weingeistthermometer mit der Gradeinteilung Null für den Gefrierpunkt des Wassers, beziehungsweise die neuerdings auf den

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großen Märkten und Messen zur Schau gestellten Kuckucksuhren aus dem Schwarzwald nicht mehr als die flüchtigen Farben eines Regenbogens. Hellwache Aufmerksamkeit und Mitgefühl richtete der singende Musikant und Possenreißer Jockl allein auf das, was ganz unmittelbar jene Menschen betraf, denen seine Zuneigung galt. Das waren die einfachen Leute ohne Besitz an Seide und Silber, die Frondienstler in den Dörfern, die Handwerksgesellen und Knechte, alle schuldlos Gebeutelten und Gebrandmarkten. Jockl saß querseits auf dem Rücken des braven Grautieres. Er ließ die Füße baumeln. Die bloßen, gegen den runden Leib des Esels klopfenden Fersen schlugen zugleich den Takt für das Lied des Reiters und den Schritt des Vierbeiners. Auf der Schulter des dunkelhaarigen, ein wenig schief gewachsenen Sängers wippte eine gezähmte Dohle. Jockl hatte ihr die Zunge gelöst, und nun bewies sie ihre Sprechkünste, indem sie von Zeit zu Zeit ein ziemlich unflätiges Schimpfwort krächzte. Der helle, klare Klang der Laute, mit der Jockl geübt seinen Gesang begleitete, sprang über reifendes Korn und das satte Grün der Rübenfelder bis hinüber zum nahen Wald. Nichts trieb den Reiter zur Eile. Er kam aus Weimar, wo am Tag zuvor eine öffentliche Hinrichtung stattgefunden hatte. Unter dem strengen Regime des Herzogs Ernst August I. von Sachsen-Weimar-Eisenach, der selbst den Diebstahl eines Hemdes oder einer Handvoll Beeren mit der Todesstrafe belegen ließ, war ein Mann wegen Waldfrevels aufgehängt worden. Er hatte im Südforst heimlich eine junge Eiche gefällt, um daraus vom Stellmacher eine Wagendeichsel schlagen zu lassen. Schaulustige, die es sich leisten konnten, waren vom Galgenberg in die Schenke gegangen, um noch eine Weile beim Bier über Tat, Täter und den Tod am Strang zu schwatzen. Ein Musikant mit witzigen Liedern und einer frechen Dohle machte in solchen Stunden manchen Heller locker. Nach einer kurzen Rast unter einer Linde in der Lengefelder Flur erreichte Jockl auf seinem Reittier gegen Mittag den schattigen Wald am Spaalberg. Sein Ziel lag von hier aus nur noch reichlich eine halbe Meile entfernt, wenn er den Weg über den Berg wählte. Der steile Anstieg schreckte ihn nicht, zumal in Aussicht stand, daß er auf der kürzeren Strecke an die zwei Stunden eher zu einem kühlen Bier kommen würde. So stieg er vom Eselrücken und überließ seinen Platz dort der Dohle. Die Laute am Riemen über der Schulter, den kurzen Zügel in der Hand, erklomm er den schmalen, in weiten Windungen zur Höhe führenden Pfad. Er ahnte nichts von dem Reiter, der hoch zu Roß und mit einem Packpferd an der Leine nur ein paar hundert Meter weiter nördlich in die gleiche Richtung strebte. 7

Jockl wollte nach Großkornberg, dem östlichsten Ort des Herzogtums Sachsen-Gotha-Altenburg, der eine Exklave des Amtes Oberkranichfeld war und mitsamt seiner sechs Vorwerke unter der Herrschaft derer von Schönbach stand. Am kommenden Sonntag sollte dort, wie in jedem Jahr um diese Zeit, das Vogelschießen stattfinden. Der wandernde Sänger zweifelte keinen Augenblick daran, daß er auch schon ein paar Tage zuvor in der Gemeinde willkommen sein würde. Es gibt Menschen, die jedermann mit Freude eine Weile zu Gast, aber um keinen Preis der Welt länger als eine Woche in Sichtweite haben möchte. Jockl war von dieser Art. Man zeigte sich ihm allerorten gewogen, wenn er bei einer Kirchweih, einer Hochzeit oder anderen Festlichkeiten mit seiner Laute zum Tanz aufspielte, die Maultrommel erklingen ließ und für heitere Stimmung sorgte. Seinen selbstgefertigten, feinspitzigen Liedern spendeten die Zecher in den Wirtshäusern zwischen Saale, Werra und Unstrut gern und freigebig ein paar Heller und gefüllte Becher. Ihr Wohlwollen erlosch allerdings recht schnell, wenn die Verse alsbald nicht nur die Obrigkeiten, sondern ebenso frech und unverhohlen die Schwächen, Bosheiten und Ferkeleien der Frauen und Männer im Zuhörerkreis geißelten. Wo über die eigene Person gelacht wird, hört bei den meisten Erdenbürgern der Spaß auf, davon wußte Jockl manche Geschichte zu erzählen, doch seine bis zu vier Dutzend blauen Flecken, zwei gebrochenen Rippen und einem abgeschnittenen Ohrläppchen reichenden Erfahrungen machten ihn nicht zu einem jener erbärmlichen Huldigungswichte, die für eine gefüllte Hand jede gewünschte Lobpreisung sangen, selbst wenn es dabei um einen abgefeimten Despoten oder abscheulichen Kinderschänder ging. Er blieb in seiner ehrlichen und deshalb arg geschundenen Haut und wurde wahrscheinlich gerade deshalb immer wieder herzlich begrüßt, wenn er nach Wochen oder Monaten in einen Ort zurückkam, aus dem man ihn einst handgreiflich vertrieben hatte. In Großkornberg war er seit mehr als einem halben Jahr nicht mehr gewesen. Zwei Gebäude überragten die Dächer des Hauptdorfes. Eines davon war die Kirche mit ihrem wuchtigen Helmturm, auf dem eine vergoldete Wetterfahne glänzte. In einiger Entfernung stach, spitz und schlank, der kleine Turm des herrschaftlichen Schlosses über die Staffelgiebel hinaus himmelwärts. Vor fast hundertfünfzig Jahren, um 1577, hatte die Adelsfamilie der Schönbacher den Besitz des Großkornberger Rittergeschlechts teils durch Kauf, teils durch Heirat gänzlich unter die eigene Macht genommen. 8

Oben am Waldrand, angesichts des nahen Zieles, kletterte Jockl wieder auf seinen Esel und ließ ihn traben. Er spürte mit einem Mal recht heftig, daß er kaum etwas im Magen hatte. Seine Laute rührte er nun nicht mehr an. Der Gedanke an frisches Brot, gerührte Eier mit Speck und dazu kühles Bier löschte vorläufig alle Lust auf Singen und Saitenspiel aus. Das Grautier hatte noch keine hundert Schritte am Waldrand getan, als Jockl hochschreckte. Sein Esel verharrte ohne Kommando. Die großen Ohren standen aufrecht wie Pfeile. Tier und Reiter lauschten. Das war ein Schrei, dachte Jockl und blickte zum Wald. So brüllt ein Mensch, der mit glühenden Zangen gekniffen wird! Die Lerche über dem Rübenfeld zwitscherte weiter. Sanfter Wind bewegte die Zweige der Fichten. Lautlos segelten weiße Wolkenfetzen am Himmel nach Südosten, wo die Großkornberger Fluren an das Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt grenzten. Erst jetzt fiel dem wandernden Sänger auf, daß ein Geräusch fehlte. Vorhin noch hatte er fern aus dem Forst das hallende Schlagen von Äxten vernommen. Mit dem Schrei waren die Klänge verstummt. Die Stille machte Jockl unsicher. Unschlüssig erwog er, in Richtung des Schreies zu reiten. Vielleicht wurde Hilfe gebraucht. „Was meinst du, Kassandra?“ fragte er mit schrägem Blick zur Schulter seine Dohle. Der schwarze Vogel krächzte ein sehr unfeines Wort. „Richtig“, bestätigte Jockl. „Wer die Finger vom Feuer fern hält, holt sich auch keine Blasen! Nur Narren greifen in schwarze Löcher, von denen sie nicht wissen, was drin steckt!“ Mit einem derben Klaps brachte er den Vierbeiner wieder in Bewegung. Wagemut ist nun einmal sehr unterschiedlich auf die Menschen verteilt, und der dem Jockl zugemessene Anteil blieb ganz und gar den verwegenen Liedern vorbehalten. Auch der andere Berittene, der sich in dieser Stunde im Spaaler Wald auf dem Weg nach Großkornberg befand, hatte den durchdringenden Schrei vernommen. Er saß im Sattel einer kräftigen, rostbraunen Stute, deren Fell schweißig glänzte. Das Packpferd schleppte zwei gleichgroße Kisten. Weiße Flocken tropften von den Mäulern der Tiere. Der Reiter trug eine Flinte auf dem Rücken. Er kam aus Nordwesten, wo er in dem kleinen Dorf Tannroda im Auftrag seines Dienstherrn einige Schock Talglichter geholt hatte. Sie waren dort bei einem jungen Kerzenzieher billiger zu haben als in Teichel oder Rudolstadt. 9

In dichten Locken fiel dem Mann rotblondes Haar bis auf die Schultern. Über seiner Oberlippe sprießte ein buschiger, kupferfarbener Schnauzbart. Bekleidet war der Reiter mit einem mattblauen Hemd, einer dunklen Weste, die Hirschhornknöpfe schmückten, dazu einer weiten schwarzen Hose, die an den Beinen in den Schäften halbhoher Stiefel steckte. Der Mann hieß Johann Christoph Roth. Er war zweiunddreißig Jahre alt und diente dem auf Schloß Großkornberg residierenden Kammerjunker Johann Friedrich von Schönbach bereits elf Sommer als Jäger. Für diese Stellung erhielt er aus der Schloßküche freie Kost und freie Unterkunft im Gesindehaus. Lohn und Livree gab man ihm nicht, dafür standen ihm alljährlich wenige Stücke Wild, sowie eine geringe Menge Holz aus den Großkornberger Waldungen zu. Der gellende Schrei kam ganz aus der Nähe. Johann Christoph Roth zögerte keinen Augenblick. Er ahnte, woher der gräßliche Wehlaut gekommen war. Seine Sporen zwangen die Stute in eine schnellere Gangart. Das Packpferd wurde an straffgespannter Leine hinterher gezerrt. In dieser Gegend kannte der Jäger jeden Baum und jeden Strauch, jeden Quell und alle tückischen Klüfte. Er preschte auf kürzestem Weg in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen war. Schnell erreichte er eine Lichtung. Langhingestreckt im kniehohen Gras lag dort eine gerade erst gefällte, stattliche Fichte. Er selbst hatte diesen Baum vor ein paar Tagen zum Schlagen ausgewählt. Der Stamm sollte am kommenden Sonntag den Zielvogel tragen. Ein paar Schritte neben der dichten Nadelkrone knieten zwei Männer. Das hohe Gras verbarg eine am Boden liegende Gestalt. Abseits der Männer weideten zwei aneinander geschirrte Zuggäule. Der Jäger sprang aus dem Sattel. Jetzt sah er, daß die beiden Holzfäller um einen dritten Mann bemüht waren. Sie hatten ihn flach auf das Moos gebettet. Offensichtlich war der Liegende verletzt. Er regte sich nicht. Aus den Mundwinkeln sickerte helles Blut. Nähertretend erkannte der Jäger den Leblosen. Es war Paul Gutschlag, ein Handfröner, der am Rande des Dorfes Großkornberg eine Kate samt Stall sowie drei Acker Land besaß. Seine achtköpfige Familie lebte von dem kargen Besitz mehr kümmerlich als bescheiden, zumal auf allem noch der Erbzins für den Schönbacher und der Kirchenzehnt für den Pfarrer lagen. „Wie ist das passiert?“ fragte der Jäger. Er beugte sich herab und betastete vorsichtig den Brustkorb des Bewußtlosen. 10

Die beiden Holzfäller waren ebenfalls Hintersättler. Sie besaßen kein eigenes Zugvieh und mußten deshalb den Frondienst für die Gutsherrschaft mit harter Handarbeit leisten. Auf die Frage des Jägers reagierten sie wortkarg. Johann Christoph Roth mußte ihnen jeden Satz abzwingen, bis er endlich verstand, was geschehen war. Mit den beiden Pferden, die der Schloßherrschaft gehörten, waren die drei Dörfler am Vormittag herauf in den Wald gekommen. Sie hatten Lichtung und markierte Fichte bald gefunden, und das Fällen war mit Hilfe scharfer Äxte keine große Mühe gewesen. Während seine beiden Gefährten die stählernen Schneiden in das weiße Holz trieben, hatte Paul Gutschlag die Pferde gehalten. Vermutlich war er dabei durch irgend etwas abgelenkt worden, denn als die Tiere plötzlich beim lauten Knirschen des langsam kippenden Baumes scheuten, behielt er sie nicht im Griff. Das Gespann riß sich los und sprengte aufgeschreckt zur Mitte der Lichtung, genau dorthin, wo die Fichtenkrone aufschlagen mußte. Alles geschah, wie die beiden Holzfäller zögernd schilderten, blitzschnell. Ihre Warnrufe blieben ihnen in der Kehle stecken. Vor ihren Augen jagte Paul Gutschlag die Pferde aus dem gefährlichen Bereich und geriet dabei selbst unter den stürzenden Stamm. „Den Schrei vergesse ich meinen Lebtag nicht“, murmelte einer der beiden Männer. Ihren Gesichtern war ablesbar, daß sie sich an dem Unglück mitschuldig fühlten. Der Schwerverletzte stöhnte. Sein Gesicht verlor allmählich die Farbe. Er atmete kurz und rasselnd. Rote Rinnsale näßten Hals und Schultern. „In seiner Brust ist kein Knochen heil geblieben“, flüsterte der Jäger den beiden Handfrönern zu. „Wir müssen ihn schnell zum Bader, besser noch zum Schäfer bringen“, meinte der eine, ein breitschultriger Mann, schon deutlich über die Lebensmitte hinaus und kahlköpfig wie ein geschorener Mönch. „Ich setz mich auf einen Gaul und hole ihn her.“ Wieder ächzte Paul Gutschlag. Seine Lider zuckten. „Bleib hier“, erwiderte der Jäger kaum hörbar. Er hielt das Handgelenk des Verletzten und fühlte, wie der Puls schwächer wurde. Sein Blick verriet, daß hier wohl jede Hilfe zu spät kommen würde. „Paul will etwas sagen“, bemerkte der Mann mit der Hakennase. „Er kommt zu sich!“ Tatsächlich öffnete Paul Gutschlag die Augen. Sein Blick traf den Jäger, suchte dann die beiden Gefährten, kehrte schließlich wieder zu Johann Christoph Roth zurück. 11

„Das … das wird wieder … Bald …“ Das Sprechen bereitete ihm Schmerzen, doch die besänftigende Geste des Jägers hielt ihn nicht vom Weiterreden ab. „Wenn wir den Baum aufstellen … Ich bin dabei … Bestimmt … So schnell läßt der Paul das Leben nicht … So schnell …“ Das Wort erlosch ihm auf der Zunge. Plötzlicher Schreck weitete seine Augen. Mit einem Mal spürte er den Tod. Er wehrte sich und versuchte, den Kopf zu heben. Seine Kräfte reichten nicht aus. Er krallte die Finger in den weichen Boden. „Nicht so … so … schnell … nicht …“ Ein Blutstrahl quoll aus der Kehle des Verunglückten. Die Stimme erstickte. Ein kurzes Zittern schüttelte den Körper, dann lag er reglos. Eine Weile standen die drei Männer steif und sprachlos neben dem Toten. Der Jäger fand als erster die Stimme wieder. Er faltete die Hände und flüsterte ein Gebet. Die beiden Männer folgten dem Beispiel und stimmten in das „Amen!“ ein. Auf Geheiß des Jägers hoben die Handfröner den Leichnam quer auf den Sattel der Stute. Sie wollten mit zurück nach Großkornberg gehen, doch das untersagte ihnen Johann Christoph Roth. Er wies die Männer vielmehr streng an, zuerst die ihnen aufgetragene Arbeit zu erledigen. Am gefällten Baum mußte das Gezweig entfernt werden, bevor das Gespann den Stamm ins Dorf zum Zimmermann schleifen konnte. Gehorsam nahmen die beiden Zurückbleibenden wieder die Äxte zur Hand. Sie schauten dem Jäger nach. Er ging, Reitpferd und Packpferd am Zaumriemen führend, zwischen den Tieren. „So ist er: Mal Bruder, mal Luder!“ brummte der Hakennasige. Der Kahle schüttelte den Kopf. „Wo keine Strenge ist, da gibt es auch keine Ordnung“, verteidigte er den Jäger. Hangabwärts stemmte der Jäger bei jedem Schritt die Stiefelabsätze in den Boden und hinderte so die drängenden Pferde daran, in Trab zu fallen. Aus dem Wald klang ihm das Schlagen der Äxte nach. Bei einem prüfenden Blick über die Schulter sah er in das bleiche Gesicht des Toten. Die von schwerer Arbeit und manchen Plagen gezeichneten Züge erinnerten ihn auf merkwürdige Weise an das Antlitz des gekreuzigten Christus. Indem er sich, von dem Anblick berührt, das armselige Leben des Paul Gutschlag im Diesseits vergegenwärtigte, erschien ihm der Tod für diesen Mann als eine Erlösung. Hintersättler wie jener Paul Gutschlag wurden in Großkornberg von der Gutsherrschaft nach Gutdünken zum Frondienst befohlen. Dies geschah nicht selten an fünf Tagen in einer Woche. Für ein Pfund Brot, 12

das man Fronsemmel nannte, forderte der Schönbacher zwölf volle Stunden Arbeit, die sechs Uhr in der Frühe begann. Es gab dabei keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern, Grauköpfen oder Kindern, von denen manche ihren Vätern kaum bis zum Gürtel reichten. Lediglich die verschiedenen Tätigkeiten unterlagen einer gewissen Einteilung. Während die Männer und die kräftigsten Halbwüchsigen zur harten Arbeit auf die Felder und in die Stallungen geschickt wurden, zum Holzschlag oder auch zu Bauarbeiten an Schloß und herrschaftlichen Wirtschaftsgebäuden, mußten sich die Frauen und Mädchen mit dem Hecheln und Flechten von Flachs oder Hanf schinden, mußten Unkraut jäten, scheuern und putzen, Wäsche waschen oder bei der Küchenarbeit zupacken. Für den eigenen Acker blieb den Gutschlags und allen anderen Hintersättler-Familien oft nur die Nacht. Bessergestellt waren in Großkornberg die Spannfröner, die vier Zugochsen oder zwei Pferde ihr eigen nennen konnten. Ihnen wurden von der Aussaat bis zur Ernte auf einem zugewiesenen Gutsacker alle anfallenden Spanndienste aufgetragen, dazu die Anfahrten von Futter bis zu einer Entfernung von drei Meilen und der Transport von Heu, Holz, Mist, Baustoffen und mancherlei Schloßbedarf. Immerhin vermochten sie den Hunger von ihren Tischen fernzuhalten und fühlten sich den Handfrönern gegenüber so überlegen, daß es über diesen unsichtbaren Zaun hinweg weder Freundschaften noch Hochzeiten gab. Trotzdem hat er sich ans Leben geklammert, dachte Johann Christoph Roth. Jahr um Jahr Plagerei für ein paar bittere Bissen, sieben Schlucke Bier am Feiertag, ein bißchen fleischliche Freude an einem mageren Eheweib und alle Sommer ein neues Stück derben Tuches auf den Arsch. Was ist das für Elend. Weshalb wohl jede Kreatur, und lebte sie noch so erbärmlich, sich dennoch bis zum letzten Atemzug ans Leben krallt und den Tod mehr fürchtet als ein Dasein voller Leiden und Bitternisse? Er sann über diese Frage nach und hatte noch keine schlüssige Antwort gefunden, als er das Dorf erreichte. Das Anwesen der Familie Gutschlag lag am Ortsrand des kleinen, etwas weniger als dreihundert Einwohner zählenden Ortes. Dichtgewachsener Sauerdorn umgab im Geviert das niedrige, aus Lehm gebaute Häuschen. Unter dem Schindeldach befand sich auch der Stall für Kuh, Ziege, ein paar Kaninchen und einiges Federvieh. Auf einem abgeteilten Stück innerhalb des Heckenzaunes wuchsen Gemüse und Küchenkräuter. Den Brunnen hatten Paul Gutschlag und seine Frau Hedwig selbst gegraben. Im feuchten Erdreich ringsum scharrten Hühner. Drei Enten flüchteten schnatternd vor dem Ankömmling und den 13

beiden Pferden. Hinter den blanken, winzigen Fensterscheiben plärrte ein Kleinkind. Der Jäger ging mit den Pferden durch das offene Gattertor in der Hecke bis vor die Tür des Häuschens. Niemand kam ihm entgegen. Wäre nicht das Kinderweinen gewesen, hätte man das Anwesen für verwaist halten können. Vorsichtig hob Johann Christoph Roth den Toten aus dem Sattel. Er nahm ihn vor der Brust auf beide Arme und ging auf den Eingang der Kate zu. Wie leicht der arme Mensch ist, wunderte er sich. Die Tür war nur angelehnt. Der Jäger schob sie mit dem Fuß auf und trat über die Schwelle. Der Raum lag im Dämmerlicht. „Sei tapfer, Mädchen“, sagte der Jäger, dessen Eintreten bis zu diesem Moment unbemerkt geblieben war. „Eine schwere Prüfung! Ihr müßt jetzt alle sehr stark sein und auf den Herrgott bauen!“ Eine grobgeschnitzte Holzpuppe polterte zu Boden. Der auf dem Tisch liegende, gerade frisch in Leinen gewickelte Säugling schrie schrill weiter. Die fünfzehnjährige Agnes, Älteste der Gutschlag-Kinder, fuhr herum. Ihre kleine Schwester Elsa, die in der Ecke mit der hölzernen Puppe gespielt hatte, stürzte heran und klammerte sich furchtsam an der Ältesten fest. Beide starrten fassungslos den Jäger und den auf dessen Arm ruhenden, toten Vater an. Sie glaubten nicht, was ihre Augen sahen. Ihr Denken und Fühlen, jede Faser in ihnen weigerte sich, die furchtbare Wahrheit anzunehmen. „Der Baum für’s Vogelschießen hat ihn erschlagen“, erklärte Johann Christoph Roth. Das Mädchen Agnes stand nur vier Schritte von ihm entfernt. Das helle, in schmalen Streifen durch das Fenster hereinfallende Licht umfloß ihre Gestalt. Sie trug nur ein dünnes, knapp bis zu den Waden reichendes, hemdartiges Kleid. Die Sonnenstrahlen enthüllten alle knospenden, jungfräulichen Reize des schlanken Körpers. Der Jäger zwang seinen Blick von dem Mädchen fort. Er schämte sich seiner Gedanken. Verlegenheit machte ihn hilflos. „Wo soll ich ihn hinlegen? Wo ist eure Mutter? Habt ihr eine Kerze im Haus oder zwei?“ Agnes nahm den noch immer wimmernden Säugling auf den Arm und bedeutete dem Jäger, den Leichnam in den hinteren Teil des Raumes zu tragen. Der dort mit Brettern abgeteilte Winkel, von einem Vorhang aus Sacktuch in zwei Hälften geteilt, diente der Familie als Schlafplatz. Auf einer Seite gab es ein grob zusammengezimmer14

tes Bett für die Eltern. Die Kinder schliefen gegenüber auf dem Boden in kniehoch aufgeschüttetem Stroh. Behutsam bettete der Jäger den Toten auf das eheliche Lager. Die Fünfzehnjährige brachte ein weißes Laken. Eine Kerze war nicht im Haus. Der Jäger ging hinaus und kam gleich darauf mit einem der für die Schloßherrschaft bestimmten Talglichter zurück. Er war sicher, daß der Schloßherr diese Eigenmächtigkeit billigen würde. Nachdem er die Kerze angezündet hatte, stellte er sie hinter dem Haupt des bis zum Kinn mit dem Laken bedeckten Verstorbenen auf. Indessen hatte Agnes die kleine Elsa hinaus zu dem Acker geschickt, wo die Mutter gemeinsam mit den drei anderen GutschlagKindern den reifen Roggen schnitt. Der Weg war weit. Früher als in einer Stunde konnte Hedwig Gutschlag mit ihren Kindern nicht am Totenbett sein. „Habt Dank, Herr Jäger“, sagte Agnes scheu. Sie standen nebeneinander am Fußende des Lagers. Der Säugling war im Arm der Schwester, von einem Atemzug zum anderen, verstummt und eingeschlafen. Das Mädchen ließ den Blick nicht von dem knochigen, im milden Kerzenlicht nun doch friedvoll wirkenden Gesicht des Vaters. Ihre Stimme zitterte. „Aber nun geht, Herr Jäger, ich bitte Euch, geht!“ Johann Christoph Roth zögerte. Es widerstrebte ihm, das Mädchen mit dem Säugling bei dem toten Vater allein zu lassen. Eigentlich hatte er vor, bis zum Eintreffen der Frau des Verunglückten zu warten. „Bitte!“ wiederholte Agnes. Er sah, daß ihre Lippen zitterten. Sein Mund wurde schmal. Er nickte. „Ich werde beim Pfarrer vorbeireiten und ihn zu euch schicken“, sagte er und verließ den Raum. Als er draußen in den Sattel stieg, hörte er im Haus jäh hervorbrechendes, schmerzvolles Schluchzen. Er verharrte betroffen, spornte dann die Stute an. Das Packpferd trottete nach. Der Wirt des Großkornberger Gasthofes „Zur wilden Sau“ zählte viel zu häufig die gesparten Silbergroschen nach, um einem spitzzüngigen Wandervogel vom Schlage des Jockl auch nur für einen halben Kreuzer Kredit zu gewähren. Der Sänger hingegen hütete sich, den kleinsten Heller des im Weimarischen erspielten Geldes blicken zu lassen. Für einen Liter Bier und einen Kanten Brot überließ er dem Wirt Esel und Laute als Pfand. Für das Abendessen versprach er bare Münze, die er den Dörflern noch vor Sonnenuntergang aus den Beuteln zu locken hoffte. 15