Klaus Frühauf

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Walter Kaufmann FLAMMENDES IRLAND Wir lachen, weil wir weinen

„Wir lachen, weil wir weinen“ – so lautet ein irisches Sprichwort, das in all seiner Knappheit Charakteristisches über Irland und die Iren aussagt. Dem in jahrhundertelanger Unterdrückung durch die Engländer erfahrenen Leid, aber auch dem unbeugsamen Lebenswillen des irischen Volkes spürt Walter Kaufmann nach. Seine Reportagen zeugen von seiner Liebe zu diesem Land, die Menschen, denen wir begegnen, nehmen Gestalt an, offenbaren sich als unverwechselbar: Katholiken und Protestanten, Männer der IRA und deren erbitterte Feinde, Arbeiterführer und Kapitalisten. Ihr Leben, ihre Schicksale verdeutlichen uns die Widersprüche im Lande und beschwören die Vorstellung eines Alltag, der so nur in Irland verläuft.

MV Taschenbuch

Aus begreiflichen Gründen wurden einige Eigennamen geändert

Zuerst erschienen Brockhaus Verlag Leipzig, 1977 © Walter Kaufmann, Rostock 2003 Titelbild: Angela Brunner Texterfassung/Vertrieb: BS-Verlag-Rostock Angelika Bruhn Print Epub PC.pdf

ISBN 978-3-935171-92-2 ISBN 978-3-96785-914-1 ISBN 978-3-86785-915-8

Inhalt Vorwort Die Jagd nach den Attentätern geht weiter Sturz in den Abgrund Unsere Anzüge passen langen Männern und allen Männern! Tag des Todes Ulster – das verlorene Paradies! Sklaverei in Belfast Paisley – der reichstePfaffe in Irland! Der Streik, der läuft und läuft und läuft … Toter beim Belfaster Leichenschauhaus ausgeraubt! Bischof von Derry: Verjagt die, die den Haß schüren! Rettet mein Leben Zwei Verhaftungen nach Banküberfällen – Postraub noch ungeklärt! Kein Roman für Ängstliche Leserbriefe ohne Unterschriften! Paddy singt ein glorreiches Lied! Junge Frau ringt mit dem Tod! Das Grauen schleicht durch Derry!

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Vorwort Von der Vielzahl leidenschaftlicher Stimmen, die gleich nach meiner Ankunft in Nordirland auf mich eindrangen, klingt noch heute jene in mir nach, die mich anklagend wissen ließ: In diesem Land sind wir Katholiken Schwarze, deren Haut zufällig weiß ist. Bei allem Erlebten zweifle ich nicht, daß diese Behauptung dem Kern der Sache näher kommt, dem Wesen der Zwangslage eher entspricht als die weit verbreitete und stets aus kühler Ferne vorgetragene Auffassung, die irischen Unruhen hätten ihren Ursprung in religiösen Konflikten. Keine der Bomben, das sei verbürgt, die während meines dritten und stürmischsten Aufenthalts in Belfast Kneipen und Wohnhäuser in Schutt und Asche legte, wurde gezündet, um die Besitzer dieser Kneipen, die Bewohner dieser Häuser im Namen Gottes für ihre kirchliche Gesinnung zu bestrafen. Die Hintergründe der Gewalttaten waren durchweg politisch. Seit im Jahre 1921 sechs Grafschaften der Provinz Ulster vom restlichen Irland getrennt wurden und ein Teil Großbritanniens blieben, ist die Lage der nordirischen Katholiken, die ein Drittel der anderthalb Millionen Menschen Nordirlands ausmachen, tatsächlich mit der Lage der nordamerikanischen Neger vergleichbar. Sie sind benachteiligt, leben vorwiegend in Ghettos, stellen den höchsten Prozentsatz der Arbeitslosen, sind politisch entmachtet und sehen sich Kräften ausgeliefert, denen sie sich verbittert widersetzen. Diese Zustände waren und sind die Ursache der tragischen Zuspitzung einer achthundert Jahre alten Fehde: Die Eroberung Irlands durch den protestantischen König Heinrich II. von England im Jahre 1171, die Belehnung englischer Adliger mit irischem Klosterland, die Ansiedlung protestantischer englischer Siedler vor allem in Nordirland und als Folge davon jahrhundertelange Kriege der Iren gegen die Engländer haben dazu geführt, daß in Irland Katholizismus mit Nationalismus, nationale Unterdrückung mit sozialer Unterdrückung gleichgesetzt werden müssen. Natürlich gibt es konfessionelle Zwietracht. Die aber wurde künstlich geschürt und von den Engländern zu einem Schwert geschmiedet, mit dem sie teilen und herrschen. Die britische Armee ist 1969 in Nordirland unter dem Vorwand eingezogen, Ruhe und Ordnung wah5

ren und die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten schlichten zu müssen. In Wirklichkeit erwies sie sich als der starke Arm der Monopole, deren Interessen sie verteidigte, indem sie gewaltsam gegen das katholische Proletariat vorging und sich schützend vor die Protestanten stellte. Der „Blutige Sonntag“ des 30. Januar 1972, an dem dreizehn Demonstranten für Bürgerrechte von Fallschirmjägern erschossen wurden, hat tiefe Spuren in der katholischen Bevölkerung hinterlassen und ihren Willen zum Widerstand neu entflammt. Bestrebungen um ein freies, vom englischen Königreich unabhängiges Irland reichen weit zurück. Bis heute unvergessen bleiben die Tage des Dubliner Osteraufstandes im Jahre 1916, der nach siebentägigem Kampf von britischen Truppen niedergeschlagen wurde. Der Traum von einer Irischen Republik wurde im Blut der Opfer erstickt und sechzehn Führer der Bürgerarmee exekutiert, unter ihnen der Revolutionär James Connolly. Nach dem Osteraufstand setzte in Irland ein mächtiger Aufschwung der Befreiungsbewegung ein. Die Arbeiterklasse erstarkte. Es kam zu Streiks im ganzen Land. Der Versuch der britischen Regierung, im Jahre 1918 die allgemeine Wehrpflicht auf Irland auszudehnen, wurde vereitelt. Irische Arbeiter nahmen am Kampf des englischen Proletariats gegen die antisowjetische Intervention teil und führten Aktionen gegen den Abtransport von Kriegsmaterial aus irischen Häfen durch. In einigen Orten kam es zeitweilig zur Bildung von Räten. Fabriken und Kohlengruben wurden von Arbeitern besetzt und Ländereien der Landlords aufgeteilt. Später jedoch gelang es den Führern der SinnFèin (Wir selbst)-Partei – die Freiwillige der Irisch-Republikanischen Armee hinter sich wußten – die politische Leitung des Befreiungskampfes in die Hand zu nehmen und nach eigenem nationalistischem Ermessen einen irischen Staatsapparat zu schaffen. Zwar leisteten auch die Sinn-Fèiner der britischen Kolonialmacht erheblichen Widerstand, doch gleichzeitig schützten sie das Eigentum der Gutsbesitzer und Großbauern und unterdrückten Aktionen der Industriearbeiter. Die Versuche der Engländer, die neu entstandenen Kommunalverwaltungen und Gerichtsbehörden zu beseitigen, führten in den Jahren 1919 bis 1921 zum Partisanenkrieg, den die Arbeiter und Bauern im bewaffneten Kampf und durch Streiks und Boykotte unterstützten. Im Sommer 1921 sahen sich die Engländer gezwungen, einen Waffenstillstand zu schließen, und im Dezember des gleichen Jahres kam es zu dem Schachzug, dessen Nachwirkungen Irland bis heute erschüttern. Der südliche Teil Irlands wurde vertraglich zum Freistaat erklärt, des6

sen wirtschaftliche und politische Entwicklung Großbritannien jedoch weiter kontrollierte, während die sechs nördlichen ökonomisch am weitesten entwickelten Grafschaften im Vereinigten Königreich verblieben. Nach der Spaltung – und nur durch sie – konnte die Unionistische Partei der protestantischen Bourgeoisie zur mächtigsten politischen Kraft in Ulster werden und über ein halbes Jahrhundert verhindern, daß auch nur ein einziger katholischer Politiker in der neugeformten Marionettenregierung seine Stimme erhob. So war zum Beispiel bis 1972 nur wahlberechtigt, wer Hausbesitzer war oder die Miete für eine Wohnung bezahlte. Wer in Untermiete oder bei den Eltern wohnte – auch wenn er älter als einundzwanzig Jahre war –, durfte nicht wählen. Unternehmer mit mehreren Betrieben jedoch konnten mehrere Stimmen abgeben, ebenso Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Die Engländer schienen ihr Ziel erreicht zu haben. Auf ihre Schützlinge war Verlaß, wenn es darum ging, die Milliardenprofite abzusichern, die alljährlich aus Ulster in die Kassen der britischen Monopole flossen. Wer gegen die Ausnutzung des Landes als Quelle von Rohmaterial, als Reservoir von billigsten Arbeitskräften anging, konnte aufgrund von Ausnahmegesetzen unverzüglich in eines der Internierungslager eingekerkert werden – was Tausenden geschah. Die Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre, die weite Schichten erfaßte, trachtete nicht nur, die Kluft zwischen den Anhängern beider Religionen zu überbrücken, sie prangerte auch die künstlich gezogenen Grenzen an, die Nordiren katholischen Glaubens zu einer unterdrückten Minderheit werden ließen, zu deren Unterdrückung bereits in den Schulen der Grund gelegt wird. In Nordirland, aber auch in der Republik Irland, gibt es nur Bekenntnisschulen: Schulen für protestantische Kinder, Schulen für katholische Kinder. Entsprechende Auswirkungen werden noch lange spürbar sein. Unter dem wesentlichen Einfluß der Linken gelang es der wachsenden Bürgerrechtsbewegung, katholische und protestantische Arbeiter einander näher zu bringen und sie zu bewegen, sich gemeinsam gegen die immer mehr um sich greifenden sozialen Mißstände zu wehren. Dieser Einheitsfront standen ein ausgedehnter Polizeiapparat und Horden bewaffneter Protestanten gegenüber, die ungehindert von ihren Waffen Gebrauch machten. Loderten die Flammen zu hoch, dann griffen Panzersoldaten und Fallschirmjäger ein, von denen zeitweise 21.000 Mann in Nordirland stationiert sind. Unter dem Verwand von Strafexpeditionen gegen die illegale IRA und ihren paramilitärischen Flügel, der bis zum heutigen Tag Gewalt mit Gewalt zu ahnden ver7

sucht, bekämpfte die britische Armee erbarmungslos alle Aufstände für Freiheit und Brot. Das Vorgehen der fremden Soldaten, dieser Einsatz nicht gegen die Armut, sondern gegen die Armen, der Notstand im Lande, die Verhaftungswellen und sozialen Mißstände in allen Lebensbereichen, brachten den Zorn der Unterdrückten zum Sieden und die Regierung von Ulster ins Wanken. Die Engländer sahen sich schließlich gezwungen, das nordirische Parlament aufzulösen und Ulster direkt von London aus zu regieren, was zur Folge hatte, daß selbst die britische Hauptstadt zu einer Art Nebenkriegsschauplatz geworden ist, auf dem Randgefechte des Nordirlandkonflikts ausgefochten werden. Der Regierungswechsel hat die nordirische Krise nicht beheben können, sondern sie nur verschärft. Die Unruhen in Ulster sind zu einem regelrechten Bürgerkrieg ausgeartet und haben die sechs Grafschaften in ein Pulverfaß verwandelt. Minen explodieren weiter, Bomben gehen hoch. Es kommt zu mörderischen Vergeltungsmaßnahmen im ganzen Land, durch die nicht selten sogar Kinder betroffen sind: Im Herbst 1976 hatte ein wild über den Bürgersteig rasendes Auto drei Geschwister erfaßt und getötet. Der Wagen war außer Kontrolle geraten, nachdem der mit einem Gewehr bewaffnete Fahrer, ein Mitglied der IRA, von einer Armeepatrouille erschossen worden war. Der Aufschrei der betroffenen Mutter hat bei Tausenden nordirischer Frauen Gehör gefunden, und es ist zu spontanen, gefühlsmäßig motivierten Frauenmärschen gekommen, bei denen die mutigen Demonstrantinnen Straßen blockiert und dem Verkehr in Städten wie Belfast und Derry stundenlang lahmgelegt haben. Demonstrationen dieser Art und die von den Gewerkschaften eingeleitete Kampagne „Ein besseres Leben für alle“ werden von nicht wenigen Bürgern des Landes als eine Chance für ihre Hoffnungen verstanden. Erfüllt können solche Hoffnungen aber erst werden, wenn der soziale Notstand behoben ist, die religiösen Gegensätze abgebaut sind und es keine Unterdrückung der katholischen Minderheit mehr gibt. Bis zu diesem Tag und dieser Stunde werden im Lager Long Kesh und im Maze Gefängnis junge Iren in den Hungerstreik treten bis in den Tod, wird es Opfer geben in den Städten und Dörfern und anhaltenden Widerstand mit Bombe und Gewehr gegen jede Form der britischen Staatsmacht – wird der Kampf um nationale Unabhängigkeit und gleiche Rechte für alle Nordiren die Welt in Atem halten.

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We laugh because we cry

Für James Stewart Belfast

Um 12:35 Uhr dieses regnerisch-windigen Donnerstags der ersten Oktoberwoche 1975 schwenkte in einem katholischen Ghetto von Belfast ein blauer Mercedes von der Falls Road in die Leeson Street ein, raste zwischen den rostbraunen, verfallenen Häuserreihen übers Pflaster, durchbrach eine Sperre schwerer Tonnen und kam mit hartem Bremsen vor der Eckkneipe Bush Bar zum Stehen. Die Wagenschläge flogen auf, drei mit Maschinenpistolen bewaffnete Männer sprangen auf die Straße, rannten auf die beiden Eingänge der Kneipe zu und feuerten ohne Warnung, während ein vierter eine Bombe aus dem Auto trug, die er seitlich des Hauses absetzte. Sich gegenseitig durch Salven absichernd, wichen die vier Attentäter zu dem Mercedes zurück und schlugen die Türen hinter sich zu. Kaum hatte das sofort vorschnellende Auto die nahe Grosvenor Road erreicht, da explodierte auch schon die Bombe im Rücken der Männer, die sich fluchtartig aus dem Haus ins Freie gedrängt hatten, neun von ihnen waren durch Schüsse verletzt worden. Es dauerte knapp zwei Stunden, bis es Feuerwehrleuten, britischen Soldaten und Bewohnern der Leeson Street gelang, die Trümmer der völlig zerstörten Bush Bar so weit wegzuräumen, daß sie sich den Weg ins Nebenhaus bahnen und eine achtundachtzigjährige Frau befreien konnten, die dort verschüttet war. Zu diesem Zeitpunkt stand schon fest, daß die Attentäter Mitglieder der UVF gewesen waren, der Ulster Volunteer Force, einer protestantischen, paramilitärischen Organisation, und es hatte sich auch erwiesen, daß ein alter Mann bei dem Überfall tödlich verwundet worden war. Auf den Titelseiten der Zeitungen des folgenden Tages prangten Schlagzeilen wie Gemetzel – Blutbad – Tag des Grauens. Die haarsträubenden Schilderungen von Gewalttätigkeiten, die unter diesen Schlagzeilen zu lesen waren, bezogen sich jedoch nur zum Teil auf das Attentat in der Leeson Street. Denn in den vorhergegangenen vierundzwanzig Stunden waren in ganz Nordirland bei sechzehn Bombenan10

schlägen neun Männer und drei Frauen ums Leben gekommen und mehr als dreißig Personen erheblich verletzt in Krankenhäuser eingeliefert worden. In der Tat eine erschreckende Bilanz – die uns in gerader Linie zurück zur Bush Bar führt, wo ich nur kurz nach der Explosion am ersten Tag meiner dritten Belfastreise eintraf, um Jack O’Malley aufzusuchen, mit dem ich Monate zuvor bekannt geworden war und den ich in dieser Kneipe vermutete. Bis zu jenem verhängnisvollen Augenblick, den auch er – wie sich später herausstellte – nur um Minuten verpaßt hatte, war die Bush Bar eine Art Arbeitsvermittlung für Jack O’Malley. Dort trank er nicht nur seinen Guinness in geselliger Gemeinschaft von IRA-Männern, sondern holte sich auch Aufträge und heuerte Erwerbslose an, die ihm für ein paar Pfund als Beifahrer zur Hand gingen. Schon im Frühjahr hatte es mich in diese Kneipe gezogen, eine Fundgrube für Informationen; ich war aber damals dem hochgewachsenen, breitschultrigen Mann nicht nähergekommen, der da, stets am gleichen Platz, den JamesConnolly- und Che-Guevara-Bildern gegenüber, die neben den Flaschenregalen hingen, trinkend an der Theke lehnte. Erst im Sommer entstand zwischen uns eine jener für dieses Land typischen Männerbeziehungen, die gleich stürmisch-herzlich beginnen und sich an Whisky und gegenseitigen Offenbarungen weiter entfachen. Er erfuhr viel von mir, und darum zögerte er auch nicht, so manches aus seiner eigenen Vergangenheit preiszugeben, was er normalerweise verschwiegen hätte. Sicher half dabei auch, daß wir beide etliche Seefahrtsjahre hinter uns hatten und uns über ferne Häfen und Schiffsrouten rund um die Welt austauschen konnten. Wie so viele Iren erwies er sich als geborener Erzähler mit urwüchsigem Humor. Das Galgenstück, wie er und der Schiffsheizer Patrick Rooney in Amerika zwanzigtausend Dollar ergatterten, zeigt treffend, aus welchem Holz er geschnitzt ist: „Wie wir zu dem Zaster gekommen sind? Mann Gottes, das war so … Da lag der alte Patrick stockbesoffen mit zerschmettertem Bein auf den Schienen im Hafengelände von Hoboken, seine Schuld durchweg, und ohne diesen pfiffigen Winkeladvokaten Sam Goldblatt wäre aus einer Versicherungsentschädigung nie was geworden. Der aber hatte rausgekriegt, daß der Lokführer schon drei Tage vor dem Unfall im Ruhestand war und keinen Dienst mehr hätte machen dürfen. Da hakte Goldblatt ein. Die Gerichtsverhandlung war das reinste Panoptikum. Der alte Patrick in kurzen Hosen, damit sein Gipsbein auch auffiel, und ich als Zeuge, obwohl ich in der Dunkelheit und meinem Suff überhaupt nicht gesehen hatte, wie mein Kumpel unter die Räder kam. Mit 11

jedem Meineid verschrieb ich meine Seele dem Teufel ein Stück mehr, und am Ende war die Versicherung froh, daß sie so billig davonkam, denn Sam Goldblatt hatte wegen Fahrlässigkeit der Bahnbehörden auf fünfzigtausend Dollar geklagt, sich dann mit der Hälfte abgefunden und fünftausend davon eingestrichen. Machte zwanzigtausend für uns, genug, um den Reeder zu feuern und die Welt zu kaufen. Zwanzigtausend Dollar – das war damals ein Stück Geld, kann ich dir sagen! Hätte sich der alte Patrick nicht gleich wieder besoffen und – Pech im Glück! – den gesunden Fuß so verstaucht, daß er überhaupt nicht mehr laufen konnte, dann wäre das Ganze der Witz des Jahres gewesen. Was soll’s – war auch so sehr lustig, wie wir beide den Zaster niedergekniet haben. Du glaubst das alles nicht? Mann Gottes, der alte Patrick lebt nur ein paar Straßen weg von hier, wir können ihn ja holen.“ Darauf bestand ich nicht. Todsicher hätte der Schiffsheizer jedes Wort bestätigt, und mir wäre es immer noch überlassen geblieben, den Funken Wahrheit in der Geschichte zu erkennen. Großzügig bestellte Jack noch zwei doppelte Whisky und erzählte weiter. Mit jedem neuen Mosaikstein kam die wilde, ungezügelte Art dieses etwa vierzigjährigen Vaters von sieben Kindern und Ehemanns einer deutschen Frau deutlich zutage. Deutschland, besonders Hamburg und Lübeck, spielten im folgenden eine beträchtliche Rolle. Dorthin hatte es ihn später verschlagen, dort hatte er Agnes Schmidtchen kennengelernt und geheiratet, und von dort war er schließlich wieder ausgerückt, nachdem er sich „für die gute Sache natürlich!“ in Altona Unmengen von Falschgeld hatte drucken lassen – im Namen der IRA, die dahintergekommen war, daß die Nazis im Krieg Millionen englischer Pfund produziert hatten, um die britische Wirtschaft zu stören. Eine Mordsidee, hatte Jack O’Malley gefunden: die britische Wirtschaft in die Knie zwingen und so der Heimat nützen! Doch das Unternehmen schlug fehl, ein Komplize von ihm wurde mit dreitausend Pfund Falschgeld an der britischen Grenze verhaftet, und Jack O’Malley, der mit weit mehr bis nach Belfast durchgekommen war, sah sich gezwungen, den Großteil seiner Beute zu vernichten. „Mann Gottes, hätte ich bloß auch den Rest verbrannt! Die paar Lappen, die sie dann bei dieser wüsten Hausdurchsuchung bei mir fanden, haben mich vier Jahre hinter Gittern gekostet. Noch einen Whisky – was soll’s! Die lumpigen Jährchen hab’ ich eben abgerissen, auf einem Ohr sozusagen, für die gute Sache und für Irland!“ Die achtundachtzigjährige, inzwischen aus dem Nebenhaus befreite Frau wurde gerade durch die zurückweichende Menge zu einem Kran12

kenwagen getragen, während ich mich noch immer nach Jack O’Malley umsah. Der war nirgends zu finden, doch ich spürte den alten John Macnamara auf, der rauchend in seiner Haustür stand und fern das Geschehen scheinbar gleichgültig verfolgte. Tatsächlich stellte sich heraus, daß er zutiefst verstört war, es hatte ihm die Sprache verschlagen, denn als ich ihn anredetet, schüttelte er nur den Kopf, als verstünde er mich nicht. Die Zerstörung der Bush Bar, die für ihn seit eh und je eine Heimstätte gewesen war, kommentierte er nur in Silben: „Ja ja, so geht sich das!“ Sein schmales Gesicht war wie immer rot angelaufen, und wenn er schluckte, stieg der Adamsapfel über den Kragen seines Hemdes. Es war, als ersticke er daran. Er hustete, spuckte seinen Zigarettenstummel auf den Bürgersteig und zertrat ihn. Nur durch ein Schulterzucken gab er mir zu verstehen, daß er keine Ahnung habe, wo Jack O’Malley stecke, in der Kneipe solle er nicht gewesen sein, als die Bombe hochging, er selbst auch nicht, „Gottlob!“ – war nur eines der wenigen Worte, die er schließlich hinzufügte. Unter den Männern, die jetzt dabei waren, das, was an Inventar der Bush Bar noch erhalten geblieben war, aus den Trümmern zu bergen, sah ich Ray und Michael, zwei von Macnamaras Söhnen. Mit ihrem leuchtendroten Haar waren sie nicht zu übersehen. Beide schwitzten. Trümmerstaub bedeckte ihre Gesichter, ihre verdreckten Hemden und Hosen klebten ihnen am Leib wie eine zweite Haut. Ich sah sie eine Bank aus dem Schutt ziehen, einen Tisch, ein paar Flaschen, das Che-Guevara-Bild, eine Holzharfe, von der ich wußte, daß sie ein Gefangener aus dem Internierungslager Long Kesh geschnitzt hatte. Als Michael, die Harfe unter dem einen Arm, drei Whiskyflaschen in der Beuge des anderen, in ein gegenüberliegendes Haus verschwand, folgte ich ihm. Zu meiner Verblüffung erkannte ich, daß man dort dabei war, sich eine Bleibe einzurichten, die Theke stand bereits, ein paar Bretter auf hochgestellten Kisten und hinter der Theke ein dürftiges Regal mit verschiedenen Schnaps- und einer Reihe Guinness-Flaschen. Der Mann am Ausschank, ein stämmiger Kerl, dessen harten Belfast-Dialekt ich nur mit Mühe verstand, verkündete gerade den Namen der neuen Kneipe: „Cracked Cup“. „Zersprungene Tasse“ schien mir unter den Umständen derart unterbetont, daß ich lauthals lachen mußte. Auch der Mann lachte. „Die Tiefstapelung des Jahres“, bestätigte er. Nachdem Michael die Whiskyflaschen abgeliefert und die Harfe aufs Regal gestellt hatte, legte ich zwei Pfund auf die Theke und hielt die Männer frei, die sich zu mir gestellt hatten. Auch Michael lehnte nicht ab, kippte sein Malzbier zwischen die staubigen Lippen und 13

grinste. Wie schon sein Vater vor ihm zeigte er keinerlei Überraschung über mein Auftauchen – verstört war er nicht. „Ein Reporter muß sein, wo was passiert“, sagte er bloß. „Schlimme Sache, das Ganze!“ „Weg mit Schaden“, meinte er. „War ja nicht das erste Mal, daß es gekracht hat, wird auch nicht das letzte Mal sein.“ Mit einem keltischen Wort, das ich nur vom Klang her wiedergeben kann, hob ich mein Glas zu ihm und den anderen: „Slonche!“ „Slonche.“ Sie alle, das war klar, lebten mit der Gewalt und hatten sich an Explosionen gewöhnt – wie Japaner an Erdbeben. „Hier vertreibt uns keiner“, verkündete Michael. „Bis morgen floriert der Laden, verlaß dich drauf! Bloß schlimm, daß sie zum Schluß noch den Lollypopman über den Haufen geschossen haben.“ „Lollypopman?“ „Einen von diesen alten Rentnern, die an Kreuzungen Kinder übern Damm führen. Weißer Mantel und Signal – du weißt doch! So einen hat’s an der Grosvenor Road erwischt.“ „Und keiner von euch hat zurückgeschossen?“ Die Männer um mich herum schwiegen, auch Michael schwieg betroffen, und erst als ich zwei Tage später Jack O’Malley doch noch aufgespürt hatte, erfuhr ich, daß just zu der Zeit des Überfalls die beiden Posten, die sonst immer die Bush Bar und Umgegend bewachten, in einen nahen Fischladen verschwunden waren, um Fisch und Chips zu kaufen. „Hast du ‘ne Ahnung, wo Jack ist?“ fragte ich Michael. „Wird wohl ‘ne Fuhre haben. Wenn er auftaucht, sag’ ich ihm, daß du hier warst.“ Er trank sein Bier aus und bot mir einen Whisky an, doch ich winkte ab. Er schien erleichtert, das Geld mochte ihm knapp sein, oder es drängte ihn zurück zur Arbeit, und er verabschiedete sich. So kam es, daß ich an diesem Tag die drei Paar Kinderschuhe nicht loswurde, die ich für Jack O’Malleys jüngsten Nachwuchs aus Berlin mitgebracht hatte. Die Schuhe in meiner Tragetasche, verließ ich den kahlen, noch dürftig beleuchteten Raum, trat auf die Straße und ging langsam, die Trümmer der Bush Bar im Rücken, zur Falls Road hoch. An der Ecke hielt ich eines jener zerbeulten Linientaxis an, ohne die in dieser Gegend der Transport erlahmen würde, und fuhr die Strecke zum Stadtzentrum zurück. Sirenen von Polizeiwagen, Krankenwagen, Feuerwehren gellten mir in den Ohren, doch der Mann neben mir sagte nur: „Belfaster Konzert!“ und sprach dann übers Wetter. 14

MELDUNGEN Endstation Tod für Joe Frazier Ali schlug zu wie mit einem Hammer Leutnant Clifford Burridge schreibt an die Eltern eines jungen Mannes, den er bei Belfaster Unruhen erschossen hatte Sie werden nicht glauben, was wir alles verkaufen und wie billig es ist! Regierungserklärungen und Polizeiberichten zufolge, ist die Schuld für das Gemetzel dieses blutigen Tages der Ulster Volunteer Force und der Provisional IRA zuzuschreiben! Die Jagd nach den Attentätern geht weiter Wir haben den Niedergang großer Industriezweige erlebt – jetzt sind die Werften in Gefahr und drastische Maßnahmen nötig, um die Firma Harland & Wolff vor dem Bankrott zu retten Auch in Belfast entspannen Sie phantastische Londoner Masseusen – The Elite 439 a Lisburne Road. Tel. 66 93 22 Nordirische Sicherheitsbeamte sind gestern Nacht in die Jagd nach den Entführern einbezogen worden, die den holländischen Industriellen, Dr. Tiede Herrema, unter Todesdrohungen festhalten Sturz in den Abgrund Die Situation in Nordirland ist gefährlich und verschlechtert sich täglich Unsere Anzüge passen langen Männern und allen Männern! Wer sorgt sich? Wir sorgen uns! Ein Posten bei der Königlichen Polizei von Ulster wird gut bezahlt, und die Aufstiegsmöglichkeiten sind groß Sie brauchen nicht einsam zu bleiben. Brendan und Marie Coffey helfen Ihnen, einen Partner zu finden Tag des Todes Worte reichen nicht mehr, um den Abscheu auszudrücken, den die Todeswelle durch Kugeln und Bomben gestern ausgelöst hat „Schöner Tag heute, vielleicht ein bißchen windig, könnte wieder Regen geben, wenn der Wind nicht umschlägt – meinen Sie nicht?“ Allerorts in Irland spricht man übers Wetter, das gehört zum guten Ton und gilt als Begrüßung. Es wäre unhöflich, ja geradezu undenkbar, auf diese Art von Fühlungnahme nicht einzugehen, denn das hieße, den anderen der Möglichkeit berauben, zu Tagesereignissen oder Persönlichem überzuleiten. Es dauerte zwar lange, bis der Pensionswirtin mein 15