Jahrbuch der Luria-Gesellschaft 2014

Emotionstheorie von Cannon und Bard, zwar ein Fortschritt gegenüber der James-. Lange-Theorie sind, aber letztlich den cartesisch/cartesianischen Dualismus ...
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Jahrbuch der Luria-Gesellschaft 2014

Willehad Lanwer Wolfgang Jantzen (Hrsg.)

Berlin 2015

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet unter abrufbar.

Willehad Lanwer • Wolfgang Jantzen (Hrsg.) Jahrbuch der Luria-Gesellschaft 2014 © 2015 Lehmanns Media • Berlin ISBN: 978-3-86541-723-7 Druck: docupoint GmbH • Barleben

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www.luriagesellschaft.de

Inhalt Vorwort

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Alexa Köhler-Offierski Begrüßung der TeilnehmerInnen der Luria-Gesellschaft 26.6.2014

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Wolfgang Jantzen Was sind Emotionen und was ist emotionale Entwicklung?

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Bodo Frank Zeit und Emotionen – Möglichkeiten und Grenzen der videobasierten Untersuchung früher Mutter-Kind-Interaktionen

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Claudia Maier-Höfer Das Selbst im Spiegel der Anderen – Darstellung eines Zugangs zum Werk von Henri Wallon

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Dietmut Niedecken Überlegungen zur Symboltheorie Alfred Lorenzers

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Aleksej Nikolaevi Leont’ev Einleitung in Henri Wallon: De l'act à la pensée

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Willehad Lanwer Überlegungen zum »Leib-Sein« und »Körper-Haben«

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Autorinnen und Autoren

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Vorwort Wir freuen uns im vorliegenden Jahrbuch die Beiträge der zweiten gemeinsam mit dem Studiengang Inclusive Education der Evangelischen Hochschule und der Luria Gesellschaft organisierten Fachtagung am 28. Juni 2014 in Darmstadt mit dem Thema »Tätigkeit, Emotionen und Subjektwerdung« zu veröffentlichen. Was ist Tätigkeit, was sind Emotionen und in welcher Beziehung stehen Tätigkeit, Emotionen zur Subjektwerdung? Im Kern sind das die Fragen, auf die unsere Referentinnen und Referenten aus unterschiedlichen Perspektiven in ihren Beiträgen antworten bzw. Dimensionen aufzeigen, in denen sich die Antworten bewegen. Grundsätzlich gehen wir von der Prämisse aus, dass Subjektivität bzw. Subjektwerdung als Ergebnis eines sozial vermittelten und vermittelnden Prozesses gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen entspringt. Es sind also die Verhältnisse, in denen und unter denen wir leben, die als Quelle unserer Subjektwerdung bestimmt werden. Demzufolge orientieren wir uns an Vygotskij, d.h. die erste Frage, die wir zu beantworten haben, wenn wir die Dynamik der Subjektwerdung untersuchen, ist die Frage nach der sozialen Entwicklungssituation. In ihr liegt der Ursprung des Werdens im Sein, d.h. sie bestimmt die gesamte Lebensweise des Subjekts bzw. dessen soziale Sein und sie bestimmt den Weg, auf dem Soziales zum Individuellen wird. 1 Angesichts dessen betrachten wir die Subjektivität nicht substantiell, sondern durchgängig als Relation, als Verhältnis. Damit ist aber keineswegs die Individualität des Subjekts aufgehoben oder gar obsolet. Denn jedes Verhältnis hat stets mindestens zwei Teilnehmende zur Voraussetzung, die sich wechselseitig aufeinander beziehen, d.h. sich in einer aktiven Auseinandersetzung befinden, die wir mit Leont‘ev als »Tätigkeit«2, oder aber mit Spitz als »Dialog«3 bezeichnen. Auf die Frage, was ist menschliches Leben antwortet Leont‘ev: »Es ist eine Gesamtheit, genauer gesagt, ein System einander ablösender Tätigkeiten«4 und Spitz: »Leben im menschlichen Sinne kann nicht asozial, es muss sozial sein. Leben in unserem Sinne wird durch den Dialog geschaffen«5. Aus einer übergeordneten Perspektive wird damit der Ausgangspunkt für die Thematik unserer Tagung markiert. »Tätigkeit, Emotionen und Subjektwer1 Vgl. Wygotski, Lew [Vygotskij, Lev]: Das Problem der Altersstufen. In: Wygotski, Lew: Band 2. Arbeiten zur psychischen Entwicklung. (In deutscher Sprache herausgegeben von Joachim Lompscher). Köln: Pahl-Rugenstein 1987, S. 75f. 2 Vgl. Leont´ev, Aleksej N.: Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit. Berlin: Lehmanns Media GmbH 2012. 3 Vgl. Spitz, Renè: Vom Dialog. Studien über den Ursprung der menschlichen Kommunikation und ihrer Rolle in der Persönlichkeitsbildung. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1976. 4 Leont´ev, Aleksej N.: Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit, a.a.O., S. 79. 5 Spitz, Renè: Vom Dialog, a.a.O., S. 26.

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dung« basieren auf einem Verständnis des menschlichen Lebens, das konsequent als Relation bestimmt wird, d.h. als »In-der-Welt-sein« und damit zugleich in Beziehungen zur Welt und zum Menschen, die über Tätigkeiten bzw. Dialoge realisiert werden. Menschliches Sein ist demzufolge ein Welt-, Fremd- und Selbstverhältnis Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf die dialektische Ontologie von Hans Heinz Holz, d.h. die allgemeinste ontologische Voraussetzung ist: »stets in Beziehung zu sein, und das heißt, erst durch gegenständliche Bestimmtheit überhaupt zu sein«6. Subjektwerdung in diesem Sinne meint, in und durch die Beziehung zur Welt und zum Menschen, die über Tätigkeiten und Dialoge realisiert werden, zu sich selbst zu kommen, d.h. wiederum an Holz anknüpfend: »Nichts wäre so, wie es ist, würde es nicht vermittelt durch anderes, außer ihm Seiendes, zu sich selbst gebracht werden«7. Mit andern Worten, jedes menschliche Sein ist nur das, was es ist, indem es sich auf ihm gegenständliche, andere Seiende bezieht. Subjektwerdung ist demzufolge in einer ersten Bestimmung als ein über Tätigkeit und Dialog sozial vermittelter und vermittelnder Prozess im Verhältnis des Menschen zur Welt und zum Menschen zu bestimmen, innerhalb dessen das Subjekt zu dem wird, was es ist, durch das, was es für andere darstellt. Mithin ist für unsere Thematik von einer Doppelstellung des Subjekts auszugehen, d.h. einerseits Moment eines Seinverhältnisses in der Welt, und anderseits als herausgehobenes Gegenüber, d.h. die oder der Andere zu sein. Wir Menschen sind demzufolge, so Séve, einmalig in unserer Gesellschaftlichkeit und gesellschaftlich, d.h. sozial in unserer Einmaligkeit8. Diese Gegensätzlichkeit, die sich zu Widersprüchen verdichtet, kennzeichnet die Dynamik der Subjektwerdung, d.h. ihre sozial vermittelte und vermittelnde Prozessualität innerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeiten, in denen und unter denen wir leben. Aus einer kulturhistorischen und tätigkeitstheoretischen Perspektive ist grob damit die Verknüpfung zwischen Tätigkeit und Subjektwerdung skizziert. Aber was ist mit den Emotionen, den Affekten? Um sich den Emotionen bzw. den Affekten zu nähern ist übergeordnet zunächst an die Subjektwerdung als ein über Tätigkeit sozial vermittelter und vermittelnder Wechselwirkungsprozess zu erinnern, der nach Leont‘ev die Ganzheit der menschlichen Existenz absichernden dialektischen Einheit der biologischen, d.h. körperlichen, psychischen und soziale Ebene der menschlichen Tätigkeit umfasst9. Die Beziehungen zwischen den Ebenen sind so zu verstehen, dass die höheren von den niederen abhängig sind, die niederen also die höheren voraussetzen, 6 Holz, Hans Heinz: Weltentwurf und Reflexion. Versuch einer Grundlegung der Dialektik. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler 2005, S. 390f. 7 Ebd. 8 Vgl. Séve, Lucien: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Frankfurt/M.: Marxistische Blätter 1983, S. 237. 9 Vgl. Leont´ev, Aleksej N.: Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit, a.a.O., S. 197f.

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aber die höheren in ihrer Entwicklung auf die niederen zurückwirken und umgestalten. Es besteht also zwischen ihnen ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis, sie setzen einander voraus. Auf der Basis dieses Verständnisses der Ganzheitlichkeit des menschlichen Lebens ist die psychische Ebene, die die Emotionen und Affekte betreffen, nicht losgelöst von der sozialen und körperlichen zu betrachten. Das heißt, die psychische Ebene setzt das Soziale und das Körperliche voraus. Betrachten wir die Ebenen genauer und konzentrieren uns zunächst auf die biologische, körperliche Ebene. Mit unserem Körper realisieren wir unsere tätigen, dialogischen Beziehungen zu unserer sozialen Wirklichkeit. Unser Körper markiert die Grenze zwischen Innen und Außen, d.h. zwischen der sozialen Wirklichkeit als Außenwelt, in der wir leben, und der Innenwelt, die als räumliche und zeitliche Struktur des Psychischen zu verstehen ist. Bezogen auf das Körperliche, Biologische ist aber von einer dreifachen Bestimmtheit auszugehen: Das Lebendige ist Körper, im Körper – als Innenleben, als psychische Wirklichkeit – und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist10. Die Existenz von uns Menschen in der Welt ist durch unser Verhältnis zu unserem Körper bestimmt, innerhalb dessen wir mit der Herausforderung der Gegensätzlichkeit des Körperhabens und Körperseins konfrontiert sind, also mit der Gegensätzlichkeit eines Leibes, der ich bin, und einem Körper, den ich habe. Unsere Existenz ist insofern eine innerhalb unserer körperlichen Grenzen, über die hinaus wir leben und die uns als lebende Körper begrenzen. Aber wir leben und erleben uns nicht nur in unseren Welt-, Fremd- und Selbstverhältnissen, sondern wir erleben – sozial vermittelt durch Tätigkeit und Dialog – unser Erleben. Erleben selbst ist zu bestimmen als ein affektiv, emotionales Verhältnis des Subjekts, als ein über die Tätigkeit bzw. Dialog in den Welt-, Fremd- und Selbstverhältnissen durch den Körper hervorgerufener psychischer Prozess. Erleben setzt Ereignisse voraus, denn es ist stets ein Erleben von etwas, das sich in den Welt-, Fremd- und Selbstverhältnissen ereignet und insofern ebenso affektiv, emotional wie inhaltlich, d.h. gegenständlich bestimmt ist. Betrachten wir nun genauer die Affekte bzw. die Emotionen, die als solche psychische Funktionen und die Wechselbeziehungen zwischen der biologischen und sozialen Ebene der ganzheitlichen Tätigkeit des Menschen ebenso bestimmen wie sie von ihnen bestimmt werden. Affekte allgemein verstehen wir nicht als einen Gefühlsausbruch, der durch irgendeine starke äußere Einwirkung ausgelöst wurde (dies wären nach Leont‘ev Affekte im engeren Sinne, die uns packen), wir sprechen in einem umfassenden Sinn von einem affektiven Zustand als anhaltendes, tiefes emotionales Erleben, das unmittelbar verbunden ist mit für das Subjekt lebenswichtigen aktiven und wirkenden Bedürfnissen, die ihren Gegenstand gefunden haben und zum Motiv werden. Wir betrachten daher Affekte/Emotionen im tätigkeitstheoretischen Sinne in ihrer 10 Vgl. Plessner, Helmuth: Der Mensch als Lebewesen. In: Plessner, Helmuth: Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie. Stuttgart: Philipp Reclam 2004, S. 11.

Vorwort

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Funktion, die sie im Prozess der Tätigkeit in der Überführung der objektiven Bedeutungen in die subjektive Sinnbildung wahrnehmen. Dies entspricht dem kulturhistorischen und tätigkeitstheoretischen Prinzip des sinn- und systemhaften Aufbaus des Psychischen, innerhalb dessen von »Einheiten«, d.h. von sich wechselseitig bedingenden Verknüpfungen zwischen den Elementen auszugehen ist. Die Affekte/Emotionen werden mithin nicht isoliert, sondern als Einheiten analysiert, in denen in einfachster Form die Eigenschaften enthalten sind, die dem Psychischen als System, d.h. als Ganzem, innewohnen und die als »elementare Einheiten der psychischen Prozesse«11 zu verstehen sind. Wir werden diese Einheiten kurz skizzieren12. Im Übergang von der sozialen zur psychischen Ebene ist es die »Wortbedeutung«, als Einheit von »Denken und Sprechen«, bzw. von »Kommunikation und Denken« und von »Verallgemeinerung und Verkehr«. Im Übergang von der biologischen zur psychischen Ebene ist es die dialektische Einheit von »Emotion und Kognition« bzw. von »Intellekt und Affekt«. Schließlich ist im Zusammenhang der Übergänge von der sozialen zur psychischen sowie von der biologischen – vermittelt über die soziale – zur psychischen Ebene auf die Einheit des Erlebens anzuführen. Die »elementaren Einheiten der psychischen Prozesse« sind im systemhaften Zusammenhang mit der durch die Tätigkeit sozial vermittelten und vermittelnden Subjektwerdung zu begreifen. Diese impliziert ein sozial vermitteltes und vermittelndes und insofern gewordenes Selbstverhältnis im Sinne von Selbstbezüglichkeit, d.h. eine Unterscheidung zwischen Ich und Selbst, sodass wir zu uns selbst in Distanz treten, ohne uns zu verlieren. Vor diesem Hintergrund sind die Beiträge unserer Fachtagung zu verstehen. Ihre Dokumentation beginnt mit den Begrüßungsworten der Präsidentin der Evangelischen Hochschule in Darmstadt, Frau Prof. Dr. Alexa Köhler-Offierski. Im Anschluss daran behandelt Wolfgang Jantzen die Fragen »Was sind Emotionen und was ist emotionale Entwicklung?«. Er bezieht sich einleitend auf Vygotskij, der die »Die Lehre von der Emotionen« als den rückständigsten, gänzlich vom cartesianischen Dualismus durchdrungenen Bereich der Psychologie kennzeichnet. Orientiert an Uchtomskijs Theorie der Dominante als emotional-kognitiver Einheit der Verhaltensregulation beschreitet Vygotskij in seinem Spätwerk selbst den Weg einer spinozanischen Emotionstheorie. Allerdings bleibt auch hier ungeklärt, was die Emotionen selbst sind. Aufbauend auf Leont‘ev, Simonov, modernen physiologischen und psychologischen Emotionstheorien ebenso wie auf der Neuropsychoanalyse schlägt Wolfgang Jantzen vor, Emotionen als (multi)oszillatorische Prozesse in der fließenden Gegenwart zu betrachten, die in psychischer Hinsicht zwischen den jeweiligen Erlebniszuständen des Subjekts und zu bewältigender Neuigkeit vermitteln. Auf dieser Annahme aufbauend ist eine spino11 Vgl. Jantzen, Wolfgang: Methodologische Grundfragen der kulturhistorischen Neuropsychologie. In: Jantzen, Wolfgang: Kulturhistorische Psychologie heute. Methodologische Erkundungen zu L.S. Vygotskij. Berlin: Lehmanns Media GmbH 2008, S. 69. 12 Vgl. ebd., S. 69-70.

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zanische, verallgemeinernde Emotionstheorie möglich, die mit großer Erklärungsstärke die bisher vorhandenen Theorien als Teiltheorien zu würdigen vermag. In dem nachfolgenden Beitrag von Bodo Frank werden »Zeit und Emotionen – Möglichkeiten und Grenzen der videobasierten Untersuchung früher Mutter-Kind-Interaktionen« thematisiert. Er behandelt basierend auf »in vivo«-Untersuchungen die Auswirkung problematischer Lebenswelten auf die zeitliche Struktur affektiv-emotionaler Regulation in Mutter-Kind-Interaktionen. Bezug genommen wird auf Filmdokumente aus einem Waisenhaus in Tansania sowie entsprechende Untersuchungen in Deutschland unter Bedingungen von Harz IV. Der Beitrag von Bodo Frank behandelt Möglichkeiten und Grenzen der »Videographierung« von »Alltagssituationen« und fragt nach der Organisation einer Wissenschaft, die den Namen inclusive scientific research verdient; denn ein Waisenhaus ist ein sozialer Ort hoher Vulnerabilität, jeder vollzogene Schritt hat Konsequenzen. Dies verweist notwendig auf Theorien des Zusammenhangs von Emotion und Kognition für die Beschreibung affektiv-emotionaler Vorgänge auf dem Niveau sozialer Systeme. Claudia Maier-Höfer bezieht sich in ihrem Beitrag »Das Selbst im Spiegel der Anderen – Darstellung eines Zugangs zum Werk von Henri Wallon« auf dessen entwicklungspsychologische Konzeption. Im Anschluss an Wallon: »Die biologische Konstitution bei der Geburt wird nicht das einzige Gesetz sein, das letztendlich das Schicksal bestimmt. Ihre Effekte können von den sozialen Umständen der Existenz weitgehend transformiert werden, wobei eine persönliche Wahl nicht auszuschließen ist« (Les milieux, les groupes et la psychogenèse de l’enfant, Enfance, numéro spéciale, 1976, p. 96. Übersetzung CMH) beschreibt Claudia Maier-Höfer i die Formen des »Werdens« von Menschen und stellt die Frage nach dem Erkennen dieser Formen. Den Abschluss der Tagungsdokumentation bilden die Ausführungen von Dietmut Niedecken, die aus einer psychoanalytischen Perspektive »Ursprünge und Schicksale der Symbolbildung« vorstellt. Sie untersucht frühkindlichen Affektausdruck bezogen auf seine sinnlich-symbolischen Qualitäten sowie auf sein Potential, für die sich entfaltende Symbolbildung eine Grundlage zu schaffen. Aus solchen sinnlichsymbolischen Interaktionsformen ergibt sich die Entwicklung zur diskursivsprachlichen Symbolik, die daraus ein Wort, schließlich einen Begriff werden lässt und mit zunehmender Affektentleerung einhergeht, sowie zur präsentativen Symbolik, in welcher das sinnlich-symbolische Moment desselben Ausdrucks gemäß dem jeweiligen Material encodiert wird und in dieser Form einer Markierung affektiver Bezüge dient. Beide bleiben jedoch über ihren Ursprung in Verbindung und bilden ein symbolisches Gewebe aus, das als Gewebe des Seelenlebens verstanden werden kann. Abschließend wird anhand eines Beispiels gezeigt, wie solche sinnlich-symbolischen Interaktionsformen in der Interaktion der Rezipienten mit einem künstlerischen Produkt konkret vor sich geht. Über die Tagungsdokumentation hinaus veröffentlichen wir in diesem Jahrbuch von Aleksej Nikolaevi Leont’ev dessen Einleitung in die russische Ausgabe des Buches von H. Wallon: De l’act à la pensé (Paris 1942). Wir danken Gudrun Richter für die Übersetzung dieses anspruchsvollen Textes. Den Abschluss des Jahrbuches bildet der Beitrag von Willehad Lanwer »Überlegungen zum ›Leib-Sein‹ und ›Körper-Haben‹«, der die philosophisch anth-

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ropologischen Überlegungen von Helmuth Plessner in Beziehung setzt zur kulturhistorischen und tätigkeitstheoretischen Konzeption. Darmstadt/Bremen, November 2014 Willehad Lanwer (1. Vorsitzender der Luria-Gesellschaft)

Wolfgang Jantzen (2. Vorsitzender der Luria-Gesellschaft)

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Alexa Köhler-Offierski Begrüßung der TeilnehmerInnen der Luria-Gesellschaft am 28.06.2014 Es freut mich, dass die Luria-Gesellschaft erneut hier in Darmstadt an der Evangelischen Hochschule tagt und sich dieses Jahr mit dem Thema »Tätigkeit, Emotionen und Subjektwerdung« beschäftigen wird. Diese Hochschule mit Studiengängen im Sozial- und Gesundheitsbereich ist in allen Studiengängen mit Professuren aus verschiedenen Disziplinen besetzt, von Behindertenpädagogik über Soziale Arbeit, Pflegewissenschaft, Pädagogik, Theologie, Recht, Psychologie, Soziologie, Ökonomie, Politologie bis hin zur Medizin. Gemeinsam ist allen Disziplinen in der hier vertretenen Ausprägung, dass sie einen sozialen einschließlich sozialstrukturellen Fokus vertreten in seiner Vermittlung auf die und mit den Subjekten und vice versa und dabei die darin eingeschlossenen imund expliziten Menschenbilder und Werthaltungen bearbeiten, wiederum im Kontext der christlichen und philosophischen Tradition. In diesem mehrdisziplinär besetzten Kollegium gibt es also nur drei Möglichkeiten für ProfessorInnen, mit den damit verbundenen Herausforderungen umzugehen: disziplinäre Abkapselung, interdisziplinäre Auseinandersetzung oder Durchlavieren. Während die disziplinäre Abschottung zu einer Addition von Wissen von Fachpersonen und Disziplinen führen kann, welches wir den Studierenden zumuten zu integrieren, führt Interdisziplinarität dazu, dass sich die Grenzen zwischen Disziplinen aufzulösen beginnen (vgl. Streuli et alt 2014: 511). Das gefährdet die eigene disziplinäre Identität und ermöglicht zugleich eine Öffnung für neue Ideen und Sensibilisierung für Probleme, die in der eigenen Disziplin am Rande liegen oder gar nicht wahrgenommen werden. Es erweitert das eigene Spektrum, weil zum Beitrag der eigenen Disziplin Wissensbestände anderer Disziplinen hinzukommen. So kann auch eine neue fachliche Identität entstehen, aber das ist Arbeit. Und von dieser Arbeit zeugt Ihr Tagungsprogramm. Der Titel Ihres Tagungsprogramms erinnert mich an Ausführungen von Luc Ciompi, Schweizer Psychiater, Psychoanalytiker. Er hat die Herausforderung, der Sie sich mit dem Tagungsthema stellen, 1982 in seiner Monographie »Affektlogik« folgendermaßen beschrieben: »Wir sind, sofern wir uns überhaupt psychischen Phänomenen in wissenschaftlicher Weise nähern wollen, gewohnt, das Psychische durch die Brillen der verschiedenen Wissenschaften und Schulen zu sehen, die sich mit ihm befassen – und damit zerfällt es alsbald in eine große Zahl von einzelnen Aspekten und Facetten, die unter sich oft nur geringe oder überhaupt keine sichtbare Verbindung mehr haben. …Vom Ganzen aber, dem das ursprüngliche Fragen galt, bleibt nur noch ein Torso, in dem das eigentlich Gesuchte oft kaum wiederzuerkennen ist.

1 Jürg C. Streuli et alt, »Reden wir wirklich vom Gleichen?« In psychosozial 37. Jg. 2014, Heft I, S. 43-54.

Begrüßung der TeilnehmerInnen der Luria-Gesellschaft 26.6.2014

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Im hier diskutierten Zusammenhang ist dieser Spaltprozess … besonders augenfällig in Bezug auf Affekt und Intellekt« (Ciompi 1982, S. 43-442). Dabei lässt sich sowohl in frühen Schriften Sigmund Freuds wie Jean Piagets nachweisen, dass sie das Ganze aller psychischen Erscheinungen im Blick hatten, also sowohl die kognitive wie die emotionale Entwicklung. Betrachte ich also Ihr Tagungsprogramm, so gefährden Sie Ihre eigene disziplinäre Sicherheit, indem Sie sich offensichtlich auf einen interdisziplinären Diskurs einlassen wollen mit dem Ziel, Tätigkeit, Emotionen und Subjektwerdung als Gesamtes zu erfassen. Auch für dieses Vorhaben gilt der erste Satz der Einladung: »Die Entwicklung des Psychischen ist ein Prozess der Herausbildung des Erlebens in der Tätigkeit und durch die Tätigkeit unter je konkreten historischen Umständen.« Die Zeit scheint wieder reif zu sein, dieser Entwicklung einen Anstoß zu geben. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Vorhaben und wünsche Ihnen eine bereichernde und befruchtende Tagung.

2 Luc Ciompi, Affektlogik, Klett Cotta, 1982.

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Wolfgang Jantzen Was sind Emotionen und was ist emotionale Entwicklung?1 »Um weiter zu kommen, muss das getan werden, was schon immer in gleicher Weise die Bedingung für einen Übergang von der metaphysischen zur historischen Untersuchung war: Es muss die Verbindung zwischen Intellekt und Affekt beachtet werden, die den zentralen Punkt des ganzen uns interessierenden Problems darstellt, eben nicht als Gegenstand sondern als Prozess.« (Vygotskij 2011, 74) Ich berichte im Folgenden über das Ergebnis von fast 30 Jahren Arbeit an einer Emotionstheorie in den Traditionen der kulturhistorischen Theorie. Ich hatte mich bei der Tagung entschieden, frei zu sprechen, da dies die beste Art ist, einem Auditorium ein höchst schwieriges Thema nahe zu bringen und für den Vortragenden selbst die beste Art, das Thema so einfach wie möglich darzustellen.2 Die vorliegende, gründlich überarbeitete Fassung resultiert aus dem Transkript dieses Vortrags.3 Das Thema ist außerordentliche komplex. In seiner methodologischen Untersuchung »Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung«, schreibt Vygotskij (1927/1985a), dass man von der Höhe Hegels nicht Bechterev und Pavlov kritisieren kann. Statt dessen argumentiert er – vor allem auch gegen jegliche bloße Ableitung der Psychologie aus dem Marxismus oder einer anderen Art von Philosophie – wie folgt: Jede Wissenschaft braucht ihre eigene Methodologie, ihre eigene Philosophie und diese muss von unten nach oben entwickelt werden, vom Beschreibungswissen über das Erklärungswissen, und von der Erforschung des bisherigen Erklärungswissens nicht vom Standpunkt der Kritik sondern von dem der Forschung. Dies ist eine absolut moderne Sicht, wie sie in den Naturwissenschaften im Sinne der Herausbildung verallgemeinerter Theorien selbstverständlich ist. Aber genauso selbstverständlich ist die philosophische Ebene nicht bedeutungslos. Denn hinter dem Streit zweier Psychologien, der naturwissenschaftlichen und der introspektiven, geisteswissenschaftlichen verbirgt sich der Streit zwischen monistischer und dualistischer Konzeption der Philosophie. In dem ›Krisenmanuskript‹ verweist Vygotskij bereits auf die zwei grundsätzlichen Alternativen, Psychisches zu erforschen: vom Standpunkt Feuerbachs oder vom Standpunkt Husserls, also vom Standpunkt einer materialistischen Sicht oder einer idealistischen Sicht.4 Die materialistische Sicht psychischer Vorgänge ist 1 Vortrag im Rahmen der Fachtagung: »Tätigkeit, Emotionen und Subjektwerdung« der LuriaGesellschaft am 28. Juni 2014 an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. 2 Dies entspricht dem Albert Einstein zugeschriebenen Zitat: »Man muss die Dinge so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher.« 3 Ich danke Alex Czarnetzki ganz herzlich für die uneigennützige und schnelle Transkription. 4 »Die Trennung der analytischen Methode in eine phänomenologische und eine induktivanalytische führt uns zu den extrem unterschiedliche Ausgangspunkten der zwei Psychologien. […] Die Phänomenologie (beschreibende Psychologie) geht von einem grundle-

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dabei sofort mit dem Kernproblem aller Psychologie konfrontiert, mit dem sogenannten Leib-Seele-Problem. Die dualistische Sicht kann dieses in den Traditionen von Descartes als das zweier Substanzen behandeln, die nebeneinander existieren, allerdings mit dem resultierenden Problem, dass Substanzen gemäß ihrem philosophischen Begriff nur aus sich selbst erklärbar sind und eine Substanz daher in keiner Weise auf eine andere wirken kann. Insofern hält Spinoza der cartesischen Lehre zurecht vor, dass Cartesius Geist und Ausdehnung soweit getrennt habe, dass nur Gott sie wieder zusammenführen könne. Unter anderem hieraus wird deutlich, warum für Vygotskij immer wieder Spinoza und dessen anticartesisches, monistisches philosophisches Programm zentraler Bezugspunkt ist. Vygotskij (1894-1934) selbst war ein philosophisch hochgebildeter Mensch, schon als 16-Jähriger hat er mit seinen Mitschülern Kurse über Hegels Geschichtsphilosophie abgehalten. Und selbstverständlich hat er auch, als Zeitgenosse der Oktoberrevolution und des frühen Aufbaus der Sowjetunion, Marx hervorragend gekannt. Und die Beschäftigung mit Spinoza lag in der Luft. Deborin, der zu gleicher Zeit an dem psychologischen Institut, an dem Vygotskij als junger Wissenschaftler arbeitete, einen Lehrstuhl hatte, Deborin, Redakteur und Herausgeber der Zeitschrift ›Unter dem Banner des Marxismus‹, war ein leidenschaftlicher Vertreter von Spinozas Theorie, ohne jedoch vertieft die Affekttheorie verstanden zu haben (vgl. Deborin 1928). Aber Spinoza als Philosoph der Freiheit lag in der Zeit und Kritiker von Deborin hielten diesem vor, Spinoza als »Marx ohne Bart« zu behandeln (Maidanski 2005). Dies ist nicht ganz verkehrt, denn Spinoza vertritt eine zutiefst dialektische Auffassung, die Vygotskij in einem zweiten großen methodologischen Manuskript untersucht. Es ist unter dem Titel »Die Lehre von den Emotionen‹‹ erschienen und markiert den Übergang zum Spätwerk. Erstmals wurde es zugänglich im Rahmen der russischen Werkausgabe von 1982 und erschien, finanziert durch die Luria-Gesellschaft, 1996 in deutscher Übersetzung. Dieses Buch ist ausgesucht schwer zu lesen. Allgemeine Annahme in der internationalen Diskussion um kulturhistorische Psychologie und Tätigkeitstheorie ist es, dass es nicht abgeschlossen sei. Ich vertrete hierzu einen gegenteiligen Standpunkt. Es ist m.E. in sich abgeschlossen. Es untersucht die zeitgenössische Emotionsneuropsychologie und zeigt, dass Lösungsvorschläge, wie die thalamische Emotionstheorie von Cannon und Bard, zwar ein Fortschritt gegenüber der JamesLange-Theorie sind, aber letztlich den cartesisch/cartesianischen Dualismus nicht

genden Unterschied zwischen der physischen Natur und dem psychischen Sein aus. [...] »In der psychischen Sphäre gibt es … keinen Unterschied zwischen Erscheinung und Sein, und wenn die Natur ein Dasein ist, das in Erscheinungen erscheint, so sind die Erscheinungen selbst (die ja die Psychologie zum Psychischen rechnet) nicht selbst wieder ein Sein« (Husserl 1955, S.335) Es ist kaum möglich eine genauere Formel des psychologischen Idealismus anzubieten. Und hier nun die erkenntnistheoretische Formel des psychologischen Materialismus: »Der Unterschied zwischen Denken und Sein ist in der Psychologie nicht aufgehoben. Selbst im Betreff des Denkens hast du wohl zu unterscheiden zwischen dem Denken des Denkens und dem Denken an sich« (Feuerbach 1971, S. 127). In diesen zwei Formen liegt das Wesen des ganzen Streits« (Vygotskij 1985a, 236, kursiv i. Orig.).