Jahrbuch der Luria-Gesellschaft 2010

W.F. Hegel, Enzyklopädie der phi- losophischen Wissenschaften, Bd. 1, Die Wissenschaft der Logik, Moskau 1977, S. 237-288; deutsch: Hegel Werke Bd. 8, ...
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Jahrbuch der Luria-Gesellschaft 2010

Willehad Lanwer Wolfgang Jantzen (Hrsg.)

Berlin 2011

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Willehad Lanwer • Wolfgang Jantzen (Hrsg.) Jahrbuch der Luria-Gesellschaft 2010 © 2011 lehmanns media • Berlin ISBN: 978-3-86541-420-6 Druck: Docupoint • Barleben

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Inhalt Vorwort

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Lev Semënovič Vygotskij Zur Frage kompensatorischer Prozesse in der Entwicklung des geistig behinderten Kindes

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Lev Semënovič Vygotskij Defekt und Kompensation

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Lev Semënovič Vygotskij Das Problem des geistigen Zurückbleibens

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Alexej Nikolajevic Leont’ev Bedürfnisse, Motive und Emotionen Ein Vorlesungskonzept

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Quellennachweise

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Vorwort In den »Mitteilungen Der Luria-Gesellschaft 1/2009« wurde darüber informiert, dass das Erscheinen dieser Publikation mit dem Jahr 2010 eingestellt und ersetzt wird durch das »Jahrbuch der Luria-Gesellschaft«. Die erste Ausgabe (I/2010) liegt nun vor. Den inhaltlichen Schwerpunkt der ersten Ausgabe bilden drei bereits erschienene, ins Deutsche übersetzte Aufsätze von L.S. Vygotskij zu grundlegenden Fragen der Behindertenpädagogik: »Zur Frage kompensatorischer Prozesse in der Entwicklung des geistig behinderten Kindes« von 1931, »Defekt und Kompensation« von 1927 und der 1934/35 verfasste Beitrag »Das Problem des geistigen Zurückbleibens«. Den Abschluss bildet der Beitrag »Bedürfnisse, Motive und Emotionen« von A. N. Leont’ev. Die Entscheidung für die Veröffentlichung dieser Beiträge, insbesondere bezogen auf die Arbeiten von Vygotskij, wurde maßgeblich mit beeinflusst durch die »UN-Behindertenrechtskonvention«1, die letztes Jahr von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert wurde. In dieser Konvention wird in Artikel 8 die »Bewusstseinsbildung« zum Gegenstand gemacht. Damit verpflichten sich die Vertragsstaaten, »sofortige, wirksame und geeignete Maßnahmen zu erreichen, um a) in der gesamten Gesellschaft, einschließlich auf der Ebene der Familien, das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Wünsche zu fördern […] c) das Bewusstsein für die Fähigkeiten und den Beitrag von Menschen mit Behinderungen zu fördern«2. Zu den diesbezüglichen Maßnahmen zählen »die Einleitung und dauerhafte Durchführung wirksamer Kampagnen zur Bewusstseinsbildung […] mit dem Ziel, […] die Aufgeschlossenheit gegenüber den Rechten von Menschen mit Behinderungen zu erhöhen, […] eine positive Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen und ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein ihnen gegenüber zu fördern […] die Anerkennung der Fertigkeiten, Verdienste und Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen […] zu fördern«3. Die Veröffentlichung der drei Beiträge von Vygotskij, die bereits zu Beginn des vorherigen Jahrhunderts von ihm verfasst wurden, stellt zwar keine Kampagne dar, soll aber dazu beitragen, die in der UN-Konvention geforderte Bewusstseinsbildung voranzutreiben. Die inhaltliche Breite und Tiefe der Erkenntnisse von Vygotskij bezogen auf das Phänomen der sogenannten »geistigen Behinderung« hat bis heute eine hohe Aktualität und leisten damit einen fundamentalen Beitrag zur Bewusstseinsbildung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention.

1 Vgl. Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (Hrsg.): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Bonn: Druckerei des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, 2009. 2 Ebd. S. 13. 3 Ebd.

Vorwort

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Vygotskij erkennt das Phänomen der »Be-hinderung« eines Menschen nicht in den humanbiologisch-organischen, neurophysiologisch und neuropsychologisch erklärbaren Beeinträchtigungen, sondern in der, durch die Beeinträchtigung radikal veränderten »sozialen Entwicklungssituation«. Die soziale Entwicklungssituation ist der Weg auf dem Soziales zum Individuellen wird, sie ist die Quelle der Entwicklung und bestimmt das soziale Sein des Menschen. Der Kern der drei Beiträge erklärt die Besonderheiten eines Menschen, der als behindert bezeichnet wird, nicht aus seiner Biologie, sondern aus eben der sozialen Entwicklungssituation. Die in diesen drei Beiträgen von Vygotskij verwendete Terminologie ist vor dem historischen Hintergrund der damaligen Zeit abzubilden und keineswegs als defizitär zu klassifizieren. Anhand der Aufsätze Vygotskijs wird deutlich, dass es möglich ist, das Phänomen der »Behinderung« nicht nur anders zu denken, sondern im Anderssein eines Menschen zugleich meinesgleichen zu erkennen und anzuerkennen, denn der Entwicklungsprozess zur Persönlichkeit äußert sich nach Vygotskij darin, dass die Persönlichkeit durch das, was sie für andere darstellt, zu dem wird, was sie ist. Daran anknüpfend wird im Beitrag »Das Problem des geistigen Zurückbleibens« eine grundlegende Dimension der entwicklungspsychologischen Konzeption von Vygotski deutlich, die sich auf die intrapsychischen Prozesse im Entwicklungsgeschehen beziehen, die stets ihrem Ursprung nach interpsychischer, d.h. sozialer Natur sind. Herausgearbeitet wird die Bedeutung der Beziehung der dialektischen Einheit der Gegensätze zwischen Affekt und Intellekt für die menschliche Ontogenese, d.h.: »Die Dinge ändern sich nicht dadurch, dass wir sie denken, aber der Affekt und die mit ihm verbundenen Funktionen ändern sich in Abhängigkeit davon, wie sie bewusst werden. Sie treten in eine andere Verbindung zum Bewusstsein und zu einem anderen Affekt, und dadurch ändert sich ihre Verbindung zum Ganzen und seiner Einheit«. Der Beitrag von Leont’ev hat gleichermaßen die intrapsychischen Systemzusammenhänge zum Gegenstand, die im Gegensatz zu den niederen als höhere psychische Funktionen sozialen Ursprungs sind, d.h. vermittelte und vermittelnde Formen der menschlichen Tätigkeit darstellen. Die höheren psychischen Funktionen der Menschen sind als Bewusstseinserscheinungen reale Momente ihrer Tätigkeitsvollzüge. Leont’ev verdeutlicht insofern mit seinen Ausführungen die tätigkeitsbezogene Funktion des Psychischen im Hinblick auf das Leben der Menschen, das diese hervorbringt. Zum Abschluss ist dem Luchterhand Verlag dafür zu danken, dass die Beiträge nochmals zur Veröffentlichung freigegeben wurden. Ferner ist Wolfgang Jantzen für die redaktionelle Unterstützung dieser Ausgabe des Jahrbuches gleichermaßen Dank auszusprechen. Darmstadt, Januar 2011 Willehad Lanwer (Vorsitzender der Luria-Gesellschaft)

Lev Semënovič Vygotskij Zur Frage kompensatorischer Prozesse in der Entwicklung des geistig behinderten Kindes1 1 Die Klinik, der wir die Ausgliederung und Merkmalsbestimmung geistig behinderter Kinder2 verdanken, interessierte die Entwicklung der mit einer Retardation belasteten Kinder kaum. Dem Wesen ihrer praktischen Aufgaben nach konnte sich die Klinik nicht mit den Fragen der kindlichen Entwicklung auseinander setzen, da die kindliche Retardation zu der Zahl klinischer Formen gerechnet wird, die nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht über Heilbehandlungen beeinflusst werden können. Formen der Unterentwicklung wurden in der Klinik nicht zum Gegenstand tiefer gehender Untersuchungen: Das war weder aus praktischen Erwägungen erforderlich, noch entsprach es den Beweggründen klinischen Denkens. Die Klinik interessierte in erster Linie die Möglichkeit der Ausgliederung jener Merkmale, mittels der die geistige Retardation erkannt, ihre Form bestimmt und von anderen, ähnlichen, unterschieden werden kann – aber mehr tun konnte sie nicht. Von diesen Zielen aus griff die Klinik auch das Entwicklungsproblem des oligophrenen Kindes auf. Sie fand heraus, dass sich der Oligophrene fort- und nicht rückentwickelt, wie das bei geisteskranken Kindern beobachtet werden kann. Diese Tatsache ließ sich durch eine Reihe weiterer Indikatoren bestätigen. Unter Heranziehung derartiger Merkmale wird die geistige Zurückgebliebenheit eines Kindes erkannt und von anderen Formen unterschieden, die ihr äußerlich ähneln. In Abhängigkeit vom klinischen Herangehen wurde das Problem der geistigen Retardation ›als 1 Übersetzung von: Vygotskij L.S.: K voprocu kompensatornych processov v razvitii umstvenno otstalogo rebenka. (Zur Frage kompensatorischer Prozesse in der Entwicklung des geistig behinderten Kindes). In: L.S. Vygotskij. Sobranie socinenij. Tom 5. Osnovy defektologii. Pedagogika, Moskva 1983, S.115-136. Die von Manfred Jödecke vorgenommene, gekürzte Übersetzung wurde auf der Basis der englischen Werkausgabe durch W. Jantzen vervollständigt und redaktionell bearbeitet. Fußnote der russischen Ausgabe: Stenogramm eines Berichts auf einer Konferenz von Mitarbeitern an Hilfsschulen am 23. Mai 1931. Diese Arbeit widerspiegelt die zunehmende Entfaltung von Vygotskijs theoretischer Interpretation des Problems der allgemeinen und der Kinderpsychologie, seine intensive Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Pathopsychologie und eine konkrete Überprüfung der Entwicklung von nicht normalen Kindern. Er führte diese Arbeiten zusammen mit seinen Mitarbeitern in der Medizinisch-Psychologischen Beratungsstelle an den Kliniken des Experimentellen Instituts für Defektologie durch sowie außerdem in der Neurologischen Klinik der Ersten Moskauer Staatsuniversität, welche die Desintegration psychischer Funktionen bei Fällen von struktureller organischer Hirnschädigung erforschte. 2 Anmerkung des Übersetzers (M.J.): Wenn von Kindern als ›Subjekten ihrer Situation‹, d.h., konkret die Rede, wird die Bezeichnung ›umstvenno otsatlyj‹ (›geistig retardiert‹, oder ›geistig zurückgeblieben‹) generell mit ›geistig behindert‹ übersetzt. Wird von Vygotskij die Bezeichnung ›umstvennaja otstalost‹ als Begriff für die wissenschaftliche Untersuchung und Darstellung geistiger Entwicklung im systemischen Zusammenhang der allgemeinen und besonderen psychischen Entwicklung gebraucht, wird vom Übersetzer durchgehend die Bezeichnung Retardation verwendet.

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Ding‹ betrachtet, nicht aber als Prozess. Man interessierte sich für Merkmale wie Dauerhaftigkeit und Beständigkeit, die Entwicklungsdynamik des geistig behinderten Kindes, die Gesetze seiner Entwicklung analog zu den Entwicklungsgesetzen des normalen Kindes interessierten nicht. All dies blieb und musste wohl auch außerhalb des Gesichtskreises der Klinik bleiben. Die Heilpädagogik, die Hilfsschulpädagogik erhielten die ersten Mitteilungen über die Natur der geistigen Retardation von der Klinik und versuchten ihre Praxis auf der Grundlage des Bildes aufzubauen, das im Ergebnis der klinischen Untersuchung gezeichnet worden war. Am Anfang reichte das aus, weil vor der bürgerlichen Schule, als diese mit dem Problem und dem Faktum der geistigen Retardation konfrontiert wurde, negative Aufgaben standen: An der Schwelle zur Normalschule einer Barriere zu errichten, mittels der Kinder danach selektiert werden können, ob sie fähig oder willens sind, in ihr unterrichtet zu werden. Derartige Aufgaben standen auch vor A. Binet, als der daran ging, eine Diagnostik der geistigen Retardation auszuarbeiten. Jeder versteht, dass nichts so unsicher ist, wie eine Auslese nach negativen Merkmalen. Wenn wir eine solche Auswahl treffen, riskieren wir in einer Gruppe solche Kinder zu vereinen und zusammenzufassen, die von ihrer positiven Seite her wenig Gemeinsamkeiten zeigen. Wenn wir Farben nur danach zusammenfassen, dass sie nicht schwarz sind, erhalten wir eine bunte Mischung: Dort finden wir dann rot, gelb, blau nur deswegen, weil sie eben nicht schwarz sind. Die amerikanische und europäische Alltagspraxis hat gezeigt: Die Festlegung auf negative Merkmale führte zu demselben Ergebnis wie die Auswahl der Farben nach dem negativen Merkmal, d.h. die Gruppe der ausgewählten Kinder erwies sich als außerordentlich heterogen, was ihre Zusammensetzung, Struktur, Dynamik, Möglichkeiten, die Gründe für ihren Zustand betrifft. Sogar für die bürgerliche Schule erwiesen sich diese Bestimmungen als unzureichend, da schon eine auf minimalen Anforderungsniveau organisierte Bildung und Erziehung zeigte, dass geistige Retardation nicht auf negative Weise bestimmt und heraus gegliedert werden kann. Man soll nicht davon ausgehen, was das jeweilige Kind nicht kann, was es nicht ist, sondern davon was es kann, was es ist. In dieser Richtung unternahm die bürgerliche Schule außerordentlich wenig. Gerade jetzt macht unsere Schule in der ganzen Theorie und Praxis der Bildung und Erziehung des normalen und retardierten Kindes einen entscheidenden Wandel durch. Gerade die Hilfsschule bekommt die Unzulänglichkeiten der prinzipiellen theoretischen Orientierungen, der wissenschaftlichen Bestimmungen und ihrer Quellen, zu spüren. Die erste Aufgabe, die daher neu formuliert werden muss, liegt in der Untersuchung des geistig behinderten Kindes. Keine Untersuchung um der Untersuchung willen, sondern zu dem Zwecke, die besten praktischen Handlungsformen zu entwickeln, die dazu beitragen, die historische Aufgabe der Überwindung der geistigen Retardation, dieses großen von der Klassengesellschaft überkommenen sozialen Übels, zu lösen. Diese Aufgabe verbindet die Forschung mit den aktuellen praktischen Erfordernissen und verlangt eine positive und differenzierte Herangehensweise an die Untersuchung der geistig behinderten

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Kinder, die darin besteht, die Kinder von ihrer positiven Seite her differenziert zu charakterisieren. Jetzt erkennen auch die besten bürgerlichen Wissenschaftler, dass es dasselbe ist von einem Kind zu sagen, er sei ›geistig behindert‹, wie von einem Menschen zu sagen, er sei erkrankt, ohne zu sagen, um welche Krankheit es sich handelt. Es ist möglich das Faktum der Retardation des Kindes zu konstatieren, ohne jedoch dessen Wesen, Herkunft und weiteres Schicksal zu bestimmen. Daraus lässt sich die Hauptaufgabe ableiten, die vor der Forschern auf dem Gebiete der geistigen Retardation steht, nämlich, die Untersuchungen zu den Entwicklungsgesetzen des geistig behinderten Kindes voran zu bringen. Drei Fragen sind es, die ich bezüglich dieser Aufgabe formulieren möchte und die den Inhalt meiner Darlegungen bilden. Die erste Frage: Was beitet nicht gegen, sondern geistig behinderten Kindes dung der Retardation, zum veau hin führen?

in der Entwicklung des geistig behinderten Kindes arfür uns, d.h. welches sind die in der Entwicklung des selbst entstehenden Prozesse, die zu einer ÜberwinKampf mit ihr, zur Entwicklung auf ein höheres Ni-

Die zweite Frage: Wie ist Struktur und Dynamik der geistigen Retardation im Ganzen beschaffen? Das Bild der geistigen Retardation ist ja nicht auf Prozesse beschränkt, die für uns arbeiten. Um die Bedeutung und den Platz der Prozesse zu erkennen, die für uns arbeiten, muss man um deren Bedeutung und Platz in der allgemeinen Struktur der geistigen Retardation wissen. Die dritte Frage hängt zusammen mit den notwendigen pädagogischen Schlüssen, die sich aus der ersten und der zweiten Frage ergeben. Ich werde daher im Folgenden kurz auf diese drei Grundfragen eingehen. Die allgemeine Voraussetzung, von der ich ausgehe und die, wie mir scheint der wissenschaftlichen Untersuchung der Entwicklung des geistig behinderten Kindes zu Grunde gelegt werden muss, ist die Vorstellung von der Einheit der Entwicklungsgesetze des normalen und der des geistig behinderten Kindes. Natürlich, diese Aussage negiert keineswegs, dass die Gesetze der Entwicklung des geistig behinderten Kindes einen qualitativ eigenständigen (russ.: ›svoeobrazny‹) und spezifischen Ausdruck finden und das die Aufgabe sich nicht auf die Konstatierung ihrer Einheit beschränkt; die Aufgabe besteht vielmehr darin, zu zeigen, dass die ihrem Wesen nach prinzipiell einheitlichen Gesetze der Entwicklung des Kindes einen konkreten speziellen Ausdruck bei der Anwendung auf das geistig behinderte Kind finden. Das ist die erste und zentrale Voraussetzung, über die es von Anfang an zu sprechen gilt. Die methodologische Frage besteht in folgendem. Bis heute herrscht die aus dem Westen entlehnte Vorstellung vor, wonach zwei Formen der Erziehung des Kindes: eine, die von den biologischen und die andere, die von den sozialen Ursachen aus bestimmt wird, unterschieden werden müssen. Man nahm an, dass sich die Kinder wegen biologischer Mängel auf ›biologischen Schienen‹ entwickeln und dass für sie das Gesetz der sozialen Entwicklung, das die Entwicklung des norma-

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len Kindes bestimmt, außer Kraft gesetzt wäre. Diese mechanistische Vorstellung erweist sich als methodologisch unhaltbar. Zu deren methodologischen Grundaussagen gilt es sich auf eine neue Art und Weise zu verständigen. Auszugehen ist von dem allgemeinen Leitsatz über das Wechselverhältnis sozialer und biologischer Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung des Kindes. Schwierigkeiten im Verständnis der Entwicklung des retardierten Kindes gehen darauf zurück, dass Retardation als Ding, nicht jedoch als Prozess betrachtet wurde. So blieb das Problem der Entwicklung des retardierten Kindes unberücksichtigt. Das ist der Grund dafür, weshalb die primäre Störung bei Oligophrenie als solche nicht hinterfragt wird, weshalb die primäre Störung als das Grundlegende und Führende im Verlauf der gesamten Entwicklung des Kindes angesehen wird. Vom dialektischen Standpunkt aus ist diese Auffassung schlichtweg falsch. Im Prozess der Entwicklung wird das Primäre, d.h. das, was in einer frühen Entwicklungsphase in Erscheinung tritt, in vielfältigen qualitativen Neubildungen ›aufgehoben‹. Was den Begriff ›Aufhebung‹ der biologischen Gesetzmäßigkeiten betrifft, so möchte ich dazu Folgendes sagen. Das Wort snjatie (›Aufhebung‹) wird mitunter falsch übersetzt. Dieses Wort wurde vom deutschen Wort (aufheben) her gebildet, in der deutschen Sprache besitzt es eine eben solche doppelte Bedeutung wie auch das Wort schoronit‹. Wenn man von einer organisch-biologischen Gesetzmäßigkeit im Sinne von Aufhebung (schoronit‹) spricht, so heißt das nicht, dass sie zu existieren aufgehört hat, sondern es bedeutet, dass sie im Vergleich zu den Gesetzmäßigkeiten einer späteren Etappe in den Hintergrund getreten ist, in irgend etwas enthalten ist. Deshalb ist klar, dass die biologischen Gesetzmäßigkeiten, die primär in den Bestimmung der ersten Etappe der Entwicklung geistig Behinderter sind, nicht vernichtet, sondern im Entwicklungsprozess des geistig behinderten Kindes ›aufgehoben‹ sind3. Im Vordergrund stehen daher Merkmale, die Gesetzmäßigkeiten gerade des zweiten Typs. Eben sie gilt es zu untersuchen. Von diesen grundlegenden Voraussetzungen aus möchte ich nun weitere Gedanken entwickeln. Lassen Sie mich zur Frage nach den Prozessen, die in der Entwicklung der retardierten Kinder für uns arbeiten, zurückkehren. Existieren solche Prozesse überhaupt? In der Entwicklung geistig behinderter Kinder, wie in der Entwicklung jedes beliebigen Kindes, das durch einen Defekt belastet ist, gibt es Prozesse, die daraus resultieren, dass der Organismus und die Persönlichkeit des Kindes auf Schwierigkeiten reagiert, mit denen er zusammentrifft. Im Prozess der aktiven Anpassung an die Umwelt wird eine Reihe von Funktionen gebildet, die diese Mängel kompensieren, ausgleichen, ersetzen. Ich denke, dass dies eine so klare allgemein biologische Vorstellung ist, dass sie kaum weiter gehender Ausführungen bedarf. 3 Fußnote der russischen Ausgabe: Bei der Analyse der qualitativen Neubildungen, die sich im Prozeß der Entwicklung eines geistig behinderten Kindes ereignen, wendet VygotskiJ seine Aufmerksamkeit auf das Konzept der Aufhebung (snatje), das vom Gesichtspunkt der Dialektik bedeutend ist. Er arbeitet die doppelte Bedeutung von aufheben (dt.) heraus: nicht nur ein Ende machen, sondern auch aufbewahren (vgl. W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. 1, Die Wissenschaft der Logik, Moskau 1977, S. 237-288; deutsch: Hegel Werke Bd. 8, Frankfurt/M. 1970).