Ich und Andere. Hume – Rousseau – Kant

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VOLKER BARTSCH

Ich und Andere Hume – Rousseau – Kant

Duncker & Humblot

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Ich und Andere

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Ich und Andere Hume – Rousseau – Kant

Duncker & Humblot · Berlin

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Umschlagbilder: David Hume

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Aber verlangt ihr denn, dass ein Erkenntnis, welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand übersteigen, und euch nur von Philosophen entdeckt werden solle? Immanuel Kant Kritik der reinen Vernunft, 1781

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Vorschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 II. Drei Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 B. David Hume (7. Mai 1711 – 25. August 1776) Traktat über die menschliche Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wie wir denken – Traktat I „Über den Verstand“ . . . . . . 1. Das Maß aller Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Modell des Geistes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die äußersten Grenzen des Weltalls . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ursache und Wirkung, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Theater der Perzeptionen oder was bin ich . . . . . 6. Wir erdichten die zweifache Existenz oder die Vernunft der Skepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Der öde Felsen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wie wir fühlen – Traktat II „Über die Affekte“  . . . . . . . 1. Zwischen Vernunft und Lust  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Modell der Affekte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Freiheit und Notwendigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Zerstörung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Spiegel in uns  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Wie wir zusammen leben – Traktat III „Über Moral“ . . . 1. Die Nachbarsgattin und der Mord . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Alles was Recht ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Natur ist kein Zustand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zivilisation aus Eigeninteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Egoismus und Sympathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Jean-Jacques Rousseau (28. Juni 1712 – 2. Juli 1778) . . . . . . I. Ich träume mich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mensch der Natur und Natur des Menschen . . . . . . . . . . III. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24 24 24 29 37 41 48 51 58 61 61 68 76 83 85 90 90 99 105 114 123 132 132 136 142

8 Inhaltsverzeichnis IV. Der Wilde im Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Natur der Gesellschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Der philosophische Staatsstreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Der Gesellschaftsvertrag  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X. Gleichheit und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147 155 162 170 173 180 185

D. Immanuel Kant (22. April 1724 – 12. Februar 1804) . . . . . . . I. Eine Milchstraße voller Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Königsberg am Pregelflusse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Fracht von hundert Kamelen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

190 193 199 209 219

E. Das System Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wie es scheint  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die scheiternde Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die wiederauferstandene Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Kritik der praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Kritik der Urteilskraft Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

229 231 236 247 254 259 270 290

F. Anthropologische Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 G. Anthropologische Perspektiven der Moral . . . . . . . . . . . . . . . 320 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

A. Einleitung I. Vorschau Die Anthropologie, die Lehre vom Menschen, hat es schwer. Schon deshalb, weil dabei irgendwelche Menschen Behauptungen dazu aufstellen, wie angeblich alle Menschen sind. Die Gefahr, dass damit letztlich ein sehr subjektives Menschenbild projiziert wird und von einer kontrollierten Wissenschaftlichkeit kaum noch die Rede sein kann, ist groß. Die Zoologie hat es da leichter, weil wir uns über eine andere Spezies schneller einigen können als über uns selbst. Aber die immer mitgegebene Subjektivität eines Menschenbildes ist das Normalste von der Welt, denn irgendwie operiert jeder mit einer Vorstellung davon, wie Menschen wohl so sind. Nur macht sich nicht jeder sein implizites Menschenbild bewusst, und nur wenige riskieren es, das ihrige zu überdenken und aufzuschreiben, damit andere sich daran reiben können. Natürlich gibt es auch sehr verschiedene anthropologische Ansätze und kein abschließendes Meisterwerk, das ein objektiv gültiges Menschenbild festgelegt hätte. Und es gibt zum anderen die Konkurrenz einer Fülle von anderen Wissenschaften, die bestimmte Teilaspekte des MenschSeins als ihren Gegenstand okkupiert haben und bestens erklären. Heute werden viele Bereiche unter dem Begriff Humanwissenschaften oder Lebenswissenschaften zusammengefasst, weil allen Einzeldisziplinen etwas Wesentliches fehlt: das Ganze. Hier trifft sich die Anthropologie wieder mit einem natürlichen Verständnis des Menschen von sich als Einheit, der zwar allerlei Einzelerkenntnisse zu einem Bild zusammensetzen kann, sich aber sehr wohl vorstellen kann, dass die Einzelheiten erst aus einem Gesamtbild heraus Sinn machen. Wir nehmen zum Beispiel zur Kenntnis, dass Menschen einzeln und massenhaft Grausamkeiten jeder nur denkbaren Art ausführen können. Aber

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A. Einleitung

warum können sie das? Gibt es jenseits der konkreten Situation und Person einen Hinter- oder Untergrund, der dies ermöglicht? Man darf dies vermuten, auch wenn sich im Folgenden darauf keine direkte und einfache Antwort finden wird. Jedenfalls schlummert im Hintergrund unseres Denkens und Handelns ein Menschenbild, das irgendwo zwischen den Polen Gut und Böse schwankt und uns nachhaltiger bestimmt, als wir denken. Wir denken notgedrungen praktischer über die Probleme und Aufgaben, die sich uns im Alltag stellen. Wir zerlegen sie in das, was wir dazu aus den passenden Erklärungsmustern wissen. Wir folgen sozusagen einer einzelwissenschaftlichen Perspektive und schwingen uns eher selten auf eine höhere Ebene, von der aus wir größere Zusammenhänge herstellen können. Die Philosophie, etwa seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert als Begriff bekannt, hat sich seit der Antike als die Verwalterin einer solchen höheren Ebene verstanden, anfangs noch fast ohne Konkurrenz durch Einzelwissenschaften. Mathematik, Astronomie und Medizin wurden zwar auch betrieben, konnten aber das Monopol der Reflexion des Menschen über sich selbst mithilfe der „Liebe zur Weisheit“, wie man Philosophie übersetzen kann, nicht wirklich gefährden. Das begann sich mit dem Aufbruch der Menschheit zu neuen Ufern zu ändern, mit der Neuzeit, der Renaissance und dann der Epoche, die man Aufklärung genannt hat. Der harte Kern der Aufklärung war die Abwendung von der Erklärung der Welt durch einen allgewaltigen Gott, befördert durch die epochale Erkenntnis, dass die Erde und mit ihr der Mensch nicht der Mittel- und Höhepunkt der Welt sind. Das verlangte zugleich nach menschlichen Erklärungen, die in Wissenschaft und Technik ungeahnte Fortschritte in Gang setzten. So kam zwangsläufig auch der Mensch und sein Treiben auf Erden neu ins Blickfeld, und so entwickelte sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert auch die „Philosophische Anthropologie“. Sie konnte keine empirische Wissenschaft sein, sondern lebte von der Kraft systematischen Nachdenkens. Aber sie hatte einen sehr konkreten Gegenstand, dem sie beobachtend und schlussfolgernd gerecht zu werden suchte. Kant schließlich, der als Abschluss der Aufklärungsphilosophie betrachtet wird, verbannte die Anthropologie



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aus dem Reich der Philosophie, weil seiner Meinung nach alles, was aus unbezweifelbaren Vernunftgründen über den handelnden Menschen gesagt werden konnte, seine praktische Philosophie ausreichend erledigt hatte. Die Aufklärung legte ohne Zweifel zentrale Grundlagen des Denkens der Moderne, die auch heute noch aktuell sind. Sie war eine geistige Bewegung in weiten Teilen Europas und wurde durch die wechselseitige Kenntnisnahme der neuesten philosophischen Errungenschaften inspiriert. Und sie fand in einem gesellschaftlichen Umfeld statt, in dem die ständischen, feudalen und absolutistischen Verhältnisse immer mehr durch ein sich entwickelndes Bürgertum unter Druck kamen, der sich 1789 in Frankreich mit der Revolution prototypisch entlud. England hatte hundert Jahre zuvor seine „Glorious Revolution“ schon hinter sich und baute an seinem Weltreich, Preußen hatte sich mit Friedrich dem Großen aufgemacht, ein Reich von Gewicht zu werden. Ökonomisch kann man noch kaum von Kapitalismus im modernen Sinne sprechen, aber der Weg zum Industriekapitalismus wurde Schritt für Schritt geebnet. Eine Welt im Umbruch, aber das ist sie ja immer, ohne dass wir es deutlich und schnell merken. In einer solchen Zwischenwelt, in der Adel und Grundbesitz noch die zentrale Rolle einnehmen, aber jedermann schon weiß, welche Rolle das Geld spielt, haben als herausragende Schriftsteller der Schotte Hume im englischen Sprach- und Kulturraum, der Genfer Rousseau im französischen und schließlich Kant im preußisch-deutschen die Angelegenheiten des Menschen zu ergründen versucht. Sie gehen unterschiedlich vor, haben unterschiedliche Stile und kommen auf den ersten Blick zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, wenn man ihr grundlegendes Menschenbild ins Auge fasst. Es ergeben sich drei anthropologische Modelle, die das Spektrum der denkbaren Möglichkeiten weitgehend abdecken, wenn es grundsätzlich um die Selbstkonstitution des Individuums und seine gesellschaftliche Einbindung geht. Und diese Modelle sind trotz des Abstandes von etwa 250 Jahren, also vielleicht acht Generationen, immer noch aktuell und anregend, wie zu zeigen sein wird.

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A. Einleitung

Hume betrachtet mit natürlicher Intelligenz das Verhalten des Menschen, so wie es sich ihm zeigt, und will aus diesen Erfahrungen ein System von Begriffen und Regeln destillieren, wie auch die Naturwissenschaften aus der Beobachtung der Phänomene ihre Gesetze entwickeln. Sein Experiment ist die Verdichtung der Erfahrung zu Prinzipien, die auch prognostische Kraft haben. Abweichungen im Einzelfall erklären sich aus der unvermeidlichen Differenz zwischen Abstraktion und konkretem Fall. Es ist geradezu das Wesen des Prinzips, nur die Essenz des Falles, nicht aber seine Singularität abzubilden. Das Ergebnis ist eine systematische Beschreibung und Erklärung des Denkens und Verhaltens von Menschen, wie es sich in ihrer Wirklichkeit finden lässt. Dabei ist das Leitprinzip das Gefühl, die Emotionen, nicht etwa die Vernunft. Rousseau, ohne Frage ein glänzender Schriftsteller und weniger Theoretiker, schreibt mit Furor gegen die herrschenden Verhältnisse an und postuliert ein elementares Freiheitsbedürfnis des Individuums, das sich letztlich gegen alle gesellschaftlichen Bindungen wehrt, auch wenn sich dies als vergeblich erweist und das Individuum als Karikatur seiner menschlichen Möglichkeiten zurücklässt. Er denkt evolutionär und hat schließlich versucht, eine Kompromissformel zwischen der unaufgebbaren Autonomie des Einzelnen und den unvermeidlichen Zwängen des Gesellschaftszustandes zu finden. Im Vergleich zu Hume und Kant hat Rousseau als Bezugspunkt weit gespannter politischer Auseinandersetzungen wohl die heftigste Wirkung in einem breiten Spektrum von Positionen erzeugt. Kant macht einen der kostbarsten Begriffe der Aufklärung, die Vernunft, zu einer Realität, die dem Menschen so vorgegeben ist, dass er sich ihr in keinem Fall entziehen kann, auch wenn er es nicht weiß oder wissen will. Sie ist ein beinhartes rationales Kalkül, das jedwede Anfechtung zurückweisen kann. Sie legt nicht nur die Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit und damit auch seiner Handlungsmöglichkeiten fest, sie ist diese Fähigkeit und Möglichkeit. Sie ist zwar keine fremde Macht, die aus dem Reich philosophischer Gedanken dem Menschen implantiert werden muss, aber sie tritt ihm doch gegenüber und



I. Vorschau13

siedelt gleichzeitig schon immer in ihm. In letzter Konsequenz ist die Vernunft Mensch, der Mensch Vernunft. Ein wahrlich großartiges Ende der Aufklärung als Epoche. Bei Hume haben wir also „normale“ Menschen vor uns, bei Rousseau den sich selbst und seinen Möglichkeiten entfremdeten Menschen und bei Kant einen Traum vom vernünftigen Menschen. Hume bleibt bei einer realistischen Erzählung stehen und schwingt sich nicht zu letzten Begründungen erster Ursachen auf. Rousseau bekämpft alles, was die Autonomie des Menschen einschränkt. Kant gibt dem Reich der Abstraktionen eine neue Ordnung, die zurück auf Erden nur davon erzählen kann, wie es sein sollte. Wenn der Mensch in allen diesen Erzählungen sich aber beispielhaft zeigt, der Mensch in seinem dunklen Drange, wird es finster, und das Licht der Theorie erhellt die Szene nur so schwach, dass lediglich der Optimist behaupten kann, er sehe etwas Gutes. Die wichtigsten Schriften der drei Autoren werden zunächst in einer sehr engen Anlehnung an die Texte so durchmustert, dass die jeweiligen Argumente und Darstellungen sehr direkt zur Sprache kommen. Natürlich ist eine solche Paraphrasierung immer auch eine Interpretation, aber eine solche, die sich schnell überprüfen lässt und vor allem auch zu eigenen Gedanken und Wahrnehmungen des Lesers zu dem jeweiligen Autor einlädt. Auf diese Weise ergibt sich auch eine Darstellung der Kerngedanken des Gesamtwerkes der Autoren, ohne durch das Streben nach Vollständigkeit etliche weitere Schriften heranzuziehen und durch vielerlei Nuancen hier und da eher akademisch zu verwirren als plausibel zu machen. Die jeweiligen Werkausgaben umfassen viele tausend Seiten. Dass dabei manche weniger wichtige Details entfallen oder Probleme, die im Lichte der zweihundertjährigen Rezeptionsgeschichte diskutiert wurden, nicht adäquat behandelt werden, ist Absicht zugunsten der übersichtlichen Lesbarkeit, die letztlich der Frage nachgeht: Wie bin Ich und wie sind die Anderen? Als die entscheidenden Pole werden beide Begriffe im Folgenden immer groß geschrieben. Was verbindet, was trennt uns? Das Material zu einer solchen Positionsbestimmung, einem bewusst gemachten Men-

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A. Einleitung

schenbild, ist reichhaltig genug, um daraus – durchaus verschiedene – Elemente in das eigene Denken zu integrieren. Es geht also weniger um eine historische Rekonstruktion und eine Einordnung in die vielfältigen geistigen Einflüsse, sondern um eine Lektüre aus heutiger Sicht, die das Interessante und für die eigene Haltung Verwendbare herausarbeitet. Ein Beispiel mag die gut 270 Jahre alte Behauptung Humes sein, die sich wie viele Kommentare zur Finanzkrise 2008 ff. liest: „Nur die Begierde, Güter und Besitz für uns und unsere nächsten Freunde zu erlangen ist unersättlich, andauernd, allgemein verbreitet und unmittelbar zerstörend für die Gesellschaft. Es gibt kaum jemand, der nicht von ihr getrieben wird, und es gibt niemanden, der nicht Ursache hätte sie zu fürchten, wenn sie sich ohne Einschränkung entwickelt und ihren ersten und natürlichsten Regungen folgt.“ Dies ist eine anthropologische Aussage und hat damit von vornherein auch den Anspruch, nicht nur für sein zeitliches und lokales Umfeld 1740 zu gelten. Die Anthropologie der Aufklärung schaute sehr wohl auf Vergangenheit und Gegenwart, aber auch in die Zukunft. Wie wir die Vergangenheit interpretieren, interpretiert mancher Text aus früheren Zeiten auch unsere Gegenwart. Dieser Aspekt wird am Ende zusammenfassend für die drei Autoren aufgegriffen und eine Position bezogen, die die produktive Tragfähigkeit der Anthropologie der Aufklärung für die heutige Zeit behauptet. Ihre Gedanken werden also als Material zum Weiterdenken benutzt, so wie sie es mit einer Fülle früherer Autoren gehalten und jederzeit für ihr eigenes Werk gehofft haben. Abschließend wird eine kleine Theorie der Grundlagen unseres Verhaltens in Gesellschaften wie unserer entwickelt und daraus ein Zusammenhang von Anthropologie und Moral skizziert, denn es geht ja immer auch um die Frage: Was können und sollen wir tun? Man wird vielen Details und größeren Zusammenhängen begegnen, die bei einem Blick auf sich selbst und das eigene Umfeld durchaus wieder erkannt werden dürften. Und man kann diese Behauptungen jederzeit an sich selbst, der Beobachtung seiner Mitmenschen und der Verarbeitung alles Menschlichen in der Literatur und in Filmen überprüfen. Man