Hof der stillenden Kühe

Milchpulver und pflanzlichen Fetten. Die Kuh-Kalb-. Trennung wird einerseits vollzogen, weil die Milch- viehhaltung ein Wirtschaftszweig ist, der für die Bau-.
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Hof der stillenden Kühe Einer der größten Verlierer in der gegenwärtigen Milchviehpolitik ist das Kalb. Die meisten Kälber lernen ihre Mütter nie kennen, viele nicht einmal deren Milch. Der Hof Gasswies im südbadischen Klettgau zeigt, dass es auch anders geht TEXT: SAMANTA SIEGFRIED

Zweimal am Tag gibt es für die Kälber Muttermilch und Zuneigung. Die langsame Abnabelung durch die Amme soll den Trennungsschmerz verringern

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urz nach 17 Uhr stehen im Stall des Hofes Gasswies gut ein Dutzend Kälber in Reih und Glied und warten auf ihr Abendessen. „Wie beim Mc Drive“, sagt Landwirtin Silvia Rutschmann und deutet auf das Jungvieh, das sich ungeduldig hin und her schubst, die Augen auf seine Mütter an der Melkstation gerichtet. Auf Rutschmanns zertifiziertem Bioland-Betrieb im südbadischen Klettgau wird jene Form der Milchviehhaltung betrieben, die sich viele Konsumenten wünschen: Weidegang, heimisches Grünfutter, reichlich Platz im Stall. Kühe, die auf Julia oder Loreley getauft sind und ihre Hörner stolz zur Schau tragen. Das Beste: Die konsumierte Milch wurde keinem Kalb weggenommen. Das Ehepaar Alfred und Silvia Rutschmann betreibt seit 2005 die sogenannte mutterund ammengebundene Kälberaufzucht. Dabei werden die Jungen nicht kurz nach der Geburt von ihren Müttern getrennt, wie in den allermeisten Betrieben üblich, sondern dürfen die ersten drei Monate bei ihnen trinken – wie es sich für ein Säugetier gehört. Praktisch läuft das so ab: Morgens und abends nach dem Melken werden die Mütter zu ihren Kälbern geführt und verbringen rund eine Stunde zusammen. Die Kühe, die noch säugen, tragen ein grünes Band am Hinterbein – es ist das Zeichen, dass ihr Euter nicht leer gemolken werden soll. Nach den drei Monaten werden die Mütter durch Ammen ersetzt, die sie fortan begleiten und bei denen sie mindestens einen weiteren Monat trinken und sich so von der Mutter abnabeln. Es ist ein Versuch, der ausbeuterischen Logik der Milchviehhaltung entgegenzutreten: Denn Kühe müssen, damit ihr Milchfluss nicht versiegt, jedes Jahr ein Kalb auf die Welt bringen. Die produzierte Milch wird von den Bauern weggemolken und an die Molkereien geliefert. Das Kalb bekommt per Tränke, wenn es Glück hat, Vollmilch, in konventionellen

Betrieben jedoch meist einen billigen Ersatz aus Milchpulver und pflanzlichen Fetten. Die Kuh-KalbTrennung wird einerseits vollzogen, weil die Milchviehhaltung ein Wirtschaftszweig ist, der für die Bauern Gewinn abwerfen sollte. Andererseits, weil viele Landwirte der Meinung sind, dass nach einer späten Trennung der Abschiedsschmerz noch größer ist. „Das können die Kühe aushalten“, meint dagegen Silvia Rutschmann. Maximal drei Tage dauere die Trauerphase erfahrungsgemäß. Für sie kein Grund, zur frühen Trennung zurückzukehren. „Die muttergebundene Kälberaufzucht hat so viele positive Aspekte.“ Das Kalb sei gesünder und sozial aktiver. Und auch die Kühe gewinnen: Sie können ihren Mutterinstinkt ausleben, der bei dieser Tierart sehr ausgeprägt sei. „Die Kühe gehen richtig auf in ihrer Mutterrolle, beim Säugen sind sie ganz Euter“, schwärmt Rutschmann. Dabei wurde die kälbergerechte Haltung damals aus der Not geboren. Eine Krankheit grassierte unter den Tieren und führte zu schlimmen Durchfallerkrankungen, viele Kälber starben. Als verschärfte Hygienemaßnahmen und tiermedizinische Behandlungen nichts halfen, beschlossen die Rutschmanns, die Jungen länger bei der Mutter trinken zu lassen. Denn das Kolostrum, wie die erstproduzierte Milch der Mutterkuh genannt wird, liefert dem Kalb wichtige Antikörper zur Bildung des Immunsystems mit. „Das Problem löste sich in kürzester Zeit auf“, erzählt die Landwirtin. Im Nachhinein erscheint ihr das logisch. „Das Original kommt aus dem Euter. Die Natur regelt vieles von selbst.“ Eine bessere Kälbergesundheit bei muttergebundener Aufzucht ist allerdings nicht wissenschaftlich belegt. Laut Untersuchungen des Thünen-Instituts für Ökologischen Landbau, das seit 2003 zum Thema forscht, kann auch ohne die Mutter-Kind-Beziehung der gleiche Gesundheitszustand erreicht werden. Veränderungen seien hingegen im Sozialverhalten erwiesen. „Die Sozialkompetenz der muttergebundenen Kälber ist viel ausgeprägter, sie fügen sich besser in Gruppen ein und sind stressresistenter“, sagt Kerstin Barth, Wissenschaftlerin am Thünen-Institut. Wie viele Höfe in Deutschland diese Form der Milchviehhaltung betreiben, ist nirgends erfasst. Die Initiative

Foto: Manfred Jarisch (2)

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„Kuh plus Du“ des Vereins Welttierschutzgesellschaft erste Ausnahme bildet die „Vier-Jahreszeiten-Milch“ zählt auf ihrer Website gerade einmal 40 Höfe, erhebt der Öko-Melkburen aus Schleswig-Holstein, die erstjedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. „Vor mals Milch aus muttergebundener Kälberaufzucht einem Jahr waren es noch 30“, weiß Barth, das Inte- als solche im Handel verkaufen. resse an dieser Haltungsform nehme zu. Kürzlich hat erstmals ein konventioneller Betrieb in Sachsen- Davon träumt auch Rutschmann und überlegt, in Anhalt umgestellt, mit 300 Milchkühen der größte die Direktvermarktung einzusteigen. „Es kann doch bisher. Dennoch: Bei den rund 70 000 Milchviehbe- nicht sein, dass wir höchste Qualität produzieren trieben in Deutschland bleibt es eine Nischenhaltung. und trotzdem keine besseren Preise erzielen.“ So Das liegt mitunter daran, dass es sich wirtschaft- bleibt die Milchviehwirtschaft das Sorgenkind des lich nicht lohnt. Denn das Kalb säuft den Bauern die Ehepaars, das die 120 Hektar zusammen mit einem Milch weg. Anfangs hat die Helfer und einer PraktikanUmstellung auch den Hof tin bewirtschaftet. Nur mit Gasswies fast in den Ruin anderen Wirtschaftszweigetrieben. Unerfahren wie gen wie Fleischerzeugung, sie waren, ließen die LandSchnapsbrennen, ObstSilvia Rutschmann, Landwirtin Hof Gasswies wirte das Kalb 24 Stunden und Ackerbau sowie der Sobei der Mutter. „Die haben laranlage auf dem Stalldach die Euter fast leergetrunken“, so Rutschmann. lassen sich die Verluste ausgleichen. Mit dem heutigen System gibt eine ihrer rund 50 Auch wenn sie wirtschaftlich besser werden müsMilchkühe noch etwa 3500 Liter pro Jahr. Eine Spit- sen: Auf anderen Ebenen, sagt Silvia Rutschmann, zenkuh aus herkömmlichem Betrieb schafft 10 000. haben sie längst gewonnen. „Wir haben wunder„Wir wollen die Kuh nicht ausquetschen und das schöne Kälber, weniger Tierarztkosten – und es letzte aus ihr herausholen“, so Rutschmann. „Das macht einfach mehr Spaß!“ Vor allem dann, wenn führt halt zu weniger Milchertrag.“ Zwar erhalten sie sie dem Jungvieh beim Trinken zuschaut. Gierig sauvon der Molkerei „Schwarzwaldmilch“ einen im Ver- gen die Kälber an den Eutern, stupsen hinein, um gleich zur konventionellen Haltung hohen Milch- den Milchfluss anzuregen. Während die Mutter in preis. Der Mehraufwand für die muttergebundene einer Seelenruhe dasteht, die Augen halb geschlosKälberaufzucht wird jedoch nirgends vergütet, für die sen, und es so aussieht, als würde sie es genießen. ■ Haltungsform gibt es keine Kennzeichnung. Eine Ganz Euter eben.

Ausgezeichnet: Der Hof wurde 2015 vom Bundesministerium für Landwirtschaft mit dem Preis für ökologischen Landbau geehrt

»Die Kühe gehen richtig auf in ihrer Mutterrolle«

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