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Gisela Schäfer. Gestohlene Kindheit. Kinderjahre in der Kriegs- .... Morgen dort tot im Schnee lag, erfroren, konnte ich nicht ertragen. Ich wollte „schöne“ Lieder.
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Gisela Schäfer

Gestohlene Kindheit Kinderjahre in der Kriegs- und Nachkriegszeit Autobiografische Erzählung © 2012 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2012 Umschlaggestaltung: Nik S. Ma rtin Coverbild: (c) Mrinkk, sxc.hu Printed in Germany ISBN 978-3-8459-0461-0 AAVAA Verlag www.aavaa-verlag.com eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken! Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt .

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Ich widme dieses Buch den Menschen, denen ich besonders viel zu verdanken habe, meinen Eltern und meinen beiden Großmüttern, allen übrigen Personen, die in meine Kindheit hinein gehören, meinem Mann, der mich oft vermisste, während ich am Manuskript arbeitete, und meinen Kindern und Enkeln – voll Dankbarkeit, dass sie nicht solche Erfahrungen machen mussten wie ich.

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Inhaltsverzeichnis Das neue Wort (Einleitung) Kinderfreuden mit der Familie Vorlieben Verwandte Der Bruch Das Neue: die Schule Die erste weite Reise Kachelofen und Plumpsklo Die Schule und eine Namenserweiterung Beichte und Erstkommunion Freizeitbeschäftigungen Winterzeit und Krampus Heilkräuter und eine schlimme Nachricht Einmarsch der Russen Der Treck Hunger Die Russen Das Lager Im Gasthof „Zur Sonne“ Heimkehr Hunger und Kälte auch in der Heimat Verbotenes 4

Der weite Weg ins Dorf Busfahrten und Höhere Schule Die ersten Jahre Kleidung und Währungsreform Kriegsfolgen Die Stätten meiner Kindheit Besuch in Niederzimmern

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Das neue Wort Vier Jahre war ich gerade geworden, als um mich herum ein Wort auftauchte, das ich bis dahin noch nie gehört hatte: Krieg. Ich konnte mir darunter nichts vorstellen. Dennoch machte es mir Angst; denn die Gesichter der Erwachsenen verfinsterten sich, wenn sie davon sprachen, und ihre Stimmen klangen gedrückt. In einem Atemzug gebrauchten sie noch andere unbekannte Ausdrücke – Feind, Front, Angriff, Kanonen. All das erschreckte mich, auch wenn mir niemand erklärte, was damit gemeint war. Einmal erzählte einer meiner Onkel, dass jemand im Krieg gefallen war. Gefallen? Ja, davon verstand ich etwas. Schließlich war ich schon oft gefallen, meist beim Rollerfahren oder Rollschuhlaufen. Dann bluteten meine Knie und manchmal auch die Hände. Das tat weh, und ich jammerte immer zum Steinerweichen. Aber wenn Mutti ein Pflaster darüber klebte, ließ der schlimmste Schmerz nach, und übrig 6

blieb nur eine unschöne Kruste, die aber nicht mehr wehtat. Nach und nach begriff ich, dass es bei gefallenen Soldaten nicht um blutende Knie ging; denn die Gefallenen kamen nicht wieder, und die Angehörigen waren sehr traurig und weinten. Zum ersten Mal hörte ich das Wort „tot“, aber auch dieser Ausdruck war noch nicht mit Sinn gefüllt. Erst als mein Lieblingskaninchen eines Tages reglos im Stall lag und sich nicht mehr bewegte, selbst dann nicht, als ich über sein weiches Fell streichelte und ihm gut zuredete, ging mir die Bedeutung dieses Wortes auf, und der erste große Schmerz überrollte mich.

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Kinderfreuden mit der Familie Vier Jahre lang war mein Kinderhimmel klar und sonnig gewesen. Meine Freuden hingen vor allem mit meinem Vater zusammen. Mutti war streng, aber Vati ließ mich oft jauchzen und lachen. Er setzte mich auf seine Knie und spielte „Hoppe Reiter“ mit mir, bis ich „plumps“ machte und hinunterzufallen drohte, aber er fing mich immer rechtzeitig auf. Er hob mich hoch, um mir etwas zu zeigen oder um mich zu tragen, wenn ich müde war. Er warf mich in die Luft und fing mich wieder auf, was ein wonniges Kribbeln in mir erzeugte und mich vor Lust aufschreien ließ. Er griff nach meinen Händen, die ich durch die Beine nach hinten streckte, und ließ mich in der Luft eine Rolle vorwärts machen, einen „Trummelskopp“, wie wir dazu sagten. Er ließ mich, während er rücklings im Gras lag, die nackten Füße unter meinem Bauch, einen 8

Meter über sich schweben, wobei ich die Arme spreizte und wie ein Flugzeug brummte. Er setzte mich auf seine Schultern, von wo ich den wunderbarsten Ausblick der Welt hatte. Er breitete die Arme aus, wenn er heimkam, und wirbelte mich im Kreis herum, nachdem ich auf ihn zu gerannt war. Am Sonntagmorgen spazierte er oft mit mir auf die „Rolandshöh“, einen Hügel, der gleich hinter der Straße begann, und spendierte mir in der Gaststätte oben eine herrliche grüne Brause, während er sich ein Bier genehmigte. Ich hatte mein Glas immer viel schneller ausgetrunken als er und ruhte dann nicht eher, bis er sein Bier mit einem Riesenschluck leerte und wir wieder gehen konnten. Zurück nahmen wir meist nicht denselben Weg, sondern gingen auf der anderen Seite den Hügel hinunter. Dann liefen wir geradewegs auf eine tiefe Senke zu, in der sich eine Feuchtwiese ausbreitete. Sie stach mir mit der Farbenpracht ungezählter Blumen immer schon von Weitem ins Auge, und ich rannte begeistert hinein. Dass ich hinterher jedes Mal nasse Füße 9

hatte, störte mich nicht. Ich pflückte Blumen, vor allem Wiesenschaumkraut, das ich nie mehr in solcher Menge irgendwo angetroffen habe, und war mächtig stolz, Mutti hinterher einen dicken Strauß überreichen zu können. Auf der Rolandshöh' ließ sich aber noch anderes anstellen, als in die Gaststätte einzukehren. Im Winter konnte man dort Schlitten fahren, im Herbst Brombeeren naschen und Ostern Eier suchen. Daran kann ich mich noch besonders gut erinnern. Vati hatte vorher gesagt, ich sollte gut hinschauen, der Osterhase hätte dort etwas für mich versteckt. Zunächst fand ich nichts, aber dann gab Vati mir einen Tipp, mal links unter einem Busch nachzusehen. Zu meiner größten Freude entdeckte ich dort ein rotes Ei und hob es strahlend hoch. „Komm, gib es mir!“, sagte Vati. „Ich stecke es in meine Manteltasche, dann hast du die Hände frei.“ Ich reichte es ihm hin und hielt Ausschau nach weiteren Eiern. Nicht lange danach lag ein blaues in einem Grasbüschel zur Rechten. Und so ging das weiter. Immer nur wenige Meter, 10

und wieder wurde ich fündig. Allerdings waren es ausnahmslos rote und blaue Eier. „Der Osterhase hatte sicher keine anderen Farben mehr“, vermutete ich, worauf mein Vater in Lachen ausbrach. Als ich etwa zehn bis fünfzehn Eier aufgesammelt hatte, gingen wir heim. Jubelnd rief ich Mutti entgegen: „Ich habe ganz viele Eier gefunden, aber nur rote und blaue.“ Zu meinem Vater gewandt, fuhr ich fort: „Hol die mal raus, Vati!“ Da griff er in seine Manteltasche und legte zwei Eier auf den Tisch. „Wo sind denn die anderen?“, fragte ich fassungslos. „Es waren immer dieselben, die du gefunden hast“, erwiderte Vati. Ich fing an zu weinen. Er nahm mich in den Arm und sagte: „Wir haben doch nur ein Suchspiel gemacht, daran hattest du doch Spaß, oder? Du brauchst nicht zu weinen. Als wir unterwegs waren, hat der Osterhase ein Körbchen für dich hier gelassen. Schau mal!“ 11

Wahrhaftig, da stand es, und es waren Eier in mehreren Farben darin und dazu eine Handvoll Bonbons. Da versiegten meine Tränen sofort. Erlebnisse mit Vati waren, weil er den ganzen Tag arbeiten musste, selten und deshalb umso kostbarer. Die Erinnerungen meiner frühen Kindheit, die sich mir am tiefsten eingebrannt haben, hängen fast immer mit ihm zusammen. Natürlich gab es auch schöne Erfahrungen mit Mutti. Sie war zum Beispiel zuständig für Märchen und Geschichten, die ich nicht oft genug hören konnte. Aber sie mussten am Ende gut ausgehen. Als sie mir einmal die traurige Erzählung von Genoveva und Schmerzensreich vorlas, habe ich bitterlich geweint und gejammert, sie sollte aufhören. Auch das Lied von dem kleinen Waisenjungen, der seine Mutter auf dem Friedhof besuchte und am nächsten Morgen dort tot im Schnee lag, erfroren, konnte ich nicht ertragen. Ich wollte „schöne“ Lieder und Geschichten hören! Spaß hatte ich an Familienunternehmungen. Mehrmals machten wir an einem Sommersonntag einen Spaziergang in den Wald. Dann wa12

ren immer Tante Lore und Onkel Peter mit von der Partie. Vati und Onkel Peter hatten Wanderstöcke dabei, die sie so lustig hoch- und zurück schwangen, dass ich hellauf lachen musste. Am allerschönsten war es, dass Onkel Peter seinen Stock manchmal in die Luft warf. Das sah immer so aus, als wäre er ihm unabsichtlich aus der Hand gerutscht. Ich schrie jedes Mal vor Schreck auf. Umso größer war dann aber die Freude, wenn er ihn wieder geschickt auffing. Das Besondere an diesen Wanderungen war, dass dabei gesungen wurde. Onkel Peter war der Musikus in der Familie. Er sang im Männergesangverein und spielte Mandoline. Kaum hatten wir die Wohngegend hinter uns und waren im Wald angekommen, stimmte er das erste Lied an. Am besten gefielen mir „Das Wandern ist des Müllers Lust“ und „Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein.“ In der zweiten Zeile „und das heißt … Erika“. schmetterte Onkel Peter mit seiner kräftigen Stimme jedes Mal in die Pause „…zwo, drei, vier“ hinein. Darauf wartete ich immer schon und fiel begeistert mit ein. 13

Einmal waren wir losgezogen, um Waldbeeren zu sammeln. Jeder hatte eine Kanne oder ein Eimerchen dabei, und wir drehten jeden Waldbeeerstrauch um, da sich die Beeren erfahrungsgemäß darunter verstecken. Aber wir fanden nichts, absolut nichts. Ob es viel zu früh in der Zeit war oder ob wir zu spät dran waren, weiß ich heute nicht mehr, nur noch das eine, dass wir mit leeren Kannen heimwärts zogen und dass es nichts wurde mit den WaldbeerPfannekuchen, die Mutti uns versprochen hatte. Diese Ausflüge dauerten immer mehrere Stunden und endeten jedes Mal damit, dass ich müde wurde. Dann stellte ich mich vor Vati, jammerte: „Schlappe Beine!“ und streckte ihm die Arme entgegen. Mutti meinte zwar immer, ich wäre alt genug, um alleine zu laufen, aber Vati erbarmte sich jedes Mal und nahm mich auf den Arm, bis ich mich ein bisschen erholt hatte. Sehr gern spielte ich mit den Kindern unserer Vermieter in deren Garten, mit der ein Jahr jüngeren Irene und Martin, der ein Jahr älter war als ich. Wir buddelten im Sandkasten, backten Sandburgen, schaukelten, wälzten uns 14

durchs Gras, schlugen Purzelbäume, warfen uns Bälle zu und versuchten uns im Handstandmachen, was natürlich noch nicht klappte. Dieses Miteinander mit den beiden tröstete mich darüber hinweg, dass ich nicht das ersehnte Brüderchen bekam, für das ich immer Würfelzucker auf die Fensterbank legte. Zwar schenkte meine Mutter zwei Jahre nach mir einem kleinen Jungen das Leben, aber da er am zweiten Tage starb, hatte ich nie den gewünschten Spielgefährten.

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