fremd stellen

06.06.2005 - Gut tut er mir. Er tut mir wirklich gut. Kalu sollte ich anrufen, aber erst einmal lass ich es sacken und genieße es für mich.“ Bei dem. Gedanken setzt sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Jetzt fährt er schon in die Südstadt ein. Einen. Augenblick überlegt er, ob er nach Warnemünde fahren soll, entscheidet sich ...
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Jochen W. G. Schmachtel

fremd stellen oder Herr Fischer, Herr Fischer wie tief ist das Wasser? Band 2 Roman freie edition © 2011 AAVAA Verlag UG (haftungsbeschränkt) Quickborner Str. 78 – 80, 13439 Berlin Alle Rechte vorbehalten www.aavaa-verlag.de 1. Auflage 2011 eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken! Umschlaggestaltung: Jochen W. G. Schmachtel Printed in Germany ISBN 978-3-86254-794-4

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Dieser Roman wurde bewusst so belassen, wie ihn der Autor geschaffen hat, und spiegelt dessen originale Ausdruckskraft und Fantasie wider. Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Für Heiner Ripke

„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Die ersten Sätze aus dem Kindheitsmuster von Christa Wolf

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6. Tag Montag, der 6. Juni 2005, um 10.42 Uhr im Fischerhaus in Sonnenkamp Karsten sitzt in seinem Büro am PC. Er sieht heute Vormittag nicht gerade gepflegt aus. Unrasiert ist er, und seine Haare wirken ungekämmt. Es ist ein alter Jugendstilschreibtisch, an dem er sitzt. Und er sitzt auf dem zum Schreibtisch passenden Stuhl. Karsten trägt ein kariertes Hemd. Am Kragen steht es offen und man sieht sein Unterhemd. Außerdem trägt er eine schwarze Manchesterlatzhose und keine Schuhe, sondern nur Socken an den Füßen. Eine Lesebrille hat er auf der Nase und schaut auf den Monitor und liest nochmals die Zeilen, die er gerade schrieb. karstenlü[email protected] rolandmü[email protected] Mühli, alter Schwede 5

Schon heute Morgen habe ich mir vorgenommen, Dir diese Zeilen zu schreiben, wenn ich vom See zurückkomme. Die Begegnung gestern lässt mich nicht in Ruhe. Wir haben uns herzlich umarmt, wie es für uns selbstverständlich geworden ist und trotzdem stellt sich bei mir so etwas ein wie ein Schuldgefühl. Ich habe es unterlassen, mich klar an deine Seite zu stellen. Ernsthaft frage und fragte ich mich, wie müssen die Worte lauten, die Dir deutlich machen, wie ich zu Dir stehe, nachdem ich Dich gestern so erlebt habe? Neu, sagt mir mein Gefühl, muss ich mich zu Dir stellen und Du sollst es wissen, was mich in dem Zusammenhang umtreibt, innerlich. Für mich sind die Auseinandersetzungen der Männer in Eurer Familie faszinierend, wenngleich ich Deinen Schmerz fühle und mir plötzlich einschoss, was ist wenn sich Mühli außen vor fühlt? Die Freiheit unserer Kinder ist ungleich größer als unsere damals und auch riesig sind die Ängste, mit denen sie sich plagen müssen. Das Leben behält seine Daseinsschwere, so schön manche Augenblicke auch sein können. Der Himmel, der auf die Erde fällt, gebärdet sich 6

wie ein zarter Flügelschlag und uns bläst die Luftbewegung an wie ein flüchtiger Hauch. Nach dem Erleben eines solchen Augenblicks kann man das Haupt erheben und den eigenen Kurs korrigieren in der sonst meist schweren See des Alltags. Dein David wächst mir mehr und mehr ans Herz. Wir bekommen die Beziehung in eine gegenseitig wohl bekömmliche Form. Gleichzeitig habe ich ein tiefes Mitgefühl für Dich und dies kann ich, im Gegenüber zu dir, nicht loswerden und auch nicht deutlich machen. Karsten ist der Schweiger, sagt Kalu. Doch mein Lieber, ich will nicht mehr schweigen, wenn ich das Gefühl habe, ich sollte reden. So wie gestern habe ich Dich noch nicht erlebt. Bislang warst Du es, auf den ich stets zählen konnte. Pastoren sind fit, wenn anderen die Flügel hängen. Armleuchter gib es in Euren Reihen auch. Dich, habe ich nie auch nur in der Nähe dieser Leute gesehen. In der Kirche bist Du mittendrin und doch hast Du diese Sensibilität für die einfachen Menschen am Rand der Gesellschaft. Diese Achtung davor, 7

was Menschen alles passiert in diesem Leben, habe ich stets bewundert an Dir. In meinem Schweigen nenne ich es für mich das KaluGefühl. Aber zurück zu gestern Mit einem Mal, sah ich Dich, (entschuldige) alt, verbraucht, müde, hilflos, ja erschreckend ohnmächtig. Ich frage mich, ob ich Dich je in einem solchen Zustand sah. Und mir fiel nichts Vergleichbares ein. Vielleicht Dein irrer Blick, als Kind, der mir unvergessen bleibt. Als Du mich so hilfesuchend angesehen hast, damals als Kalu schreiend vor Schmerz, dem Irrsinn nahe, auf die Insel kam und uns bis ins Mark erschütterte. Ich glaube, es war dein Blick, der mich damals aus der Erstarrung löste und mich in Bewegung setzte, dass ich den Elch suchen fuhr. Es mag sich komisch lesen, aber wie du so zwischen uns gesessen hast, dachte ich einige Male, es ist Kalus Platz und Kalus Position. Nur durften wir ihm nicht so nah sein, wenn er so drauf war. Er ist der unter uns, der die Welt und das Leben manchmal nicht zum Aushalten findet. Und plötzlich sitzt Du da, 8

genau wie er. Innerlich kenne ich dieses „So-daSitzen“ auch, aber ich habe es nie auch nur andeutungsweise zeigen können und vielleicht auch nicht wollen und doch sah man es mir an, aber da bin ich mir meiner selbst nicht mehr so sicher. Hut ab, Alter Vielen Dank, mein Freund, so hilflos (?ich finde den richtig passenden Ausdruck nicht) habe ich mich, Dir noch nicht verbunden gefühlt Willem stimmt mich seit seinem Erscheinen auf etwas ein, was ich so nicht von mir kenne und was ich sonst gerne anderen überlasse und in meiner geliebten und stummen Beobachterrolle bleibe. Doch Willem lässt es mir nicht durchgehen, irgendwie will er wissen, wo ich stehe im Schattenbereich des Lebens, damit er weiß, woran er mit mir ist. Heute hat Willem sich auf Wanderschaft begeben. Er packte seinen Rücksack und machte sich auf um den See und dann will er noch ins Klaasbachtal. Mich erinnert er natürlich nicht nur an den Elch. Er hat was, was Gunnar auch hier und da hat. Als Kinder sagten wir, er kann zaubern, und wir empfanden dies 9

meist in kniffligen Situationen, wenn er die Schwere und die Einsamkeit in Kalus Gemüt zurückdrängte und wir erleichtert aufatmeten. Es ist sein Humor und sein Lachen. Seit Mechthilds Tod habe ich dies Lachen schmerzlich vermisst. Mit Willems Erscheinen hat es sich wieder eingestellt. Unglaublich froh und dankbar bin ich dafür. Es gab Zeiten, da habe ich Gunnar diese Leichtigkeit geneidet. Jetzt bin ich glücklich, dass er sie wiedergefunden hat. Manchmal frage ich mich, ob wir das alles wirklich erlebt haben oder ob wir es im Miteinander-Erzählen erfanden? Kommen Dir solche Gedanken auch? Mehr als andere (ob es wirklich stimmt?), denke ich manchmal, haben wir gelernt, Verantwortung zu übernehmen und auch zu unserem Geworden-Sein zu stehen. Doch wenn unserer Geworden-Sein wieder einmal schmerzlich im Werden ist, kommen mir Zweifel über die wahre Größe unseres aktiven Einflusses. Mühli, ich glaube, man kann nicht wirklich etwas dafür, wo man steht oder zu stehen kommt. Offenbar positioniert man sich zwischen all` den Möglichkeiten, 10

die man kennengelernt hat. Manchmal hat man eine breite Auswahl und manchmal fällt einem nichts ein, weil es irgendwie dafür bislang nichts gab, was einem Orientierung sein konnte. Die erlebte Umwelt hat man sich ja nur bedingt ausgesucht. Die Eckpfeiler unseres Lebens werden von andern besetzt. Zum größten Teil erfährt man sie unbeabsichtigt. Das Leben passiert uns. Der eigene Einfluss wird wohl überschätzt, aber das muss wohl so sein, damit man sich Mühe gibt. Miteinander haben wir unglaubliches Glück. So vieles kann ich fest machen an einzelnen von uns. Grundsätzlich hatten wir unglaublichen Dusel. Gott können wir nicht genug danken. Und der Elch brachte eine Weite in unser Fühlen und Denken, die unseren Eltern fremd war, weil sie nur das sahen und kannten, was sie selbst erlebt hatten. Und das war in Mecklenburg von jeher die Wahl zwischen kleinerem und größerem Übel. So zog mit dem Elch eine Freiheit ein in Sonnenkamp, von der man anderenorts träumte. Wir aber erlebten sie hautnah, und selbst die mitgebrachten Erfahrungen aus den Flüchtlingsfamilien erfuhren unter uns Achtung, 11

weil der Elch es verstand, unsere Aufmerksamkeit auf kleine Begebenheiten zu lenken, die uns allein durch die Latten gegangen wären. Es wird die Achtung sein, die der Freiheit zu mehr Weite verhilft. Dass unsere Kinder uns nun noch einmal zwingen, uns zu Positionen zu bekennen, die schmerzlich sind, weil wir in ihrem Spiegel erkennen, eigentlich sollten wir da nicht mehr stehen, sondern uns zu der notwendigen Änderung durchringen. Vielleicht, mein Guter, fehlt Dir die Kraft dazu zur Zeit. Ach, mein Freund, ich habe selbst so unendlich lange gebraucht, meinem kleinen Herrmann und dem Leben nicht nur übel zu nehmen, dass er mich verließ. Wenn ich Willem sehe, wird mir so warm ums Herz. Mit ihm schaut mich mein Herrmann an, und ich kann aufatmen, wie schon so unendlich lange nicht mehr. Dir fiel das Atmen gestern so schwer, dass es mir weh tat, als ich es spürte. Roland, nun hat David gesehen, dass Du nicht so beweglich bist, wie er immer dachte oder es sich gewünscht hätte. Er liebt seinen Großvater und er liebt Dich. Er wird es auch aushalten, wenn ihr nicht zueinander kommen könnt. Die nachfol12

gende Generation kann nur andeutungsweise verstehen lernen, was uns zu dem gemacht hat, was wir heute sind. Vieles begreifen wir ja selbst nicht. Wie sollen wir ermessen, welchen Einfluss wir aufeinander hatten und ob uns das, was uns anzog, mehr prägte als das, was uns abstieß? Mir geht der Satz von Willem nicht aus dem Sinn, den Kalu ihm von Margot erzählt hat: Mühlenhaupt ist eine sozialistische Diakonisse, von Herzen gut, aber systemtreu Dem bin ich noch mal nachgegangen und ich muss gestehen, Deinen Vater habe ich wohl stets als tief gläubigen Menschen wahrgenommen, ohne es freilich zu wissen oder es mir bewusst zu machen. So gesehen, bist du wirklich nicht weit vom Stamm gefallen, was ich bislang aber immer annahm. Die Nähe und die Distanz zwischen zwei Menschen sind gefühlte Werte. Mit einem Maßband wird man ihnen nicht gerecht. Gunnar schmerzt es, wenn ich ihm manche Nähe verweigere, doch ich sehe es als puren Selbstschutz. Willem schaut uns Brüder so unterschiedlich an und dadurch wird es wieder fließender und wärmer zwischen uns, was bei mir schon seit dem Tod von Mecht13

hild da war, aber ich bekam es nicht zu ihm rüber. Meine Angst, mich zu verlieren, verliert sich in Willems Gegenwart. So lange Kalu bei uns war, hatte ich das Gefühl des Verlierens in der Gegenwart von Gunnar auch nie. So, nun ist genug offenbart und philosophiert. Lass dich drücken, mein Guter Dein Karsten P.S. Beim großen Dulder und Beleber lege ich ein bittendes Wort für Dich ein.

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Montag, der 6. Juni 2005, um 14.30 Uhr in Rostock

Einem unbestimmten Gefühl folgend verlässt Gunnar die Autobahn in Richtung Rostock Südstadt. Er ist auf dem Weg von seinen Eltern nach Greifswald. Schweren Herzens hat er sich losgerissen. Eigentlich hätte er schon gestern Abend fahren wollen, aber dann war es so ein gutes Gespräch, und der Wein schmeckte in der Runde. So ließ er es. „Dienstag will ich wieder arbeiten,“ denkt er nun, „aber es reicht ja, wenn ich abends zu Hause bin.“ Ein Satz, den Willem zum Abschied sagte, fiel ihm direkt in die Seele. Vadder, ich danke dir, dass du mir die Zeit gelassen hast, zu dir zu kommen. „Wie wohltuend dieser Willem ist. Gut tut er mir. Er tut mir wirklich gut. Kalu sollte ich anrufen, aber erst einmal lass ich es sacken und genieße es für mich.“ Bei dem Gedanken setzt sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Jetzt fährt er schon in die Südstadt ein. Einen Augenblick überlegt er, ob er nach Warnemünde fahren soll, entscheidet sich aber dann doch für 15