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Man kann nicht sagen, dass es irgendwelche ersichtliche oder gar nachvollziehbare Gründe gab, warum im mecklenburgischen Sonnenkamp und dessen Umgebung Anfang der fünfziger. Jahre zwölf Monate lang so gut wie kein Kind auf die Welt kam. Die alte Hebamme, Mutter. Blohm, fand es überaus untypisch für den ...
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Jochen W. G. Schmachtel

fremd stellen oder Herr Fischer, Herr Fischer wie tief ist das Wasser? Band 1 Roman freie edition © 2011 AAVAA Verlag UG (haftungsbeschränkt) Quickborner Str. 78 – 80, 13439 Berlin Alle Rechte vorbehalten www.aavaa-verlag.de 1. Auflage 2011 eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken! Umschlaggestaltung: Jochen W. G. Schmachtel Printed in Germany ISBN 978-3-86254-756-2

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Dieser Roman wurde bewusst so belassen, wie ihn der Autor geschaffen hat, und spiegelt dessen originale Ausdruckskraft und Fantasie wider. Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Die ersten Sätze aus dem Kindheitsmuster von Christa Wolf

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Prolog Man kann nicht sagen, dass es irgendwelche ersichtliche oder gar nachvollziehbare Gründe gab, warum im mecklenburgischen Sonnenkamp und dessen Umgebung Anfang der fünfziger Jahre zwölf Monate lang so gut wie kein Kind auf die Welt kam. Die alte Hebamme, Mutter Blohm, fand es überaus untypisch für den Landstrich in dieser Zeit. In der ihr eigenen Kopplung zwischen ihrer angeborenen liebenswerten Einfältigkeit und ihrer erworbenen Lebensweisheit kam sie auf Schlussfolgerungen, die andere schon mal den Kopf schütteln ließen. So wurden für den Schuljahrgang Neunzehnhundertneunundfünfzig nur ganze vier Kinder geboren und dann kamen an einem Tag, drei Tage nach dem Stichtag, auf einmal sieben Kinder während eines heftigen Spätfrühlingsgewitters auf die Welt. Das eigentlich Bemerkenswerte damals war, dass alle diese Kinder, die Zuhause auf die Welt kamen, überlebten.

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Von je her hatte man in dem kleinen Ort, dessen Name sich von einer Klostergründung ableitete, einen tief verwurzelten Respekt vor „Gewitterkindern“ und vor dem, was sie mit in die Welt brachten. Gewitterkinder heißen manchmal noch Gewidderkinners und nie nich Gewiddergören. Sülfst bi de Lü` de nicks as platt snakken. Ganz so einfach kommt man nicht dahinter, was es mit diesen Kindern auf sich hat. Diese Bezeichnung kommt aus einer Welt, in die wir uns, fünfzig Jahre später, nur schwer hineinversetzen können. Es war die Zeit, als die Kindersterblichkeit bei den Geburten und kurz danach noch schwindelerregend hoch war. Und dies war gang und gäbe viele Jahrhunderte hindurch und das ja nicht nur in Mecklenburg. Vielleicht aber sind die Gewitterkinder einfach nur, was sie sind. Ein heftiges Gewitter hat die Wehen ihrer Mütter und damit ihre Geburten vorzeitig ausgelöst. Die Sterblichkeit unter den Gewitterkindern war noch einmal erheblich höher als ohnehin schon. Nur die zähsten und stärksten Menschenkinder und die, auf denen ein besonderer Segen lag, überlebten so eine 6

Schreckgeburt und wuchsen heran. Mit Recht kann man sagen: Die Gewitterkinder haben ihre Lebensleistung schon beim Kommen in diese Welt vollbracht. Diese Tatsache war wohl der Grund, warum solche Kinder zeit ihres Lebens achtungsvoll angeschaut wurden von den Bewohnern in den Dörfern und der mecklenburgischen Kleinstadt Sonnenkamp. „Hei gehört tau denn Gewitterkinners drieonföftig. Un dei de Dod nümmer umbröcht un dei nich dotblöwen sünd, dei sünd läbensduun un gaut,“ sagen die von der verbliebenen Urgroßelterngeneration und sie haben es ihrerseits von ihren Vorfahren. So waren diese Kinder aufgrund ihrer Lebensdichtigkeit sowie wohl der Umsicht ihrer Eltern, folgerichtig in einer alten längst untergegangenen Welt verankert, und das mit einer Wucht und Tiefe, die alle anderen immer mal wieder in Atem hielt. Sie selbst aber wussten und ahnten nur wenig davon, weil es für sie alltägliche Normalität war, mit der sie aufwuchsen. Es scheint in der menschlichen Natur zu liegen, in Kinder die Wünsche zu legen, deren Erfüllung 7

einem selbst versagt blieben. Die Aufmerksamkeit für die Gewitterkinder war von Anfang an mit einem breiten Wohlwollen gepaart und schützte die Kinder nachhaltig vor der Penetranz der Staatsideologie des neuen Deutschlands, wenngleich diese sie auch berührte. Doch das war wirklich höchstens zweitrangig. Wenn überhaupt Erst Ende der achtziger Jahre wurden Menschen in der Deutschen Demokratischen Republik erwachsen, denen eine ähnliche Freiheit zuteilwurde, wie den Insulanern zwanzig Jahre zuvor. Die Kinder des Schuljahrgangs Neunundfünfzig, zu denen am ersten Schultag noch drei weitere Erstklässler hinzukamen, wurden irgendwann zu den „Insulanern“, weil sie die Insel im Klostersee vor dem Fischergehöft für sich entdeckten. Die ganze Klasse scharte sich um Justus Romeyke, den Elch, den Großvater der mütterlichen Linie der Kinder aus dem Fischerhaus. Die Insulaner mochten den Elch und besonders seine ostpreußische Sprache. Allein wenn der Elch sie, Märeelchen oder Jungchen nannte, zauberte die Anrede schon ein Lächeln auf ihr Gesicht. Er 8

konnte diese Anrede warm aussprechen und sie dabei so liebevoll ansehen, dass allein sie sich gemeint fühlten. Und die Kinder liebten den Elch zeit ihres Lebens. Der Elch seinerseits liebte bis zu seinem Tode alle vierzehn Mädchen und Jungen wie seine eigenen Enkel. Drei von ihnen waren ja auch seine leiblichen Enkelkinder. Die Insulaner wurden, wie man in den sechziger Jahren sagte, eine „irre Truppe“, die zusammenhielt wie Pech und Schwefel. Voll praller Lebenslust, und mit ihrem feinsinnigen Gespür für Unsinn hielten sie die Schule und den kleinen Ort immer wieder in Atem. Nachdem Jürgen, der Sohn des Bürgermeisters, siebzehnjährig, dem väterlichen Leistungsdruck erlegen, sich vor einen Zug legte und sich so das Leben nahm, kamen seine elfjährige Schwester Margret und ihre Freundin Solveig, die Jüngste der Fischerkinder, noch zu den Insulanern dazu. Lange, sehr lange jammert es die Menschen in einer mecklenburgischen Kleinstadt, wenn ein junger Mensch keine andere Möglichkeit für sich sieht, als so aus dem Leben zu gehen. Nichts nagt 9

an ihrer eigenen Einsamkeit und Hoffnung so, wie solch ein Sterben. Die hinterbleibende Margret bei den Insulanern zu wissen, milderte die Ängste der Besorgten. Breitgezogen und mit einem gewissen Respekt sprach man in dem kleinen Städtchen das Wort „Iin-suu-laa-neer“ aus und es galt ungleich mehr, als das Kind einer bestimmten Familie zu sein. Hunderte Kinder wuchsen in den fünfziger und sechziger Jahren heran, jedoch Insulaner waren es nur vierzehn und die beiden jüngeren Mädchen. Jeder Einwohner ist noch heute in der Lage, ohne weiteres alle sechzehn Namen aufzuzählen. Und es passierte etwas, was es so vorher nicht gab. Ihre an die vierzig Kinder tragen den Beinamen: Insulanerkinder und werden ebenfalls interessiert angeschaut, wenngleich die Geschichten über ihre Eltern sich lange verselbstständigt haben.

Die Umsicht und die Lebensweisheit des Elches legte sich wie ein schützender Mantel um die Gruppe der Kinder. Durch ihn wussten die Insulaner alle um die Kraft ihres persönlichen 10

Schmerzes und ihrer Wut. Jedes Kind fand Ausdrucksmöglichkeiten für diese Gefühle und sie übten eine nicht ganz gemeinsame oder eine immerhin vergleichbare Sprache. Die Mädchen fanden fairen Ausdruck für ihre Wut und bezogen so jeweils eine klare Position. Die Jungs bewegten im vertrauten Kreis ihren Schmerz. Der Elch begrenzte sie nachhaltig und band sie noch einmal anders tief ins Leben ein. Bei KarlLudwig, den alle nur Kalu nennen, gelang die Begrenzung nicht, die Einbindung aber wohl. Er redete von sich, wenn überhaupt, nur bruchstückweise und wirkte nicht selten unheimlich und einsam, mit Sicherheit verloren, etwas dämonisch und Angst einflößend, wenn man ihn nach seiner Herkunft befragte. Sehr undeutlich war die Grenze zwischen dem, was in dem Knaben war, und was die Menschen der Kleinstadt in ihn hineinschauten. Er trug etwas in sich, das offensichtlich weder zu verkraften, noch zu verschmerzen war, jedenfalls nicht von ihm. So legte sich die Scham der überlebenden Juden, die der Elch das „alte Volk“ nannte, auf die Wunden des Knaben, doch von diesem Phänomen erfuhr 11

er selbst erst viel später. Die großen, immer angenehm warmen Hände des Elchs verstanden sich auf wohltuende großväterliche Zärtlichkeiten für alle Insulaner. Hin und wieder holte sich Kalu diese Zuwendungen für Haut und Haar, selbst dann noch, als er dem Streichelalter längst entwachsen war. In solchen Augenblicken sah man in Kalus schwarzblauen Augen etwas Weiches und zugleich Unheimliches. Manche meinten, es sei ein schlafendes Ungeheuer zu sehen in seinen Augen, wenn er so friedlich war. Auf jeden Fall löste der Blick in seine Augen Unruhe bei den Betrachtern aus. Kindliche Fantasie hat von jeher auch eine Vorliebe für die Abgründe des Lebens. So verkörperte Kalu eine Leidensgeschichte mitten unter ihnen, die unsagbar viele Wurzeln hatte und so unterschiedlich zeigte, dass niemand sich einen Reim darauf machen konnte. Nicht nur unausgesprochen genoss der eigenwillige Kalu in den ersten Jahren seiner Schulzeit den Schutz der Grossen, der ältesten Schüler der Schule. Sie waren die letzten Kriegskinder und nicht wenige von ihnen hatten eben12

falls ihre Väter und manchmal auch die Mütter verloren. Alle in Sonnenkamp wussten, dass man Kalus Eltern erschoss, aber keiner wusste, wer die Täter waren. Bekannt war auch, dass der Kieszug seinen väterlichen Großvater unter ungeklärten Umständen tödlich erfasste und dessen Frau sich das Leben nahm, als sie Anfang Mai Fünfundvierzig aus Angst vor den Russen, wie einhundertzwölf andere, in den See ging und ertrank. Über die Herkunft von Kalus Mutter redete man Jahrzehnte hinter vorgehaltener Hand, doch keiner wusste was Genaues. Und so ließen zumindestens seine Mitschüler es, irgendwann Genaueres erfahren zu wollen, eine nach dem anderen. Sie nahmen Kalu, so wie er war, und versuchten nicht mehr, ihn ergründen oder gar ändern zu wollen; denn er war einer von ihnen. Ungesagt blieben so die Worte, die Klarheit hätten bringen können. Wie gesagt, sie ließen es, weil es kein Kind vermochte, solche Worte auszusprechen. Die Wut und der Schmerz, der an der Wurzel des Jungen haftete, war nicht zu bewegen, von Kalu selbst am allerwenigsten. 13

Seine Seele jedoch war unbändig, stark und mitfühlend. Erlitt jemand Unrecht oder steckte jemand in Schwierigkeiten, war Kalu ungefragt an seiner oder ihrer Seite. Erstaunliches ließ er sich für andere einfallen. Er wurde und war ihnen Freund. Für sich selbst und seine Seele aber konnte er nichts tun. Die Versuche der anderen für Kalu etwas zu tun, veränderten seine gefühlsmäßige Grundstimmung nicht, wenngleich es einige Male kurz davor war. Im Bild gesprochen hatten nicht wenige den Drücker der Tür in der Hand, der heruntergedrückt die Tür zu seinem Inneren hätte einen Spalt öffnen können. Verschlossen wurde diese Tür von Kalu nie. Fasziniert von Kalu und tief entsetzt von dessen beiläufig bemerkter Todessehnsucht, schaffte es der junge Kolumbus, Klassenlehrer der Insulaner in den letzten beiden Schuljahren, ihm nahe zu sein und ihn, den Wilden, zu zähmen, freilich ohne sich dessen je bewusst zu werden. Der Gleichklang ihrer Seelen beeindruckte den halbwüchsigen Kalu fürs Leben. Worte, verständliche 14

Worte hatte Kalu für diesen Gleichklang weder für den beherzten Kolumbus noch für sich selbst. So vermochte nicht Kalu noch irgendjemand, seine Wut und seinen Schmerz zu wenden. Berührt jedoch wurden diese Gefühle wieder und wieder, weil Kalu unter ihnen und mit ihnen lebte. Kalus Herz vermochte der gute Elch hin und wieder zu befrieden. Nichts Schlimmes mehr passierte dem Jungen nach dem Tod seines Großvaters, obwohl es viele immer wieder befürchteten. Er stand unter dem Schutz nicht sichtbarer Mächte. Die Schekina (die rettende Gegenwart Gottes) des alten Volkes mit diesem Schmerzen sammelnden „Waldkind“, sagte der Elch. Jedoch er, Kalu selbst, verlor sich immer mal wieder mit all` seinem schmerzlichen Zorn, wenn der ihn erfasste, in eine tiefe Einsamkeit. Den vier Kindern aus dem Fischerhaus gelang es, hier und da diese Einsamkeit zu durchbrechen, und sich so Kalu an die Seite zu stellen. Solveig und Kalu lebten eine faszinierende gegenseitige Aufmerksamkeit, die sie nicht selten die Welt um sich vergessen ließ. Diese Zweisam15