Frankfurter Szenen

wenig die Beine und setzte sich dann vorsichtig einige Augen- blicke lang noch ... nachts aufgewacht und wusste nicht, wo er eigentlich war. Wenig später hatte ...
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Ulrike Ladnar

Frankfurter Szenen

Ulrike Ladnar

Frankfurter Szenen Historischer Roman

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Das Geheimnis der fünf Frauen (2015) Wiener Vorfrühling (2013), Wiener Herzblut (2012)

Besuchen Sie uns im Internet: www.gmeiner-verlag.de © 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0 [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2017 Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt Herstellung: Mirjam Hecht Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – Frieda Riess Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 

Das Gesicht der jungen Frau war weiß, sehr weiß. Sie lag auf ihrem Rücken. Sie war in ein leichtes Gewand gehüllt. Es war aber kein Nachthemd, das sie trug, sondern ein Sommerkleid, das von winzigen pastellfarbenen Blümchen gesprenkelt war wie eine Wiese. Ihre braunroten Haare waren offen und umhüllten ihr Gesicht mit weichen Locken wie ein Rahmen ein Bild. Um ihren Kopf herum schimmerten weiß wie ihr Gesicht große Lilien auf einem Polster. Ihre Hände ruhten auf ihrem Bauch, gefaltet wie zu einem Gebet. Über ihre Füße war eine cremefarbene Decke gebreitet, so dass man nicht sehen konnte, ob sie Schuhe trug oder barfuß dalag. Das Brett, auf dem sie lag, war schmal, sehr schmal. Die junge, schlanke Frau füllte die ganze Liegefläche aus. Ihre Körperhaltung wirkte starr und sie sah aus wie darauf festgenagelt. Auf beiden Seiten der Liegefläche ragten dunkle Bretter empor. Es war eine lange Kiste, in der sie lag. Ein Sarg. Und deswegen war das Gesicht der jungen Frau so weiß. Denn sie war tot.

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Prolog in Zürich, Dienstag, 20. November 1917 Felix von Wiesinger saß auf der schmalen Chaiselongue in der Wohnung seiner Tochter Sophia in Zürich. Halb neben, halb auf ihm schlief sein Enkelsohn, dem er bis vor wenigen Minuten aus einem alten Bilderbuch, das noch aus der Kindheit Sophias stammte, vorgelesen hatte. Er bedauerte, dass er nicht auf dem ausladenden und weit bequemeren Möbelstück in einer Nische des Zimmers Platz genommen hatte, wo einige Spielsachen und ein paar dicke Fachbücher davon zeugten, dass seine Tochter sich mit ihrem Sohn manchmal dorthin zurückzog. Dann hätte er es sich jetzt auch gemütlicher einrichten können, ohne dass er fürchten müsste, den Schlaf des Kleinen zu stören. Und davor, wie schwierig es sei, den kleinen Karl zu seinem Mittagsschlaf zu bewegen und dann sein vorschnelles Aufwachen zu verhindern, hatte seine Tochter ihn vor ihrem Aufbruch trotz aller Eile mehrfach gewarnt. Doch der Blick, den man von der Chaiselongue aus auf den in der Nachmittagssonne glitzernden See hatte, wenn man nur aufrecht genug saß, hatte ihn verlockt, sich dorthin zu setzen, und natürlich war Karl ihm mit dem Bilderbuch in der Hand sogleich gefolgt. Sein linkes Bein, das Karl als Polster diente, drohte einzuschlafen, und Felix von Wiesinger ergriff ein Sofakissen und versuchte, seinen Oberschenkel unter Karls Köpfchen wegzuziehen und ihm von der anderen Seite aus gleichzeitig an seiner Stelle das Kissen unterzuschieben. Karl überstand die Prozedur, ohne wach zu werden, und er umschlang das Kissen mit seinen Ärmchen. Felix von Wiesinger rieb sich ein 7

wenig die Beine und setzte sich dann vorsichtig einige Augenblicke lang noch einmal ganz aufrecht hin, den Anblick der sonnenbeschienenen bläulich-goldenen Oberfläche des Sees vor Augen. Draußen in der Welt tobte ein Krieg, und er saß hier, sah die im Schlaf leicht geröteten Wangen Karls, hörte sein ruhiges Atmen und wollte diesen Augenblick der Ruhe mit in seinen eigenen Nachmittagsschlaf nehmen. Er schloss die Augen. Doch er konnte nicht einschlafen, obwohl er bestimmt müder als sein Enkelsohn war. Der unerwartet erforderliche hastige Aufbruch von Wien nach Zürich hatte ihn dazu gezwungen, die ganze Nacht von Sonntag auf Montag durchzuarbeiten, um sich dann am frühen Morgen todmüde in den Zug setzen zu können. Dieser war über eine lange Wegstrecke hin überfüllt, weil so viele Soldaten unterwegs waren, wohin sie allerdings fuhren, so vom Osten aus in den Westen, erschloss sich ihm nicht so recht. Aber auch später, in der Schweiz, herrschte in seinem Abteil ein großes Gedränge, und dann hatte sich noch eine ganze Familie hereingequetscht und sofort pausenlos irgendwelche unappetitlich riechenden Dinge in sich hineingestopft, als bestünde die Gefahr, dass er oder ein anderer der Mitreisenden sich unerlaubterweise bei ihnen bediente. Und vor seinem Abteil standen einige Menschen, die sehnsüchtig hineinstarrten, als sei dort das Paradies. Das Paradies hoffte er dann in Sophias Wohnung zu finden, als er, es war schon sehr dunkel, abgehetzt dort ankam und im Laternenlicht den See wahrnahm. Vom See schien Stille auszugehen. Wie lange war er nicht mehr am Wasser gewesen, hatte er gedacht. Am Meer. Oder an der Donau. Oder an einem der schönen österreichischen Seen. Am Mondsee zum Beispiel, wohin er vor mehr als zwanzig Jahren seine Hochzeitsreise mit Sophias Mutter gemacht hatte 8

und wo er oft mit seiner Tochter zur Sommerfrische hingefahren war. Wie lange war er überhaupt privat nirgendwo mehr gewesen. Aus beruflichen Gründen hingegen war er zumindest in den ersten beiden Kriegsjahren ununterbrochen unterwegs zu geheimen diplomatischen Verhandlungen, manchmal auch nur zu Gesprächen oder Vorgesprächen, um Möglichkeiten zur Verhinderung einer Eskalierung des Krieges, dann zu seiner Beendigung zumindest für Österreich-Ungarn auszuloten. Wo er da jeweils war, durfte er niemandem sagen, mit wem er sprach, auch nicht. Fast führte er eine Art Doppelleben. Und natürlich lagen einige dieser Orte in wunderschönen Landschaften, im Gebirge, auf weiten Ebenen, es mussten auch Seestädte dabei gewesen sein, aber er konnte sich an keinen dieser Orte erinnern. An keinen Spaziergang an irgendeinem Ufer. Alles war nur anstrengend und wurde zunehmend hoffnungsloser. Einmal war er nachts aufgewacht und wusste nicht, wo er eigentlich war. Wenig später hatte er mit dieser Arbeit aufgehört und angefangen, den Krieg, an dessen vorzeitiges Ende er nicht mehr glauben konnte, zu verwalten, wie er es etwas zynisch vor sich selbst bezeichnete. Er war nämlich jetzt für die Verteilung der geringen Nahrungsmittel-Ressourcen des Landes auf die Bevölkerung der Riesenstadt verantwortlich. Wieder fand er nachts oft kaum Schlaf, so sehr litt er an dieser ermüdenden und frustrierenden Aufgabe. Selbst wenn es ihm gelang, das Wenige rechnerisch halbwegs gerecht verteilen und entsprechende Lebensmittelscheine drucken zu lassen, herrschte Hunger in der Stadt. Im letzten Sommer und zur Erntezeit war er nachts oft aufgeschreckt, wenn er leises und fernes Donnern und Grollen hörte, und war auf den Balkon geeilt und hatte besorgt die Entwicklung des Gewitters beobachtet. Die Erde brauchte den Regen, aber es durften auch keine zu heftigen Unwetter die Getreide9

halme zum Umknicken oder zu heftige Regenfälle die Erdäpfel zum Faulen bringen. Felix von Wiesinger öffnete noch einmal die Augen, um erneut Zuversicht angesichts des schönen Sees zu schöpfen, der sich immer ein wenig anders präsentiert hatte an diesem Novembertag, anfangs blau, dann grau, fast schwarz, einmal flach und eben wie eine Buchseite und dann gekräuselt, und später wieder wie gepunktet durch herabfallende Tropfen und ein paar Minuten lang wild flutend wie ein Meer. Während der gesamten Zugfahrt, wann immer es ihm gelang, die Probleme seiner Arbeit zu vergessen, hatte er daran gedacht, wie unzerstörbar doch die Natur war. Oder vielleicht auch nur auf ihn wirkte. Die Berge, die unterwegs vor seinem Zugfenster auftauchten, hatten diesen Gedanken in ihm geweckt, als sie sich hoch, grau, felsig, mit schneebedeckten weißen Gipfeln präsentierten und ihm die Gewissheit gaben, dass sie sechs Tage später bei seiner Rückfahrt wieder so aussehen würden. Heute und morgen und ewig sich so zeigten. Sein Blick fiel auf die Spielecke, die seinem Enkel neben der Tür zu dem französischen Balkon eingeräumt war. Nach dem Mittagessen hatte er mit Karl dort einen hohen Turm gebaut, viele Bausteine vorsichtig aufeinandergestellt. Die ersten drei oder vier hatte das Kind selbst aufgetürmt, danach hatte jeder weitere Baustein zum Umstürzen des gesamten Werks geführt. Karl hatte lange mit großer Geduld wieder und wieder versucht, einen richtig hohen Turm zu bauen, dann aber hatte er begonnen, den fünften oder sechsten und die danach folgenden bunten Holzklötzchen voll zuversichtlicher Erwartung seinem Großvater zu reichen und diesen sein Glück versuchen zu lassen. Sein Enkelsohn hatte ihn so dazu gebracht, sich einfach ins Hier und Jetzt zu begeben und sich auf das Spiel 10

zu konzentrieren. Irgendwann, der Turm war wirklich schon erstaunlich hoch, musste er Karl sagen, dass es nicht höher ginge. Und Karl hatte ganz aggressionsfrei und nur voll interessierter Anspannung den Turm umgeworfen. Kleine Kinder kennen den moralischen Unterschied zwischen Auftürmen und Zerstören noch nicht, dachte Felix von Wiesinger, für sie ist es wahrscheinlich einfach nur faszinierend, wie schnell der Zerstörungsprozess im Unterschied zur Konstruktions- und Bauphase verläuft, ein Stups, und alles ist kaputt. Felix von Wiesinger zwang sich, den herumliegenden Bausteinen keine symbolische Bedeutung zuzuweisen, sondern in ihnen einfach ein paar Spielgegenstände zu sehen, die irgendwann aufgeräumt werden mussten. Doch das war schwer angesichts einer Welt, die sich gerade selbst zerstörte. Denn so nahm er die Welt zurzeit wahr. Der Krieg hatte bislang schon Millionen Menschen das Leben gekostet und weiteren Millionen Menschen war dadurch großes Leid angetan worden. Auch seine Familie war davon betroffen, denn sein Schwiegersohn war gestorben, kurz nachdem Karl zur Welt gekommen war. Immer noch trauerte Felix von Wiesinger um Sophias Mann, der ihm ein guter Freund gewesen war. Auch Sophias Trauer war noch längst nicht überwunden. Sie sprach allerdings nie darüber und schien ihr Leben im Griff zu haben und positiv gestalten zu können. Aber Sophias Schweigen machte ihm manchmal mehr Angst, als es ihr Weinen getan hätte. Und sein Enkelsohn hatte seinen Vater verloren und würde nie den Schutz und die Liebe eines Vaters genießen und an dessen Vorbild reifen können. Viele andere Männer waren versehrt aus dem Krieg zurückgekommen, von Gewehrkugeln oder Granateneinschlägen getroffen, Schrapnells hatten ihnen Arme oder Beine zerfetzt, Gas ihre Lungen beschädigt. Ob ihre Wunden je heilen wür11

den, konnte man in vielen Fällen noch nicht absehen. Leider war auch ein Mitglied seiner Familie zum Invaliden geworden, nämlich der Sohn seiner zweiten Frau Ada, den der Krieg einen Arm gekostet hatte. Und welche psychischen Folgen dieser Krieg haben würde, wusste man auch noch nicht. Wie sollten diese Männer, die jahrelang unter Entbehrungen und Hunger und Kälte oder Hitze gelitten hatten, unter dem Ritual der Kampfhandlungen, dem Warten auf das Heulen der Geschosse, dem täglichen Lauern auf die Angreifer, die daran gewöhnt waren, fremden Plänen und Rhythmen zu gehorchen, die Gewalt ausüben oder ertragen mussten, für die ihr bisheriges Leben sie nicht vorbereitet hatte, zurückkommen in ihr Heim, in ihre Familie, in der sie auf selbstständige und selbstbewusste Frauen stoßen würden, die gelernt hatten, ihr Leben alleine zu meistern, und die dort Kinder treffen würden, die sie nicht kannten, für die ein Vater nur noch eine blasse Erinnerung oder eine Figur auf einer zerknitterten Fotografie war. Oft überlegte von Wiesinger, welche Träume diese Männer nach dem Krieg in den Nächten hätten. Alpträume. Und Einsamkeit am Tag. Sie würden in ihren Familien nicht über den Krieg sprechen, um ihre Frauen zu schonen. Und natürlich wäre die Welt um sie völlig verändert. Dass das Kaiserreich den Krieg nicht überleben würde, war Felix von Wiesinger und allen seinen Freunden klar. Dass sich dann aber der Übergang in eine Republik geordnet und gerecht und ohne Konflikte vollzöge, darauf wagte er trotz der vielen Vorbereitungen, die in politischen Parteien und anderen Gruppierungen bereits getroffen wurden, kaum zu hoffen. Egal wie alles ausgehen würde, die Welt, in der er lebte, würde zerstört sein, und die neue Welt würde anders sein als die Welt, in der er gelebt hatte. Und die er doch trotz aller Kritik so sehr geliebt hatte.

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