Du sollst nicht töten

waren und den Weg zur Agora eingeschlagen hatten. Er lachte hellauf. „Aber wo denkst du hin? Sie ist doch meine Milchschwester.“ „Ach so. Ist sie Sklavin?“.
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Karl Plepelits

Du sollst nicht töten Apostel Johannes ermittelt Roman © 2013 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2013 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag, Berlin Coverbild: iStockPhoto, Archer, 10809396 Printed in Germany ISBN 978-3-8459-0613-3 AAVAA Verlag www.aavaa-verlag.com eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken! Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt .

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Du sollst nicht töten, spricht der Herr. Geliebte! Hört die Geschichte von Eros und Nikaia. Ihr sollt erkennen, wie sehr die Heiden in ihrem Denken verfinstert sind, wie sehr es nottut, sie in das Licht zu führen, in dem wir Christen wandeln. Denn die Zeit ist nahe. Es geschah zu jener Zeit, als die Mutter unseres Herrn noch unter uns weilte. Sie lebte, wie er es am Kreuz befohlen hatte, mit mir wie mit einem Sohn zusammen. Wir bewohnten, gemeinsam mit meinen Jüngern, ein einsames Anwesen nahe Ephesos und führten ein beschauliches Leben in Liebe, Wahrheit, Frieden, Frömmigkeit, Gerechtigkeit. In Ephesos weilte längere Zeit auch unser Bruder Paulus, um den Samen des Wortes Gottes zu säen und dieses unter allen Bewohnern der Provinz Asien, Juden wie Griechen, bekannt zu machen. Doch dann brach ein gewaltiger 3

Aufruhr gegen ihn aus, und er musste sich wie ein Aussätziger vor der aufgebrachten Volksmenge verstecken und Ephesos überstürzt verlassen. Zwei Tage dauerte es, ehe die Kunde von diesen Vorfällen bis zu uns drang. Sie erfüllte mich mit großer Sorge um die Gemeinde Christi. Begleitet von Simon, einem meiner Jünger, machte ich mich unverzüglich auf, um das Gefängnis der Stadt aufzusuchen und zu erkunden, ob Christen eingekerkert worden seien. Der Herr selbst hat uns ja aufgetragen, kranke und eingekerkerte Brüder zu besuchen, ihnen Trost zu spenden und ihnen nach Möglichkeit zu helfen. Wer beschreibt meine Erleichterung, als sich herausstellte, dass doch keine Christen eingekerkert waren, weder in der Männer- noch in der Frauenabteilung. Dafür aber erschütterte mich etwas anderes über alle Maßen. Während wir nämlich unter Führung einer Gefängniswärterin die Frauenabteilung durchforsteten, erregte eine junge Frau mit edlen Gesichtszügen und zerrauften blonden Haaren unsere Aufmerksamkeit. Die Füße mit einer 4

Eisenkette gefesselt, hockte sie in einer dunklen Ecke und schluchzte herzzerreißend. Auf meine Frage, welche Bewandtnis es mit dieser Frau habe, erklärte die Wärterin, sie sei des zweifachen Mordes angeklagt. Des Mordes an Ehemann und Kind. Diese Antwort erschütterte mich noch mehr, und in Gedanken fluchte ich dem Satan, der die Heiden in ihrer Unwissenheit immer wieder zum Bösen anstiftet. Ich sprach die Gefangene an und redete ihr zu, ihre Verbrechen zu bereuen und sich zum wahren Gott zu bekehren. Sie aber schien mir nicht einmal zuzuhören. Während ich so auf sie einredete, kam plötzlich ein junger Mann in höchster Aufregung hereingestürmt, stürzte auf sie zu, fasste sie mit beiden Händen an den Schultern, durchbohrte sie eine Weile stumm mit flammenden Blicken, brach selbst in Tränen aus. Da erschien mir unsere Anwesenheit vollends überflüssig und vergeblich. Unauffällig zogen wir uns zurück, nicht ohne während des Heimwegs mit Erbitterung das Vorhandensein des Bösen in der Welt und die Verworfenheit der Heiden zu 5

beklagen. Denn wie spricht der Herr? Du sollst nicht töten.

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Zu Hause angekommen, berichteten wir den anderen von diesem Vorfall. Und da geschah etwas völlig Unerwartetes: Mutter Maria, die unserer Erzählung aufmerksam und mit immer größerer Betroffenheit zugehört hatte, teilte unseren Standpunkt überhaupt nicht, ja sie erteilte uns sogar eine milde Rüge. Warum wir uns denn nicht ein wenig mehr um die Angeklagte bemüht hätten? Warum wir so schnell aufgegeben hätten? Vielleicht habe die Gefangene nur unabsichtlich getötet. Vielleicht könnte sie gerettet werden, für das irdische Leben und, mag sein, auch für das Reich Gottes. Ihr (Marias) Sohn habe sich im Umgang mit den von der Gesellschaft Ausgestoßenen bei weitem nicht so zimperlich gezeigt, und das in Palästina, wo Männer und Frauen nicht frei miteinander umgehen dürfen wie hier bei den Griechen, sondern jeglichen Kontakt vermeiden, jedenfalls 7

außerhalb des engsten Familienkreises, und wo Frauen tatsächlich als Menschen zweiter Klasse gelten. Durch ihre Zurechtweisung beschämt, besuchten wir anderntags neuerlich die nach Mutter Marias Gefühl zu Unrecht des doppelten Verwandtenmordes Beschuldigte im Gefängnis und hatten, um es kurz zu machen, exakt denselben Erfolg. Als ich schon nahe daran war aufzugeben und nur aus Hochachtung vor Mutter Maria noch nicht die Geduld verloren hatte, erschien derselbe junge Mann, begrüßte die Gefangene auf dieselbe Weise wie tags zuvor. Diesmal zogen wir uns aber nicht sofort diskret zurück, sondern beschlossen, auf das Ende der Liebesszene zu warten, in der Hoffnung, mehr zu erfahren. Wir hatten nicht lang zu warten. Der junge Mann wandte sich brüsk nach uns um, musterte uns von oben bis unten und sagte: „Seid ihr von Demetrios geschickt?“ Und das klang reichlich misstrauisch.

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„Nein, nein“, stammelte Simon, und sobald ich mich von meiner Verblüffung erholt hatte, sagte ich: „Von welchem Demetrios denn?“ „Ihrem Schwager.“ „Und wieso fragst du, ob wir von ihrem Schwager ...“ „Weil der sie ins Gefängnis hat stecken lassen.“ „Ach so. Nein, ursprünglich sind wir natürlich nicht ihretwegen hergekommen. Aber wir wurden auf sie aufmerksam, weil sie ein solches Bild des Jammers bot. Und dann erfuhren wir von der Wärterin, sie sei des Mordes an Ehemann und Kind angeklagt, und das hat uns zutiefst erschüttert. Die Sache ließ uns keine Ruhe, und darum haben wir uns entschlossen, heute wieder zu kommen und ... Vielleicht ist sie ja zu Unrecht angeklagt.“ „Sie ist zu Unrecht angeklagt. Nur ...“ „Nur, was?“ „Nun, die Sache ist die: Sie leugnet die Verbrechen gar nicht.“ „Sie gibt alles zu, was man ihr vorwirft?“ „Ja, ja.“ Und zu ihr gewandt, in einem Ton, den man trotzigen Kindern gegenüber gebraucht, um 9

sie zur Vernunft zu bringen: „Komm, Nikaia, sag, dass man dich zu Unrecht anklagt.“ Sie schwieg, schüttelte nur den Kopf. „Aber du hast es doch zuerst geleugnet. Warum denn jetzt auf einmal?“ Und Simon: „Wie sagst du? Sie hat es zuerst geleugnet?“ Und nun legte sich ein bedrückendes Schweigen über unsere seltsame Versammlung, gemildert nur durch das Gemurmel der anderen weiblichen Häftlinge, die, in einer Ecke zusammengedrängt, die Szene, die sich ihnen bot, atemlos verfolgten. „Falls sie verurteilt wird“, sagte ich, mehr zu mir selbst, „dann sicherlich zum Schierlingsbecher.“ „Nicht wahr“, rief der junge Mann voller Entsetzen. „Das sage ich ihr ja auch ständig. Aber das scheint ihr vollkommen egal zu sein.“ „Nun, was sie braucht, ist Hilfe. So viel steht fest. Und wir sind ja heute eigens zu dem Zweck hergekommen, um zu prüfen, wie man ihr helfen könnte. Und ich weiß auch schon, wie.“ „Nämlich?“ 10

„Wir werden uns an den zuständigen Archonten wenden und schauen, was sich da machen lässt.“ „Das ist aber sehr nett. Darf ich euch begleiten?“ „Klar. Ich bitte sogar darum.“

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„Ist sie deine Geliebte?“, sagte ich zu dem jungen Mann, sobald wir auf die Straße getreten waren und den Weg zur Agora eingeschlagen hatten. Er lachte hellauf. „Aber wo denkst du hin? Sie ist doch meine Milchschwester.“ „Ach so. Ist sie Sklavin?“ „Ich bin Sklave. Sie ist eine Freigeborene. Wir sind im selben Haus aufgewachsen und lieben uns wie Bruder und Schwester. Und ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass sie Mann und Kind ermordet haben soll.“ „Aha. Was sagen denn ihre übrigen Angehörigen dazu?“ „Dasselbe. Sie sind in größter Sorge um sie, vor allem ihr Vater. Der grämt sich so sehr, dass er im Augenblick dem Tod näher ist als dem Leben. Ihre Mutter ist schon vor langer Zeit gestorben.“ „Wie heißt er denn?“ 12

„Androkles.“ „Hm, kenne ich nicht. Aus seiner Familie dürfte niemand bei uns sein. Und wie heißt du, wenn ich fragen darf?“ „Eros.“ „Oh, was für ein hübscher Name. Dieser junge Mann hier heißt Simon, und ich Johannes. Und deine Milchschwester ...“ „Heißt Nikaia.“ „Und ihr Mann und ihr Kind. Sind sie wirklich tot, von wem auch immer ermordet?“ „Ja. Angeblich.“ „Und wie sind sie ermordet worden?“ „Ihr Mann durch einen Pfeilschuss. Von hinten. Auf der Jagd. Wie ihr Kind ermordet worden ist, weiß ich nicht.“ „Auf der Jagd?“ „Ja. Die Jagd ist ihre große Leidenschaft. Ihr Vater hat sie schon als kleines Mädchen häufig auf die Jagd mitgenommen, und sie hat es perfekt gelernt, mit Pfeil und Bogen umzugehen.“ „Du meinst, sie kann gut schießen? Sie verfehlt ihr Ziel nicht?“ 13

„Ganz richtig. Und glaub mir, ich kann das beurteilen. Ich habe oft genug daran teilgenommen. Wie sie da mit ihrer kurzen Tunika durch die Wälder streifte – ha, man hätte glauben können, die Göttin Artemis leibhaftig zu sehen. So hübsch sah sie aus.“ „Soso. Die Göttin Artemis leibhaftig.“ „Apropos. Vor zwei Jahren war Nikaia Priesterin der Artemis.“ „Du meinst, sie bekleidete das Amt einer Oberpriesterin im Tempel der Artemis von Ephesos?“ „Genau, als jungfräuliche Priesterin der jungfräulichen Göttin.“ „Da war sie also noch unverheiratet?“ „Ganz richtig. Aber damals lernte sie ihren späteren Ehemann kennen. Und das kam so. Der Artemistempel von Patmos entsandte eine Festgesandtschaft zu unserem Artemistempel, und dieser entsandte daraufhin eine Festgesandtschaft nach Patmos, natürlich unter Nikaias Leitung. Und darum fuhren auch ihr Vater Androkles und andere Mitglieder unserer Familie mit.“ 14

„Du auch?“ „Richtig. Ich auch. Außerdem Philon, einer der angesehensten Bürger unserer Stadt, und seine inzwischen verstorbene Frau Doris.“ „Philon? Besitzt der nicht in den Bergen südlich von Ephesos ein ausgedehntes Landgut?“ „Genau. Und dazu eines auf Patmos. Auf diesem lebte damals ein außergewöhnlich hübscher junger Sklave mit Namen Stephanos. Und als man nach dem Opferfest zu einer Jagd aufbrach, nahm man ihn mit, damit er Nikaia als Begleiter und Helfer zur Seite stehe. Er aber verliebte sich in die schöne Jungfrau, und sie verliebte sich in den feschen Jüngling. Aber noch jemand verliebte sich in ihn: Doris.“ „Die Frau des Philon? War die nicht viel älter als er?“ „Natürlich. Aber das hinderte sie nicht, sich Hals über Kopf in ihn zu verlieben. Sie verfolgte ihn bis zu seinem Wohnhaus, das er gemeinsam mit seinen Eltern, einfachen Landarbeitern, bewohnte. Und denen eröffnete sie, dass sie ihn nach Ephesos mitnehmen werde. Da sagten sie, sie freuten sich zwar für ihn. Andererseits tue es 15