Vanessa Dungs
Abtrünnig – Chronik eines Vampirs Vampir‐Thriller © 2010 AAVAA e‐Book Verlag UG (haftungsbeschränkt) Quickborner Str. 78 – 80,13439 Berlin Telefon.: +49 (0)30 565 849 410 Email:
[email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2010 Lektorat: Sabine Lebek, Berlin Covergestaltung:
Thanh Hung Nguyen Printed in Germany ISBN 978‐3‐86254‐12‐9
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Für meine Mutter
Danke für die Unterstützung, die Inspiration, die Motivation, die Investition, den Ansporn, die konstruktive Kritik und die Geduld. Ich danke Dir für alles, denn ohne Dich hätte ich es wohl nicht geschafft. Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Vorwort Ich bin ein Vampir. Ich bin unsterblich. Ich lebe unter euch Menschen, ohne dass ihr etwas bemerkt. Ich befolgte Gesetze und gewisse Regeln, doch für eine Sterbliche habe ich sie gebrochen… das ist nichts Neues meint ihr? Wenn es nur so einfach gewesen wäre… 6
Prolog – Der kleine Engel Ich ließ meinen Blick über die Lichter der Stadt gleiten. London war ein Paradies für unseresglei‐ chen, dunkle, verwinkelte Gassen, die an belebte Einkaufsstraßen und elegante Wohnviertel an‐ knüpften. Das pulsierende Leben war direkt unter uns, zum Greifen nah, aber wir blieben im Verbor‐ genen. Peter stand abwartend neben mir, die Hände be‐ reits zu Fäusten geballt. Sein kastanienbraunes Haar fiel ihm in die Stirn, doch ich konnte trotz‐ dem die Ungeduld in seinen Augen erkennen. Sein Mund war geöffnet und die Spitzen seiner Eck‐ zähne blitzten mich kampfbereit an. Er war in Po‐ sition und lauerte begierig auf mein Signal zum Angriff. Es war soweit. Ich nickte ihm zu und lehnte mich dabei zurück. Mit genug Schwung stieß ich mich kraftvoll ab und Peter tat es mir gleich. Wir sprangen durch die Luft, wie zwei Raubkatzen auf Beutefang und im nächsten Moment landeten wir auch schon auf dem Dach eines abrissreifen Bürogebäudes. Laut‐ los. Selbst die Geschöpfe dort unten in der Gasse konnten uns nicht hören, denn der schier über‐ mächtige Durst vernebelte ihre – sonst so präzisen – Sinne. 7
Es war unsere Aufgabe sie aufzuhalten. Schon viel zu oft hatten wir die Spuren der Verwüstung rückgängig machen müssen, aber manchmal ka‐ men wir zu spät. Es hatte Opfer gegeben. Unschuldige, die entwe‐ der als Nahrung dienten oder verwandelt wurden, ohne dass sie eine Wahl gehabt hätten. Heute Nacht würde es zumindest für vier von ihnen zu Ende gehen. Es waren ausschließlich männliche Artgenossen. Sie hatten eine Gruppe Schüler im Visier, drei Tee‐ nager, ein Mädchen und zwei Jungen, gerade mal elf oder zwölf Jahre alt. Ihr Blutgeruch stieg mir in die Nase und für den Bruchteil einer Sekunde beg‐ riff ich, warum die Vampire es auf sie abgesehen hatten. Sie waren so rein und unschuldig. In mei‐ nem Kiefer begann es zu pochen und ich ließ mei‐ nem Instinkt freien Lauf. Messerscharfe Fänge schoben sich aus meinem Zahnfleisch und verei‐ nigten sich in wenigen Augenblicken mit den stumpfen Zähnen. Die menschlich aussehenden Eckzähne wichen blitzschnell meiner tödlichsten Waffe. Ich atmete hastig die kalte Luft ein und sog sie gierig in meine Lungen, auch wenn ich sie nicht zum Leben benötigte, so half sie mir dennoch dar‐ an zu denken, warum wir hier waren. Ich war 8
nicht so, wie diese Monster dort unten in der Gas‐ se, aber das durfte ich auch nicht vergessen. Die Vampire trieben die ängstlichen Kinder eilig zusammen. Sie saßen in der Falle, wie Lämmer auf der Schlachtbank. „Es wird nur ein bisschen weh tun, meine Klei‐ ne“, lachte einer. Er hatte das dünne Mädchen im Arm und seine scharfen Eckzähne blitzten im Licht einer alters‐ schwachen Straßenlaterne. Sie war starr vor Angst, kein Laut kam über ihre blassen Lippen. „Na, los Declan. Worauf wartest du?“ Einer von ihnen schien ungeduldig zu werden. Der andere Vampir fuhr wütend zu ihm herum. „Halt deine verdammte Klappe!“ „Ist ja gut.“ Mit erhobenen Händen wich er vor seinem grö‐ ßeren Artgenossen zurück. „Ich werde es genießen, kapiert?“ Der Vampir, der anscheinend das Sagen hatte, drehte sich wieder um. In seinen Mundwinkeln zuckte ein dämonisches Grinsen, als er sich wieder seiner potenziellen Beute widmete. Ich gab meinem Verbündeten ein Zeichen und im gleichen Augenblick sprangen wir in die Tiefe. Der Verräter kam nicht dazu, sein auserwähltes Opfer zu beißen, denn ich war blitzschnell bei ihm. Ohne 9
zu zögern, riss ich seinen linken Arm herum, mit dem er das Mädchen festhielt. Die Kleine fiel zu Boden, doch noch immer gab sie keinen Laut von sich. Der Vampir dagegen schrie vor Schmerz; ich hatte sein Handgelenk gebrochen. Unnachgiebig zwang ich ihn in die Knie, meine Kraft ging weit über seine hinaus, er hatte keine Chance meinem Griff zu entkommen. Ich hatte allerdings auch nichts anderes erwartet. Er war noch nicht lange einer von uns und er würde auch niemals so wer‐ den wie Peter oder ich, für ihn würde es jetzt en‐ den. Bevor ich diesem Abtrünnigen seine gerechte Strafe zufügen würde, wandte ich mich zu dem Mädchen. Sie lag zitternd neben mir auf dem As‐ phalt und ihre großen blauen Augen starrten mich voller Panik an. In dieser Sekunde überkam mich ein völlig unerwartetes Gefühl. – Nein, es war mehr ein Verlangen! Ich wollte ihr diese Furcht nehmen und mehr noch, ich wollte nicht, dass sie das alles mit ansehen musste. Eigentlich durfte es überhaupt keine Rolle spielen, es hatte bisher keine Rolle gespielt, aber das tat es jetzt plötzlich. Wa‐ rum auch immer. Ich beugte mich zu ihr hinunter, ohne dabei mei‐ nen Griff vom Verräter zu lösen, dadurch musste er auf seinen Knien bleiben, und genau deshalb 10
versuchte er sich nicht mehr zu bewegen. Jede noch so kleine Veränderung seiner Haltung, wür‐ de ihm mehr Schmerzen zufügen. „Sieh nicht hin. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Schließ deine Augen, dann ist gleich alles vorbei.“ Ich ließ meine Worte beruhigend klingen und sie hatten die erhoffte Wirkung. Ihre zarten Lider senkten sich. Sie winkelte ihre Beine an und zog sie bis unters Kinn. Ihre dünnen Arme legten sich schützend um die schmalen Knie. Das Mädchen hielt ihre Augen fest geschlossen, während ich dem zappelnden Vampir das biss‐ chen Leben nahm, das noch durch seine kalten Adern floss. Peter hatte sich parallel auf die Gruppe der drei anderen Verräter gestürzt. Sie hatten die beiden Jungen zuvor eingekreist und sich halbherzig um ihre Beute gestritten. Bevor die Schreie der Verrä‐ ter auch nur durch die Luft hallen konnten, war es bereits um sie geschehen. Ich kannte keinen Vam‐ pir, der so geschickt und präzise mit einer Klinge umgehen konnte wie Peter. Seine bevorzugte Waf‐ fe war ein japanisches Kurzschwert, ein Kodachi. Leicht zu transportieren und dennoch äußerst ef‐ fektiv, wenn es richtig geführt wurde. Die scharfe Schneide hatte keine Mühe sich durchs Fleisch zu 11
fressen. Eine spezielle Legierung sorgte dafür, dass die Haut verätzt wurde und durch die tiefen Schnitte, wurde der gesamte Blutkreislauf in Se‐ kundenbruchteilen verseucht. Es blieb nie sehr viel von den Abtrünnigen übrig. Ein wenig Asche und Flüssigkeit, die niemand mehr so recht zuordnen konnte. Das war mehr als effektiv, doch ich hatte nicht sonderlich viel für Waffen übrig. Meistens trug ich nichts dergleichen bei mir. Wozu auch? Ich war die gefährlichste Waffe, die ich einsetzen konnte und mehr benötigte ich auch nicht. Wir machten es schnell und sauber, so wie im‐ mer. Als ich mich umdrehte, saß das Mädchen noch immer auf dem Boden, die Augen geschlossen und die Arme fest um den kleinen Körper geschlungen. Bevor ich sie ansprach, zwang ich den Vampir in mir zurück, ich drängte ihn wieder ins Verborge‐ ne. Meine Fangzähne verformten sich erneut und ein scheinbar menschliches Gebiss kam zum Vor‐ schein. „Du kannst die Augen jetzt wieder aufmachen, meine Kleine.“ Ich beugte mich vorsichtig zu dem Mädchen hin‐ unter, um es nicht noch mehr zu verängstigen. Es traf mich jedoch völlig unvorbereitet, wie ein Blitzschlag in meinem Kopf, der meinen Schädel in 12
zwei Hälften zu zerbrechen drohte. Der Duft die‐ ses Mädchens war so verlockend, dass er mir bei‐ nahe die Sinne raubte. Vanille, überlegte ich schnell, sie roch ähnlich wie Vanille, aber nicht nur der Körper, sondern auch ihr Blut. Unerträglich und so unbeschreiblich süß, dass ich keine andere Wahl hatte, als mich wieder von ihr ein Stück zu entfernen. Meine Bewegungen glichen allerdings wohl mehr einem Taumeln. Peter schien meine Verwirrtheit zu bemerken. „Alles klar bei dir, Nicholas?“ Es klang überrascht. Ich benötigte einen kurzen Moment, ehe ich mei‐ nen Blick auf ihn richten konnte. „Ja, es ist nichts.“ Er kam langsam auf mich zu und wirkte dabei wie ein Kreuzritter – besudelt mit dem Schmutz der Ungläubigen. „Soll ich mich zuerst um das Mädchen küm‐ mern?“ Ich schüttelte den Kopf. „Fang mit den Jungen an.“ „Wie du meinst.“ Er drehte sich achselzuckend zu den beiden an‐ deren Kindern um. Ihre Todesangst war überdeut‐ lich zu spüren. Verständlich, wie konnten sie auch entscheiden, wer gut und wer böse war? Was be‐ 13
deuteten diese Worte überhaupt? War ich der Gu‐ te, weil ich sie vor den blutrünstigen Vampiren be‐ schützt hatte? Ich wusste zwar, dass ihre Furcht bald vorbei sein würde, aber der Preis dafür war zu hoch als das ich behaupten konnte, besser zu sein als diese Verräter. Peter besaß eine gefährliche Gabe, die in seinen Händen allerdings äußerst hilf‐ reich war. Seine Aufgabe bestand darin, dass Ge‐ dächtnis der involvierten Sterblichen zu löschen, wir konnten schließlich keinen Menschen zurück ins Leben schicken, der über uns Bescheid wusste. Wahrscheinlich würde man keinem dieser Kinder Glauben schenken, die Polizei und die Medien würden es einfach als psychischen Schock abtun, der durch eine Entführung ausgelöst werden konnte, doch wir verließen uns nicht auf Vermu‐ tungen. Kein wirklicher Trost. Ich versuchte meine Gedanken zu sammeln und starrte erneut das junge Mädchen vor mir an. Ihre tiefblauen Augen musterten mich und in ihnen lag soviel Wissen und Verstand. Abermals bückte ich mich, aber dieses Mal blieb ich etwas auf Abstand. „Wie heißt du?“ Sie zögerte. Ihre Angst vor mir war regelrecht greifbar. Natürlich, ich war ein Vampir und sah in diesem Moment auch noch so aus. Meine Zähne wirkten vielleicht wieder normal, aber die Iris 14
meiner Augen glühte noch immer in einer un‐ menschlichen Schattierung. „Lesley.“ Ihre Antwort war eigentlich nur ein Flüstern, aber es vibrierte in meinen Adern. Sie musste ein Engel sein! Ihre langen, dunklen Locken umrahm‐ ten das bildschöne, wenn auch äußerst bleiche Ge‐ sicht. Sie wirkte wie eine Figur aus einem Gemäl‐ de, detailgetreu auf Leinwand gebannt, wie aus vergangenen Zeiten. Dichte Wimpern zierten ihre ohnehin schon großen Augen und ihre vollen Lip‐ pen wirkten geradezu verführerisch. Ich konnte gar nicht glauben, dass sie erst elf oder zwölf Jahre alt sein sollte. Sie würde zweifellos unzähligen Männern das Herz brechen, wenn sie erst einmal erwachsen war. Ich musste mich regelrecht dazu zwingen, um endlich wieder aufzustehen. In meinem Kopf bra‐ chen urplötzlich so viele Bilder auf mich ein, dass ich Mühe hatte, sie wieder zurück zu drängen. Peter nahm den beiden anderen Teenagern ihr Gedächtnis. So wie jedes Mal und er würde bei ihr das Gleiche tun. Wieso verursachte mir dieser Ge‐ danke auf einmal solches Unbehagen? Es war schließlich immer dieselbe Prozedur und eine bes‐ sere Alternative als diesen unschuldigen Kindern das Leben zu nehmen. 15
Lesley streckte auf einmal ihre kleine Hand nach mir aus, sie musste ein wenig nach vorne rücken, um mich zu erreichen. Ich ließ es einfach gesche‐ hen. Sie berührte ganz vorsichtig meine rechte Hand, die ihr am nächsten war. Ihre warme Haut traf auf meine und schlagartig durchfuhr mich ein eigenartiges Gefühl. So etwas hatte ich noch nie‐ mals zuvor empfunden. Es war wie eine Art Stromschlag, ein kurzes Prickeln auf meinen Fin‐ gern, das sich bis zu meinem Unterarm hinaufzog. Ich weiß nicht, ob sie etwas Ähnliches empfand, aber ihre Finger zogen sich augenblicklich wieder von mir zurück. Ihre leuchtenden Augen fixierten mich mit einer Mischung aus Faszination und Furcht. Was passierte hier? „Das wäre erledigt. Jetzt nur noch sie, dann kön‐ nen wir von diesem Ort verschwinden.“ Peter stand plötzlich neben mir. Ich hatte ihn an‐ scheinend gar nicht bemerkt. War ich so abgelenkt gewesen? Was hatte dieses dünne Mädchen bloß an sich, das mich so faszinieren konnte? „Nicholas?“ Ich schüttelte meinen Kopf und drehte mich zu Peter. „Nicht nötig“, hörte ich mich auf einmal selbst sagen. „Sie wird sich ohnehin nicht mehr daran er‐ innern.“ 16
„Wie bitte?“ Er sah mich mit hochgezogenen Brauen an. „Du brauchst ihr nicht das Gedächtnis zu neh‐ men.“ „Das ist gegen die Regeln, Nicholas!“ „Ich weiß“, sagte ich knapp und setzte mich in Bewegung. „Das kann ich nicht tun. Du weißt was passiert, wenn die Ältesten davon erfahren.“ Ich fuhr zu ihm herum. „Ich sagte, du lässt es bleiben! Sie werden nichts davon erfahren. Wir gehen – jetzt!“ Ich war derjenige, der entschied, was wir taten. Er presste seine Zähne hörbar aufeinander. „Wieso?“, fragte er und deutete mit seinem Schwert auf das Mädchen. Die Kleine saß noch immer zu unseren Füßen. Wieder sog ich die kühle Luft ein. „Ich weiß es nicht, aber irgendetwas sagt mir, dass es das Richtige ist.“ So banal es klang, es war die Wahrheit, auch wenn die Stimme in meinem Kopf fassungslos war. Peter schüttelte den Kopf und ein tiefer Seufzer kam aus seiner Kehle. „Ich habe bisher nicht ein einziges Mal deine Ent‐ scheidungen in Frage gestellt.“ 17