Barbara Kühnlenz
Bittersüßer Rosengarten Roman
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© 2015 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2015 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag Coverbild: Barbara Kühnlenz Printed in Germany
AAVAA print+design Taschenbuch: eBook epub: eBook PDF: Sonderdruck:
ISBN 978-3-944223-60-5 ISBN 978-3-944223-61-2 ISBN 978-3-944223-62-9 Großdruck und Mini-Buch ohne ISBN
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„Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, MecklenburgVorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.“ (Zitat des Bundeskanzlers Helmut Kohl während einer Fernsehansprache zur Währungsunion zwischen BRD und DDR am 1. Juli 1990; ARD, 20:15 Uhr)
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1.Kapitel Die Euphorie der Wiedervereinigung wurde von den neuen Bundesbürgern in weiten Landstrichen Ostdeutschlands bereits im Frühjahr 1991 immer mehr von Skepsis und Verunsicherung durchsetzt. Dubiose Geschäftemacher, fragwürdige Arbeitgeber und kriminelle Elemente trieben ihr Unwesen; Arbeitslosigkeit, Drogensucht und Obdachlosigkeit nisteten sich ein. Die Natur ließ sich davon nicht beeinträchtigen. Erste Frühlingsblüher steckten ihre Nasen aus dem Erdboden und weckten bei den Menschen Hoffnung auf Erfüllung ihrer Träume. Jede Woche bemühte sich die Psychologin Elfriede Morgenstern in Gesprächen, dass auch Melinda ihr Leben in der neuen Realität so annahm, wie es nun war. Sie bat die Patientin, in einem Schreibheft täglich nicht nur von ihrem Tagesablauf zu berichten, sondern hauptsächlich ihre Ängste, Gefühle und die 5
Fragen dazu zu notieren. Die Therapeutin schärfte ihr ein, sich ehrlich zu äußern, weil sie ihr sonst nicht helfen könne. Melinda beherzigte den Rat, obwohl sie sich für manche Bekanntgabe schämte. Zu Beginn jeder Therapiestunde diskutierte die Psychologin den vorliegenden Tagesbericht mit ihr. Anfangs erklärte sie ihr, warum die Ehe mit Rafael scheitern musste und sie ihren Sohn nicht annehmen konnte. Später erläuterte sie ihr, weshalb ihre Schwägerin und ihr Ehemann den Suizid einer Haftstrafe vorgezogen hatten und erörterte mit ihr das Verhalten der Eltern. Oft verließ Melinda die Praxis bedrückt, denn sie konnte sich momentan keine akzeptable Zukunft vorstellen. Zuhause lag sie meistens auf der Couch im Kinderzimmer vor der leeren Wiege und überdachte die Hinweise und Ratschläge der Psychologin. Doch ihre Gedanken schweiften ständig zur Bestattung ihres Sohnes zurück, die erst wenige Tage zurücklag. Sein Anblick hielt sich noch immer verborgen, wie alles, 6
was ihr in den vergangenen Wochen widerfahren war. Nur der Knall, dieser alles vernichtende Knall, der das Innere von Rafaels Kopf mit Knochensplittern durchsetzt nach allen Seiten spritzen ließ, dröhnte in ihr. Rainers Aufschrei: „Oh Gott!“, drang bisweilen wie ein fernes Echo zu ihr durch. Oft stopfte sie sich mit den Zeigefingern die Ohren zu, um nichts von dem Grauen eindringen zu lassen. Der Knall und Rainers Aufschrei ließen sich jedoch nicht vertreiben. In ihren Träumen klagte ihr Sohn sie aus dem Jenseits an, dass er wegen ihrer Hörigkeit zu ihrem gewissenlosen Ehemann nicht mehr leben durfte. Dieser Vorwurf trieb Melinda immer mehr in die Schuld, ihn nicht beschützt zu haben. Sie bildete sich ein, dass so der Wahnsinn anbräche, und wünschte sich, nichts mehr spüren, hören und empfinden zu müssen. Keine Träne verließ ihre Augen. Es war, als verweigerten auch sie ihr die Erlösung, nach der sie sich sehnte. Melinda starrte auf die Wiege und beschuldigte sich immer wieder: Ich habe versagt, weil 7
ich Raffi nicht verlieren wollte und dich, mein Sohn, nicht akzeptieren konnte, so wie du warst. Warum liebte Karolina dich ohne Wenn und Aber? Nicht einmal ein Bild besitze ich von dir. Das einzige Foto, das es von ihm gab, war weit weg, wie sein Vater, der einmal ihr Verlobter und der beste Freund ihres Ehemannes gewesen war. Willenlos hatte sie die Anordnungen befolgt, die Rafael und ihre Freundin Franziska von ihr verlangten, nur, um diesem Mann, dem sie vom ersten Blick an verfallen war, zu behalten, egal, was er von ihr forderte, egal, was beide mit ihr anstellten. Sie opferte nicht nur ihre Würde, sondern auch ihren Sohn, ein unschuldiges, hilfloses Wesen. Melinda verabscheute sich selbst. Plötzlich durchkreuzte ein Hilferuf ihre Gedanken. War es ihr eigener oder der Tommys? In solchen Augenblicken kehrte Melinda in die Wirklichkeit zurück, weil ihr bewusst wurde, dass diese regelmäßig wiederkehrenden Schreie zu den Qualen einer Frau gehörten. Tief steckte sie ihre Zeigefinger in die Oh8
ren, um das Wehgeschrei abzuwehren. Sie hockte dabei auf der Couch und starrte zu der Wiege, bis ihre Finger erlahmten und herabsanken. Waren die Schreie verklungen, wirkte die Stille wohltuend auf sie. In solchen Augenblicken gewann die Sehnsucht nach ewiger Ruhe, wie schon einmal. Damals vergnügte sich ihr Ehemann Rafael mit Franziska und anderen käuflichen Damen, während sie mit Niklas das Kind zeugen sollte, das Rafael als Bedingung für eine Ehe wünschte und selbst wegen seiner Zeugungsunfähigkeit dazu nicht fähig war. Seinerzeit nahm Niklas sie in sein Leben mit. Wer war jetzt für sie da? Etwa Frau Morgenstern mit ihren Ratschlägen? Melinda fühlte sich in einsamen Stunden dazu nicht in der Lage und geriet immer wieder in den Bann, in das Reich der Ewigkeit zu fliehen. Schwerfällig erhob sie sich und schlurfte zum Fenster. Früher hatte sie häufig nachts in schlaflosen Stunden davor gestanden, um Rafael noch einmal zu sehen. Doch sie fühlte sich wegen 9
ihres unstillbaren Verlangens nach ihm in sternenhellen Nächten vom Spiegelbild des Mondes in den dunklen Fensterscheiben verhöhnt und glaubte, dass sie nur ein Sprung in die Tiefe von ihrer Sehnsucht befreien könne. Rechtzeitig band Niklas sie mit seiner Einfühlungsgabe und Fürsorge in sein Leben ein. Doch auch er, der ihr Treue bis ans Lebensende geschworen hatte, ließ sie im Stich, als sie ihn brauchte. Melinda blickte noch einmal zu dem Fenster im Hinterhaus, hinter dem sie sich einst mit Rafael im Paradies wähnte. Sie öffnete den Eingang für ihren Sprung in die ewige Ruhe. Während sie auf dem Fensterbrett stand, wurde im Hinterhaus ein Fenster geöffnet, und flüchtig blendete sie ein Sonnenstrahl. Melinda erlag der Täuschung, dass Rafael sie aus ihrer Notlage erlösen werde. Sie klammerte sich am Fenstergriff fest und erkannte Rainer, der ihr durch Zeichen zu verstehen gab, dass er zu ihr käme. Melindas Mut für den beabsichtigten Abschied von ihrer Existenz versank im Nichts. Sie sprang auf 10
den Fußboden und verriegelte das Tor zur Ewigkeit mit einem entschlossenen Handgriff. Die Klingel holte sie vollkommen in die Realität zurück. Sie öffnete die Tür und nahm Rainers Lachen als eine Geste des Schicksals zum Leben entgegen. „Hallo, wie geht‘s? Das sah vorhin aber gefährlich aus! Ich dachte schon, du fällst jeden Moment auf den Hof. Wolltest du etwa Fenster putzen?“ Melinda sah ihn betroffen an. Ahnte er etwas? Sie trat zur Seite, um ihn eintreten zu lassen. „Wenn die Fenster geputzt werden müssen, sag mir Bescheid. Ich mach das gerne für dich“, fuhr er fort und fügte hinzu: „Wie kommst du mit Frau Morgenstern zurecht?“ „Sie ist ja ganz nett, aber ... ist doch nicht so wichtig. Hat es bei der Sparkasse mit dem Kredit geklappt?“ „Die wollen Sicherheiten. Natürlich habe ich keine, und der Vermieter gibt mir die Räume ohne Kaution nicht. Vorerst muss ich wohl 11
meinen Traum von der eigenen Werkstatt begraben. Aber irgendwann, Linda, irgendwann ist es soweit. Sag mal, brauchst du die Wohnung drüben?“ „Du kannst sie haben. In den nächsten Tagen gehen wir zur Wohnungsverwaltung und lassen meinen Mietvertrag auf dich umschreiben.“ „Und die Miete?“ „Die ist für diesen Monat bezahlt.“ „Gebe ich dir zurück, wenn …“ „Nein, Rainer. So wie es ist, ist das in Ordnung.“ „Das kann ich nicht annehmen.“ „Natürlich kannst du das. Wenn du mal reich bist, gibst du sie mir eben mit Zinsen zurück. Einverstanden?“ „Danke, aber du hast doch auch bloß Arbeitslosengeld, und die Miete ist jetzt um das Vierfache gestiegen im Vergleich zu alten Zeiten.“ „Mach‘ dir keine Sorgen! Ich komm schon klar“, zerstreute sie seine Bedenken, und zu12
sammen gingen sie in das ehemalige Kinderzimmer. Rainer setzte sich in den Stuhlsessel und Melinda auf ihre Schlafcouch. In seiner Gegenwart fühlte sie sich nicht mehr allein. Es gab doch noch jemanden, der sich um sie sorgte, obwohl er durch seine unüberlegte Flucht vor der Wende in Deutschland alles verloren hatte, was er einst liebte. Melinda bereute ihre Absicht vor wenigen Minuten, weil er vorhin in ihrer Gedankenwelt überhaupt nicht mehr existiert hatte. Mit der Frage: „Was willst du nun machen?“, vertrieb sie ihren Trübsinn. „Von irgendwoher brauche ich Geld. Arbeitslosenhilfe bekomme ich nicht, aber Sozialhilfe, bis ich Arbeit gefunden habe. Nachher will ich gleich zum Sozialamt gehen. Bist du hier, wenn ich zurückkomme?“ „Wo soll ich denn hingehen?“ „Zu deinen Eltern oder gibt es die inzwischen nicht mehr?“ „Doch schon, aber zu ihnen … nein, vorerst nicht. Ich muss erst zur Ruhe kommen.“ 13
„Verstehe. Ich bin da, wenn du Hilfe brauchst und auch so.“ Melinda sah ihn mit großen Augen an und nickte. „Du bist toll, Linda! Wenn ich dich nicht hätte …“ „Hast du denn keine Eltern, Verwandte oder Freunde?“ „Nicht mehr. Meine Eltern wollten vor Jahren meine Oma besuchen und kollidierten mit einem Geisterfahrer. Keiner überlebte. Sämtliche meiner Verwandten und Freunde sind damals über Budapest oder Prag geflohen und stachelten auch mich zur Flucht an. Eigentlich wollte ich mir mit Franzi meinen Traum von einer Familie erfüllen, aber nach der dritten Abtreibung … du weißt ja, wie sie war. Nach meiner Rückkehr aus Amerika wünschte ich mir nichts sehnlicher, als sie zu heiraten, um mit ihr eine Familie zu gründen. Doch sie hatte ihre Wohnung aufgegeben, und ihr würdeloses Leben konnte ich nicht tolerieren. Ihre Gier nach Geld hätte ich sowieso 14
nie erfüllen können. Da bist du ganz anders. Früher habe ich Raffi immer um dich beneidet und verstand überhaupt nicht, warum du dich nach eurem Zerwürfnis mit Nik eingelassen hattest und Raffi das auch noch zuließ. Erst als ich von ihm die Wahrheit erfuhr, bewunderte ich deine bedingungslose Treue zu ihm. Jetzt sind nur wir beide übrig und sollten uns Halt und Kraft für einen Neubeginn geben. Vielleicht für einen gemeinsamen Lebensweg? Was meinst du dazu?“ Rainer lächelte sie an, aber Melinda wich aus: „Gut gemeint, Rainer. Du bist mein Freund, und so soll es bleiben.“ „Kapier ich zwar nicht, denn wir verstehen uns doch super.“ „Eben darum“, erwiderte sie und empfahl ihm: „Geh zum Amt! Dort wird dir bestimmt geholfen.“ Rainer wollte sich mit einer Umarmung verabschieden, aber Melinda drehte sich von ihm weg. 15