Dionysische Faszination der Paralympics

19.09.2012 - terung von James Joyce, der den „cuspi- dor“ zum schönsten Wort der .... Graf, wie Jesse Owens, Pelé oder Muham- mad Ali vor allem aus der ...
114KB Größe 6 Downloads 328 Ansichten
Geisteswissenschaften

FRANKFU RT ER A L LG EM E I NE Z E I TU NG

M I T T WO C H , 1 9 . S E P T E M B E R 2 0 1 2 · N R . 2 1 9 · S E I T E N 3

Nachleben antiker Magie

Dionysische Faszination der Paralympics is zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts konnte man sich internationalen Sport für behinderte Körper eigentlich nur als Sport von Weltkriegsveteranen vorstellen, so wie auch Prothesen ganz selbstverständlich zum Phänomenhorizont der Kriegsfolgen gehörten. Bis dann seit den olympischen Spielen von 1960 in Rom eine sich selbst als Teil von Aufklärung und Moderne verstehende Programmatik gesellschaftlicher Inklusion in Bewegung kam. Das Sichtbarwerden des lange so genannten Behindertensports wie seine fortschreitende Synchronisierung mit den etablierten Verbänden und Ritualen war anschließend fünzig Jahre lang vor allem das Projekt eines zur Selbstfeier neigenden guten humanitären Willens. Wer die Berichterstattung der Medien zu den vor wenigen Tagen beendeten paralympischen Spielen von London verfolgt hat oder auch ganz zufällig eine Gruppe von Zuschauern am Fernsehschirm den einen oder anderen Wettbewerb begleiten sah, der konnte – davon war bald immer wieder die Rede – eine qualitative Veränderung und eine quantitative Intensivierung des Interesses feststellen. Möglicherweise ist jetzt an die Stelle des so gut gemeinten (aber auch unvermeidlich herablassenden und tautologischen) guten Willens eine ästhetische Faszination getreten, für die uns deshalb noch die Worte fehlen, weil wir nicht recht wissen, ob sie uns peinlich sein soll als eine Art von öffentlichem Voyeurismus.

B

Von Mitleids-Humanitarismus und Inklusions-Ethik zur Ästhetik der Prothesen. Warum die Londoner Spiele ungleich mehr Zuschauer begeisterten als die letzten in Peking? Zur Beantwortung dieser Frage muss man vom apollinischen Ideal des Körpers Abschied nehmen. Von Hans Ulrich Gumbrecht

Eine drastische und rauschhafte Erinnerung an die Körperlichkeit

Für eine neue Kunstlehre der positivierten Groteske Dass sich eine einschneidende Veränderung vollzogen haben muss, zeigen viele Statistiken. Die Gesamt-Zuschauerzahl der paralympischen Spiele von London lag bei 2,7 Millionen, was seit Peking 2008 eine Verdoppelung und seit Athen 2004 (800 000 Zuschauer) eine Verdreifachung bedeutet; auf den einschlägigen Websites soll die Zahl der Klicks in den vergangenen vier Jahren um sage und schreibe das Zehnfache gestiegen sein. Aber mehr noch als solche Zahlen fällt mir eine neue Tonlage des Interesses auf. Die – „für einen Behinderten erstaunlichen“ – Sprint-Rekorde des südafrikanischen Prothesenläufers Oscar Pistorious und die Entschlossenheit seines am Ende erfolgreichen Kampfs, allein aufgrund seiner Leistungen zum olympischen Wettbewerb über vierhundert Meter zugelassen zu werden, haben wir noch mit der aufgeklärten Sympathie für Benachteiligte verfolgt; als nun in London der Brasilianer Alan Oliveira in einem phänomenalen Finish über zweihundert Meter Pistorius besiegte, wurde er von seinen Landsleuten mit einer Begeisterung gefeiert, die sie ihren hinter die Weltspitze zurückgefallenen Fußballern längst nicht mehr gönnen, während Pistorius wegen skeptischer Bemerkungen über die Prothesen-Technologie des Rivalen mit einem Mal zum Anti-Helden der neuen Weltszene geworden war – worin eine geradezu triumphale Normalisierung lag. Aber was genau ist es, das uns auf einmal so in Bann schlägt am paralympischen Sport? Um absolute, scheinbar unüberbietbare Spitzenleistungen kann es nicht gehen – denn die Sieger-Zeit von Oliveira zum Beispiel lag gute zwei Sekunden über der 200-Meter-Zeit von Usain Bolt, und zahlreiche einschlägige Wettbewerbe sind noch von einer Diffusität der Teilnahmekriterien und der Leistungsniveaus gekennzeichnet. Ebensowenig helfen jene Begriffsrepertoires aus den Traditionen des apollinischen Schönen und der Anmut weiter, mit denen bisher ab und an (aber meist eigenartig lustlos) über die Ästhetik der voll funktionalen Körper geschrieben wurde. Wer intellektuell Ernst machen will in dieser sich plötzlich öff-

Fecht-Unfall verloren hatte, oder ob sie nur mit der Wirkung spielte, dass ein partiell versehrter Körper seine eigene Fleischlichkeit in besonderer Weise hervorkehren kann, werden wir nie wissen. Doch die Übertragung dieses geschichtlichen Falls auf die Diskussion über paralympische Faszinationen unserer Gegenwart scheint, bezüglich vieler Beobachtungen zumindest, plausibel: Sportler wie Alan Oliveira und Oscar Pistorius sind nicht mehr allein Embleme eines klassisch-existentialistischen Willens, der dem Schicksal trotzt – mit einem Mal scheint in ihnen vexierbildhaft auch die ganz andere Verführungskraft beschädigter Körperlichkeit auf.

Viktoria Modesta sang bei der Abschlussfeier der Londoner Paralympics im Kostüm einer Schneekönigin. nenden Dimension neuer Phänomene, der muss wohl die Tabus eines freundlichen Egalitarismus brechen und auf die (in ihrem historischen Ursprung romantische) Ästhetik des Grotesken zurückgreifen, deren Grundmotiv darin liegt, eine vertraute Gestalt (zum Beispiel den Körper eines Leichtathleten) als ganz oder

teilweise von ungewohnten Gegenständen (zum Beispiel Unterschenkelprothesen) ausgefüllt wahrzunehmen. Für die erotische Anziehungskraft solch partialer Ersetzung oder solcher Markierung fehlender Körperteile gibt es vielfache historische Beispiele. Als attraktivste Frau der austeren und wohl gerade

Foto Jon Enoch/eyevine

deshalb von der Spannung sexueller Begierde aufgeladenen spanischen Hofwelt Philipps II. galt Ana de Mendoza, die Prinzessin von Eboli, deren rechtes Auge stets von einer schwarzen Klappe bedeckt war. Ob darunter eine leere Augenhöhle lag, weil die Prinzessin – so die offizielle Version – in der Jugend ihr Auge bei einem

Wenn nach Nietzsches berühmter Unterscheidung die Aura von ikonischen Gestalten der Sportgeschichte, wie Wilma Rudolph, Nadia Comaneci oder Steffi Graf, wie Jesse Owens, Pelé oder Muhammad Ali vor allem aus der apollinischen Schönheit der Gestalten und Bewegungen hervorging, dann liegt nun, am Beginn einer anderen Diskussion die Frage nahe, ob es eine Affinität der paralympischen Körper mit dem Horizont des Dionysischen (und vielleicht auch – mehr als mit Schönheit – mit der überwältigenden Wirkung des Erhabenen) gibt. Damit erschließen sich komplexe und überraschend beziehungsreiche AssoziationsHorizonte, weil ja die dionysische Ästhetik eine zur Zerstückelung der Körper führende und schließlich in Anthropophagie mündende Ekstase einschließt. Wann immer sich solche Perspektiven ergeben, hat der von ihnen erschlossene neue Blick – etwa auf die strukturelle Zerstückelung eines Athleten-Körpers, der sich erst durch Prothesen vervollständigt – etwas potentiell Erschreckendes, eben weil dieser neue Blick nicht mehr auf der Freundlichkeits-Wellenlänge des aufklärerisch Humanitären liegt. Andererseits kann mich niemand überzeugen, dass die Stimmung im ausverkauften Stadion bei der Abschlussfeier der Londoner Paralympischen Spiele bloß eine weitere Apotheose der Ethik von Toleranz und Egalitarismus war. Veranstaltungen dieser Art versammeln bestenfalls Politiker und Pastoren zu Sekt mit Orangensaft-Toasts am Sonntagmorgen – 80 000 Anwesende in den kollektiven Körper eines nächtlichen Rauschs versetzen können sie nicht. Eine Phänomenologie und Ästhetik des paralympischen Sports müsste auch zurückführen zu einer gegenwartsdiagnostischen Reflexion über die Gründe des so überraschend einsetzenden Interesses, ja der Leidenschaft, welche uns, die Mehrheit der Nichtbehinderten erfasst hat. Man könnte spekulieren, dass die paralympischen Körper sehr drastisch erlebbar machen, was sich zum ersten Mal abzeichnete, als vor etwa zwei Jahrzehnten Teenager auch dann unbedingt Zahnspangen wollten, wenn die aus GesundheitsGründen gar nicht nötig waren, und was nun im Zeitalter von Apps und iPhone, wo jedermann die ganze Welt elektronisch in der Hand hält, zum Kern des Alltags geworden ist: nämlich die irreversibel gewordene Verfugung unserer Körper mit der jeweils fortgeschrittensten Technik. Und in dem Maß, wie diese Technik, die die Funktionen unserer Körper zunehmend auf den Status bloßer Halterungen (für Apps und iPhones) reduziert, genießen wir es wohl auch immer mehr, daran erinnert zu werden, dass Fleisch, Knochen, Knorpel und Schwellkörper bis auf weiteres Teile unserer Existenz bleiben werden. Je drastischer diese Erinnerung ausfällt, desto lieber haben wir sie.

Vom Anschauen ist noch niemand gesund geworden Schreckliche Aura: Eine Berliner Tagung zur Geschichte medizinischer Objekte Der Ort hätte kaum besser gewählt sein können. In der Hörsaalruine des Berliner Medizinhistorischen Museums versammelten sich Medizinhistoriker aus achtzehn Ländern, um die Frage zu besprechen, was medizinische Objekte „erzählen“, wie sie zum Sprechen zu bringen sind. Ihren Ausgang nahmen Pathologie und Anatomie einst, weil die Feldscher die Verwundeten auf den Schlachtfeldern besser zusammenflicken sollten. Dafür brauchten sie anatomische Kenntnisse. Später nährten anatomische Demonstrationen den Schrecken und die Neugier des Publikums. Und das Museum bewegt sich seit jeher zwischen beidem: Erkenntnis und Zeitvertreib. Robert Jütte (Stuttgart) illustrierte den einleitenden Vortrag mit dem „Blauen Heinrich“ seines an Tuberkulose gestorbenen Großvaters, einem verschließbaren dekorativen Spucknapf für den Auswurf des Kranken. Jütte erinnert an die Begeisterung von James Joyce, der den „cuspidor“ zum schönsten Wort der englischen Sprache erklärte, und bezieht sich auf Stephen Greenblatts Unterscheidung zwischen Resonanz und Staunen: Museumsexponate seien stumm. Sie als soziale Objekte zu zeigen führe zu Fragen nach ihren kulturellen Kontexten. Jütte plädiert für das Erschließen der Kontexte, ohne das Staunen auszuschließen. Thomas Söderqvist (Kopenhagen) warnt davor, die Provokation des Objekts

rhetorisch wegzureden. Der Stummheit der Objekte sei standzuhalten. Sie hätten keine Geschichten, auch keine Biographien. Der letzte Schrei der Kulturwissenschaften, die Dinge „zu Wort kommen zu lassen“ oder ihnen den Status von „Agenten“ zuzuschreiben, verwirre nur. Das me-

Christus anatomicus

auf allen Hochzeiten zu tanzen. Das Erzählen sei zu einer unerträglichen Mode geworden. Rhetorik überwuchere das Material. Es gebe keine verborgene Erzählung, wohl aber vorenthaltene Argumente. Deshalb plädiert er für eine Rückkehr zu den Din-

Foto Michael Kowalski/Deutsches Medizinhistorisches Museum Ingolstadt

taphorische Sprechen der Dinge versteht Söderqvist als paradoxe Intervention: den Dingen ihr Dingsein zuzugestehen, ohne auf rhetorische Performanz zu verzichten, betrachtet er als einen Taschenspielertrick mit dem Ziel, wissenschaftlich

gen. Erst so gelangten wir zur Einsicht, welch gnadenlose Macht die Dinge durch das Fehlen einer eigenen Agenda über unsere Körper und unseren Verstand gewönnen. Sie hörten nicht auf, uns zu beeinflussen. Besucher eines Medizinhistori-

schen Museums fallen manchmal in Ohnmacht beim Anblick einer Amputationssäge aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, nicht weil sie mit dem Sägeblatt sprechen, sondern sich seinen Gebrauch vorstellen. Ihr Schrecken ist vorsprachlich. Die Säge hat keine Stimme. Die Vorstellungskraft sei stärker als jeder Erzählversuch. Das gelte genauso für die moderne Medizin mit ihren molekularen und zellulären Objekten. Lautlos verrichten sie ihre Arbeit als Antikörper in unseren Körpern. Thomas Schnallke (Berlin) meldet leisen Zweifel am Willen zum Wissen an. Wie viele Kollegen aus aller Welt wollen tatsächlich an den Objekten der medizinhistorischen Sammlungen arbeiten? Ist nicht genau das ungeheuer aufwendig? Und zerstört nicht die wissenschaftsgeschichtliche Arbeit die unheimliche Aura der Exponate? Dem Auftakt folgen Erzählungen: die Geschichte eines Schädels (Sophie Seemann, Berlin), das Rätsel eines Zystoskops mit einem Kopf aus Platin (Christa Habrich, Ingolstadt), die historischen Umwege einer neuen Behandlungsmethode von Oberschenkelhalsbrüchen am Beispiel eines Nagels (Lisa Mouwitz, Göteborg) und die Industriegeschichte eines Exzellenz-Clusters aus dem 19. Jahrhundert in Tuttlingen (Jim Edmonson, Cleveland). Marion Maria Ruisinger (Ingolstadt) berichtet von ihrer Spurensuche nach der Herkunft eines Christus anato-

micus, einer etwa dreißig Zentimeter langen Wachsskulptur. Eine Klappe legt die inneren Organe frei. Sie verortet die Skulptur in der Tradition von „Andachtssärglein“ und erzählt von den Reaktionen katholischer Museumsbesucher: „Darf man das?“ Das mochte man sich auch angesichts der Sammlung fragen, von der Sara Doll (Heidelberg) berichtete: Modelle zur Embryonalentwicklung. Die Forscher hätten Embryos in Paraffin konserviert und sie dann in dünne Scheiben geschnitten. Oder angesichts der Wachs-Moulage einer experimentell herbeigeführten Fußmykose, die Michael Geiges (Zürich) als Beispiel dafür heranzog, dass medizinhistorische Museen selbst ein Gegenstand der Medizingeschichte und zwar einer ziemlich ambivalenten sind. Benoît Majerus (Luxemburg) untersuchte mit ähnlicher Wirkung Ding-Biographien am Beispiel von Badewannen, Betten und WCTüren in Nervenkliniken. Tim Huisman (Leiden) schließlich berichtet über den Anatomie-Atlas des niederländischen Chirurgen Govard Bidloo von 1685, bei dem er mit dem Künstler Gerard de Lairesse zusammenarbeitete. Bidloo wollte der Wirklichkeit zum Sieg über die Schönheit verhelfen. Das war zu jener Zeit ein Schritt zum Erkenntnisgewinn. In Museen kann dieser jedoch leicht umkippen in Schaulust am Schrecklichen, Ekelhaften – und was ist dann mit HANS HÜTT Aufklärung?

Bezirzend „Es gibt keine Völker, seien sie auch noch so primitiv, ohne Religion und Magie“, stellte der Ethnologe Bronisław Malinowski einmal fest. Dass es seit jeher zu den Sehnsüchten des Menschen gehört, mit Zauberei oder Metaphysik den blinden Gang der Zeitläufte fassbar zu machen oder gar zu kontrollieren, ist jedoch nicht erst seitdem bekannt. So finden sich schon in der Antike Beispiele dafür, wie stark Magie und Übersinnliches das Leben prägten. Der Mythos, der sich etwa um die beiden Zaubergestalten Kirke und ihre Nichte Medea aus Kolchis rankt, wurde im Laufe der Literaturgeschichte sowie auf Bühnen und Leinwänden immer wieder neu interpretiert. Wie sieht es indessen mit anderen Beispielen aus der antiken Zauberwelt aus? Welche Bücher, Theaterstücke oder Filme zum Thema Magie und Übersinnliches lassen sich noch auf antike Vorbilder zurückführen? Diesen Fragen gingen nun Altertumswissenschaftler im Rahmen der Tagung „Magic and the Supernatural from the Ancient World“ in Mainz nach. Unter der Leitung von Filippo Carlà (Mainz) und Irene Berti (Heidelberg) wurden viele Werke aus den bildenden und performativen Künsten auf ihren Bezug zur Antike hin befragt. Auf die Spurensuche nach zwei „etwas schrägen Zaubergestalten“ aus dem berüchtigten Thessalien machte sich die Altphilologin Christine Walde (Mainz), indem sie die Rezeption der Hexen Erichtho und Canidia untersuchte. Obwohl beiden Figuren durch ihre Schöpfer, den Epike,Lucan und den Dichter Horaz, ein groteskes Potential beigemischt wurde, finden sich bis heute kaum Beispiele für eine kreative Umsetzung dieses Sujets. Zumindest in der Comicwelt lässt sich jedoch eine kongeniale Adaption ausmachen: in der Comicserie „The Sandman“ von Neil Gaiman, wo eine Heldin namens Thessaly in ihrer Gestalt sehr an die von Lucan beschriebenen Eigenschaften der Erichtho erinnert. Bei der Zauberin Kirke sieht es anders aus: So hat sich seit ihrem Erstentwurf durch Homer, der ihr noch menschliche Züge zuwies, vor allem das Bild durchgesetzt, das Ovid in seinen „Metamorphosen“ von ihr zeichnete und das spätestens durch die Rezeption von Augustinus und Boethius als Prototyp der femme fatale auftritt. Als Beispiel für eine Bühnenadaption griff Pepa Castillo (Logroño) Calderóns 1635 verfasstes Stück „Mayor encanto amor“ (Über allem Zauber Liebe) heraus. Ovids Psychogramm entsprechend, wird Kirke hier als rachsüchtige und grausame Frau dargestellt, deren negatives Beispiel den damaligen König Philipp IV., dessen Hofdramatiker Calderón war, weg von der unehelichen Liebe und hin zu den vier Kardinaltugenden führen sollte. Ein Schlaglicht auf die zweite femme fatale der antiken Zauberwelt warfen Adeline Grand-Clément (Toulouse) und Charlotte Ribeyrol (Paris), indem sie der Bedeutung der Farbgebung in den französischen und englischen Medea-Gemälden des neunzehnten Jahrhunderts nachgingen. Während etwa in Werken von Delacroix, Turner oder Sandys die Zauberin als Archetyp der bösen Hexe dargestellt wird, in der auch farblich Echos der schwarzen Magie aufscheinen, erfährt sie mit Aufkommen der Frauenbewegungen in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts eine Rehabilitierung, indem sie als Symbol der weißen Magie auftritt. Auch Götter und Helden der Antike wurden in ihrer Rezeptionsgeschichte untersucht. In die Welt des japanischen Anime führten Maria G. Costello und Carla Scilabra (Turin), die anhand von Beispielen wie Takashi Yanases „Metamorphoses“ (1979) oder der japanisch-französischen Produktion „Ulysses 31“ (1981) gelungene Beispiele einer Anverwandlung klassischer Mythologie vorstellten. In die bezaubernde Welt von Hogwarts führte Dagmar Hofmann (Köln). Anhand mythischer Tierwesen wie Werwolf und Phönix aus der Harry-Potter-Heptalogie zeigte die Althistorikerin, inwiefern sich die antike Mythologie in die Welt von Hogwarts eingemuggelt hat. Neben den fiktiven Zaubergestalten kam auch die reale magische Praxis der Antike zu Wort. Der Altphilologe Jürgen Blänsdorf (Mainz) zeigte anhand der von ihm in mühevoller Arbeit entzifferten Fluchtäfelchen („defixionum tabellae“) aus Rom, wie grausam unter den magischen Praktiken insbesondere der Schadenszauber war, mit dem das Schicksal anderer Menschen auf infernalische Weise gelenkt werden sollte. Durch den Perspektivenwechsel und den interdisziplinären Ansatz gelang es der Tagung, ein ganzes Panorama über das immer noch nicht ausreichend erforschte Gebiet der antiken Magie im Spiegel der heutigen Künste zu bieten. Freilich gilt auch hier, „dass es mehr Dinge im Himmel und auf Erden gibt“, als die Wissenschaft sich träumen lässt. SINEM DERYA KILIÇ