Der Verlust - PDFDOKUMENT.COM

Zwar ist Navassa US-Besitz, pro forma, aber ohne jegliche Behörde. Der Leuchtturmwärter kommt aus Puerto Rico, von da wird die Insel auch verwaltet.
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Wolfgang Schreyer

Der Verlust oder Die Abenteuer des Uwe Reuss

MV Taschenbuch

© Wolfgang Schreyer, Rostock 2001 Titelbild: Peter Przybill Texterfassung/Vertrieb: BS-Verlag-Rostock Angelika Bruhn Buch epub PC.pdf

ISBN 978-3-935171-66-3 ISBN 978-3-86785-898-4 ISBN 978-3-86785-899-1

Inhalt Navassa Island Grand Turk SEA GHOST Gibraltar Fallout

Für Paul Markus Daniel Wir liegen alle in der Gosse, aber einige von uns blicken nach den Sternen. Oscar Wilde

Navassa Island Verdecktes Feuer brennt mit größerer Kraft William Shakespeare

1 ––––––––– Uwe Reuss spürte den Morgenwind im Gesicht. Frischer Vorgeschmack, nochmal in Panamá, nach all der Zeit, welch ein Wiedersehen! Die City mit ihrer Geschäftigkeit, den Schuhputzern, Losverkäufern und Denkmälern, dem quirlenden Verkehr um die Hoteltürme, die Firmen- und Bankfilialen oberhalb der mürben Mauern von Altstadt und Hafen (ein flacher historischer Pfuhl, bloß noch für Fischer gut). Es roch ganz wie damals; die Prise aus Seeluft und Auspuff, Kaffeerösterei und Parfüm – wenn man Damen nahekam –, all das rief in Reuss einen Strom von Gedanken und Bildern wach: Gespeichertes, vergessen Geglaubtes, die Erinnerung an die Tage im Juni 1979, als Ginas Vater, Professor Dahlmann, sein Freund gewesen war und es weidlich ausgenutzt hatte … Erfahrung macht reich, man ist gewappnet. Im Hinblick auf Sergio Figueras scheint das auch nötig. Der war jetzt neben ihm wie einstmals Dahlmann, aber wortkarg, schwer durchschaubar, offenkundig etwas planend. Sergio, den es nie wirklich erwischt. Der Macho, von Gina blind geliebt, damals und inzwischen wieder. Längst Vergangenes umwehte Reuss und stimmte ihn weich, sehnsüchtig, auf angenehme Art melancholisch. Ach, die Zeit auf den Bahamas, als man sich noch nicht wehren mußte! Inseln der Sinnenlust in kaum lädierter Ursprünglichkeit. Der Wellenschlag, das Knistern der Palmen, das Boot – ihre „Fantasy“, und die Zärtlichkeiten atemloser Liebe, womöglich – von ihm noch mehr geschätzt – schon nachmittags. Nichts in seiner Erinnerung kam den Tagen auf Rum Cay gleich. Die Sonnenaufgänge, der schimmernde Ozean, das Fehlen beinah jeder Obrigkeit! Weißer Sand unter grünen Wedeln, biblisches Land der Verheißung; und dann das, wonach er sich ein Leben lang gesehnt hatte, jäh versunken. Sein Traum, wer gab ihm den zurück? 7

Sergio doch nicht, mit dem fing ja die Austreibung an. Bleib entspannt, redete er sich zu, schließlich hast du durch ihn Linda Prout gefunden, dein neues Glück … Sie wartet auf dich im Hotel. Und keineswegs erwartet sie, daß du ihr ein Paradies zu Füßen legst. Sie will nur wissen, wie es mit uns weitergeht. Über Nacht hatte es geregnet, die Luft war ziemlich klar. Bald würde sie in Staub und Hitze flirren, noch aber fühlte er sich von ihr erfrischt. Ihm wurde bewußt, daß es diese Stadt doppelt gab: in seinem Gedächtnis und in Wirklichkeit. Beides schien deckungsgleich, rührte daher seine Stimmung? Die Gewißheit, es müsse das gut werden, was er hier unternahm? Kann sein; war es doch bequem und erfreulich, einen Ort so wiederzufinden, wie man ihn verlassen hatte. Andererseits zeigte es einem, das Leben ging weiter, als hätte man den Ort nie betreten. Man ging weg und alles blieb beim alten, kein Mensch hinterließ eine Spur; bis auf die starken Männer, die Machthaber. Dem Land den Stempel ihrer Persönlichkeit aufdrücken, falls sie eine hatten, und so ihren Tod überleben – sollte es das sein, was diese Burschen trieb? Keiner stieg freiwillig vom Thron. Vor der Glasfront der Banco Alemán Panameño stupste Figueras ihn an; der Gedankenfaden riß. Vor Sergio betrat Reuss den klimatisierten Schalterraum, er gab einem Clerk den Scheck der Chase Manhattan Bank, ihrer Filiale in David, gleich hinter der Grenze von Costarica. „Sie haben 100.400 Dollar bei uns gut“, sagte der Mann. „Möchten Sie ein Konto eröffnen, Sir, oder es sonstwie verwenden?“ „Ja, sonstwie.“ „Gut, wir könnten es in Wertpapieren anlegen, für Sie arbeiten lassen. Zum Beispiel Kanalaktien – kein Risiko, Rendite etwa acht Prozent …“ „Lieber Cash, wenn’s Ihnen nichts ausmacht. Kanäle sind mir zu finster.“ Reuss sprach gedämpft, sehr selbstsicher. Immer, wenn er etwas tat, das ihm kaum vertraut und nicht ganz geheuer war, suchte er instinktiv den Eindruck von Gleichmut zu erwecken. Der Clerk wich hinter ein Drahtgeflecht zurück, er verzog den Mund, als belustige ihn der Gedanke, die Auszahlung einer so lächerlichen Summe könne sein Haus überfordern. Er gab die 8

Gutschrift dem Kassierer, der grüngraue Geldbündel in seine Zählmaschine schob. „Das ist leider alles, Sergio“, sagte Reuss. „Mehr ist von euren 89 Prozent nicht übriggeblieben. Dein Anwalt in San José, dieser Bandit, unter einer halben Million wollte der keinen Finger rühren.“ „Du weinst doch dem Geld nicht etwa nach?“ „Nicht mal verteidigen mußte dich der Kerl.“ „Er hat etwas besseres getan – die richtigen Leute geschmiert. Ich war nicht scharf auf den Prozeß.“ „Irgendwo tut’s doch weh, wie einem das zerrinnt. Da ziehst du unter Blut, Schweiß und Tränen drei Millionen an Land, und dann nehmen sie dich aus wie eine Weihnachtsgans. Auch die Yankees in David haben abgesahnt, dort fing das schon an. Mindestens 800.000 ist das Platin wert gewesen, fünf Prozent zogen sie gleich ab.“ „Dein Anteil ist hoffentlich unversehrt?“ „Davon ist schon noch was übrig.“ „Das Fünffache deiner Investition, damit bist du doch gut bedient. Und ein paar Große gibt’s für dich noch dazu.“ „Wieso das, Sergio?“ „Unser Präsident ist tot. Ja, den armen Burns mußte ich von der Liste streichen. Der Jamaica-Clan hat ihn erledigt, keine Ahnung, warum. Wir teilen seine drei Prozent jetzt auf; durch drei teilt sich das leicht.“ Während Reuss an Burns dachte – kein sympathischer Mensch, die feuchten Hände, der umherhuschende Blick –, blätterte man an der Kasse das Geld vor ihn hin. Er quittierte und schob es dem Partner zu. Der zählte 7.600 Dollar ab und gab ihm die zurück. „Was ist mit den Hinterbliebenen?“ fragte Reuss. „Für uns hat Burns keine gehabt. Nicht im Sinne der Satzung. Laut Ziffer neun fällt beim Tod eines Gesellschafters sein Anteil den Überlebenden zu … Steck es weg, es gehört dir.“ Unter solchen Reden traten sie hinaus auf die Avenida Arosomena. Burns, der glatzköpfige Advokat! Es war Reuss, als höre er ihn sagen: Sie können Ihre Satzung jederzeit durch Mehrheitsbeschluß ändern, ohne Behinderung von amtswegen. Sie unterliegen keiner Kontrolle auf Grand Cayman. Nur Vorstand und Aufsichtsrat, also wir vier, sollten uns einmal im Jahr zusammensetzen. Das ist 9

alles, die Geschäftsgrundlage … Und Reuss erinnerte sich auch des Nachtrags im Gesellschaftsvertrag der Offshore Treasure Salvage Company, des makabren Punktes neun. Den hatte Sergio ihm vor acht Wochen in Puntarenas erläutert, als das Wagnis noch vor ihnen lag und sie im Motel Orlando darüber stritten, ob Linda mitfahren dürfe oder nicht. Den Wagen hatte Figueras um die Ecke geparkt, neben der Bank of London and Montreal. Dort zahlte er, immer auf der Hut, das meiste Geld wieder ein. „Das beste an dem Haus ist die Kabelanschrift“, bemerkte er. „Lonmont, das merkt sich. Immer fächern! Nie alle Eier in einen Korb.“ Dies hatte man von ihm schon gehört. Sergio spielt den Geschäftsmann, er gibt vor, das zu sein, was er gar nicht ist: seriös, für Linda akzeptabel … Während der sechs Wochen, die er in Costarica eingesessen hatte, war seine Schatztaucherfirma versunken. Unfähig, Löhne und Rechnungen zu bezahlen, ging die Cayman Marine Recoveries unter in der Pleite. Die Gläubiger hielten sich schadlos an der Villa bei Mount Pleasant, Sergio begann mit Gina fast bei Null – doch einen Spieler stört das nicht. Sie fuhren los. Um die elegante Via España drängten sich Dutzende von ausländischen Geldinstituten und ein paar hundert Briefkastenfirmen. Steueroase Panamá. „Was nun?“ fragte Reuss. „Löst du die Offshore Treasure gleichfalls auf?“ „Nicht, bevor der Rest verteilt ist.“ „Auf Cocos kann keiner zurück, Costarica hat ein Schiff hingeschickt.“ „Hast du das Gold vergessen, in der Bahia Piedra Blanca?“ „Laß Gras darüber wachsen. Wer anders findet es nicht.“ „Noch ist das eine Dreiviertelmillion, Uwe, aber der Goldpreis sinkt.“ „Ich bin heilfroh, rauszusein aus dem verdammten Land.“ „Dann hole ich’s eben allein. Ein Zentner Gold, das ist kein Problem.“ Weshalb eigentlich nicht? Er, Reuss, hatte das Platin über die Grenze gebracht, sollte der Partner das Gold doch holen. Vor den zwei Hotels, wo ihre Frauen warteten (Linda im Panamá Hilton, Gina im El Continental), bog Sergio plötzlich ab. „Ich will 10

dir etwas zeigen.“ Er fädelte sich in den Verkehr der Avenida de los Mártires und begann, von einer Insel zu reden, die es wert sei, besucht zu werden. Angeblich stieg sie grünweiß aus dem Meer, gut 600 Seemeilen nördlich von Panamá, in der Windward Passage zwischen Jamaica und Haiti, dem sie einstmals auch gehört habe. Ein Klotz aus porösem Kalkstein, durchsetzt von einem Labyrinth endloser Höhlen, bedeckt mit Zwergpalmen und Bambus; bis auf die Seevögel und das Personal des Leuchtturms unbewohnt, seit langem. „Dort wäre dein Geld bestens angelegt, Uwe. Erstklassiger Standort! Bis 76 Meter über dem Meer, keine Quadratmeile groß … Das wäre dein Königreich.“ Sergio, der Pläneschmied. Reuss fühlte sich versucht, nach dem Quadratmeterpreis und den Erschließungskosten zu fragen. Am Vorabend, auf der Terrasse des Hilton, hatte er von seinem Wunsch erzählt, ein kleines Feriendorf zu gründen, zum Urlaub á la Robinson, vielleicht mit einer Surf- und Segelschule, um abseits der Tourismusströme sein Auskommen zu finden, im Einklang mit sich und der Natur. Nur die Bahamas mußte er meiden, seit die Mafia in der Person des Polizeioffiziers Hindmarsh ihn dort verjagt und enteignet hatte. „Und da liegt noch ein ungehobener Schatz? Vermutlich hast du wieder eine Karte?“ „Nein. Bloß Guano liegt da herum, Vogelmist. Den hat man früher abgebaut.“ Figueras rauchte eine seiner dünnen schwärzlichen Zigarren an. „Der wahre Reichtum ist die Natur. Müssen es immer Schätze sein? Ein stiller Fleck, ganz wie von dir erträumt. Einsam in der Karibik und trotzdem nicht aus der Welt.“ Er sprach wie ein Grundstücksmakler, der einen Alterssitz empfiehlt. „Und wie heißt das Paradies?“ „Navassa Island.“ „Weshalb wohnt da so gut wie keiner?“ „Weil künstlicher Dünger inzwischen billiger ist.“ „Sergio, wo ist der Haken?“ „Nirgends. Zwar ist Navassa US-Besitz, pro forma, aber ohne jegliche Behörde. Der Leuchtturmwärter kommt aus Puerto Rico, von da wird die Insel auch verwaltet. Die Yankees sind völlig desinteressiert.“ 11

„Trotzdem! Das kann ich nicht riskieren.“ „Und ob du’s kannst. Das Amt in San Juan wird jauchzen, wenn endlich einer kommt, der für den Felsen etwas tut.“ „Lieber nicht. Die haben mich im Computer. Deren Drogenfahndung glaubt doch, ich hätte was mit dem Tod von Alec Bentley zu tun, den sie nach Rum Cay geschickt hatten.“ „Nun halt erst mal die Luft an und hör mir ein bißchen zu. Es ist ganz einfach. Wir pachten den Südwestteil, ohne daß du nach außen in Erscheinung trittst.“ „Willst du das etwa machen?“ „Ich denke, Linda wird es für dich tun. Laß alles auf ihren guten britischen Namen gehen; wen sie dann beschäftigt, kümmert keinen Schwanz. Nimm sie als Firmenschild.“ „Den Südwestteil pachten, weshalb?“ „Na, irgendwo müßt ihr ja bauen. Der Südwesten hat Sandstrand und liegt in Lee. Die kleine Bucht heißt Lulu Bay, der einzige Ort, wo man von See herankommt. Von dort aus wird auch der Leuchtturm versorgt, per Dampfkran oben auf dem Hang.“ „Du kennst dich aus, wie?“ „Kunststück, jeder Seemann kennt das Inselchen in der Passage. Der Weg von der US-Ostküste nach Panamá führt direkt daran vorbei. Das Ding sieht mit all den Löchern von weitem aus wie ein versteinerter Schwamm. Nachts hast du den im Radar, das Echo kommt auf 20 Meilen, noch ehe am Horizont der Leuchtturm blitzt.“ „Und worum geht’s dir dabei?“ „Darum, daß du glücklich wirst. Ich hab dich von Rum Cay weggelockt, dein Boot verbrannt, immerhin, dein Mädchen läuft weg, zu mir; da scheine ich dir noch was zu schulden. Zumindest einen guten Rat.“ „Sehr nobel gedacht.“ Ein Freundschaftsdienst. Aber stimmte das denn, war es glaubhaft bei einem wie ihm? Sergio im Heiligenschein der Nächstenliebe und Freundestreue – nicht sehr plausibel. Selbstlosigkeit paßte zu ihm wie die Pille zum Papst. „Na schön, ich denke dabei auch an mich“, sagte Figueras, als spüre er die Zweifel. „An ein Plätzchen zum Untertauchen, not12

falls, bei Bedarf, wenn’s mal ganz dick kommen sollte. Der kluge Mann baut vor.“ Das also war es. Fluchtburg Navassa. Das karibische Asyl. Halbvergessenes fiel Reuss ein, Bemerkungen Sergios zum Wert solcher Inseln. Ihre Verwendbarkeit als Zuflucht und Versteck. Das hatte ja Tradition, schon die Piraten hatten gewußt … In seinem Kopf spulte ein Faden ab, mit huschenden Bildern, verwischten Sätzen. Das Wunder der Erinnerung! Das Hirn verknüpft Dinge, es zieht ans Licht, was es gespeichert hat – ob gestern erst oder vor langer Zeit. Jetzt durchfuhr man Quarry Heights, einen Vorort, der schon Kanalzone war. Ein Schwall heißer Luft drang ein, als Reuss die Scheibe wegdrehte. Es roch nach Hafen und verbranntem Kaffee; den rösten sie hier zu stark … Was führt Sergio im Schilde? Nun passierte man den Kanal auf der Puente de las Américas. Am Südufer schwang sich die Straße zu dem Ort Farfán empor. Schilder wiesen nach Fort Knobbe, dem Fliegerhorst Howard und einer Marinebasis. In diesem Moment erkannte Reuss den Weg. Bald vier Jahre war das her! Damals war er Sergio im Taxi gefolgt, bis zum Pier 4 am Zaun des Marinehafens. Dort hatte die „Port of Spain“ gelegen, auf der er dann Gina fand. Der rostige Frachter, vor seinen Augen war er beladen worden: Kisten voller Waffen. Navassa als Drehscheibe, als Waffendepot? Ein Arsenal im Meer, das paßte besser zu Sergio als ein Asyl; über Fluchtwege zerbrach der sich nie vorher den Kopf, immer erst, wenn es soweit war. Am Pier 4 lag jetzt ein schnittiger Viermaster, eine Hochseejacht, hinreißend gebaut. Reuss schätzte das Schiff auf 3.000 Tonnen. Weiß glänzte es im Sonnenlicht, und der Hauptmast ragte ungefähr 50 Meter vom Deck an himmelwärts; bei Sturm eine Herausforderung an den schlanken Rumpf … „Hat die Jacht etwas mit Navassa zu tun?“ „Nein. Höchstens indirekt.“ „Worin liegt die Verbindung?“ „Im Geistigen. Ich schätze die Jacht so wie du stille Inseln.“ Figueras hielt vor der Schiffstreppe und stieg aus „Ein Ding für Milliardäre“, sagte er über die Schulter. „Laß uns entern, das muß man gesehen haben.“ 13

Das Schiff hieß Sea Ghost. „Du darfst an Bord?“ „Na sicher. Und jeder in meiner Begleitung.“ „Wieso bist du dort willkommen?“ „Man ist gern gesehen, wo man keine Fragen stellt.“ Reuss fühlte sich gehemmt, dem Mann zu folgen, der da ein Loblied auf die Sea Ghost sang. Präsident Roosevelt sei einst an Bord gewesen, auch einem karibischen Diktator habe sie gehört, und so weiter. „Einer der sechs größten Segler, die es überhaupt noch gibt; der einzige mit dem Pomp der Vorkriegszeit …“ Etwas Unerklärliches hielt Reuss zurück, er kam nicht dagegen an. Dieses Schiff oder ein anderes – er würde am Pier 4 keinen Fuß mehr auf ein Fallreep setzen.

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––––––––– „Sergio konnte es kaum fassen, daß ich sein Schiff nicht sehen wollte“, sagte Reuss zu Linda Prout. „Und, weshalb hast du verzichtet?“ „Ehrlich, ich weiß es nicht. Vermutlich wäre ich vor Neid erstickt. Schon der Rumpf läßt das Tempo ahnen, die Angriffslust, mit seinen Linien, die zum Bugspriet ansteigen. Wie der Kopf eines Schwertfischs, weißt du?“ „Das klingt aber recht schwärmerisch.“ „Nein, mir lag nichts daran“, fuhr Reuss über einer Karte der Windward Passage fort, die er mitgebracht hatte. „Wozu Wasserhähne aus purem Gold bestaunen, versenkbare Wände und Betten, die sich auf Knopfdruck soweit unter dir heben, daß du nicht aufstehen mußt, um das Meer zu sehen. Barbarisch! Sündhafter Überfluß …“ Er tippte auf das winzige Oval bei Haiti. „Dort bauen wir dazu den Gegenpol, unser Robinson-Dorf.“ Das Kontrastmilieu. Das muß ihr doch eingehen? Er entwickelte den Plan und skizzierte die Finanzierung. Nach einer Welle fragte sie: „All das ist deine Idee?“ „O ja; aufgrund bestimmter Informationen.“ „Ich ahne, von welcher Seite.“ „Gut, von ihm, aber es ist okay.“ Reuss sah die Falte auf ihrer Stirn. „Er selbst ist kaum daran interessiert. Er hat für uns nachge14

dacht, dankbar, daß wir ihn herausgeholt haben. Es liegt kein Schatz dort, bloß Vogelmist. Linda, was hast du gegen Vogelmist?“ „Das habt ihr einfach so beschlossen, ohne mich. Aber auf meinen Namen soll es gehen.“ „Für die Yankees bist du ein unbeschriebenes Blatt.“ „Na fein. Du versteckst dich hinter mir, und er versteckt sich hinter uns. Aber zu welchem Zweck?“ „Ihm geht es um ein Refugium, falls er mal schnell verduften muß.“ „Ich hab’s ja geahnt! Dieser Mann zieht dich ständig in etwas hinein. Er ist und bleibt ein Filou.“ „Nicht uns gegenüber, da war er immer fair. Hätte er mir sonst heute früh die Summe ausgezahlt?“ „Wer weiß, warum er das tat. Leute wie er leben nur für sich. Diese Jacht wird auch einem gehören, der durch dunkle Geschäfte reich geworden ist.“ „Wie kommst du darauf?“ „Wenn er an Bord darf, muß es ein Komplize von ihm sein.“ „Linda, wir sind auch seine Freunde.“ „Du vielleicht, ich nicht.“ Das ging zu weit, irgendwie mußte er sie bremsen. Trotz ihres zarten Wesens, in dem Punkt trat sie ihm störrisch entgegen. Er durfte nicht zulassen, daß sie sich zwischen ihn und Sergio schob. – „Wenn du der Ansicht bist, hinter jedem großen Vermögen steht ein Verbrechen irgendwelcher Art, okay, in diesem Sinne hast du natürlich recht.“ „Weich mir nicht aus“, bat sie. „Sei nicht so glatt und philosophisch. Ich bin überzeugt, er hat mit dieser Insel etwas vor. Und wir geben mit dem Feriendorf die Tarnung für ihn ab.“ „Was soll er denn dort vorhaben?“ „Das eben möchte ich gern wissen, bevor ich mich darauf einlasse, Uwe.“ „Gut, gehen wir also hinüber, und du fühlst ihm auf den Zahn …“ * Draußen war es schrecklich heiß. Auf dem Weg zum El Continental schätzte Reuss die Chance ab, von Sergio mehr zu erfahren, als 15