Der U-Boot Mythos in Deutschland

Hadley, Michael: Der Mythos der deutschen U-Bootwaffe, Hamburg 2001. 10 .... der Unbewußtheit und Implizitheit verankert, der ‚tacit dimension' (Polanyi).
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Nico Sutter

Der U-Boot Mythos in Deutschland Ursachen, Gründe und Folgen

disserta Verlag

Sutter, Nico: Der U-Boot Mythos in Deutschland: Ursachen, Gründe und Folgen, Hamburg, disserta Verlag, 2013 Buch-ISBN: 978-3-95425-142-1 PDF-eBook-ISBN: 978-3-95425-143-8 Druck/Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2013 Covermotiv: © laurine45 – Fotolia.com

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Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ..................................................................................................... 9 2 Mythen ........................................................................................................ 15 2.1 Der ‚klassische’ Mythos ......................................................................... 15 2.2 Der ‚moderne’ Mythos ........................................................................... 18 2.3 Heldenmythen – Opfermythen .............................................................. 26 2.4 Folgen von Mythologisierung: Erinnerung und Geschichtsschreibung .. 32 3 Das U-Boot in Deutschland ...................................................................... 37 3.1 Von der Utopie zur Wirklichkeit: Das Tauchboot ................................... 37 3.2 Ein Produkt der Moderne ...................................................................... 43 3.3 Die „Waffe des Schwachen“ .................................................................. 46 4 Die Entstehung des Mythos - Historische ‚Entwicklung ....................... 51 4.1 Flottenpolitik im Deutschen Kaiserreich, Marinepropaganda und gesellschaftliche Ausgangslage 1914 ................................................... 51 4.2 Erster Weltkrieg: Aus der Not geboren .................................................. 59 4.3 U-Boote zwischen den Weltkriegen: Verbot und Apologetik ................. 73 4.4 Zweiter Weltkrieg: der Tradition verpflichtet .......................................... 85 5 Erklärungsversuch für die ‚Faszination U-Boot’ .................................... 95 5.1 Materie .................................................................................................. 95 5.2 Psychologische Momente ................................................................... 103 5.2.1

Allgemeine Faktoren ................................................................... 103

5.2.2

Sexuelle Aufladung der Thematik ............................................... 105

5.3 Metaphorik und Propaganda ............................................................... 107 6 Das U-Boot Bild in der DDR.................................................................... 111 7 Wirkt der Mythos heute weiter? ............................................................. 117 8 Abbildungen ............................................................................................ 133 9 Literaturverzeichnis u. Medien ............................................................... 145

1 Einleitung Im Jahre 1972 wurde das letzte Deutschland verbliebene U-Boot vom Typ VII C als ‚Erinnerungsstätte U 995’ vor dem Marine-Ehrenmal in Laboe bei Kiel für die interessierte Öffentlichkeit zur Besichtigung freigegeben. Innerhalb der ersten fünf Tage zwängten sich 10 000 Besucher durch das enge Boot. Zweieinhalb Jahre später hatten bereits eine Million Menschen das Museumsboot besichtigt.1 Auch das Technik-Museum Wilhelm Bauer in Bremerhaven, ein U-Boot vom Typ XXI, ebenfalls aus dem Zweiten Weltkrieg, vermeldet ähnlich hohe Besucherzahlen. Dort besichtigen im Schnitt an jedem Öffnungstag ca. 1000 Menschen das Boot.2 Zwischen 1945 und 2000 sind in der BRD mindestens 237 Bücher erschienen, welche sich mit dem U-Boot-Krieg befassen, wobei hier einschränkend erwähnt werden muss, dass keine Zeitschriften oder Aufsätze bei der Zählung berücksichtigt wurden. Lothar-Günther Buchheims Roman Das Boot, sowie dessen Verfilmung durch Wolfgang Petersen 1981, waren – nicht nur auf nationaler Ebene – Bestseller bzw. Kassenschlager.3 „Die Startauflage betrug 50.000. Es folgten seither im Hardcover und Taschenbuch über 40 Auflagen. Im deutschen Sprachraum wurden allein bis Ende der 1980er Jahre über eine Million Bücher verkauft.“4 Diese Zahlen legen die Vermutung nahe, dass kaum ein anderes Thema des Zweiten Weltkrieges bis heute in Deutschland derartig populär ist, wie der UBoot-Krieg. Das ist auch insofern bemerkenswert, da die U-Boot-Fahrer nur einen Bruchteil der deutschen Soldaten ausmachen, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben. „Insgesamt haben etwa 18 Millionen Männer zwischen 1939

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Zahlen nach: Wetzel, Eckard: U 995. Das Boot vor dem Marine-Ehrenmal in Laboe. Kiel, 1985. Ebd. S. 143. Buchheim, Lothar-Günther: Das Boot; München, 1973. Das Boot, Regie: Wolfgang Petersen, Deutschland, 1981. Holzer, Anton: Die oben, wir unten. ‚Das Boot’, der Krieg, die Fotografie. Der U-Boot-Krieg als deutsche Heldengeschichte?; in: Holzer, Anton (Hg.): Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie, Marburg 2003, S. 118.

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und 1945 zu den bewaffneten Formationen des Deutschen Reiches gehört.“5 Etwa 40 000 waren U-Boot-Fahrer, knapp 30 000 von ihnen kamen während der Kampfhandlungen ums Leben. 1985 schrieb ein Spiegel-Mitarbeiter im Rahmen eines Berichtes über die Ausstrahlung der Fernsehfassung von Das Boot, „daß keine Waffe die Deutschen so fasziniert, wie der ‚Knüppel des armen Mannes’, das U-Boot.“6 Woher kommt diese Faszination und wie lässt sie sich erklären? Kann man das Faszinosum ‚U-Boot’ ausschließlich auf die Ereignisse in der jüngsten – oder jüngeren – deutschen Vergangenheit zurückführen? Zwei Kriege in denen deutsche U-Boote zum Einsatz kamen endeten für Deutschland bekanntlich in einer totalen Niederlage, die die U-Boot-Flotte mit einschloss. Trotzdem sind ihre Reste in Bremerhaven, Laboe und - nicht zu vergessen - U 1 im Deutschen Museum in München auch heute noch Publikumsmagnete. Das ist auch insofern erstaunlich, da hier letztendlich an zweimaliges militärisches Scheitern erinnert wird. Die vorliegende Arbeit hat sich daher zum Ziel gesetzt aufzuzeigen, dass die Ereignisse in den beiden Weltkriegen 1914–1918 sowie 1939–1945 zwar notwendige, aber keinesfalls hinreichende Gründe darstellen, um das nachhaltige Interesse der Deutschen an ‚ihren’ U-Booten zu erklären. Der alleinige Verweis auf den jeweiligen Verlauf des U-Boot-Krieges greift für einen umfassenden Erklärungsansatz zu kurz. Vielmehr stellt die Bearbeitung des Themas zusätzliche Fragen an gesellschaftlich-soziale und damit politische Rahmenbedingungen der jeweiligen Zeit. Die Rezeptionsphasen während der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und später ab 1945 in beiden deutschen Staaten, müssen vor jenem Hintergrund ebenfalls einer genaueren Untersuchung unterzogen werden. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Zeit vor 1914 gelegt, da hier das Fundament für die spätere Mythenbildung geschaffen wurde. 5

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Rass, Christoph: ‚Menschenmaterial’. Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939 - 1945; Paderborn, 2003; S. 13. U-Boot-Krieg: Wahn der Wunderwaffe; Spiegel 11/85; 11. März 1985; S. 114.

Der ‚U-Boot-Mythos’ soll demnach so weit wie möglich in seine Bestandteile zerlegt werden, wobei die ihn bedingenden Mechanismen herausgeschält werden sollen. Ferner soll das Stützkorsett des ‚U-Boot-Mythos’ in seiner Eigenschaft als Makrostruktur, bestehend aus einem in sich verknüpften Geflecht von Ikonen, Zuschreibungen und emotional-intendierten Allegorien, offen gelegt werden. Das Anschauungsobjekt selbst – also das U-Boot als Unterwasserfahrzeug – bietet offenbar eine Fülle von Konnotationen und Zuschreibungen und scheint zudem Projektionsfläche für menschliche Sehnsüchte und (Ur-) Ängste zu sein. Das Objekt ‚U-Boot’, in seiner Eigenschaft als materieller Nukleus im vorliegenden Kontext, kann und darf nicht durch den von ihm mitgestalteten Ereignisverlauf im historiographischen Sinne separiert werden. Daher soll in dieser Arbeit ein möglichst umfassender, interdisziplinärer Erklärungsansatz für den U-BootMythos versucht werden, der hinsichtlich der gesamten Bandbreite seiner Wirkung auf den Menschen hin behandelt wird.7 Der im fünften Kapitel diesbezüglich unternommene Versuch, der Faszinationskraft einer auch für die Insassen lebensbedrohlichen Kriegsmaschine auf den Grund zu gehen, ist aufgrund der Komplexität der Thematik in mehrere Unterpunkte unterteilt. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass diese lediglich eine Orientierungshilfe darstellen und keinerlei Ausschließlichkeit im Sinne einer scharfen Unterteilung der behandelten Gegenstände sein können. Einige der behandelten Topoi lassen sich zudem aufgrund ihrer Vielschichtigkeit nicht eindeutig zuordnen. Inwieweit politische Vorgaben oder Wertevorstellungen die Rezeption von Geschichte und damit auch eine Tradierung von Mythen beeinflussen können, zeigt ein Blick auf den Umgang mit dem Thema ‚U-Boot-Krieg’ in der DDR. Dass für eine Änderung des Blickwinkels auf den Forschungsgegenstand nicht immer nur politische, sondern auch kulturelle Gründe ursächlich sein können,

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Es ist allerdings ein gewisses Maß an Wissen um die Beschaffenheit der Materie, also z.B. des Tauchvorganges durch gezielte Nutzung von physikalischem Wissen vonnöten, um sich der potentiellen Gefahr, der man sich dabei aussetzt, auch bewusst zu sein. Ohne dieses Wissen hätte man hier vielleicht eine andere Art von Angst, die rein auf psychologischen Aspekten, wie beispielsweise ‚Tiefenangst’ beruhen würde.

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wird im letzten Kapitel herausgearbeitet. Der Umgang der seit 1956 wieder eine eigene U-Boot-Flotte unterhaltenden BRD mit der jener Vergangenheit sowie die öffentlichen Reaktionen auf Buchheims Roman, sind m. E. geeignete Indikatoren, an denen sich die Intentionen, welche im vorliegenden Fall mit der Rezeption von Vergangenheit verknüpft sind, aufzeigen lassen. Erschwerend aber auch reizvoll ist der Umstand, dass der interdisziplinäre Ansatz der vorliegenden Arbeit, trotz der großen Fülle an deutschsprachiger UBootliteratur noch nirgendwo in dieser Form behandelt worden ist. Perspektivisch gesehen wird daher in der vorliegenden Arbeit der Blickwinkel auf ein leeres, noch zu beschriftendes Blatt innerhalb der Rezeption des Unterwasserkrieges gelenkt, was hinsichtlich der eingangs genannten Fülle an Publikationen zumindest verwundert.8 Im Jahre 2001 ist vom kanadischen Marinehistoriker Michael Hadley ein Buch mit dem im vorliegenden Rahmen viel versprechenden Titel Der Mythos der deutschen U-Bootwaffe erschienen.9 Allerdings stellt dieser Titel keine Übersetzung des Originaltitels dar. Dieser lautet Count not the dead nach einem Gedicht mit dem Titel Tod fürs Vaterland, das Friedrich Hölderlin 1796 verfasst hat. Hadleys Buch zeichnet sich durch eine detaillierte Auflistung sämtlicher in Deutschland erschienener U-Boot-Literatur der letzten 100 Jahre aus. Leider klingt bei ihm teilweise ein leicht militaristischer Unterton durch, was durch seine Aussage im Vorwort, er selbst sei ein „Lehnstuhl-U-Bootfahrer“ entsprechend bestätigt wird.10 Trotz der genannten Mängel stellt Der Mythos der deutschen U-Bootwaffe aufgrund der immensen Fülle an Detailinformationen zu Autoren und Inhalten eine für die vorliegende Arbeit wichtige Quelle dar. 8

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Entweder wird ausschließlich die technische Seite der U-Boote beschrieben, (z.B.: Rössler, Eberhard: Die neuen deutschen U-Boote; München, 2004) oder aber es werden Romane häufig‚ nach einer wahren Begebenheit’ (z.B.: Paterson, Lawrence: U 564 auf Feindfahrt. 70 Tage an Bord; Stuttgart, 2005) verfasst. Eine umfassende Darstellung des U-Boot-Krieges fehlt bis heute. Ein Grund hierfür ist sicherlich in der Quellenlage zu sehen, denn die U-BootAkten sind bis heute in den Archiven des britischen Verteidigungsministeriums weitgehend unter Verschluss. Salewski, Michael: U-Bootkrieg: Historisches; in: ders.: Die Deutschen und die See; Studien zur deutschen Marinegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Stuttgart, 1998; S. 336. Hadley, Michael: Der Mythos der deutschen U-Bootwaffe, Hamburg 2001. Ebd.: S. 12.

Außerdem erwähnenswert ist die Studie des Amerikaners Timothey P. Mulligan Die Männer der deutschen U-Bootwaffe 1939-1945.11 Sie richtet ihr Augenmerk auf die U-Boot-Fahrer selbst, ihre Herkunft, ihre soziale Zusammensetzung und ihre Ausbildung. Aber auch bei Mulligan ist eine leicht tendenziöse Darstellung zu beobachten. Allzu leicht lässt er sich von der Apologetik in den Berichten ehemaliger U-Boot-Fahrer vereinnahmen. Besonders deutlich wird dies im Kapitel ‚Unparteiliche Dienstleistung. Die Kriegsmarine und der Nationalsozialismus’:12 Hier bescheinigt er einigen ehemaligen Kommandanten „entschiedene NS-Gegner“ gewesen zu sein.13 Abgesehen davon, dass die Behauptung von der NS-Gegnerschaft der U-Boot-Fahrer selbst einen Teil des Mythos darstellt, so wird seine Wortwahl den vielen in den Konzentrationslagern ermordeten tatsächlichen Regimegegnern, bzw. ihrem Andenken, in keiner Weise gerecht.14 In diesem Rahmen heben sich die Schriften des Kieler Professors Michael Salewski von allen übrigen von mir gesichteten Abhandlungen zur deutschen Marinegeschichte angenehm ab und daher bilden seine Studien ein wichtiges Fundament für die vorliegende Arbeit.15 Der U-Boot-Mythos ist kein Siegermythos. Die Verknüpfung von deutscher Opferbereitschaft und technischer Innovation ist dazu geeignet, alte Heldenmythen und deutsche Ingenieursleistung auf besondere Weise in Wechselwirkung treten zu lassen. Zum besseren Verständnis der Materie scheint es mir einleitend geboten, Mythenformen und deren Aufgaben in einer Sozialgemeinschaft zu skizzieren. 11 12 13 14

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Mulligan, Timothy P.: Die Männer der deutschen U-Bootwaffe, Stuttgart 2002. Ebd.: S. 224 ff. Ebd.: S. 226. Die offensichtliche Faszination, der die beiden nicht-deutschen Autoren in ihren Schriften Rechnung tragen, ist auch jenem Mythos geschuldet, der rund um den deutschen U-BootKrieg im angelsächsischen Raum und in den USA wirkt. Ein äußeres Zeichen, dass dort ebenfalls Mythen rund um den deutschen U-Boot-Krieg vorhanden sind, kann man daran ablesen, dass es im englischen Sprachgebrauch zwei Worte für Unterwasserfahrzeuge gibt: ‚Submarine’ und ‚U-boat’. Mit letzterem sind ausschließlich deutsche Tauchboote gemeint, wobei gleichzeitig ein negativer Subtext im Sinne von‚schändliche Kriegführung’ oder ‚Piratentum’ mitschwingt. Salewski, Michael: Die Deutschen und die See. Studien zur deutschen Marinegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Stuttgart, 1998.

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2 Mythen 2.1 Der ‚klassische’ Mythos Der Mythos ist ein fester Bestandteil der menschlichen Geistes- und Kulturgeschichte.16 „Mythen gehören zum Leben der Menschen, ohne Mythen kann der Mensch ebenso wenig leben, wie eine Pflanze ohne Wurzeln.“17 Ein Mythos im ‚klassischen’ Sinne wurde ursprünglich immer dann bemüht, wenn ein von Unerklärlichkeiten so weit als möglich befreites Weltbild geschaffen werden sollte, denn „menschliches Dasein ist seit je mit Phänomenen konfrontiert, die ungeklärt oder kaum kalkulierbar sind und Unbehagen bereiten.“18 Um dem Menschen in jenen unvermeidlichen und unerklärbaren oder extremen Situationen Rückhalt und Handlungssicherheit zu bieten, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Man kann versuchen zu einer rationalen Erklärung für das Vorkommnis zu kommen oder man ummantelt das Ereignis mit mythischen Erzählungen, deren Bilder innerhalb eines Sozialverbandes allgemein verständlich sind und daher helfen, das Vorkommnis in einen akzeptablen Kontext in die bekannte Welt einzuordnen. Viele dieser Mythenbilder, beispielsweise der griechischen Sagenwelt, sind uns bis heute nach fast 3000 Jahren noch immer geläufig.19 Mythen wurden auch von den Griechen meist dann herangezogen, wenn es für sie keine anderen hinreichenden Erklärungen für bestimmte natürliche Phäno-

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In Gräbern von Neandertalern fanden sich neben menschlichen Überresten auch Waffen, Werkzeugeund Tierknochen. Ein Umstand, der zu der Schlussfolgerung führt, dass diese Urmenschen neben der sichtbaren, materiellen Welt noch eine weitere, nicht sichtbare für existent hielten. Armstrong, Karen: Eine kurze Geschichte des Mythos; Berlin, 2005; S. 7 f. Voigt, Rüdiger: Rituale und Symbole in der Politik, in: Symbole der Politik, Opladen, 1989; S. 9 – 37, S. 11; zit. nach: Behrenbeck; Sabine: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Ritenund Symbole; Greifswald, 1996, S. 38, Fußnote 16. Wüst, Thomas: Urbanität. Ein Mythos und sein Potential; Wiesbaden, 2004; S. 12. z.B. Göttervater Zeus, der, als weißer Stier verkleidet, Europa entführt, ist ein in politischen Karikaturen immer wiederkehrendes Bild.

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mene oder Ereignisse gab.20 Somit stellen sie, wie Hans Barth bemerkt, eine Art ‚vorwissenschaftlicher Wissenschaft’ dar.21 In diesem Sinne verstoßen Mythen - vom heutigen Standpunkt aus betrachtet - stets auch gegen die wissenschaftlichen Standards der faktischen Genauigkeit und sinnhaften Wahrheit. Naturphänomene und andere Vorgänge, die auf der Erde stattfinden, konnten erst in der Neuzeit durch das geistige Rüstzeug, das die Aufklärung den Menschen zur Verfügung stellte, im eigentlichen Sinn begriffen werden.22 Das Beispiel des griechischen Sonnengottes Helios ist für das Verständnis dieser ursprünglichen Funktion des Mythos aufschlussreich. Die Griechen wussten noch nichts von der Eigenrotation der Erde und ihrer Bewegung um die Sonne. Dass die Sonne jeden Tag im Osten auf- und im Westen untergeht, erklärten sie sich unter zu Hilfenahme eines Bildes, das wesentliche Elemente enthielt, welche den Menschen des griechischen Altertums geläufig waren: ‚Zum Überbrücken großer Distanzen eignet sich am besten der Pferdewagen.’ Folglich fährt in der griechisch-mystischen Sagenwelt der Gott Helios einen Sonnenwagen über den Himmel. „Vier Feuer schnaubende, gleißend schäumende, goldene Rosse sind diesem Wagen vorgespannt.“23 Eine Himmelsüberquerung dauert demnach exakt von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. In diesem Bild sind also menschliche Erfahrung – ‚ein Pferdewagen ist schnell’ – sowie Beobachtung – ‚die Sonne geht auf, wandert über das Firmament und geht wieder unter’ – zusammen in die Beschreibung des Deutungsobjektes 20

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Die Griechen stehen hier auch als Platzhalter für andere Völker und Reiche und ihre Nennung soll keine Ausschließlichkeit bedeuten. Sämtliche alten Hochkulturen waren von mythischen Geschichten und Bildern durchdrungen. Barth, Hans: Masse und Mythos. Theorie der Gewalt: Georges Sorel; Hamburg, 1956; S. 128. Erst unter dem Dach eines - angenommenen - mechanischen Weltbildes, war man in der Lage, bis dahin unerklärliche Vorkommnisse oder Ereignisse in die ‚Sprache der Logik’, die Mathematik, zu ‚übersetzen’ und damit rational greifbar zu machen. Eine unmittelbare Folge davon war die Herausbildung und Etablierung der naturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen, die dem Menschen weitere Erklärungsansätze für Naturphänomene boten. Köhlmeier, Michael: Das große Sagenbuch des klassischen Altertums; München 1999, S. 181.

‚Sonne’ eingeflossen. Durch die Personifizierung des Laufes der Sonne ergibt sich aber auch die Möglichkeit, Ereignisse wie Morgen- oder Abendrot mit Emotionen zu beladen, die innerhalb des eigenen Kulturkreises durch Bilder und Metaphern leicht vermittelt werden konnten. Das Ende der mythisch-orientierten Betrachtungsweisen schien mit der Epoche der Aufklärung gekommen. Naturphänomene wurden erklärbar, biologische und chemische Prozesse in der Natur sogar teilweise determinierbar. Durch diese ‚Entzauberung der Welt’, wie Max Weber es formulierte und welche die Reduzierung des Daseins auf der Erde auf rein empirische, bzw. mathematischlogische Aspekte meint, gäbe es für Mythen eigentlich keinen Platz mehr. Die mythisch geprägte Deutungshoheit verblasst zugunsten der emotionslos rationalen. Allerdings kann der Mensch ohne die ihm innewohnende Emotionalität nicht mehr in seiner Gesamtheit erfasst werden. Zum Mensch-Sein gehört neben dem Logos auch die Fähigkeit zu trauern, zu lieben, zu hoffen usw.; alles Aspekte, welche durch mythisches Denken berührt werden. Zudem sprechen Mythen im Gegensatz zum wissenschaftlich - rationalen Denken sowohl Erkenntnis als auch Emotionen in einem einzigen Akt an. Damit erreichen sie den Menschen auf der größtmöglichen Bandbreite seines Seins. Hierin liegt eine Erklärung dafür, warum Mythen den Menschen nachhaltig zu fesseln vermögen: Keine noch so klare Gedankenführung kommt gegen die Kraft auf, wie sie mythischen Bildern zu Eigen ist.24 Der Mythos deckt somit eine Dimension der Realität ab, der alleine mit dem Verweis auf ‚Rationalität’ nicht beizukommen ist. Die Lücken, die das aufgeklärte Denken hier lässt, haben in der Neuzeit folglich also nicht zu einem bloßen Verschwinden, sondern zu einer Verwandlung und damit Wiederkehr des mythischen Denkens in modifizierter Form geführt. Der so genannte ‚Alltags-Mythos’ ist – vereinfacht ausgedrückt – an die Stelle des 24

Der Mythos wird hier als Steuerungsmedium für die Dynamik des Emotionalen verstanden. Ein Gedanke, der erstmalig von Ernst Cassirer im zweiten Teil seiner Schrift ‚Philosophie der philosophischen Formen. Das mythische Denken’ im Jahre 1925 erörtert wurde.

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klassischen Mythos getreten und hat in der aufgeklärten Welt des modernen Alltags seinen Platz eingenommen. Die durch ihn eingeführten mentalitätsspezifischen Leitbilder sind zudem in der Lage, kollektives Handeln und Erleben zu prägen oder nachhaltig zu beeinflussen.25

2.2 Der ‚moderne’ Mythos Eine der vielen Folgen der Aufklärung war und ist der Verlust religiösen Denkens. Der französische Soziologe Georges Sorel kommt zu dem Schluss, dass das Fehlen religiöser Momente im menschlichen Leben gleichbedeutend mit dem Verlust für das Gefühl des ‚Erhabenen’ ist. Der Argumentation seiner 1908 publizierten Schrift Über die Gewalt folgend, verliert aber eine Gesellschaft ohne diese Form der Emotionalität ihre Moral und damit auch ihre Fähigkeit zur Verteidigung.26 Barth schreibt in seiner 1959 veröffentlichten Schrift über die Gewalttheorie Sorels hierzu: „Nur dieses Gefühl (das Erhabene – N.S.) erschafft den Geist des Opfers und der Hingabe, den der Soldat im Angriff und in der Verteidigung an den Tag legt.“27 Um für den Verlust des Religiösen – und damit des Erhabenen – Ersatz zu finden, bringt Sorel als Lösung eine Konstruktion ins Spiel, die er als ‚sozialen Mythos’ bezeichnet.28 Diese ‚moderne’ Variante des Mythos ist kraft seiner evozierten Bilder in der Lage, erneut eine quasi-religiöse Gemeinschaft zu erzeugen. Seine Wirkungsmächtigkeit entfaltet sich jenseits der Rationalität, weil er Menschen auf einer emotionalen Ebene anspricht und sie dadurch im Innersten trifft und fesselt. Dieses gemeinsame ‚Erleben von Gefühlen’ erzeugt eine nicht zu unterschätzende Kraft für die Bildung neuer Sozialgemeinschaften: „Der Mythos setzt der Vereinzelung des Menschen ein

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Assmann, Jan u. Aleida: Mythos; in: Cancik, Hubert u.a. (Hg): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1998, S. 180. Sorel, Georges: Über die Gewalt; Frankfurt, 1969. Barth: Masse; S. 69. ‚Sozialer Mythos’ und ‚Alltags’–Mythos subsumiere ich beide unter dem Oberbegriff des ‚modernen Mythos’.

Ende.“29 Allein seine Verbreitung stellt bereits einen kommunikativ-integrativen Akt dar. Selbst moderne Mythen werden häufig mündlich, innerhalb einer Sprachgemeinschaft bzw. eines sozialen Verbandes weitergegeben, denn genau “wie Märchen, Sage, Legende und Fabel gehört der Mythos zu den Volkerzählungen.“30 Im Unterschied zum intellektuell-abstrakten Diskurs der Theorie sowie der Utopie zeichnet sich auch der ‚moderne’ Mythos durch komprimierte und mitreißende Bilder aus. Diese repräsentieren eine Ganzheit von Werten, Zielen und Wünschen, die eine Anzahl von Menschen zu geschichtlich wirksamen Einheiten, zu sozialen Bewegungen, zusammenzufassen vermag. „Solche Orientierungen wirken vorwiegend implizit unterhalb der Bewußtseinsschwelle und modellieren in unverbundenen Einzelaspekten die Wirklichkeitserfahrung von Gruppen.“31 Mythen sind demnach in der Lage, eine Art ‚kollektives Imaginaire’ – im Sinne des Alltags-Mythos – zu erzeugen, so dass durch sie Wahrnehmungen, Werte, Selbstbilder und Rollenzuschreibungen für eine Gesellschaft geprägt werden können. Dabei ist die „plastische Kraft des Mythos (…) in einem Zwischenraum der Unbewußtheit und Implizitheit verankert, der ‚tacit dimension’ (Polanyi) unseres rationalen Daseins.“32 Ein weiteres Merkmal von Mythen stellt die Wiederholung von bestimmten Grundmustern dar. Diese „durch Wiederholung gehärtete und zur Wiederholung auffordernde Kristallisationspunkte der Erfahrung“ sind auch im Falle des deutschen U-Boot-Mythos von nicht unerheblicher Bedeutung.33 Schließlich unterschieden sich alleine, schon rein äußerlich betrachtet, Strategien und Verlauf des U-Boot-Krieges in den beiden Weltkriegen des letzten Jahrhunderts

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Barth: Masse; S. 70. Behrenbeck: Kult; S. 40. Assmann: Mythos; S. 179. Ebd.: S. 185. Assmann: Mythos, S. 192.

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nur marginal. Lothar Günther Buchheim spricht bezogen auf den Zweiten Weltkrieg sogar ganz plakativ von einer „trotzigen Wiederholung“.34 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Bezeichnung einer Geschichte oder Erzählung als ‚Mythos’ entlarvend wirkt, indem einerseits ihr Wahrheitsgehalt in Frage gestellt, sie andererseits aber dadurch gleichzeitig in ihrer (massen-) wirksamen emotionalen Faszinationskraft bestätigt wird. Diese Faszinationskraft wird gemäß Murray Edelman hauptsächlich dadurch erreicht, dass eine Reflektion von Inhalten nicht stattfindet. Er bezeichnet den politischen Mythos als „eine von einer großen Gruppe von Menschen geteilte Überzeugung, die nicht hinterfragt wird und Ereignissen und Handlungen einen bestimmten Sinn verleiht.“35 Damit kann man die Aufgabe der ‚modernen’ Mythen als die einer sozial - integrativen Klammer verstehen. Ihre besondere Stärke liegt darin, dass die dort hervorgerufenen und fixierten emotionalen Zustände allgemein anerkannt und daher frei von jeder Art von Rechtfertigungsdruck sind. Welche Gegenstände oder Themenbereiche können von modernen Mythen besetzt werden? ‚Rätselhafte’ Naturphänomene scheiden vor dem Hintergrund der Erkenntnisse und Erklärungen, die die moderne (Natur-) Wissenschaft erbracht hat, aus. Auch Mythen, die aus herrschaftslegitimatorischen Gründen weitergegeben wurden, waren nach dem Sieg des Volkes in der Französischen Revolution zunehmend obsolet, da das an die Macht strebende Bürgertum seine Legitimationsgrundlage im aufgeklärten Bild vom ‚befreiten Menschen’ hinreichend erfüllt sah. Sabine Behrenbeck weist darauf hin, dass es im Prinzip stets die gleichen Felder sind, in denen Mythen gebildet werden: „Es gibt (…) typische Themen, die in mehreren Kulturen mythisiert werden. Dazu gehören die Grunderfahrungen menschlicher Existenz, wie Zeugung, Geburt, Statuswechsel, Lebenskampf, Leiden und Tod oder die Ursprünge sozialer Ordnungen und Institutionen.“36 Hier kommt hinzu, dass der formale

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Buchheim, Lothar-Günther: Die U-Boot-Fahrer. Die Boote, die Besatzungen und ihr Admiral; München 1985, S. 30. Edelmann, Murray: Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns; Frankfurt, 1976, 3. Auflage 2005; S. 110. Behrenbeck: Kult; S. 41.