Der Reformpädagoge Adolph Diesterweg (1790–1866)

Maximilian von Günderrode. 128. Resümee. 136. Literatur ... für die Diesterweg-For- schung etwas Neues, indem er Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg, der ja.
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Lotte Köhler Der Reformpädagoge Adolph Diesterweg (1790–1866)

Forum Psychosozial

Lotte Köhler

Der Reformpädagoge Adolph Diesterweg (1790–1866) Psychoanalytische Betrachtungen zu seiner Biografie Herausgegeben von Horst F. Rupp

Psychosozial-Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. E-Book-Ausgabe 2016 © der Originalausgabe 2016 Psychosozial-Verlag E-Mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Zeichnung von Friedrich Gustav Adolf Neumann, 1865 Umschlaggestaltung & Innenlayout nach Entwürfen von Hanspeter Ludwig,Wetzlar www.imaginary-world.de Satz: metiTEC-Software, me-ti GmbH, Berlin ISBN Print-Ausgabe: 978-3-8379-2582-1 ISBN E-Book-PDF: 978-3-8379-6813-2

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

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Vorwort der Autorin

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Vorüberlegungen Diesterwegs pädagogisches Credo Kurzfassung des beruflichen Werdegangs Historische Ausgangslage Meine psychoanalytisch motivierte Fragestellung Zusammenfassung meiner Antworten Offene Fragen

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Lebenslauf Adolph Diesterwegs Familie, Jugend und Elternhaus Tod der Mutter 1798 Diesterweg sucht, dem Vater die Mutter zu ersetzen Die Melancholie des Vaters Der Vater als Vorbild Freizeit bei Handwerkern und in der Natur Diesterwegs Schulzeit Erste Analyse der Psychodynamik aus Sicht der Selbstpsychologie von Heinz Kohut

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Inhalt

Studienzeit und Berufseinstieg 37 Grundstudium der Mathematik, Philosophie und Geschichte in Herborn 1808–1809 37 Studium der Mathematik, Physik, Astronomie und Geodäsie in Heidelberg und Tübingen 1809–1811 38 1811–1813: Tätigkeit als Lehrer in Mannheim und Worms und Verlobung mit Sabine Enslin 39 Wie kam es zu der »Selbstrettung« in Frankfurt? – drei Hypothesen 49 1. Das junge Ehe- und Vaterglück, das ihn von eventuell gehegten Sorgen um seine Potenz befreite 49 2. Die nationale Begeisterung, die nach der Völkerschlacht von Leipzig 1813 einsetzte 50 3. Die Möglichkeit, den Ödipuskomplex gegenüber seinem Vorgesetzten Seel ohne Gewissensbisse auszuagieren 51 Die Jahre 1818 bis 1847 53 Elberfeld 1818–1820 53 Religiöse Vision im Delir 1818 57 Tätigkeit als Seminardirektor in Moers 1820–1832 64 Tätigkeit als Seminardirektor in Berlin 1832–1847 66 Exkurs: Diesterwegs Schriftstellerei aus Sicht der Selbstpsychologie – ein »selbst-bestätigender Aspekt der Kreativität« 68 Die letzten Lebensjahre nach der endgültigen Pensionierung: 1850–1866 104 1850: Vollpension mit 60 Jahren 104 Begegnung mit Johanna Goldschmidt und Friedrich Fröbel 105 Tätigkeit als Stadt- und Landtagsabgeordneter 1859–1866 119 Tod von Sabine und Adolph Diesterweg im Juli 1866 121 Epikrise – Was wurde aus Diesterwegs Nachkommen? Andere Erziehungsnormen zu Diesterwegs Zeit Lebensregeln zur Erziehung der christlichen Jugend von Maximilian von Günderrode Resümee

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Literatur

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Vorwort des Herausgebers

Der nachfolgend zum Abdruck gebrachte Text bietet für die Diesterweg-Forschung etwas Neues, indem er Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg, der ja bislang nahezu ausschließlich von Pädagogen, Pädagogik-Historikern, (Fach-)Didaktikern u.ä. zum Gegenstand ihrer Recherche gemacht worden ist, unter psychoanalytischen Parametern betrachtet. Der eine oder die andere mag vielleicht fragen, ob dies denn überhaupt möglich ist auf dem Hintergrund des uns vorliegenden Materials? Der Text von Lotte Köhler belegt, dass dies durchaus machbar ist, ja dass sogar die eine oder andere neue und überraschende Forschungs-Erkenntnis erwartet werden kann. Wir wollen zunächst hier jedoch fragen, wer dieser Fr. A. W. Diesterweg überhaupt war und einige Schlaglichter darauf werfen, wie er bis dato gesehen und interpretiert wurde in der Geschichte pädagogischer Historiographie. Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg (geb. 29. Oktober 1790 in Siegen, gestorben 7. Juli 1866 in Berlin) – »Klassiker der Pädagogik« oder doch vielleicht nur der Lehrerbildner und Volksschul-Praktiker des 19. Jahrhunderts, dessen Schriften wenig theoretische Dignität eignet?! Zwischen diesen Polen schwanken die Urteile der pädagogischen Historiographie im Blick auf Diesterweg. Keine seriöse Darstellung der Pädagogik des 19. Jahrhunderts in Deutschland kann es sich aber leisten, auf Diesterweg nicht einzugehen, nicht wenige sehen in ihm aber eben doch nur den praktisch orientierten Protagonisten der deutschen »Volksschule« im 19. Jahrhundert, der in einer eher theoretisch orientierten Darstellung der pädagogischen Historiographie keinen angemessenen Platz einfordern darf. Der Herausgeber dieser Schrift hält ihn – so viel vorweg – für einen der am meisten unterschätzten Pädagogen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, dessen Wirkung und ihre Geschichte auch noch nicht annähernd befriedigend erforscht 7

Vorwort des Herausgebers

sind. Diesterweg nur als den pädagogischen Praktiker zu verstehen, wäre meines Erachtens eine komplette, unverzeihliche Fehleinschätzung. Richtig ist ganz sicher, dass er sich nicht in einen akademischen Elfenbeinturm zurückgezogen hat, wo er etwa nicht mit der gesellschaftlichen Realität konfrontiert gewesen wäre. Er war als Lehrer, Seminardirektor, Lehrerbildner, als quasi »Erfinder« der dualen Ausbildung, als pädagogischer Schriftsteller und Publizist, als wacher Beobachter des gesellschaftlich-politischen Geschehens seiner Zeit und schließlich sogar als Politiker (Liberaler Abgeordneter im Preußischen Abgeordnetenhaus von 1859 bis 1866) immer sozusagen an der vordersten Front des pädagogischen Tagesgeschäfts, hat sich eingemischt in die aktuellen, auch politischen Fragen und hat so – wie vielleicht kein zweiter Pädagoge im 19. Jahrhundert in Deutschland – ganze Generationen von Lehrern und Pädagogen durch sein Wirken und Handeln geprägt. Es kam nicht von ungefähr, dass ihn der reaktionär tendierende preußische Staat um die Jahrhundertmitte seines Postens als Direktor des Berliner Lehrerseminars enthob und in den Ruhestand versetzte, stellte er doch durch seine Voten, durch sein Sich-Einmischen in die aktuelle Tagespolitik die Grundpfeiler des politischen Systems der damaligen Zeit und Epoche ganz grundlegend in Frage. Im Zentrum der Kritik Diesterwegs an den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit stand die enge Allianz von Thron und Altar, von Staat und kirchlich institutionell verfasster christlicher Religion. Für ihn brach dieser Konflikt insbesondere im Schulwesen auf, wo die Kirche im Auftrag des Staates einen Einfluss ausübte, den Diesterweg nicht gutheißen konnte. Die Schule hatte für ihn in der Tradition von Aufklärung und Liberalismus die Aufgabe der Bildung des Individuums zu übernehmen, sich nicht als verlängerter Arm der Institution Kirche zu verstehen. Insofern forderte er eine vom Einfluss der Kirche »bereinigte« Schule, die sich dem Individuum und der gesamten Gesellschaft verpflichtet wusste, nicht einer auf Dogmen aufruhenden Institution, die das Individuum auf einen konservativ-reaktionär tendierenden Staat verpflichtete und insbesondere eine Untertanen-Gesinnung in die Educanden verpflanzen wollte. Jede Epoche hat sich ihr eigenes Diesterweg-Verständnis zurechtgelegt.1 Es liegt an uns, uns immer wieder neu an diese Person der Pädagogikgeschichte heranzutasten, sie in und aus ihrer Zeit heraus angemessen zu verstehen versuchen. Schübe der Diesterweg-Forschung haben sich insbesondere eingestellt im Kontext bestimmter Erinnerungsdaten. Der letzte große Schub war hier um das Jahr 1990 zu verzeichnen, als des 200. Geburtstages von Diesterweg gedacht wurde. 1

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Vgl. hierzu Gert Geißler & Horst F. Rupp (1996). Diesterweg zwischen Forschung und Mythos. Texte und Dokumente zur Forschungsgeschichte. Neuwied u. a.

Vorwort des Herausgebers

Diverse Bücher und Aufsätze sind seinerzeit erschienen, eine Ausstellung mit einem fundiert erstellten Ausstellungsbegleitband2 wurden erarbeitet, es erschienen sogar zwei Briefmarken – damals noch in Deutschland Ost und Deutschland West. Nun steht mit dem 7. Juli 2016 ein erneutes Erinnerungsdatum auf der Tagesordnung, es jährt sich nämlich der 150. Todestag Diesterwegs, der am 7. Juli 1866 in Berlin an den Folgen der Cholera verstorben ist. Und es steht zu vermuten, dass auch dieses Datum Anlass bietet, sich erneut mit Diesterwegs Werk und seiner Wirkung auseinanderzusetzen. Zwischen diesen Erinnerungsdaten ging und geht die Arbeit an der Erschließung des Werkes von Diesterweg weiter. Im Jahre 1956 erschien in der Deutschen Demokratischen Republik der erste Band der auf insgesamt 26 Bände projektierten Ausgabe der Sämtlichen Werke. Bis zum Untergang der DDR 1989/90 waren insgesamt 17 Bände der Ausgabe ediert, verantwortlich getragen vor allem von Ruth Hohendorf (1920–2011), die seit dem Start der Edition als Bearbeiterin fungierte. Diese 17 Bände boten insbesondere Diesterwegs Veröffentlichungen in den von ihm herausgegebenen Zeitschriften, nämlich den Rheinischen Blättern für Erziehung und Unterricht (seit 1827) sowie den Pädagogischen Jahrbüchern für Lehrer und Schulfreunde (seit 1851), ergänzt durch seine Voten im Preußischen Abgeordnetenhaus von 1859 bis 1866. Da die Ausgabe natürlich nicht ganz frei war von ideologischen Vorgaben des DDR-Staates, bestand die Gefahr, dass sie mit der Wende 1989/90 eingestellt würde. Dies konnte erfreulicherweise jedoch insbesondere mit großem finanziellem Einsatz der Deutschen Forschungsgemeinschaft verhindert werden. Es wurde ein neues Herausgeberkollegium konstituiert, dem auch der Herausgeber dieses Bandes angehört, das sich seitdem den Abschluss der Edition angelegen sein lässt. Mit dem Band 18 wurde die II. Abteilung der Ausgabe eröffnet, die u. a. verstreute und aus dem Nachlass veröffentlichte Aufsätze, Abhandlungen, Vorlesungen und Vorworte sowie sämtliche selbständig erschienenen Schriften Diesterwegs zur Pädagogik und Bildungsgeschichte enthält, darunter Diesterwegs Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer, der zu seinen Lebzeiten in vier Auflagen erschienen ist. Einen weiteren Schwerpunkt der noch verbleibenden Bände bilden Briefe und amtliche Dokumente Diesterwegs, also seine Korrespondenz mit Familienangehörigen und Kollegen sowie weiterhin amtliche Berichte und Tagebuchaufzeichnungen. Ein Registerband wird den Abschluss der Ausgabe bilden. 2

Universität-Gesamthochschule-Siegen (Hrsg.) (1990). Adolph Diesterweg. Siegen 1790 – Berlin 1866. Wissen im Aufbruch. Katalog zur Ausstellung zum 200. Geburtstag. Weinheim.

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Vorwort des Herausgebers

Der Herausgeber dieses Bandes beschäftigt sich nun seit ca. 35 Jahren intensiv mit Diesterweg und seinem Werk, beginnend mit der Erarbeitung seiner Dissertation zur Religionsdidaktik Diesterwegs, die im Wintersemester 1984/85 von der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Inauguraldissertation angenommen wurde und 1987 publiziert wurde.3 Neben diversen Zeitschriften-Aufsätzen und Buchbeiträgen stammt aus seiner Feder auch eine kompakte Diesterweg-Biographie4, die 1989 erschienen ist. 1990, im Jahr des Gedenkens an den 200. Geburtstag Diesterwegs, legte er zusammen mit Gerd Hohendorf (1924–1993) einen Sammelband mit dem Titel Diesterweg: Pädagogik – Lehrerbildung – Bildungspolitik5 vor, der durch die politischen Geschehnisse vor und nach die Vereinigung der beiden deutschen Staaten eine nicht ganz einfache Entstehungsgeschichte hatte, worauf an dieser Stelle jedoch nicht genauer eingegangen werden kann. 1996 schließlich publizierte er zusammen mit Gert Geißler einen Band zur Forschungsgeschichte: Diesterweg zwischen Forschung und Mythos. Texte und Dokumente zur Forschungsgeschichte6. Und seit Mitte der 1990er Jahre gehört er schließlich dem Herausgeberkreis der Edition der Sämtlichen Werke Friedrich Adolph Wilhelm Diesterwegs an.7 In diesem Rahmen hat er zusammen mit Ruth Hohendorf den Band 208 der Gesamtausgabe verantwortlich betreut. Nachfolgend kommt nun ein Text zum Abdruck, der sich durch einige Spezifika auszeichnet, die andere Beiträge der Diesterweg-Forschung so nicht aufweisen, nicht aufweisen können. 3

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Horst F. Rupp (1987). Religion und ihre Didaktik bei Fr. A. W. Diesterweg. Ein Kapitel einer Geschichte der Religionsdidaktik im 19. Jahrhundert. Weinheim und Basel: Beltz Verlag/Deutscher Studien Verlag. Horst F. Rupp (1989). Fr. A. W. Diesterweg. Pädagogik und Politik. Persönlichkeit und Geschichte, Band 135/136. Göttingen und Zürich: Muster-Schmidt Verlag. Gerd Hohendorf & Horst F. Rupp (Hrsg.). (1990). Diesterweg: Pädagogik – Lehrerbildung – Bildungspolitik. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Vgl. Anm. 1. Dieser Herausgeberkreis setzt sich aktuell, d. h. im Jahre 2016, aus folgenden Personen zusammen: Gert Geißler, Klaus Goebel, Manfred Heinemann, Horst F. Rupp und Sylvia Schütze. Mit dem im Jahr 2014 erschienenen Band 24 erscheint die Edition der Sämtlichen Werke im Akademie Verlag (Berlin), der zur Unternehmensgruppe des Verlages De Gruyter (Berlin, New York), gehört. Nach der Wende 1989/90 hatte der Luchterhand Verlag (Neuwied, Kriftel, Berlin) die Ausgabe betreut (Bände 18, 19, 20 und 23). Die Bände 1 bis 17 waren zu DDR-Zeiten im Verlag Volk und Wissen, Volkseigener Verlag (Berlin) erschienen. Ruth Hohendorf & Horst F. Rupp (Hrsg.) (2000). Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg, Sämtliche Werke. II. Abteilung. Verstreute Beiträge und selbständige Schriften. XX. Band. Texte aus den Jahren 1842 bis 1857. Bearbeitet von Christa Breschke und Sylvia Schütze. Neuwied, Kriftel: Luchterhand.

Vorwort des Herausgebers

So wird zum ersten Male ein Blick auf Diesterweg aus psychoanalytischer Perspektive geworfen. Die Autorin Lotte Köhler9 ist »gelernte« Medizinerin und Psychoanalytikerin, die mit dem methodischen Instrumentarium dieser wissenschaftlichen Disziplinen sich ihrem Forschungsgegenstand Diesterweg annähert. Insbesondere Interpretationsmuster der Selbstpsychologie nach Heinz Kohut (1913 in Wien geboren, gestorben 1981 in Chicago) sind für Lotte Köhlers Annäherung an Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg von Bedeutung. Und da ergeben sich dann durchaus neue Einsichten und Interpretationsansätze der Persönlichkeit Diesterwegs, wie sie so bislang in der Forschung noch nicht vertreten wurden. Aber auch die medizinische Kompetenz von Lotte Köhler vermag neue Schlaglichter und Einsichten zu vermitteln, etwa wenn die Autorin Diesterwegs Krankheitszustände sowie auch diejenigen seiner Familienmitglieder mit ihrem medizinischen Spezialwissen analysiert und interpretiert. Zum zweiten handelt es sich bei Lotte Köhler um eine direkte Nachfahrin Diesterwegs: Diesterwegs Tochter Julie (1820–1874), die den Arzt Heinrich Köhler heiratete, ist die Urgroßmutter der Autorin, Diesterweg selbst damit der Ur-Ur-Großvater von Lotte Köhler. Diese direkte Abstammung von unserem Protagonisten konstituiert damit eben auch ein ganz besonderes Verhältnis Lotte Köhlers zu ihrem Forschungsgegenstand. Weiterhin: Einen besonderen Glücksumstand stellt das Faktum dar, dass innerhalb der Familie Köhler ein ganz ausgeprägtes Traditionsbewusstsein gepflegt wurde und noch immer gepflegt wird: Lotte Köhler ist im Besitz eines geradezu einzigartigen Familienarchivs, das eben auch nicht wenige wichtige Dokumente zu Diesterweg, seinem Leben und Schicksal sowie zu seinen Vorfahren wie auch zu seinen Nachkommen enthält. Auf diesen immensen Schatz kann Lotte Köhler in ihren Ausführungen zurückgreifen und ihn für die Diesterweg-Forschung fruchtbar machen – auch dies eine Art »Alleinstellungsmerkmal« ihrer Studien. Dass sich in diesem »Schatz« auch manches findet, was Lotte Köhler für ihren psychoanalytischen Interpretationsansatz verwenden kann, mag nicht erstaunen. In eine ähnliche Richtung zielt die explizite familiengeschichtliche Orientierung Lotte Köhlers, die mit einer großen und historisch weitgespannten Analyseund Beobachtungsgabe ausgestattet ist. Dies lässt sich etwa daran erkennen, dass sie gleichsam »sezierend« die unterschiedlichen Anteile und Traditionsstränge des Diesterweg’schen und des Köhler’schen Erbes in ihrer Familie erhebt. Die 9

Vgl. die autobiographische Darstellung von Lotte Köhler (1998): »Umsonst war’s nicht.« Bericht einer betroffenen Zeugin. In: Hermanns, L. M. (Hrsg.), Psychoanalyse in Selbstdarstellungen, Bd. 4 (S. 165–230). Tübingen: edition discord.

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Vorwort des Herausgebers

Köhler’sche Linie wurde – so die Autorin – etwa im 18. Jahrhundert durch den aufgeklärt-patriarchalischen Geist eines Johann Maximilian Freiherr von Günderrode (1713–1784) geprägt, der in seiner Schrift Lebensregeln zur Erziehung der christlichen Jugend von 1768 bis ins Detail zu normieren versuchte, wie seine Untertanen in den von ihm in seinem Territorium eingerichteten Schulen zu unterweisen seien. Obrigkeitsdenken und Untertanengeist, legitimiert durch eine konservativ-dogmatisch interpretierte christliche Religion, wie sie von der Institution Kirche repräsentiert wurde, sind hier vermittelt worden – Werte und Normen, gleichsam essentielle Bestandteile eines »Über-Ich«, womit sich dann auch die Pfarrherren und Mediziner der Köhler-Linie10 konfrontiert sahen. Anders dagegen präsentiert sich der Geist, der über die Diesterweg-Schiene auf die Autorin gekommen ist: Hier sind selbstbewusste und am Gemeinwohl orientierte Stadt-Bürger prägend gewesen, ein Denken, das dann auch bei Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg und seiner pädagogischen Konzeption bestimmend geworden ist. Auf dem geschilderten Hintergrund entwickelt die Autorin eine äußerst interessante psychoanalytisch orientierte Annäherung an ihren Forschungsgegenstand, wie der Leser bzw. die Leserin feststellen wird. Der Text war ursprünglich als Vortrag im Rahmen eines psychoanalytischen Kolloquiums konzipiert worden und ist für die Publikation vom Herausgeber in Absprache mit der Verfasserin leicht überarbeitet worden. Der Herausgeber hat die Autorin nachdrücklich ermuntert, ihren Text auf diesem Wege der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, worauf sie sich schließlich und erfreulicherweise auch eingelassen hat. Angehängt an diese Diesterweg-Interpretation in psychoanalytischer Perspektive findet sich ein von der Autorin gleichsam »augenzwinkernd« im Jahre 1990 verfasster fiktiver Geburtstagsbrief an ihren prominenten Vorfahren »im Himmel«, in dem einerseits die besondere Nähe der Verfasserin zum Angeredeten, andererseits aber auch die historische Distanz zum Ausdruck kommt. Ohne die (Mit-)Hilfe verschiedener Personen bzw. Organisationen hätte diese Publikation nicht realisiert werden können – wofür an dieser Stelle natürlich großer Dank auszusprechen ist: 10

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Vgl. etwa die folgenden beiden familiengeschichtlichen Publikationen: Lotte Köhler (2008/2009). 1772–1793. Ein prägender Abschnitt Zeitgeschehen, eingebettet und dokumentiert in die Familiengeschichte Köhler. (Aus Briefen der Brüder Jacob und Tobias rekonstruiert von Lotte Köhler unter Mitarbeit von Barbara Münch-Kienast und Eckhart G. Franz.) München und Darmstadt; sowie Lotte Köhler (2011). Begegnung mit meinen Vorfahren. Pfarrer Carl Ebenau und seine Familie 1772–1848. (Dargestellt an Hand von schriftlichen Unterlagen und Andenken.) Haar/München.